Die italienische Originalausgabe erschien 1958 unter dem Titel Gli occhiali d’oro im Verlag Giulio Einaudi, Turin.

Die erste deutsche Ausgabe erschien 1985 beim Piper Verlag, München.

Die Übersetzung wurde für das 2007 erschienene SALTO nach der Ausgabe der 1998 bei Arnoldo Mondadori in Mailand von Roberto Cotroneo herausgegebenen Opere durchgesehen.

Diese Ausgabe wurde in freundlicher Zusammenarbeit mit der Fondazione Giorgio Bassani veröffentlicht.

Aus dem Italienischen von Herbert Schlüter

E-Book-Ausgabe 2016

© Arnoldo Mondadori Editore S. p. A., Milano

© 2007, 2013 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/​41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung eines Filmstils aus dem gleichnamigen Film von Giuliano Montaldo. © Deutsches Filminstitut – DIF, Frankfurt.
Die Karnickel-Brille zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

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ISBN: 978 3 8031 4198 9

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2700 6

www.wagenbach.de

Für Mario Soldati

Ich bin verloren! Nimmer kann ich, Sohn, die Qual

Vor euch verhehlen. Götter, ha! Durch dringt sie, durch,

Durch dringt sie: weh, ich Armer, Unglückseliger!

Ich bin verloren! Wie es zehrt! Ach Kind, o weh!

Ach wehe, weh! Weh, weh, o weh! Ach wehe, weh!

Bei allen Göttern, wenn du hier in der Nähe, Sohn,

Zur Hand ein Schwert hast, triff des Fußes Spitze; flugs,

Flugs hau’ ihn ab, und schone meines Lebens nicht!

O tu’s, Kind!

Sophokles, Philoktet

(Deutsch v. J. J. C. Donner)

1

Mit der Zeit sind es nicht mehr so viele, doch darum noch nicht wenige Menschen, die sich in Ferrara an Doktor Fadigati erinnern – an Athos Fadigati, den Hals-, Nasen- und Ohrenarzt, der in der Via Gorgadello, ein paar Schritte von der Piazza delle Erbe, wohnte und praktizierte und mit dem es ein so trauriges Ende nahm, ein tragisches Ende; und gerade er schien, als er in jungen Jahren aus seiner Heimatstadt Venedig kam und sich hier niederließ, für eine vollkommen normale, ruhige und eben deshalb höchst beneidenswerte Laufbahn bestimmt.

Das war im Jahre 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Ich war damals noch zu jung, um mehr als nur ein unbestimmtes und ziemlich verworrenes Bild jener Zeit wiedergeben zu können. In den Cafés des Stadtzentrums wimmelte es von Offizieren in Uniform; alle Augenblicke kamen Lastwagen mit wehenden roten Fahnen vorbei; über das Baugerüst des Gebäudes der »Assicurazioni Generali« war eine gewaltige knallrote Reklameleinwand gespannt, die gleichermaßen Freunde und Gegner des Sozialismus aufforderte, in Eintracht den ›Lenin-Aperitif‹ zu trinken; fast täglich kam es zu Schlägereien zwischen radikalen Bauern und Arbeitern auf der einen und Angehörigen der Frontkämpferverbände auf der anderen Seite … Diese Atmosphäre des Fiebers, der politischen Unruhe und der allgemeinen Sucht nach Zerstreuung war für den Venezianer Fadigati in gewisser Weise günstig. Man versteht, daß er in einer Stadt wie der unseren, in der es nach dem Kriege den jungen Leuten aus guter Familie mehr als anderswo widerstrebte, einen akademischen Beruf zu ergreifen, leicht Wurzel fassen konnte, ohne daß es besonders auffiel. Jedenfalls hatte Athos Fadigati im Jahre 1925, als das Fieber auch bei uns allmählich zurückging und der Faschismus, der sich als große nationale Partei etablierte, für alle, die noch keinen Platz gefunden hatten, zu sorgen vermochte, bereits fest in Ferrara Fuß gefaßt. Er besaß eine sehr gut gehende Privatpraxis und war außerdem Chef der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung des neuen Hauptkrankenhauses von Sankt Anna.

Er hatte einen guten Eindruck gemacht. Den Leuten gefiel, daß er – nicht mehr sehr jung und schon damals mit einem Ausdruck, als wäre er es nie gewesen – nicht eigentlich deswegen aus Venedig hierhergekommen war (er erzählte es einmal selbst), um in einer fremden Stadt sein Glück zu machen, sondern um der bedrückenden Atmosphäre eines großen Hauses am Canal Grande zu entgehen, in dem ihm im Zeitraum weniger Jahre beide Eltern und eine geliebte Schwester gestorben waren. Man hatte Gefallen gefunden an seiner höflichen, zurückhaltenden Art, an seiner offenbaren Uneigennützigkeit und seiner maßvoll-mildtätigen Einstellung gegenüber seinen ärmeren Patienten. Von diesen Gründen seiner Beliebtheit abgesehen, hatte er sich aber zunächst als der, der er war, als Person, meine ich, empfehlen müssen. Man mochte das Funkeln seiner goldenen Brille auf den fahlen, glatten Wangen, seine keineswegs unangenehme Korpulenz – die Korpulenz des geborenen Herzkranken, der wie durch ein Wunder die Wachstumskrise überstanden hat und der ständig, auch im Sommer, in weiche englische Wollschals gehüllt ist (während des Krieges hatte er aus Gesundheitsgründen nur bei der Postzensur Dienst leisten können). Kurz gesagt, er hatte auf den ersten Blick etwas an sich, das sofort für ihn einnahm und Vertrauen weckte.

Seine Sprechstunde in der Via Gorgadello – von vier bis sieben Uhr jeden Nachmittag – sollte später seinen Erfolg noch vervollständigen.

Es war eine wahrhaft moderne Praxis, wie sie bis dahin noch kein Arzt in Ferrara besessen hatte. Zu einem makellosen Behandlungsraum, der, was Reinlichkeit, Ausrüstung und Geräumigkeit betraf, sich lediglich mit den Behandlungsräumen des Krankenhauses von Sankt Anna vergleichen ließ, kamen noch gut acht Zimmer der anstoßenden Privatwohnung als Wartezimmer. Unsere Mitbürger, zumal die gesellschaftlich höherstehenden, waren davon wie geblendet. Gewöhnt an die, wenn man will, malerische, doch allzu vertrauliche und im Grunde peinliche Unordnung, in der die drei oder vier älteren Fachärzte der Stadt noch immer ihre Patienten empfingen, empfanden sie diesen Glanz wie eine ihnen persönlich dargebrachte Huldigung. Wo gab es bei Fadigati – wie sie nicht müde wurden, immer wieder zu erwähnen – dieses endlose Warten, wo einer gleichsam auf dem anderen saß wie das liebe Vieh und wo man durch die dünnen Wände die mehr oder weniger nahen Stimmen einer meistens fröhlichen und zahlreichen Familie hörte und wo das Auge bei dem schwachen Licht einer kleinen Birne an den Wänden keinen anderen Ruhepunkt fand als eine Majolikaplatte mit der Inschrift ›Nicht auf den Boden spucken!‹, ein paar Karikaturen von Universitätsprofessoren oder Kollegen, ganz zu schweigen von anderen, noch melancholischer stimmenden, ominösen Bildern, auf denen ein Patient vor versammeltem ärztlichem Kollegium ein enormes Klistier erhält oder ihm der Bauch geöffnet wird, wobei der Arzt der Tod selbst ist, der sich grinsend als Chirurg verkleidet hat? Wie, so fragte man sich, hatte man nur so lange eine solche mittelalterliche Behandlung des wartenden Patienten hinnehmen können?

Ein Besuch bei Fadigati wurde bald mehr als eine bloße Mode, eine wahre Erholung. An den Winterabenden zumal, wenn ein eisiger Wind vom Domplatz in die Via Gorgadello fuhr, nahm der wohlhabende Bürger das kleinste Halsweh zum Vorwand, um, in einen schweren Pelzmantel gehüllt, durch die angelehnte Haustür an der Ecke der Via Bersaglieri del Po zu treten, die zwei Treppenabsätze hochzusteigen und an der Glastür zu läuten. Dort fand er hinter der zauberisch leuchtenden Scheibe, von einer stets jungen, stets lächelnden Sprechstundenhilfe im weißen Ärztemantel empfangen, eine Zentralheizung, die auf Volldampf gestellt war, ganz wie – ich sage nicht: zu Hause, sondern wie – nicht einmal im Klub der Kaufleute oder in der Concordia. Er fand Sessel und Diwane in Hülle und Fülle, kleine Tischchen, die mit den neuesten Zeitschriften beladen waren, und Lampen, die ein weißes, festliches Licht ohne jede Knauserei verbreiteten. Wurde er es überdrüssig, in der Wärme zu träumen oder in illustrierten Zeitschriften zu blättern, verlockten ihn die Teppiche dazu, von einem Salon in den anderen zu gehen und die alten und modernen Bilder und Drucke zu betrachten, die dicht nebeneinander an den Wänden hingen. Und schließlich fand er einen gutmütigen und gesprächigen Arzt, der sich, während er seinen Patienten persönlich ›nach drüben‹ führte, um ihm den Hals zu untersuchen, als der vornehme Herr und passionierte Wagnerliebhaber, der er war, vor allem dafür zu interessieren schien, ob sein Patient Gelegenheit gehabt habe, vor einigen Tagen im Stadttheater von Bologna Aureliano Pertile im Lohengrin zu hören. Oder, was weiß ich, ob er in dem und dem Salon den und den De Chirico oder, wie ihm, der De Pisis gefallen habe; und er zeigte sich höchst verwundert, wenn sein Patient gestand, nicht allein De Pisis nicht zu kennen, sondern bis zu diesem Moment auch nicht gewußt zu haben, daß Filippo De Pisis ein junger, hoffnungsvoller Maler aus Ferrara war. Alles in allem ein behagliches Milieu, einnehmend und herrschaftlich, ja sogar bildend. Eine Umgebung, in der die Zeit – die verdammte Zeit, die immer das große Problem der italienischen Provinz gewesen ist – verging, daß es ein Vergnügen war.

2

Das Recht auf die Trennung des öffentlichen vom privaten Lebensbereich, der die indiskrete Neugier des ordentlichen Bürgers erregt, wird heute nicht mehr anerkannt. Was geschah mit Athos Fadigati, nachdem die Sprechstundenhilfe die Glastür hinter dem letzten Patienten geschlossen hatte? Daß es unklar blieb, wie er seine Abende – oder zumindest die Tatsache, daß er sie auf nicht ganz übliche Weise – verbrachte, trug dazu bei, die Neugier der andern zu reizen. Ja, es gab an Fadigati irgend etwas, das nicht ganz verständlich war. Aber auch das war an ihm sympathisch und nahm für ihn ein.

Wie er seine Vormittage verbrachte, war allgemein bekannt, und niemand hatte etwas über sie zu bemerken.

Um neun Uhr war er bereits im Krankenhaus, und mit Untersuchungen und Operationen (denn er operierte auch; es verging kein Tag, an dem nicht ein Paar Mandeln herauszunehmen oder eine Ohrenmeißelung vorzunehmen war) verging die Zeit bis ein Uhr mittags. Danach, zwischen ein und zwei Uhr, konnte man ihm nicht selten begegnen, wie er den Corso Giovecca heraufkam, am kleinen Finger ein Päckchen schwenkend, das Thunfisch in Öl oder kalten Aufschnitt enthielt, während ihm der Corriere della Sera aus der Manteltasche schaute. Also aß er zu Hause. Und da er keine Köchin hatte, mußte er sich selbst die unumgängliche Schüssel Pasta asciutta bereiten, was an und für sich schon eine recht sonderbare Sache war.

Auch zum Abendessen hätte man ihn vergeblich in den zwei oder drei Restaurants der Stadt erwartet, die einen gewissen Standard hielten: bei Vincenzo, bei Sandrina oder im Tre Galletti. Auch nicht bei Roveraro, dessen bürgerliche Küche so viele Junggesellen in mittleren Jahren anzog. Doch bedeutete das keineswegs, daß er auch des Abends wie am Mittag zu Hause äße. Am Abend konnte er sich praktisch nie zu Hause aufhalten. So gegen acht oder Viertel nach acht konnte man ihn sein Haus in der Via Gorgadello verlassen sehen. Einen Augenblick blieb er zögernd auf der Schwelle stehen, blickte nach oben, nach rechts und nach links, wie um sich über das Wetter und die einzuschlagende Richtung klarzuwerden, bis er sich schließlich in den Menschenstrom mischte, der um diese Stunde im Sommer wie im Winter an den erleuchteten Schaufenstern der Via Bersaglieri del Po vorbeizog.

Wohin er ging? Hierhin und dorthin, spazierenderweise und, wie es schien, ohne ein bestimmtes Ziel.

Nach einem harten Arbeitstag machte es ihm gewiß Vergnügen, sich vom Strom der Menge tragen zu lassen – der fröhlichen, lauten, anonymen Menge. Abends zwischen acht und neun konnte man ihn überall in der Stadt treffen: groß, korpulent, mit weichem Hut, gelben Handschuhen und, wenn es Winter war, im mit Opossum gefütterten Mantel, den Spazierstock mit dem Griff in der rechten Manteltasche. Von Zeit zu Zeit fand man ihn überraschenderweise vor irgendeinem Schaufenster der Via Mazzini oder Via Saraceno stehen, wie er aufmerksam über die Schulter eines vor ihm Stehenden hinwegblickte. Oft hielt er sich bei den Verkaufsständen für Kurzwaren oder Zuckerwerk auf, wie sie sich zu Dutzenden an der Südseite des Doms oder auf der Piazza Travaglio oder in der Via Garibaldi befinden, und musterte stumm die bescheidenen Waren. Aber am liebsten ging Fadigati die engen, menschenwimmelnden Bürgersteige der Via San Romano entlang. Traf man ihn dort unter den niedrigen Arkaden, wo ein scharfer Geruch nach gebratenem Fisch, Geräuchertem, fremdartigen Gewürzen und billigem Wein in der Luft stillzustehen schien und wo sich stets eine Menge von Mädchen, Soldaten, Burschen und Bauern in ihren Umhängen drängte, so stellte man mit Verwunderung fest, wie lebhaft, fröhlich und zufrieden er dreinblickte und wie ein unbestimmtes Lächeln sein Gesicht aufhellte.

»Guten Abend, Herr Doktor!« rief ihm jemand nach. Und es war ein Wunder, wenn er den Gruß hörte, wenn er, schon weitergetragen vom Strom der Menge, sich umwandte und zurückgrüßte.

Erst später, nach zehn Uhr, erschien er in einem der vier Kinos der Stadt: im Excelsior, im Salvini, im Rex oder im Diana.

Doch auch hier zog er den Galerieplätzen, auf denen sich die feineren Leute stets wie in einem Salon unter sich befanden, die billigsten Parkettplätze vor. Und wie peinlich war es dann für diese feineren Mitbürger, ihn dort unten zu sehen, wo er, so gut gekleidet, mitten im ›gemeinen Volk‹ untertauchte! Zeugte es wirklich von gutem Geschmack, fragten sie sich seufzend und blickten angestrengt anderswohin, so sehr den Bohemien herauszukehren?

Es kann darum nicht verwundern, wenn so mancher auf den Gedanken kam, daß Fadigati, der um 1930 bereits die Vierzig überschritten hatte, so schnell wie möglich heiraten mußte. Die Patienten unterhielten sich flüsternd, die Sessel aneinandergerückt, in den Wartezimmern der Via Gorgadello darüber, während sie darauf warteten, daß der nichtsahnende Arzt in der Tür des Sprechzimmers erschien und sie ›nach drüben‹ bat. Später sprachen die Eheleute beim Abendessen darüber, in Andeutungen und darauf bedacht, daß die Kinder, die die Nase über ihren Teller hielten, aber die Ohren aufgesperrt hatten, nicht errieten, von wem die Rede war. Und noch später, wenn dieses Thema, nunmehr ohne Zurückhaltung, im Bett erörtert wurde, pflegte es bereits fünf bis zehn Minuten jener köstlichen halben Stunde zu rauben, die dem vertraulichen Geplauder und seinen immer längeren Unterbrechungen durch Gähnen gewidmet ist und die für gewöhnlich ein Austausch von Küssen und ehelichen Gutenachtwünschen beendet.

Den Männern erschien es ebenso wie ihren Frauen unverständlich, daß ein so tüchtiger Mann nicht daran dachte, endlich einen Hausstand zu gründen.

Wenn man von dem etwas ›künstlerischen‹ Zug seiner Persönlichkeit absah – die aber doch, im ganzen gesehen, so ernst und ruhig war –, welcher andere Akademiker Ferraras unter fünfzig Jahren konnte sich einer besseren Position rühmen, als er sie besaß? Er genoß die allgemeine Sympathie; er war reich (er konnte jetzt soviel verdienen, wie er nur wollte); er war aktives Mitglied der beiden größten Klubs der Stadt und daher gleichermaßen willkommen im kleinen und mittleren Bürgertum der freien Berufe und des Handels wie in der Aristokratie – mit oder ohne Wappen –, der großen Vermögen und des Grundbesitzes; schließlich besaß er die Mitgliedskarte der Faschistischen Partei, die ihm der Segretario Federale1 persönlich unter allen Umständen hatte geben wollen, obwohl er, Fadigati, sich in aller Bescheidenheit als ›von Natur unpolitisch‹ erklärt hatte. Was also fehlte ihm weiter als eine schöne Frau, die er jeden Sonntagmorgen in die Kirche San Carlo oder in den Dom führen konnte und am Abend ins Kino, in einen Pelz gehüllt und mit Schmuck angetan, wie es sich gebührte? Und warum gab er sich nicht ein bißchen Mühe, eine solche Frau zu finden? Vielleicht – das mochte es sein –, vielleicht hatte er ein Verhältnis mit irgendeiner Frau, zu dem er sich öffentlich nicht bekennen konnte – etwas wie eine Schneiderin, Erzieherin, Dienstmädchen oder dergleichen. Vielleicht fand er – wie es vielen Ärzten geschieht – nur Gefallen an Krankenschwestern –, und vielleicht waren gerade deshalb die Schwestern, die von Jahr zu Jahr durch seine Sprechstunde gingen, immer so besonders hübsch und herausfordernd kokett! Aber angenommen, daß es sich wirklich so verhielt – andererseits war es seltsam, daß in dieser Beziehung nie etwas Genaues durchgesickert war –, warum verheiratete er sich dann nicht? Wollte er denn so enden wie seinerzeit Elia Corcos, der achtzigjährige Chefarzt des Krankenhauses, der berühmteste Arzt von Ferrara, der, wie man sich erzählte, nach einer Jahre währenden Liebelei mit einer jungen Krankenschwester eines Tages von ihren Angehörigen dazu gezwungen wurde, sie für das ganze Leben zu behalten?

Schon begann man allseits nach dem Mädchen in der Stadt zu suchen, das wahrhaftig würdig wäre, Signora Fadigati zu werden (aber aus dem einen oder anderen Grunde kam keine in Betracht: Keine schien je ganz geeignet für den einsamen Mann), als plötzlich über den Arzt Gerüchte zu hören waren – man weiß nicht, wer sie in Umlauf gesetzt hatte –, die seltsam, höchst seltsam anmuteten.

»Hast du schon gehört? Doktor Fadigati soll …«

Oder: »Weißt du schon das Neueste? Du kennst doch auch diesen Doktor Fadigati, der in der Via Gorgadello wohnt, fast an der Ecke der Via Bersaglieri del Po? Also, wie ich gehört habe, ist er …«

3

Eine Gebärde, eine Grimasse waren genug.

Es genügte auch, nur zu sagen, daß Fadigati ›so‹ war oder daß er zu ›der Sorte‹ gehörte.

Aber, wie es sich beim Gespräch über heikle Themen, zumal das der sexuellen Andersartigkeit, ergibt, nahm der oder jener zuweilen grinsend zu einem Dialektwort seine Zuflucht, das bei uns durch den Gegensatz zur Sprache der Gebildeten immer besonders derb wirkt, um dann allerdings, nicht ohne eine gewisse Melancholie, ein »na, schön« hinzuzusetzen.

»Aber was für ein seltsamer Kauz!«

»Wie ist es nur möglich, daß wir nicht früher darauf gekommen sind?«

Aber sie sagten es lächelnd, als wäre es ihnen nicht gar so unangenehm, daß sie erst so spät das Laster Fadigatis entdeckt hatten (mehr als zehn Jahre hatten sie dazu gebraucht!); vielmehr schienen sie in gewisser Weise dadurch beruhigt.

Im Grunde, meinten sie mit einem Achselzucken, warum sollte man nicht auch in der schmählichsten Verirrung den Stil des Mannes anerkennen?

Denn was sie vor allem andern zur Nachsicht gegenüber Fadigati bewog, ja, nach der ersten Reaktion von Beunruhigung und Verblüffung, beinahe zur Bewunderung, war sein Stil. Ich meine mit Stil in erster Linie seine Zurückhaltung, die Mühe, die er sich offenbar bisher gegeben hatte und sich auch weiterhin gab, seine Neigungen zu verbergen und keinen Anstoß zu erregen. Jetzt – sagte man Dr. Jekyll,