Titelbild
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www.piper.de

Mit 32 farbigen Fotos, sechs Filmlinks und einer Karte

Am Ende jedes Kapitels befindet sich ein QR-Code (www.hoepnerhoepner.de/videos80days), der zu zusätzlichem Film- und Bildmaterial führt.

ISBN 978-3-492-97327-4

März 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Redaktion: Antje Steinhäuser, München

Covergestaltung: Birgit Kohlharas, kohlhaasbuchgestaltung.de

Covermotiv: Hansen und Paul Hoepner (Zugfahrt durch Thailand)

Fotos im Bildteil: Hansen und Paul Hoepner

Karte: Marlise Kunkel, München

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Per Anhalter nach Amerika

26. MAI, TAG 21, LISSABON, PORTUGAL, KONTOSTAND: € 688,34

Hansen

Es quietscht, brummt, saust, rauscht, tuckert, heult und hupt. Ich habe die Autobahn im Rücken, die Einflugschneise haarscharf überm Scheitel und die Landebahn direkt vor meinen Augen, links und rechts Ab- und Auffahrt einer Schnellstraße, die ins Zentrum von Lissabon führt.

Niemals hätte ich gedacht, dass ich so selig an einem so unruhigen Ort schlafen kann. Aber zusammen erzeugen all diese grässlichen Geräusche einen wohligen Einheitsbrei, der vom Gehirn nach kurzer Zeit einfach ausgeblendet wird. Was übrig bleibt ist: Stille. Absolute Stille.

Vielleicht bin ich auch einfach schon verrückt geworden, was nicht ganz auszuschließen ist, wenn man bedenkt, dass mein Zwillingsbruder Paul und ich gerade in einem auf einer Verkehrsinsel am Lissabonner Flughafen aufgestellten Zelt aufgewacht sind und gleich herauskriechen werden, um bereits den zweiten Tag in Folge das Unmögliche zu versuchen: nach Kanada zu trampen – mit dem Flugzeug, versteht sich.

Nachdem bisher keiner der hier vorbeifahrenden Piloten uns einen Klappsitz in seiner Maschine angeboten hat, hatte Paul gestern die glorreiche Idee, es zusätzlich zum ausgestreckten Daumen und Pappschild mit einer E-Mail zu versuchen:

Verehrter Präsident der SATA-Fluggesellschaft,

Ich schreibe Ihnen, um Sie höflichst um Unterstützung für ein einzigartiges und höchst ungewöhnliches Projekt zu bitten: Mein Zwillingsbruder und ich wagen ein Experiment. Wie schon Phileas Fogg aus dem Buch »In 80 Tagen um die Welt« von Jules Verne versuchen wir in ebendieser Zeit den Erdball zu umrunden. Im Unterschied zu Phileas Fogg, der 20 000 Pfund für sein Vorhaben hatte, haben wir unser Zuhause in Berlin ohne einen einzigen Pfennig in der Tasche verlassen. Bisher haben wir es per Anhalter bis nach Lissabon geschafft, und nun möchten wir auf dem Luftweg unser Glück versuchen und vom Airport Lissabon in die USA oder nach Kanada trampen. Wäre Ihr Unternehmen daran interessiert, unser Projekt zu unterstützen? Sie können mich jederzeit unter meiner Handynummer erreichen.

Herzliche Grüße

Paul Hoepner

»Und, hat er dich schon angerufen?«, witzele ich, während mein Bruder mich aus seinem vom Schlaf zerknautschten Gesicht durch zwei schmale Schlitze anschaut, dann die Äuglein aufreißt und wie wild unter dem Schlafsack nach seinem Handy kramt. Der hat noch nicht mal die Ironie in meiner Stimme bemerkt. Wahrscheinlich hat uns die Sonne schon das Hirn verbrannt, und trotzdem: Heimlich hoffe auch ich, dass uns SATA über Nacht eine E-Mail mit zwei Tickets im Anhang zugeschickt hat. First Class natürlich.

»Nichts«, sagt Paul, nachdem er auch den Spam-Ordner gecheckt hat. Ich seufze. Also kein Wunder. Kein Wunder bedeutet, dort weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben. Zelt wieder abbauen, Daumen raus, Schild raus, hoffen und lächeln. Entweder darauf, dass uns einfach jemand in seinem Privatjet mitnimmt, ein Ticket spendiert oder sonst irgendwie weiterhilft. Zum Beispiel, indem er oder sie uns eins unserer selbst gemachten Schmuckstücke abkauft und auf diese Weise unsere Flugkasse füllt.

Heute ist Tag 21 unserer Reise, und wir sind schon ganze 13 im Verzug. Wir sind immer noch in Europa und wollen schon in 60 Tagen wieder zurück sein – allerdings nachdem wir zumindest Kanada, Japan, China, Myanmar, Indien, Kasachstan, Russland und Polen bereist haben. Ohne Reisekasse wohlgemerkt. Nur mit dem Geld, das wir etwa mit Hilfsarbeiten, dem Verkauf von selbst gemachten Schmuckstücken oder Zaubertricks zusammensammeln können. Das macht meistens Spaß, kann aber auch frustrierend sein, vor allem, wenn man meint festzustecken. Andererseits – kaum hat man das Gefühl, es ginge nicht weiter, passiert doch immer irgendetwas … Ich denke an Lotti, den verrückten Dänen, der uns in seiner Lissabonner Dachgeschosswohnung aufgenommen hat, oder den französischen Straßenkünstler Elie, der uns in den letzten Tagen immer wieder wie ein rettender Engel beim Verkauf half oder uns Essen oder ein Bier vorbeibrachte. Man nimmt die Welt völlig anders wahr, wenn man auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen ist, lernt Länder, die man als zahlungskräftiger Tourist bereist hat, aus einer ganz anderen Perspektive kennen. Bequem ist das nicht, aber aufregend.

Mir knurrt der Magen. »Paul, einer von uns muss zum Supermarkt, wir haben nichts mehr.«

»Ich check hier gerade Flugpreise, geh du!«, murrt Paul.

Das war ja klar, dass der keine Lust hat. Wir sind eineiige Zwillinge, seit knapp zwei Monaten 33 Jahre alt, sehen uns immer noch zum Verwechseln ähnlich, aber es gibt auch Unterschiede: Paul ist heute Morgen noch muffeliger als ich. Wir zanken eine Weile, dann fummle ich mit der einen Hand einen 20-Euro-Schein aus unserer Kasse, mit der anderen das Klamottenhäuflein vom Fuß der Isomatte und krieche aus dem Zelt. Es ist noch nicht mal halb acht, aber die Sonne schon hellwach. Ich schnuppere an Socken und T-Shirt. Erstere sind ekelhaft – egal, Zweiteres geht noch in Ordnung. Also Badeshorts und Schuhe an und los in Richtung Stadt, wo ich den Supermarkt gesehen habe.

Auf halbem Wege schaue ich noch mal auf mein Handy-Navi und stelle fest, dass ich den Abzweig Richtung Supermarkt verpasst habe und viel zu weit gelaufen bin. Entnervt drehe ich um und kürze meinen Weg ab, indem ich diagonal durch ein kleines Waldstück auf den richtigen Weg zurückkehre.

Von hier ist es nicht mehr weit. Das letzte Stück schlendere ich gemütlich am Straßenrand entlang, den Blick fest auf den Boden geheftet, immer auf der Suche nach verwertbaren Dingen, einem interessanten Stück Metall oder Plastik, die ich in Gedanken zu Produkten verbastele, die wir später verkaufen könnten. Das ist mir schon in Fleisch und Blut übergegangen: Der Sachensucherblick und im Supermarkt das Scannen der günstigsten Preise. Kein Cent darf verschwendet werden. Als ich ankomme, muss ich jedoch feststellen, dass die Preise ziemlich gepfeffert sind, es ist ein Biomarkt. Aber die anderen machen erst um zehn Uhr auf, so lange kann ich nicht warten.

Eine Menschenschlange zieht sich quer durch den Laden bis zur Kasse. Die Kassiererin lässt sich davon nicht aus der in Portugal allgegenwärtigen Ruhe bringen, jeder Kunde wird in einen netten Plausch verwickelt. Mir knurrt der Magen.

Als ich endlich an der Reihe bin, kann ich den Geldschein nicht finden. Panisch fahre ich mit der flachen Hand in alle Taschen, sogar in den stinkenden Socken suche ich (im sogenannten Disko-Portemonnaie). Die Menschenschlange wirft helfend suchende Blicke um sich, und ich laufe die Gänge ab, vergeblich.

Habe ich sie überhaupt eingesteckt? Ich rufe Paul an, der wütend wird, weil er sich angeblich genau erinnert, wie ich mit dem Zwanziger in der Hand weggelaufen bin. »20 Euro, Hansen!«, brüllt er mich aus dem Telefon an. »Weißt du, was das bedeutet?«

»Was denkst du denn? Meinst du nicht, ich würde einfach meine EC-Karte zücken, wenn ich nicht wüsste, was das bedeutet? Und kannst du jetzt bitte mal einen konstruktiven Vorschlag machen und mir entgegenkommen, damit ich nicht alles zweimal laufen muss?«

Meine Stimme überschlägt sich. Die Leute im Supermarkt müssen denken, ich sei nicht ganz dicht. Paul hängt einfach auf. Ich ärgere mich über ihn, aber vor allem über mich selbst. Wie konnte ich nur so fahrlässig sein? Ich renne, immer den Boden nach einem blauen Schein absuchend, den gesamten Weg – inklusive des Umwegs – zurück zum Zelt, schnappe mir wortlos erneut 20 Euro und laufe wieder zurück in Richtung Supermarkt.

Mit jedem Schritt lässt mein Ärger nach. Nachdem ich, schneller als gedacht, angekommen bin, stelle ich zu meiner Überraschung fest, dass ich gerade sechs Kilometer gerannt sein muss. So mancher Passant hat mich in meiner Badehose und mit den Laufschuhen und dem bösem Blick vielleicht für einen rekordsüchtigen Läufer gehalten. Diese Extrapower habe ich nicht nur Hunger und Wut, sondern auch der Tatsache zu verdanken, dass ich ausnahmsweise ohne den 30 Kilo schweren selbst gebauten Wanderanhänger unterwegs bin, den ich seit mittlerweile 21 Tagen hinter mir her ziehe.

Die Kassiererin überreicht mir die Tüte, die sie für mich aufbewahrt hat, und ich mache mich mit besänftigtem Gemüt auf den Rückweg. Es ist inzwischen fast halb zehn. Das Thermometer, an dem ich jetzt schon zum vierten Mal vorbeilaufe, zeigt 28 Grad an, es wird ein heißer Tag werden.

Paul und ich frühstücken wortkarg, danach wechseln wir uns halbstündlich ab mit Daumenraushalten. Vor uns stehen, dekorativ positioniert, unsere zwei selbst gebauten Gepäckrollkoffer mit der Aufschrift In 80 days around the world. Ich weiß, ich weiß, es müsste heißen: Around the world in 80 days, aber dafür war es schon zu spät. Und irgendwie passt das Denglish auch ganz gut zu zwei deutschen Landstreichern, oder?

Wir werden von einem Taxifahrer angehupt, der uns schon gestern hier hat stehen sehen. Er schreit: »Guten Morgen, Jungs, bleibt ihr noch ein bisschen? Morgen früh kann ich euch Kaffee mitbringen!«

Wir lachen. »Hoffentlich sind wir dann weg. Wünsch uns Glück!«

Schon der zweite Tag am Flughafen, schon der zehnte Tag in Lissabon. So haben wir uns das nicht vorgestellt. In unserer 80-Tage-Planung sollten wir schon längst in Kanada und so gut wie auf dem Weg nach Japan sein. Niederschmetternd. Ich beobachte, wie an Pauls Rücken ein Schweißrinnsal auf seinem hellgrauen T-Shirt sichtbar wird. Das kleine Radlerkäppi aus Jeansstoff, das er trägt, seitdem er zehn Jahre alt ist, lässt ihn auch mit 33 Jahren aussehen wie einen zu groß gewachsenen Teenager.

Wieder und wieder blickt er prüfend auf sein Telefon und lässt dann die Schultern hängen. »Ich halte es nicht aus, hier rumzustehen und nichts zu machen«, sagt er. »Ich gehe jetzt ins Terminal und frag die Frau von der SATA-Information, ob sie mir den direkten Kontakt zu ihrem Chef geben kann.«

»Ja, mach nur«, antworte ich. So bin ich seine schlechte Laune wenigstens mal eine halbe Stunde los. Er stapft in Richtung Terminal. Die Sonne knallt, der Koffer steht mit der bemalten Vorderseite gut sichtbar für die Autos aufrecht am Straßenrand. Eine der beiden Teleskopstangen, mit denen wir normalerweise, an den Hüften befestigt, den Rollkoffer hinter uns her ziehen, ist ausgefahren, und am oberen Ende steckt ein Regenschirm als Sonnenschutz. Das Ganze sieht aus wie eine kleine Mini-Strandbar – ein echter Hingucker. Ich stelle mich daneben und halte mit tapfer gut gelaunter Miene den Daumen raus.

Dies ist schon unser zweites großes Abenteuer. Vor genau drei Jahren um diese Zeit saßen wir beide auf Fahrrädern und durchquerten die kasachische Steppe in Richtung China. 13600 Kilometer mit dem Rad von Berlin nach Shanghai. Sechs Monate hatten wir uns dafür gegeben, am Ende wurden sieben daraus. Geld hatten wir gerade so viel, wie wir brauchten. Wir schliefen im Zelt oder bei Menschen, die uns zu sich nach Hause einluden, fast nie im Hotel. Ein riesiger Kraftakt, am Ende bis zu 230 Kilometer am Tag. Insbesondere in Kasachstan gab es Strecken, auf denen wir tagelang keiner Menschenseele begegnet sind. Das Einzige, das immer da war, war das eigene Spiegelbild. Der Bruder. Wir haben uns viel gestritten, wieder vertragen, uns umeinander gesorgt, uns gegenseitig in den Arsch getreten, all das, was man unter Geschwistern eben so macht, vor allem in Momenten, in denen es niemanden anderen gibt auf der Welt.

In den letzten Tagen musste ich oft zurückdenken an diese Tour. Ich vermisse den Sattel unterm Hintern. Wenn man ein Rad dabeihat, kann das zwar Ballast sein, aber wenigstens kommt man immer irgendwie weiter. Manchmal sogar richtig zügig. Jetzt, zu Fuß mit unseren Rollkoffern, fühle ich mich oft schwerfällig und irgendwie unvollständig. Wir müssen uns noch gewöhnen an die andere Art des Unterwegsseins.

Während der Radtour haben wir Filmaufnahmen gemacht und abends ein Tagebuch geschrieben. Aus diesem Material entstanden im Anschluss an die Reise eine TV-Dokumentation und ein Buch. Das war irre! Wir hatten nicht damit gerechnet, dass sich irgendjemand für unsere Abenteuer interessieren würde, aber ganz im Gegenteil: Während der letzten eineinhalb Jahre sind wir in Lesungen, Vorträgen und Fernsehauftritten die Strecke im Kopf wieder und wieder abgefahren, wie ein Perpetuum mobile, ein permanentes In-der-Vergangenheit-Leben. Und jedes Mal stellten wir uns die Frage: Was kommt als Nächstes?

*

Es war genau zwei Jahre und zehn Tage her, dass wir unser Zuhause in Berlin-Neukölln auf den harten Sätteln unserer Räder in Richtung Shanghai verlassen hatten, als ich am 16. April 2014 auf einer ziemlich bequemen Couch im Warteraum eines TV-Studios in Köln saß. Mir gegenüber Paul, von dem ich in dem Moment nur ein paar lange dünne Unterschenkel sah. Er hatte seine Füße auf die Sitzfläche gestellt und war dahinter, über sein Handy gebeugt, tief in den schwarzen Sessel gerutscht. Wie ein schmaler Schutzwall, dachte ich und griff zum gefühlt hundertsten Mal in den Keksteller vor mir.

Paul und ich warteten darauf, dass die nette Assistentin an die Tür klopfte und uns in das Studio führte, wo wir einem Fernsehmoderator von unserer Tour erzählen würden. Es konnte nicht mehr lange dauern, auf dem Bildschirm im Warteraum sah man uns gerade im Zeitlupentempo die Berge des Himalaja hochkraxeln, die Fahrräder bewegten sich kaum von der Stelle. Paul schaute nicht einmal hin, er war viel zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt. Er wartete auf die erlösende Nachricht von seiner Freundin Isabel. Die beiden kannten sich seit ein paar Monaten und hatten gerade ihren ersten Streit.

Ich schaute von seinem wettergegerbten Gesicht auf dem Fernseher in das viel weichere, blassere hinter seinen Knien. »Paul, wir sind gleich dran. Leg doch mal das Handy weg.«

Er brummte, reagierte aber nicht. Wie ich hatte er das Video unserer Tour schon unzählige Male gesehen. Im Schnitt, im Fernsehen, bei all den Vorträgen, die uns, seitdem das Buch zur Tour erschienen war, quer durch Deutschland geführt hatten. Gütersloh statt Yushu, Sitzen und Quatschen statt Fahren und Schweigen. Menschen und immer gleiche Fragen statt Einöde und Sprachlosigkeit.

Was ist besser? Manchmal sehnte ich mich so nach der Weite und Fremde, manchmal wünschte ich mir nichts mehr, als endlich meinem Alltag wieder entfliehen zu können. Der Jetztzustand war ein ständiges Dazwischensein. Ein monatelanger Rückblick, bei dem einem der Zauber der Reise schon fast abhandenkam.

Moment, stimmte das überhaupt? Gerade sah ich uns durch die staubigen Betonwüsten der Vorstädte von Shanghai radeln und hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Paul schaute jetzt auch auf den Bildschirm. Fühlte er dasselbe?

Damals, da auf dem Sattel, konnten wir es gar nicht mehr abwarten, endlich anzukommen. Obwohl hundemüde, hungrig und erschöpft von den Bergen und mit einem brennenden Muskelkater, hatten wir an den letzten drei Tagen jeweils mehr als 200 Kilometer hinter uns gebracht. Sechs Stunden Schlaf, 18 Stunden radeln, nur noch ankommen, ankommen – wie in Trance. Endlich das schaffen, was uns zwischendurch unmöglich vorgekommen war. Etwa als Paul tagelang im Fieberwahn in Kirgisistan gelegen hatte, in der Taklamakanwüste schwer gestürzt war oder wir die Nacht auf der chinesischen Polizeistation verbringen mussten …

Es klopfte. »Seid ihr so weit, Jungs?«, fragte eine helle Frauenstimme. »Ihr seid gleich dran, ich checke noch kurz eure Mikros.« Paul faltete seinen 1,95-Meter-Körper aus dem Sessel, ich stellte mich neben ihn. Wir waren (immer noch) exakt gleich groß, gleich alt und hatten uns beide seit der Reise von unserem fusseligen Oberlippenbart nicht verabschieden können. Paul grinste mich an. »Ready, Brüderchen?«

Im Studio wartete der Moderator auf uns. Neben ihm standen unsere Räder, an denen noch immer der Dreck von über 13 000 Kilometer Wüste, Straße und Bergpässen klebte. Wir erklärten unseren selbst gebauten, mit Kamelkacke betriebenen Ofen, beschrieben, wie Heuschrecken schmeckten, wie es war, tagelang durch Sandstürme zu fahren, wie es sich anfühlte, beinah aufgeben zu müssen, und wie, endlich anzukommen. Und natürlich, wie es war, das Ganze mit dem Zwillingsbruder – engster Freund, ärgster Feind, größte Nervensäge und liebster Mensch – zu durchleben.

Am Ende, als die Kamera auf den Moderator umschwenkte und er sich mit seinen Karteikarten schon für die Ankündigung des folgenden Beitrags in Position brachte, sagte er noch: »Wenn die beiden Köpfe nicht schon etwas Neues aushecken, sollte mich das wundern …«

Ich schaute Paul an, Paul schaute mich an. Die Show war vorbei.

»Hansen, mal im Ernst. Was hecken wir denn eigentlich Neues aus?«, fragte mich Paul. Wir saßen in einer Pommesbude in der Nähe des Fernsehstudios und tranken ein Bier.

»Ich bin hin- und hergerissen«, antwortete ich. »Erst gestern hab ich die Nachricht bekommen, dass das mit dem Atelier klappt, deshalb würde ich am liebsten alle Lesetermine absagen und mich für die nächsten sechs Monate ins Atelier verkriechen und nur bauen und schmieden, verstehst du?«

»Ja, klar, verstehe ich das. Aber juckt es dich nicht, wenn du die Bilder von der Reise siehst? Die Räder sehen schon aus wie Museumsinventar, das ist doch ein total unbefriedigender Zustand!«

»Na klar, Mann! Natürlich will ich wieder weg. Dann gäb’s auch endlich mal was Neues zu erzählen.« Ich schaute auf meine leicht schwarz gefärbten Handwerkerhände und drehte an einem angerosteten Ring, den ich mir aus einem Nagel gebastelt hatte. Denselben habe ich Paul in Silber geschenkt. Er trägt ihn am linken Daumen, ich am rechten.

»Aber es muss was anderes sein. Irgendein neues Abenteuer«, sagte er und runzelte nachdenklich die Stirn. Wir standen auf und wollten bezahlen.

»Geht aufs Haus, Jungs!«, sagte da der Mann mit der fettbespritzten Schürze.

»Was … warum?«

»Damit ihr mal wieder was auf die Knochen kriegt. Ihr seid doch die Radfahrer aus dem Fernsehen, oder?«

»Ja, genau.«

»Finde ich super, Jungens. Ich bin mal mit’m Moped nach Moskau. Aber das ist lange her …«, sagte er und streifte sich die Hände an der Schürze ab.

Ja, verdammt, dachte ich. Wir müssen wieder los.

Wir liefen nachdenklich zurück zum Hotel. Immer wieder machte einer einen Vorschlag, aber nichts war dabei, das uns wirklich packte. Später im Hotelzimmer schlug ich meinem Bruder vor: »Lass uns doch diesmal ohne Geld losfahren und gucken, wie weit wir kommen.«

»Ohne Geld?«, fragte Paul.

»Dann sind wir ganz frei und unabhängig von Sponsoren und der ganzen Finanzierungsplanung. Einfach los!«, rief ich begeistert.

Nachdenkliche Stille. Paul schien angebissen zu haben, war aber noch skeptisch. »Und wie sollen wir essen, trinken, übernachten? Ganz ohne Geld geht das doch gar nicht«, warf er nach einer Weile ein.

»Hm, also vieles bekommt man umsonst, schlafen kann man im Zelt, Wasser können wir abkochen, zu essen findet man sicher auch was, und alles andere können wir uns vielleicht dazuverdienen, indem wir Dinge auf der Straße verkaufen.«

»Was denn für Dinge?«

»Zum Beispiel Sachen, die wir aus Schrott selber basteln!«

»So kommen wir maximal bis an den Bodensee!«, winkte Paul ab.

»Quatsch, Bodensee – einmal um die Welt!«, sagte ich, und mein Bruder lachte laut auf. »Wie willst du denn um die Welt, ohne Zug- oder Flugtickets bezahlen zu können?«

»Indem wir uns das Geld unterwegs verdienen, Alter!«

»Du willst mal eben auf der Straße tausend Euro für ’nen Flug in die USA verdienen, oder was?«

»Paul, hör zu. Als ich in Maastricht gekellnert habe, gab’s diesen Penner, der hat mit unerträglich schlechtem Mundharmonikaspiel einen besseren Tagessatz gemacht als ich bislang in meinem ganzen Leben!«

»Ja, klar. Woher willst du das wissen?«

»Na, weil der jeden Abend mit einem Riesenhaufen Kleingeld in die Bar kam, um zu wechseln. Wir brauchten Kleingeld, er brauchte Scheine.«

»Und wie viel war das?«, fragte Paul.

»300!«, rief ich aufgeregt. »Der hat täglich 300 gemacht, sein Bierchen getrunken und mir ein saftiges Trinkgeld gegeben. Der Typ ist bald Millionär, wenn er nicht alles versäuft!«

Paul staunte nicht schlecht.

»Und erinnerst du dich an Yichang, als wir kein Geld abheben konnten und uns wildfremde Menschen 350 Yuan geschenkt haben?«, sagte ich.

»Wie könnte ich das vergessen …«, antwortete Paul nachdenklich.

»Du hast ja recht, eigentlich cool die Idee. Unwahrscheinlich, dass man es schafft, aber gerade das ist ja der Ansporn. War bei der letzten Tour genauso.«

»Ohne Geld um die Welt!«

Für einen Moment war es still im Hotelzimmer, dann stand ich auf und suchte in der Minibar nach etwas, mit dem wir darauf anstoßen konnten, dass wir ein neues Abenteuer planten. Schokomilch in Dosen war das Feierlichste, was der Kühlschrank zu bieten hatte. Es klackte, als wir den Verschluss öffneten. Paul und ich stießen an.

»Einmal um die Welt!«, rief Paul.

»In 80 Tagen!«, antwortete ich.

»Und ohne Rad«, sagte Paul.

»Ohne Rad?«, fragte ich. »Okay, darüber reden wir morgen.«

Paul leerte die Dose in einem Zug und warf sich aufs Bett.

Das ist jetzt schon wieder ein Jahr her. In der Zwischenzeit hat Paul seinen Master in Human Factors an der TU Berlin gemacht, ich habe mein Produktdesign-Atelier aufgebaut, wir haben endlich unsere gemeinsame Wohnung aufgegeben, sind auseinandergezogen (man muss schließlich nicht alles teilen) und haben die letzten Monate damit verbracht, unser nächstes Abenteuer zu planen: In 80 Tagen um die Welt ohne Geld. Damit es ein richtiges Abenteuer wird, musste es einen Wettbewerbscharakter, ein klar definiertes Ziel haben und nicht einfach eine Unternehmung mit Open End sein. So etwas gibt uns den nötigen Ansporn und hilft uns dabei, die Reise zu planen. Außerdem hätte sich keine unserer Freundinnen auf ein Abenteuer ohne Zeitlimit eingelassen.

Doch jetzt stehe ich hier, und alles ist anders, als wir es uns vorgestellt hatten.

Ich sehe Paul, wie er vom Terminal zurückkommt. An seinem schnellen und beschwingten Gang kann ich erkennen, dass er gute Neuigkeiten mitbringt.

»Hansen, halt dich fest. Die haben mir nach ein paar Anrufen die direkte E-Mail-Adresse des Chefs vom Sponsoring Department gegeben und die E-Mail an ihn weitergeleitet. Es sieht nicht schlecht aus …«

Er schaut mich erwartungsvoll an, aber bevor ich in Jubel ausbreche, soll er erst mal mit der guten Nachricht herausrücken. »Wie meinst du ›nicht schlecht‹?«

»Na ja, keine Absage jedenfalls. Sie wollen das Ganze prüfen und sich in einer Stunde zurückmelden.«

»Dann einfach mal abwarten und Tee trinken, oder?«

»Nee nee, Freundchen«, lacht Paul. »Noch haben wir die Tickets nicht. Du trampst jetzt weiter oder verkaufst zumindest was aus deinem Bauchladen. Wer weiß, ob wir in Kanada was davon losbekommen.«

Grrr. Aber er hat recht. Wir haben noch einige »Sterni-Ringe«, Schmuck, den wir aus Sternburg-Kronkorken, einem in Berlin unter Studenten und Pennern beliebten Bier, gebastelt haben. Außerdem Armreifen aus gebogenem Draht und eine zum Halsschmuck umfunktionierte Fahrradkette. Hier in Lissabon kamen diese Sachen ganz gut an, aber wer weiß, ob irgendjemand in Kanada daran Gefallen finden wird.

Es hupt, wieder ein Taxifahrer, den wir schon seit Tagen vorbeifahren sehen. Er winkt uns zu und streckt den Daumen hoch. »Weitermachen!« soll das wohl heißen. Seitdem wir hier mit unserem Schild mit der Aufschrift »Canada/USA« stehen, sind uns Sympathie und Lacher sicher. Die Leute hupen und winken. Halten an, um uns die Hand zu schütteln oder ein Foto zu machen. Sogar die Polizisten, die uns am ersten Tag wegschicken wollten, waren am Ende von der Idee so begeistert, dass sie uns alles Glück der Welt wünschten und ab und zu neugierig vorbeifahren, um zu sehen, ob es wohl geklappt hat oder wir schon die Geduld verloren haben.

Eigentlich lautet eine unserer Regeln, dass wir nicht betteln und es für jede Spende immer eine Gegenleistung geben muss, hier im Vorbeifahren am Flughafen erweist sich das allerdings als schwierig. Die meisten wollen nichts aus unserem Bauchladen und haben keine Zeit für einen Witz – unser Angebot an Leute, die schon alles haben. Aber das Geld abzulehnen, das uns manche zustecken wollen, nachdem sie von unserem Reiseplan erfahren haben, geht dann irgendwie auch nicht, das wäre fast unhöflich von uns. Und wir können es doch so verdammt gut gebrauchen …

Erst um 19 Uhr kommt die erlösende Mail. »SATA schreibt!«, ruft Paul aufgeregt. Ich zücke die Kamera und filme Pauls Gesicht, um die Freude in seinen Augen in diesem Moment festhalten zu können, die hoffentlich gleich folgt. Aber leider verzieht sich sein Gesicht zu einer fragenden Grimasse. »Hä? Das ist dann wohl eine Absage, schätze ich …«

Ich lasse die Kamera sinken. »Was sagen sie denn?«

»Sie sind grundsätzlich bereit, uns den Flug zu sponsern, aber es gibt einen Haken. Wegen der Einreisebestimmungen in Kanada muss es auch einen Rückflug geben.«

»Aber wir brauchen doch gar keinen Rückflug, wir müssen doch weiter!«

»Klar, das ist das Problem, das wissen die ja auch.«

»Also sollen die uns eben einen Weiterflug buchen.«

»Die fliegen aber nicht nach Asien.«

Nach reichlich Überlegen kommen wir zu dem Schluss, dass die letzte Chance, die wir haben, darin besteht, ehrlich zu sein, und SATA anzubieten, die Verantwortung für den Rückflug selbst zu übernehmen, indem wir ihn einfach buchen und dann gleich wieder stornieren. Die Buchungsbestätigung ist ja alles, was man für die Einreise benötigt. Ob man storniert hat oder nicht, prüfen die an der Grenze gar nicht.

Als die Mail raus ist, lässt sich Paul neben mir auf den Boden plumpsen und nimmt einen tiefen Schluck aus dem Wasserkanister, den wir morgens immer in den Waschräumen des Terminals auffüllen. »Mal abwarten.«

»Ich weiß nicht, ob es nötig war, ehrlich zu sein«, überlege ich laut.

»Hansen, erstens ist die Mail jetzt schon raus, und zweitens: Die wissen doch, dass wir weiter nach Japan wollen, außerdem will ich den Leuten, die uns helfen, nichts vormachen.«

»Das sind keine Leute, das ist eine fette Fluggesellschaft!«

»Natürlich sind das Leute. Es ist die Frau am Infostand, der Chef vom Sponsoring Department, ich kenne ihre Namen!«

Bevor wir uns jetzt in einen Grundsatzstreit verwickeln, winke ich ab. Eine Minichance gibt es noch. Vielleicht lassen sie sich ja darauf ein. Da es schon langsam dunkel wird, beschließen wir, für heute abzubrechen und auf das Beste zu hoffen. Zum Abendessen gibt es zum gefühlt zwanzigsten Mal Reis mit Butter, dann bauen wir das Zelt auf.

»Morgen müssen wir eine Entscheidung treffen und so oder so einen Flug buchen. Kein Flughafentrampen mehr«, sagt Paul als Wort zum Dienstag. »Noch eine Nacht bleibe ich hier nicht.«

»Amen, Bruder«, sage ich und schlafe trotz Flugzeug- und Straßenlärm wenig später ein.

Als wir am nächsten Morgen mit routinierten Handgriffen noch im Halbschlaf das Zelt einpacken, ist die Stimmung verhalten. »Hansen«, sagt Paul nachdenklich, als wir wenig später beide auf dem Boden sitzen und die letzten Karotten kauen, die vom gestrigen Einkauf noch übrig geblieben sind. Der Spiritus zum Kaffeekochen ist leer. »Was erwarten wir eigentlich? Wir standen in Sevilla eineinhalb Tage an der Straße, ohne mitgenommen zu werden. Dachten wir etwa, dass es am Flughafen einfacher werden würde als auf einer Autobahnauffahrt? Wir können doch wohl kaum erwarten, dass wir hier innerhalb von zwei Tagen mitgenommen werden?«

»Gestern Nacht klang das aber noch ganz anders«, sage ich.

»Ich hab mir das noch mal durch den Kopf gehen lassen. Lass uns noch einen dranhängen, aller guten Dinge sind drei, das wird sicher hart heute, aber nur die Harten kommen in den kanadischen Garten!«, versucht er die Stimmung aufzulockern.

Ich nicke nachdenklich. »Du hast recht, wir müssen weitermachen. Aber wenn die Fluggesellschaft endgültig absagt und wir von niemandem mitgenommen werden, müssen wir den Flug buchen, da gibt es schon jetzt nur noch wenige Plätze. Was machen wir, wenn der dann ausgebucht ist?«

»Okay, lass uns bis heute Mittag eine Entscheidung treffen«, sagt Paul. »So, wie ich das sehe, haben wir vier Möglichkeiten. Erstens: Wir finden jemanden, der uns mitnimmt. Zweitens: SATA sponsert uns den Flug, wir können von Toronto direkt weitertrampen und erreichen mit knapp 500 Euro Vancouver, bräuchten also nur noch 500 für den Flug nach Japan. Dritte Möglichkeit: Die Fluggesellschaft sponsert uns nicht, wir kriegen noch zwei Plätze für 490 Euro in dem Billigflieger am Freitag nach Toronto, können mit den übrigen knapp 200 bis nach Vancouver weiter und müssten da genug verdienen, um nach Japan zu kommen. Oder viertens, die schlechteste Variante: Gar nichts passiert, SATA sagt ab, auch der billige Flug ist bis heute Mittag ausgebucht, und dann sind wir gearscht.«

»O Gott, bitte nicht«, jammere ich. »Warum haben wir uns diese Scheißregeln aufgehalst. Warum kann man nicht mal die paar Euro, die uns fehlen, vom Konto drauflegen? Der teurere Flug kostet 760! Die haben wir doch fast.«

»Weil wir damit schon die allererste Hürde nicht geschafft hätten. Das war nicht der Deal!« Paul schaut mich böse an. Er kann so ein Prinzipienreiter sein. Amtsschimmel auf Abenteuerreise, denke ich, reiße mich aber gleich zusammen. Es stimmt ja, sobald wir zum Bankautomaten gehen, ist die Reise gelaufen.

»Dann warten wir jetzt bis 14 Uhr, ob ein Wunder geschieht und uns einer mitnimmt oder ein paar Hunderter zusteckt, hoffen auf SATA, und wenn die absagen, buchen wir den billigen Flug.« Ich klinge gespielt optimistisch. »Den es dann ganz bestimmt noch gibt.«

Paul ist schon längst wieder in sein Handy vertieft. »Keine Nachricht von SATA«, sagt er. Und ein paar Klicks später: »Und nur noch zwei Plätze im billigen Flieger.«

Ich versuche, gar nicht hinzuhören, baue unseren Hitchhiker-Altar auf und rücke unseren Talisman, einen kleinen Globus, dekorativ in Position. Irgendetwas muss einfach passieren.

Europa

VON BERLIN BIS LISSABON

Nur weg hier

6. MAI, TAG 1, BERLIN, DEUTSCHLAND, KONTOSTAND: € 0,00

PAUL

So verlasse ich normalerweise das Haus: Handy – check, Schlüssel – check, Geldbörse – check. Und heute? Handy – check, Schlüssel – check, Geldbörse nicht dabei – check. Wir verdienen uns unser Reisebudget auf dem Weg. Das ist alles so schön gedacht, aber was es wirklich bedeutet, keinen einzigen Cent in der Tasche zu haben, nichts abheben zu können, sich nichts leihen zu dürfen, aus nichts, das vor Tag X, unserem Abreisetag, passiert ist, Kapital zu schlagen oder Hilfe annehmen zu dürfen, das begreift man erst, wenn man wirklich in der Situation ist.

Um Viertel nach fünf im Morgengrauen des 6. Mai 2015 machen mein Zwillingsbruder Hansen und ich uns auf den Weg in die weite Welt hinaus. Zu Fuß. Hinter uns ziehen wir zwei selbst gebaute, einrädrige Kästen aus weißem Plastik her, die exakt so groß sind, dass sie nicht als Sperrgepäck gelten, beide in den Kofferraum eines Golf passen und Zelt, Schlafsäcke, Kocher und Klamotten für 80 Tage darin verstaut werden können. Das bedeutet: zwei Unterhosen – eine zum Tragen, eine zum Waschen und Trocknen –, eine Jeans, ein Hemd, ein T-Shirt, eine Badeshorts und eine Regen- und eine Fleecejacke, die unsere Mutter uns geschenkt hat.

Als wir die Kästen über das Kopfsteinpflaster der Friedelstraße in Berlin-Neukölln ziehen, rattern sie ziemlich, danach lassen sie sich ganz smooth über den glatten Asphalt ziehen. »Haben wir gut gemacht«, stupse ich meinen Bruder an. Um ehrlich zu sein, war Hansen derjenige, der darauf bestanden hatte, die Wanderanhänger selbst zu bauen. Von mir aus hätten wir auch welche kaufen können, aber das fand mein Bruder falsch. Erst dick Geld für allerlei Hightechkram ausgeben und dann mittellos reisen fühlt sich komisch an. »Außerdem wären die Standardanhänger für unsere speziellen Bedürfnisse niemals so gut gewesen wie die von mir konstruierten!«, wird Hansen nicht müde zu betonen. Es stimmt. Mein Bruder ist ein handwerkliches Genie. Ich bin auch nicht übel, aber er hat noch mehr drauf. Für ihn als Produktdesigner und im letzten Jahr gelegentlich auch Hausmeister und Aushilfsdachdecker gibt es nichts, was er nicht reparieren könnte, und meistens baut er sich das Werkzeug dazu auch noch selbst. Scheinbar unlösbare Aufgaben sind ihm die liebsten, das war schon immer so. In den kommenden Tagen wird dies unser Ass im Ärmel sein.

Die Idee ist, aus Gefundenem Neues zu basteln und es dann zu verkaufen, uns selbst als Hilfsarbeiter anzubieten, als Babysitter, Entertainer, Möbelpacker – und auf wundersame Gelegenheiten zu hoffen. Hauptsache, es bringt uns weiter. Nur unsere Körper dürfen wir nicht verkaufen, eine Bedingung unserer Freundinnen, die unser Vorhaben erschwert.

Unser erstes Ziel ist der Alexanderplatz. Wir laufen am Kiosk vorbei, an dem ich vorgestern noch Bier und Chips gekauft habe, aus der Eckkneipe fallen die letzten betrunkenen Gäste, und ein paar Meter weiter duftet es köstlich nach frisch gebackenen Brötchen und aufgebrühtem Kaffee. »Mmmhhhh«, macht Hansen und denkt ganz sicher dasselbe wie ich. Könnte man doch jetzt einfach da hineinspazieren und einen heißen schwarzen Kaffee kaufen! Aber leider: Nein. Nicht möglich. Um die Ecke hält die U-Bahn, vier Stationen, und man ist am Alexanderplatz. Auch die müssen wir an uns vorbeiziehen lassen und zu Fuß laufen. Das einzige Geld, das wir mit uns herumtragen, ist der Glückspfennig, den unser Vater uns mit auf den Weg gegeben hat. Der baumelt durchbohrt an einer Kette neben dem Talisman, den unsere Mutter für uns geschmiedet hat: ein kleiner goldener Kreis, auf dem siebenmal die Rune Algiz eingearbeitet ist, ein keltisches Zeichen, das uns vor Unholden schützen soll.

Ach, unsere lieben Eltern, denke ich und hoffe inständig, dass sie auf dieser Tour nicht wieder tausend Tode sterben. Trotz dieser Qualen. Immer unterstützen sie unsere Pläne, vertrauen uns blind. Nie sagen sie: »Ihr seid 33, wollt ihr nicht endlich mal ein anständiges Leben führen?!« Dabei stelle ich mir selbst manchmal diese Frage. Ich habe erst vor einigen Monaten die Uni abgeschlossen und könnte jetzt so richtig loslegen und mir einen spannenden Job suchen. Außerdem habe ich seit einem Jahr eine Freundin, die ich in den kommenden drei Monaten fürchterlich vermissen werde. Was zieht mich eigentlich weg aus Berlin?

Hansen und ich stapfen die Heinrich-Heine-Allee entlang in Richtung Jannowitzbrücke. Die Gegend sieht trostlos aus. Um diese Uhrzeit machen sich die ersten müden Gesichter auf den Weg zur Arbeit. Meine Straße in Neukölln wacht erst so gegen neun Uhr wirklich auf. Bis dahin ist nur in den Bäckereien oder 24-Stunden-Kneipen Betrieb. Während ich noch ganz in Gedanken versunken bin, scannt Hansens Blick schon fleißig die Straße nach Brauchbarem ab. Am Alex wollen wir heute aus den Dingen, die wir auf dem Weg dorthin finden konnten, Schmuck basteln und verkaufen, um uns das erste Geld für etwas Essbares und eine S-Bahn-Fahrt in Richtung Autobahn zu leisten. Am besten natürlich noch viel mehr.

»Wir müssen heute so richtig reinhauen, Paul«, versucht Hansen mich aus meiner Träumerei zu wecken. »Hier in Berlin sind wir zu Hause, wir können uns verständigen, am Alex tummeln sich Tausende Touristen, wenn wir uns ein bisschen anstrengen, können wir dort schon das Geld für den ersten Flug zusammenkriegen!«

»Das wären 500 Euro!«

»Wenn nicht hier, wo dann?«

Ich bin etwas skeptisch, was dieses Tagesziel betrifft, will aber nicht schon auf den ersten Metern die Stimmung verderben, sage deshalb: »Vielleicht hast du ja recht …« und lenke meinen Blick auf den Boden.

Wir sammeln Kronkorken, Schrauben, Nägel und Drähte und stecken alles in einen Umhängebeutel. Eine herrenlose Fahrradkette, ein Regenschirm und ein paar Pfandflaschen finden wir auch. Sogar Geld! 43 Cent insgesamt.

Mitten auf der Jannowitzbrücke bleibt Hansen stehen. »Paul, hier hängt ein altes Zahlenschloss mutterseelenallein! Das könnte ich knacken und auf null stellen!«

»Wenn’s niemandem gehört?«

»Also, so wie ich das sehe, wird das ganz sicher niemand vermissen.«

Hansen kniet schon vor dem Schloss, hinter ihm taucht gerade die aufgehende Sonne die Spree in zarte Rottöne. Ach, Berlin. Du wirst mir fehlen. Nach ewigen Gefummel tönt es von der Brücke: »Zack, ich hab’s!« Hansen hält das Schloss triumphierend in die Luft. Zum Glück hat mein Bruder keine kriminelle Ader, sonst wäre kein mit Zahlenschloss gesichertes Rad vor ihm gefeit.

Jedem Radfahrer, der uns entgegenkommt, hält Hansen die kostbare Ware entgegen. »Brauchen Sie vielleicht ein Fahrradschloss?«

Und tatsächlich, schon der dritte schlägt in den Handel ein und gibt uns 10 Euro dafür. Unser erstes selbst verdientes Reisegeld!

Etwa zwölf Stunden später sitzen wir im Tiergarten und sind völlig frustriert. Die Aktion am Alexanderplatz war ein absoluter Reinfall.

»Es lag an den verdammten Regenjacken!«, schimpft Hansen. »Du rot, ich blau. Damit sehen wir aus wie die Leute, die einem ein Zeitungsabo andrehen wollen.«

»Es liegt an diesem fürchterlichen Platz und den muffigen Berlinern!«, antworte ich.

Geschlagene zehn Stunden haben wir unsere Fundstücke und den selbst gebastelten Schmuck feilgeboten und den Menschen von unserem Vorhaben erzählt, aber meistens kam bloß ein blöder Spruch oder ein angewiderter Blick. Etwa drei Stunden davon saß Markus, ein mitteilungsbedürftiger Mittvierziger, neben uns, der jeden Handgriff, die ungünstige Wetterlage, die Weltpolitik und anderes kommentierte und sich nicht zum Weiterziehen entschließen konnte. Als Markus endlich »mal für kleine Alexianer« musste, nutzten wir die Gelegenheit für einen taktischen Stellungswechsel. An einer anderen Stelle begannen wir in Ruhe, eine kleine Serie aus Ringen zu fertigen. Ich spezialisierte mich auf Ringe aus Kronkorken von Sternburg-Bier und Fahrradketten-Teilen, Hansen bog aus Draht Spiralen und Ringe.

Danach lief es besser, aber der ganze Aufwand brachte unsere Kasse am Ende des Tages zusammen mit dem Fahrradschloss auf gerade mal 56 Euro und die Laune schon am ersten Abend in den Keller. Außerdem fühlte es sich irgendwie unangenehm an, nur wenige Meter von zu Hause und einer bequemen Wohnung mittellos zu sein. Theoretisch hätten wir ja jederzeit zurückgekonnt. Aber damit wäre es dann auch gleich vorbei gewesen.

An einer uneinsichtigen Stelle im Tiergarten schlagen wir jetzt unser Zelt auf, essen Spaghetti mit pürierten Tomaten aus der Dose und kriechen in die Schlafsäcke.

Keine sechs Kilometer entfernt von meiner Freundin, die ich für mindestens 80 Tage nicht sehen werde. Ich höre Hansen seufzen, ihm geht bestimmt dasselbe durch den Kopf. Trotz allem fühlt es sich gut an, wieder unterwegs zu sein, denke ich noch und schlummere ein.

*

Ich bin platt. Es sind erst zwei Tage rum, und wir sind gerade einmal bis Nikolassee am westlichen Rand von Berlin gekommen.

Der Tag fing schon nicht allzu vielversprechend an. Nachdem wir die halbe Nacht vom Seelöwengeheul aus dem Zoo wachgehalten wurden, sind wir erst um sieben aufgestanden. Als wir dann endlich unterwegs waren, war es schon halb elf. Entlang der S-Bahn-Gleise sind wir über Bahnhof Zoo in Richtung Avus gestartet, um von dort aus nach Lissabon – oder sagen wir erst mal Köln? – zu trampen. Vor unseren Augen wurde das Zeltlager der Obdachlosen entlang der S-Bahn-Gleise, das wir am Tag zuvor schon auf dem Weg zum Supermarkt gesehen hatten, von einer Ordnungsamt-Armee niedergemäht. Alle Zelte in großen Containern entsorgt. Wie entwürdigend. Gestern Abend hatten sie alle auf ihren selbst gebauten Stühlen und Bänken gesessen und Musik gemacht. Heute hockten die meisten resigniert vor ihrem Lagerplatz, manche diskutierten wild mit den Beamten.

Entsprechend bedrückt waren Hansen und ich auch, bis wir beschlossen, uns endlich einfach in das Abenteuer hineinzustürzen und loszufahren, einfach mal unseren Plan aufzugeben, in Berlin den Flug nach Kanada zu verdienen. »Scheiß drauf, ob wir genug Geld haben, wir stellen uns jetzt an die Autobahn und fahren los«, sagte ich, und Hansen stimmte mir zu: »Hauptsache raus aus Berlin!« In diesem Moment fühlte sich der zweite Tag mehr wie der tatsächliche Abreisetag an. Jetzt sollte uns nichts mehr aufhalten.

Unsere Euphorie hielt allerdings nicht lange. Nachdem wir den gesamten Ku’damm entlang bis zur Avus-Raststätte beim Dreieck Funkturm abgelaufen sind, mussten wir dort feststellen, dass der Ort sich überhaupt nicht zum Trampen eignete: Wer macht schon Pause auf der ersten Raststätte, wenn er dazu auch noch umständlich abfahren muss? Wir haben also schlicht keine Autos gefunden, die in Richtung Köln fuhren – oder überhaupt aus Berlin raus. Um noch rechtzeitig von Berlin wegzukommen, beschlossen wir, die S-Bahn bis Nikolassee zu nehmen und dort den Verkehrsstrom Richtung Magdeburg abzufangen. Gesagt, getan – und wenige Minuten später, dummerweise, nachdem wir die zwei Tickets à 2,70 Euro schon abgestempelt hatten, wurden auch wir Opfer des längsten Bahnstreiks der Geschichte. »Aufgrund eines Streiks ist der
S-Bahn-Betrieb derzeit eingestellt«, plärrte eine ironisch-heitere Stimme aus den knackenden Lautsprechern. Vielleicht kam sie uns auch nur ironisch vor, weil sie derart schlechte Neuigkeiten verbreitete.

Nach fast eineinhalb Stunden Busfahrt anstelle von zehn Minuten S-Bahn kamen wir endlich an einer Stelle an, die zum Trampen mehr als geeignet schien. »Stell dich in Position, Hansen«, rief ich. »Hier dauert es keine zehn Minuten, und wir sind weg.«

»Länger wäre auch schlecht, es wird bald dunkel«, antwortete Hansen und kritzelte in großen Buchstaben KÖLN auf unser multifunktionales Whiteboard, das wir zum Trampen und als Ablage zum Schmuckverkauf verwenden und immer wieder neu bemalen können.

Immerhin einige, die ich währenddessen auf dem Rastplatz ansprach, wollten uns gern mitnehmen, hatten aber keinen Platz für zwei lange Jungs plus Reisegepäck. Plötzlich hupte hinter mir ein Bus. Ich sprang zur Seite und sah einen Fernbus, in dem außer dem Fahrer kein Mensch saß. »Hansen, das ist unsere Chance, der muss uns mitnehmen!«, rief ich meinem Bruder zu.

Der Fahrer, ein gemütlicher Mann mit imposantem Schnauzbart, öffnete die Tür, hörte sich interessiert meine Geschichte an und fragte: »Wohin wollt ihr denn eigentlich, Jungelchen?«

Ich sagte: »Westen, Portugal, erst mal Köln oder so!«

»Aber ich fahr doch nach Berlin!«, antwortete er mit bedrückter Miene. So ein Mist. Hätte ich doch gleich fragen können. Als ich mich gerade enttäuscht wegdrehen wollte, rief er mir noch hinterher: »Das hier kann ich euch geben. Hat jemand vor ein paar Tagen liegen lassen.« Er hielt ein dickes Buch in der Hand: Die Tochter des Hirsch-Clans. Dankend nahm ich das schwere Geschenk entgegen. »Ein E-Book wäre praktischer gewesen«, nörgelte Hansen. »Aber dieses hier können wir ja vielleicht verkaufen.«

Eine Stunde später gesellte sich dann Peer, ein Zimmermann auf der Walz, zu uns, der von der gleichen Stelle nach Leipzig trampen wollte. Netter Typ, der uns, kaum, dass wir ihm von unserem Plan erzählt hatten, erst mal ein paar Bier von der Tankstelle holte. Zwar war die Situation in der Konstellation »Drei Typen stehen mit viel Gepäck und Bier am Straßenrand und wollen trampen« dann wirklich hoffnungslos, aber dafür haben wir mit dem lustigen Peer unsere erste richtige Reisebekanntschaft gemacht.

Was haben wir heute verdient? Nichts. Bloß Geld ausgegeben. Fürs Essen, für die Busfahrt. Aller Anfang ist schwer.

»So, Jungs, wo betten wir denn heute unsere bierschweren Häupter?«, fragt Peer in die Runde.

Wir schauen uns um. Ein Stück weiter hinten ist die Spinnerbrücke, Berlins größter Bikertreff, und vor dem Clubhaus ein einladend grüner Rasen … Perfekter Zeltuntergrund.

»Sollen wir die Typen einfach mal fragen?«, schlage ich vor.

»Die werden uns schon nicht auffressen«, sagt Hansen und stapft los. Bald darauf kommt er lachend zurück. »Davor ist nicht okay, denn wir könnten ihre Kollegen, die morgen früh hier arbeiten, erschrecken, aber dafür hinter dem Pavillon!«

»Die haben Angst vor uns?«, frage ich ungläubig.

»Sag ich ja, Jungs«, witzelt Peer. »Männer in Lederjacken haben die dünnste Haut.«

Nach einer bitterkalten Nacht haben wir uns schon um 4 Uhr 45 aus den Schlafsäcken gepellt. Peer war schon weg. Um ihn nicht mit unserem Zelt hinter’m Pavillon zu erschrecken, laufe ich zu einem komplett tätowierten Mann, der in kurzer Hose und Lederweste damit beschäftigt ist, das Laub wegzublasen. Statt des erwarteten Anschiss’ kommt eine Entschuldigung: »Wenn ick jewusst hätte, dat ihr da drinne pennt, wär ick leiser jewesen, wa?« Schon lustig, diese Missverständnisse.

Keine Stunde nachdem wir an der Autobahn stehen, hält ein kleiner Hyundai an. »Das gibt’s ja nicht!«, ruft eine junge Frau durch das heruntergelassene Fenster. »Wir haben euch vorgestern am Brandenburger Tor vorbeilaufen sehen. Wir fahren nach Frankfurt, können wir euch mitnehmen?« Zwar steht auf unserem Schild Köln, aber in Richtung Lissabon macht das keinen Unterschied. Lena und ihr Freund Ben müssen mindestens 20 Minuten das gesamte Auto umpacken, um unsere doch etwas sperrigen Anhänger in dem kleinen Kofferraum unterzubringen, aber dann geht es raus aus Berlin.

»Ihr seid unsere Rettung!«, jubelt Hansen auf der Rückbank zwischen Bergen von Taschen und Hemden. »Endlich geht es wirklich los!«