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Brigitte Blobel

Das kalte Land

Roman

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40

Leonie steigt in Norgaardholz aus dem Bus. Herta Mathern, die auf der Strecke neben ihr gesessen hat, steigt auch aus. Leonie hilft ihr mit der Kinderkarre. In dem Netz an der Kinderkarre steckt Hertas Handtasche, eine Plastiktüte vom Fleischer. Bei Herta gibt es heute Abend Rouladen, hat sie erzählt. Mit Räucherspeck und kleinen Gürkchen. Bodo Mathern arbeitet in der Baumschule von Tarup. Leonie kennt Hertas Mann gut. Bei ihm hat sie sich Rat geholt wegen der Eiben, die in einem Frühling plötzlich braun geworden waren. Zu wenig Torf eingearbeitet, hat Mathern gesagt. Und dann wollten die Rhododendron ein Jahr nicht richtig blühen, und Mathern hat ihr einen Sack Magnesium mitgegeben. Er hat die Kronen des alten Apfelbaumes fachmännisch abgeschnitten, an einem Sonntag, in seiner Freizeit, und dafür nichts verlangt.

»Es ist eine Freude, in deinem Garten zu arbeiten«, hat er gesagt und sich tief atmend umgeschaut. »Da sieht man richtig, wie du die Liebe in den Boden eingearbeitet hast. Blumen spüren, ob man sie liebt oder nicht. Blumen haben eine Seele wie Tiere und Menschen.«

Ob Herta das auch weiß, bezweifelt Leonie. Herta ist ein molliger, mütterlicher Typ mit einem weichen Gesicht, aber innen steckt ein harter Kern. Sie ist geizig und missgünstig und hat nie verwunden, dass ihr Bodo nicht Partner der Baumschule geworden ist. Dann hätten sie jetzt Geld, richtig Geld, denn die Baumschule geht gut. Besonders die zwanzigjährigen, dreißigjährigen Bäume und Nadelhölzer gehen jetzt gut. Es ist modern geworden, Parks anzulegen, wie früher in England, wie die Fürsten in der Renaissancezeit. Leute, die ihre Häuser nach dem letzten Geschmack eingerichtet haben, sind jetzt auf den Gedanken gekommen, ihre Gärten zu Parklandschaften umzuwandeln. Abends, wenn Mathern von seiner anstrengenden Arbeit nach Hause kommt, braucht er etwas Handfestes zu essen, was Nahrhaftes.

»Der Meine ist ein Fleischfresser«, sagt Herta vergnügt und kneift dabei dem Junior, der zum Platzen dicke Backen hat, in die Speckärmchen. »Meine beiden Männer sind so richtig gute Futterverwerter.«

Der Karton mit den Pampers fällt in den nassen Sand, als sie die Karre etwas schief halten. Aber Herta lacht.

Die Straßenlaternen gehen in diesem Augenblick an. In der Dämmerung kann man den Leuchtturm von Holnis sehen, das Scheinwerferlicht, das die graue Luft durchschneidet, einen Keil in die Dämmerung wirft, sie auf einmal anleuchtet und weiterschweift, über die Baumwipfel hinweg auf das Meer, das man hinter einem Schleier von Wolken und Seenebeln nur noch ahnen kann.

»Was von Annkatrin gehört?«, fragt Herta, als die Türen des Busses sich schließen und er aus der Parkbucht fährt, den Blick freigibt auf den kleinen Dorfteich mit dem eingezäunten Grün, auf dem tagsüber Enten herumwatscheln. Jetzt hocken sie reglos im Wasser, die Köpfe in ihrem Gefieder versteckt.

»Sie ist zurück«, sagt Leonie leichthin. »Schon eine ganze Weile.«

Herta reckt den Kopf, schaut Leonie neugierig an. »Ach ja?«, fragt sie eifrig, berstend vor Neugier. »Ach wirklich? Wo war sie denn?«

»Bei Freunden«, sagt Leonie mit gut gespielter Munterkeit und lächelt ein falsches Lächeln. »Wie Mädchen so in dem Alter sind. Vergessen Gott und die Welt. Und besonders, dass die Eltern sich zu Hause Sorgen machen.«

»Ihr habt ja sogar eine Vermisstenanzeige aufgegeben.« Hertas Stimme vibriert vor Eifer. Leonie kann sich vorstellen, wie sie das Abend für Abend mit ihrem Mann durchgehechelt hat. Die Frau, die er so gut findet, von der er sagt, sie habe Liebe in die Blumenerde mit eingegraben. Ihre Pflanzen hätten eine Seele! Ja, denkt sie grimmig, aber das ist die Liebe, die Annkatrin wahrscheinlich gefehlt hat. Sie kann sich vorstellen, was für eine Frau Leonie, was für eine Mutter, eine ganz andere als sie, Herta, jedenfalls für ihr Kind war. Und man braucht Junior in der Karre nur anzusehen. Der gedeiht so prächtig, weil er all die Liebe bekommt, die Leonie auf das Falsche verwandt hat. Auf was ganz Falsches, wenn man dem Gerede Glauben schenken darf, das damals die Runde gemacht hat, als die Franzosen wieder abgereist sind. Wie hieß er noch, dieser charmante Winzer, dieser Schönling mit dem französischen Getue? Sie hat den Namen vergessen. Aber das Bild, wie Leonie in diesem schamlosen roten Kleid mit ihm getanzt hatte, so Haut an Haut und Unterleib an Unterleib, das vergisst sie nicht.

»Sag deinem Mann schöne Grüße.«

Leonie lächelt, wuschelt einmal zärtlich durch Juniors Haar und geht davon.

Herta schaut ihr nach, beugt sich vor, bringt die Haare ihres Jüngsten wieder in Ordnung. »Was die sich denkt.« Und schiebt in die andere Richtung davon.

Später wird sie sich fragen, warum sie sich gar nicht gewundert hat, dass Leonie um diese Abendzeit mit ihr im Bus sitzt. Warum kein Wort darüber gefallen ist, wohin Leonie will. Sie hat schließlich alles erzählt, das mit den Rouladen und den Salzgürkchen, und warum sie mit der neuen Schlafzimmergarnitur so glücklich sind. Leonie hat wie immer nichts gesagt. Und irgendwie hat sie sich nicht getraut zu fragen. Bei Leonie traut sich ja niemand.

41

Ruth Lindgurt sitzt vor dem Fernseher, ein Glas Rotwein in der Hand, und verfolgt die Nachrichten, die sie nicht interessieren. Bosnien, die Weltwirtschaftskonferenz, das deutsch-französische Verhältnis, das Zerwürfnis im Hause Windsor, der Skandal bei den Modenschauen in Mailand. Nackte Models auf dem Laufsteg! Mit diesem Bild, das die Regie erstarren lässt, gehen die Nachrichten zu Ende, und sie stellt den Ton ab.

Sie zieht die Beine an den Körper und zieht die Wolldecke zurecht. Auf dem Tisch stehen die Reste einer Pizza, die sie im Ofen aufgebacken hat. Erst zu spät hat sie sich erinnert, dass ihr abends von Salami immer schlecht wurde. Sie hat dann die letzten Tomaten, die sie noch im Kühlschrank gefunden hat, geviertelt und mit einer Soße aus Balsamico-Essig und Keimöl übergossen. Aber der Essig war zu scharf, hat in ihrer Kehle gekratzt und muss nun mit Rotwein weggespült werden. Am Tag hat sie Weißwein getrunken. Die Flasche stand schon entkorkt im Kühlschrank. Und weil sie Durst hatte und nicht rausgehen wollte in die Garage, um Mineralwasser zu holen, hat sie eben Wein getrunken. War ja auch egal. Sie musste nicht zum Dienst. Keine Schulklasse wartete auf sie. Keine Klausur musste sie vorbereiten, und bis sie wieder die Kraft hätte, um Klassenarbeiten zu korrigieren, würde viel Zeit vergehen.

Als Ruth sich von der Seitenlage in die Rückenlage dreht, quietscht es unter ihrem Sofapolster. Sie zuckt zusammen. Sie wird ganz weiß. Ihr Herz flattert. Sie versucht, sich zu beruhigen. Was war das für ein Geräusch? Sie lauscht. Es wiederholt sich nicht. Du hast geträumt, denkt sie, und greift wieder zum Glas. Da, dieses Geräusch. Wie ein Quietschen und Knarren. Direkt unter ihr, unter ihrem Sofa.

Sie erstarrt vor Angst. Der Arzt hat ihr erklärt, dass der Schock des Brandanschlages ihr Nervensystem durcheinandergebracht hat. Das braucht er ihr nicht zu sagen, das spürt sie. Eine Neigung zur seelischen Instabilität, hat der Arzt das mitfühlend genannt, mit Schüben von Depressionen und Angst, gemischt mit Attacken von wirklicher Panik, die unkontrollierbar ist. Sie schließt die Augen. Atmet ruhig ein und aus.

Du bist ein vernünftiger, erwachsener Mensch, Ruth, sagt sie sich. Es ist nichts. Das Haus ist leer. Außer dir ist niemand in diesem Haus. Jedes Geräusch, das entsteht, wird von dir selber verursacht. Es sei denn, der Fernseher implodiert oder der Garderobenhaken löst sich von der Wand, und alles fällt auf den Boden, Kleiderbügel, Spazierstöcke. Bei dem Gedanken rast schon wieder ihr Herz.

Ruhig, Ruth, ruhig, denkt sie, stellt das Glas weg. Lauscht, ohne in Panik zu geraten, und hört wieder das Quietschen. Sie steht hastig auf, reißt das Polster weg. Da liegt die rote Quietschmaus, die sie ihrer Katze zum zweiten Geburtstag geschenkt hat. Sie ist durch den Polsterschlitz gerutscht, irgendwann.

Ruth lächelt. Sie nimmt die Maus, drückt sie zärtlich und lauscht auf das klägliche Quietschen. Sie sieht das Bild ihrer Katze vor sich, wie sie mit der Maus spielt. Wenn man die Maus aufzieht, rennt sie davon, in weiten Kreisen und unkalkulierbaren Bahnen. Ihre Katze hat mit der Pfote nach ihr gegrapscht, hat sie im Sprung gefangen und ihr das Genick durchgebissen. Und die Maus hat gequietscht, als wäre sie wirklich lebendig und in Todesangst. Das leidenschaftliche Knurren ihrer Katze, dieser Jägerinstinkt. Dieses Katz-und-Maus-Spiel. Millionenfach täglich überall auf der Welt wiederholt. Es war Ruth lieber, die Katze spielte mit der Plastikmaus. Dann brachte sie nicht mehr die echten, toten Mäuse morgens an ihr Bett und legte sie triumphierend neben ihre Lammfellpuschen auf den Bettvorleger. Einmal hat sie ihre Beute sogar auf Ruths Kopfkissen gelegt. Als Ruth aufwachte, sah sie ein halb totes, graues Etwas direkt an ihrem Mund. Sie hat geschrien. Die Katze ist mit Hechtsprüngen davon. Sie ist der Katze hinterher, hat einen Schuh nach ihr geworfen, den weichen Lammfellschuh, aber die Katze ist auf den Schrank geflüchtet, und Ruth musste die halb tote Maus entfernen. Hat das mit einem Kleenex gemacht, mit spitzen Fingern. Hat es nicht über sich gebracht, die Maus ganz zu töten, weil ihr nicht einfiel, wie. Hat die Maus so mit pochendem Herz in die Mülltonne geworfen. Warum um alles in der Welt fällt ihr das jetzt ein? Sie wirft die Plastikmaus weg und greift mit zitternden Fingern zum Glas. Da klingelt es an der Tür.

Ruth erschrickt, wird steif vor Angst. Nichts passiert. Alles ist still. Über den Fernsehschirm laufen die Bilder und Schriften und Tafeln, das Lächeln der Ansagerin. Dann das ernste Gesicht des Moderators.

Es klingelt schon wieder. Ruth reagiert nicht.

Alle Gardinen sind vorgezogen. Die Holzläden verschlossen, bis auf die zwei im Schlafzimmer, deren Holzbolzen verrottet waren. Der Schlosser hat es ihr gezeigt. Hat ihr erklärt, warum er da nichts machen kann. Warum sie einen Tischler holen muss. Aber das dauert erst wieder Tage, hat sie gefleht, bis das gemacht ist. Ich kann’s nicht ändern, hat der Schlosser gesagt. Aufrichtiges Mitleid, ich weiß, wie Sie sich fühlen. Aber es wird schon nichts passieren. Woher wollen Sie das wissen?, hat Ruth geschluchzt und die Hände vor das Gesicht gehalten, weil sie sich schämte, vor einem Fremden, einem einfachen Mann wie dem Schlosser, zu weinen. Ein Verrückter will mich umbringen. Ein Verrückter will mich fertigmachen.

Das wird sich aufklären, hat der Schlosser gutmütig tröstend gesagt. Ein hilfloser Versuch, denn wie sollte sich das schon aufklären, wenn keiner was wusste.

Die Vorhänge im Schlafzimmer sind auch zugezogen. Sie hat auf Anraten des Schlossers, der ein praktischer Kopf war, Holzkeile unter die Fenstergriffe geschoben. Absolut sicher, hat der Schlosser gesagt, hundertprozentig.

Ruth steht auf. Ihre Füße in Tennissocken schleichen über den Teppich hin zur Diele. Sie geht vorsichtig durch die Diele, knipst das Licht aus, späht durch das winzige Guckloch. Angstvoll, mit klopfendem Herzen. Aber sie sieht nichts. Nur Regenschlieren. Sonst nichts.

Sie geht vorsichtig zur Arbeitszimmertür, die verschlossen ist. Abgeschlossen. Sie legt den Kopf an die Tür und lauscht. Sie hört nichts. Sie geht ins Bad, knipst auch dort das Licht aus. Das Bad hat nur ein Oberlicht aus Glasbausteinen. Sie hört das Klopfen der Regentropfen. In ihren Schläfen pocht der Schmerz. Sie schleicht ins Schlafzimmer. Hier brennt kein Licht. Extra brennt hier kein Licht. Aber sie kann sich orientieren, in diesem Schlafzimmer kann sie alles blind finden. Wenn sie nachts aufgestanden ist, um zum Klo zu gehen, hat sie das immer gemacht ohne Licht.

Um ihren Mann nicht zu stören. Arne brauchte seinen Schlaf. Arne hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Bitter denkt sie daran, dass er den anstrengenden Tag wahrscheinlich teilweise im Bett seiner Sekretärin verbracht hat. Und sie geht blind tastend, auf Zehenspitzen, um ihn nicht zu stören! O Gott, wir Frauen sind zu blöd. Sie steht an der offenen Tür, da hört sie das Klopfen. Ganz deutlich, am rechten Fenster. Ein Fingerknöchel klopft gegen die Fensterscheibe. Noch einmal.

»Geh weg!«, schreit sie. »Geh weg!«

Sie läuft zum Bett, nimmt ein Kissen und schleudert es gegen das Fenster.

»Hau ab, du Schwein! Ich ruf die Polizei!«

Das Kissen prallt gegen die dicke, gefütterte Gardine und fällt auf den Boden. Die Gardine öffnet sich einen Spalt. Dahinter das dunkle, schwarze Fenster. Vielleicht regnet es noch immer. Die Person, die da draußen steht, wird ganz nass sein.

Sie schleicht zurück ins Wohnzimmer. Es ist ihr, als höre sie Schritte draußen. Als höre sie ein Kratzen, wie wenn einer mit den Fingernägeln über eine Glasscheibe fährt. Sie hört, dass es an den Holzläden rüttelt. Sie hört es genau.

»Geh weg«, kreischt sie. »Weg! Weg!«

Sie rennt zum Telefon, sucht die Nummer der Wache, die Hauke ihr dagelassen hat. Für alle Fälle. Schreiben Sie sie groß auf einen Zettel, hatte er ihr geraten, ganz groß. Legen Sie den Zettel neben das Telefon. Auch wenn Sie ihn nicht brauchen, der Gedanke beruhigt.

Sie kann den Zettel nicht finden. »Verdammt!«, flucht sie, zittert. Wo ist dieser verdammte Zettel? Heruntergeweht, irgendwann, als sie mit dem Kissen geworfen hat, mit der Wolldecke gewühlt hat. Sie fällt auf die Knie. Es rüttelt jemand an den Holzläden. Ich werde verrückt, denkt sie, und ihre tastenden Hände unter dem Sofa finden die Plastikmaus und eine Stricknadel, die sie gesucht hat, einen Bleistift und endlich, endlich den Zettel. Sie richtet sich auf, den Rücken zu den Fenstern, und wählt die Nummer. Martin ist am Apparat. Sie haben eine Rufweiterschaltung seit Neuestem. Martin nimmt den Ruf zu Hause entgegen, als seine neue Freundin Rita auf seinem Schoß sitzt und ihm gerade das Hemd aufknöpft und staunend auf seine krausen Brusthaare blickt. Staunend und durchaus fasziniert, wie er bemerkt. Er presst mit einer Hand ihre Finger gegen seine Brust, während die andere den Hörer greift.

»Ja?«, knurrt er. Rita rekelt sich ein bisschen auf seinem Schoß. Das macht sie extra, das kleine Biest, na warte.

»Ich bin’s«, flüstert Ruth Lindgurt. »Er ist hier. Er klopft gegen die Fenster und klingelt Sturm. Bitte, kommen Sie, kommen Sie schnell, sonst bringt mein Mann mich um!«

»Ja, ja, schon unterwegs«, sagt Martin fröhlich. »Wer spricht denn überhaupt.« Er muss sich anders hinsetzen.

»Ruth Lindgurt«, sagt sie. »O Gott, jetzt klingelt es wieder. Ich mach nicht auf. Ich mach nicht auf, o Gott. Bitte, kommen Sie schnell.«

Martin schiebt Rita von seinem Schoß. Rita schmollt. Er springt auf.

»Okay. Machen Sie nichts. Bleiben Sie ruhig. Öffnen Sie nicht die Tür. Wir sind sofort da.«

»Was ist denn los?«, fragt Rita. Sie hat ihr Kleid bis zum Höschen hochgezogen. Ein weißes Höschen. Er mag so was. Saubere Baumwolle. Frisch, das macht ihn an. Aber nützt nichts. Dienst ist Dienst.

Er wählt Haukes Autotelefonnummer. Er lässt es lange klingeln.

»Komm, geh schon ran«, knurrt er und schaut dabei ungeduldig auf die Uhr.

»Ja?«, fragt Hauke schließlich. »Was ist?«

»Endlich, Mann. Endlich! Wo bist du?«

»Am Wagen, draußen in Habernis. Wir haben das Ding, Martin. Wir haben es. Ich bring Tjark nur eben nach Hause zurück. Der Anwalt muss jeden Augenblick da sein. Ich glaube, Annkatrin ist raus aus der Sache.«

»Ich versteh bloß Bahnhof«, sagt Martin.

»Wir haben ihren Anorak. Kinokarte und alles. Ich glaube, das reicht, Junge, um sie von der Lindgurt-Sache freizusprechen.«

»Sie kann es sowieso nicht sein«, schreit Martin. Er ist jetzt wütend. Er hasst es, wenn Hauke immer so jovial daherredet, als wenn er allein mit seinem Grips die Fälle lösen könnte. »Denn ihr Mann steht gerade bei Ruth Lindgurt vor der Tür und will rein. Und sie ist halb tot vor Panik. Ich hab’s dir schon immer gesagt, der ist es gewesen.«

Einen Augenblick herrscht Stille.

»Okay«, sagt Hauke. »Sie soll nicht aufmachen, klar?«

»Hab ich ihr schon gesagt«, bellt Martin.

»Ich setze Tjark in zwei Sekunden zu Hause ab, und dann komm ich rüber. Gib mir fünf Minuten. Wie lange brauchst du?«

»Vier«, sagt Martin und greift nach seiner Waffe.

42

Leonie prüft jedes Fenster. Geht herum von einem Fenster zum anderen. Rüttelt an den Holzläden. Kratzt am Glas. Läuft zurück zur Haustür. Klingelt. Klingelt Sturm.

»Ich weiß, dass Sie da sind!«, ruft sie. »Machen Sie doch auf! Bitte, bitte. Ich bin’s, Leonie!«

Sie versteht nicht, warum nacheinander die Lichter ausgehen im Haus. Ruth Lindgurt muss da sein. Von selber gehen die Lichter nicht aus. Sie wird da drinnen sitzen, einsam, und Angst haben. Leonie hätte auch Angst, wenn sie allein im Haus wär. Vielleicht geht es ihr besser, wenn sie mich reinlässt, denkt Leonie. Vielleicht tut es ihr gut, wenn wir reden.

»Ich komm wegen Annkatrin!«, ruft Leonie durch die Ritzen der Holzläden, klopft gegen die Mauer, tritt mit dem Fuß gegen die Küchentür.

»Bitte, machen Sie doch auf! Es ist dringend! Ich muss Sie ganz dringend sprechen, Frau Lindgurt!«

Sie muss wissen, was Annkatrin ihr alles gesagt hat. Was die Lehrerin wohl weiß über Annkatrins Leben. Dieses grausige Leben, von dem sie, die Mutter, keine Ahnung hatte. Wieso habe ich nichts bemerkt? Wie kann eine Mutter neben ihrer Tochter leben und nichts, aber auch gar nichts wissen? Wie ist das möglich? Wieso habe ich ihr Unglück nicht gespürt? Einmal hat sie an meiner Nabelschnur gehangen und hat sich von meinem Blut ernährt, war an meinen Kreislauf angeschlossen. Alles, Herz und Hirn, alles, was ihr gehörte, war meins. Und jetzt lässt sie sich an ein Bett fesseln und mit dem Messer verletzen, und weint und schreit um Hilfe, und klingelt nachts bei einer Lehrerin an der Tür und wird nicht reingelassen. Dann schleicht sie wieder zurück zu dieser Gang, die irgendwas gegen sie in der Hand hat, irgendwas, das ich nicht verstehe, aber das ich noch herausbekommen werde, und ich spüre nichts? Nichts? Wie ist das möglich? Was stimmt denn alles nicht in dieser Welt, wenn nicht einmal meine kleinsten Urinstinkte funktionieren? O Gott, ich muss mit ihr reden. Ich muss sie fragen, was man tun kann, um dieses Kind zu retten. Ich muss dieses Kind, mein Kind, retten. Ich werde dieser Lehrerin erzählen, wie mein Leben war, bevor ich Tjark kennenlernte, bevor er mich hierhergeholt hat, in die Sicherheit. Ich werde ihr sagen, welche Heuchelei mein Leben war, welche Lüge. Welche Bitterkeit in allem gewesen ist, und wie ich gegen diese Bitterkeit gekämpft habe. Ich will ihr das sagen, sie soll das wissen. Einmal muss sie zuhören, wenn sie schon meiner Tochter nicht zugehört hat. Sie hat Annkatrin genauso auf dem Gewissen wie ich. Wenn dieser Abend nicht gewesen wäre, wo Annkatrin zurückgeschickt wurde, von dieser Türschwelle verwiesen wurde, wenn das nicht gewesen wäre, hätte auch das andere nicht passieren können. Wir hätten sie von Ricky, von dieser Gang weggeholt. Hätten diese verfluchte Beziehung kaputt gemacht, kaputt geschlagen. Wir hätten unser Kind retten können, Ruth Lindgurt. Sie hätte das alles nicht erleben müssen. Ach, ich kenne das doch alles. Ich weiß doch, wie man sich fühlt, wie dreckig, wie erbärmlich. Und wie man sich vor diesem Gefühl schützt, indem man anfängt, sich selbst zu belügen, alle zu belügen. Ich, von allen, weiß es doch am besten. Denn mein ganzes verdammtes Leben ist seit fünfzehn Jahren eine einzige große Lüge gewesen.

»Mach auf, verdammt!« Sie knallt mit den Fäusten gegen die Tür. »Mach doch auf! Ich will doch bloß reden, bloß reden, verstehst du nicht? Die ganze Zeit habe ich nicht geredet. Aber jetzt muss ich, ich muss, verstehst du?«

Sie tritt mit dem Fuß gegen die Küchentür. Sie hört Motorengeräusche, das Schlagen einer Wagentür. Hört Ruth Lindgurts hysterische Schreie, hört Stimmen, denkt, gleich wird sie aufmachen, gleich, gleich.

Sie lehnt hinten an der Hauswand. Sie atmet heftig. Sie ist erregt und erschöpft. Hellwach und todmüde zugleich. Sie ist am Anfang eines neuen Lebens, sie muss das nur klären. Muss mit dieser Frau reden, die offenbar klüger ist als sie. Besser ist als sie. Zu der ihre Tochter mehr Vertrauen hat als zur Mutter. Das macht ihr nichts. Das ist in Ordnung. Sie will nur hören: Hat Annkatrin eine Chance? Was muss ich tun, damit sie ein Leben ohne Lüge leben kann? Was muss ich ihr sagen und was verschweigen? Wie ist es am besten für das Kind? Wie viel Wahrheit kann sie jetzt noch aushalten? Ist es zu spät? Wird sie mir meine Lügen verzeihen? Wird sie mit dem Gedanken fertig, dass ihr Daddy nicht ihr Daddy ist? Dass ich geweint habe bei der Geburt, geweint aus Verzweiflung?

Sie hört Schritte. Sie weiß nicht, aus welcher Richtung. Sie hört das Rascheln und Knacken von Zweigen. Sie weiß nicht, wo. Sie schleicht nach rechts. Kommt zu einem Ende. Ein Wasserrohr, eine Wand, ein Stapel Holz. Sie findet sich nicht zurecht, weicht zurück, spürt die Anwesenheit eines Menschen. Weiß nicht, wo, hört das Atmen, weiß nicht, woher. Sie streckt die Arme aus, geht vorsichtig, Schritt für Schritt, weiter.

»Halt!«, ruft eine Stimme. Eine angespannte, männliche Stimme. Konzentriert. Sie kennt diese Stimme. Ist es Hauke? Wie kommt Hauke hierher? Hat ihr Dorsche an die Türklinke gehängt, silberne Fische, und sie hat ihm nie gesagt, dass sie Dorsche nicht mag. Nicht so gerne wie Seezunge und Zander. Hat ihm das nie gesagt. Er war der Einzige, der ihr was geschenkt hat. Sie geht weiter. Sie lächelt. Es wird alles gut. Hauke weiß Bescheid über sie.

Wenn ich Oboe spielen kann, werde ich ein Konzert geben. Nur für ihn. Er wird in meinem Sessel sitzen, und ich werde am Fenster stehen und spielen.

Sie will seinen Namen rufen, als sie stolpert. Sie fällt gegen irgendetwas, und dann spürt sie nur noch den Schlag gegen ihre Brust, als Haukes Waffe plötzlich losgeht. Und dann glüht ein Schmerz in ihrer Brust wie ein Feuerball, und sie will schreien. Aber Blut ist in ihrem Mund, ganz schnell. Wird hochgepumpt in ihren Mund, und nur ein Gurgeln ist alles, was sie noch zustande bringt, als sie in Haukes Arme sinkt.

Ich werde für dich Oboe spielen, denkt sie lächelnd, als Hauke fassungslos ihren Körper hält. Fassungslos und mit einem Entsetzen, das ihm die Luft abschnürt. Ein Oboenkonzert von Vivaldi. Ich werde es so spielen, dass du weinen musst vor Glück.

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Der geträumte Mann

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Die junge Kindergärtnerin Gesine hat ihr Leben als Single leid und will dem Schicksal auf die Sprünge helfen. Irgendwo wartet doch sicher ihr Märchenprinz. Gesine ahnt noch nichts von der Existenz eines Mannes, der so genial mit den Träumen und Sehnsüchten romantischer Frauen spielen kann. Bis ihr genau dieser Mann fast zum Verhängnis wird und sie an ihren Träumen zu scheitern droht.

Die Autorin

Brigitte Blobel
Brigitte Blobel

Brigitte Blobel hat Reportagen für viele große Magazine (Stern, Geo, Merian, Playboy, Harpers Bazaar) geschrieben, bevor sie in die Belletristik wechselte. Ihr erster Roman Alsterblick wurde gleich ein Bestseller, ebenso Der Ruf des Falken, Das kalte Land, etc.

Heute schreibt sie vor allem Drehbücher für TV-Filme wie Der Herbst des Patriarchen (mit Mario Adorf) oder Almuth und Rita (mit Senta Berger und Cornelia Froboess).

Ihre Jugendromane zu aktuellen Themen wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Nach vielen Jahren auf Mallorca, wo sie Wein anbauten und Olivenöl produzierten, lebt sie mit ihrem Mann, dem Politikjournalisten Wolfram Bickerich wieder in Hamburg.

Prolog

Diese Gegend zwischen den Meeren oben am 55. Breitengrad ist nichts für zarte Seelen, schon gar nicht im Winter, und der dauert hier von November bis März.

Eine leichte Brise kann sich über Nacht zu einem Orkan auswachsen, der Bäume entwurzelt und aus dem Meer ein wütendes Ungetüm macht, das riesige Brocken Land aus der Steilküste beißt, Bäume und Sträucher in den Abgrund reißt und Teile eines eben erst angelegten Wanderweges zwischen den Heckenrosenfeldern einfach zum Absturz bringt.

Stürme von der Windstärke elf oder zwölf lassen Schiffe kentern, und im Nebel laufen Frachter aus südländischen Meeren auf Sandbänke auf. Das warnende Dröhnen der Schiffssirenen frisst sich durch die dicken Nebelschichten, welche die lange, schmale Landzunge im Belt tage-, ja wochenlang einhüllen können.

Sogar die Einheimischen vergessen dann die Umrisse ihres Dorfes, können sich kaum noch an die Linie des Horizontes erinnern oder die genaue Position des Leuchtturms bestimmen am äußersten Zipfel der Landzunge, die unter Naturschutz steht. Alles versinkt. Manche Nebel steigen im Morgendämmern wie aus dem Nichts aus dem eisigen Wasser auf, ziehen in feinen Schleifen über die Oberfläche, getrieben von leichten Nordwinden. Stauen sich am Küstenstreifen, in den flachen Wassern, die unter Eisschollen glucksen, tote Krebsschalen vor sich herschiebend und Strandgut am Ufer ausspuckend.

Der einsame Angler, der bis zu den Hüften im seichten Meerwasser steht, ist eben noch deutlich zu sehen gewesen. Ein athletischer Oberkörper, helle Haare, die sich am Rand der Pudelmütze ringeln. In einer Latzhose aus Gummi, wetterfest und gegen hohe Kältegrade imprägniert. Wenn er die Angel auswirft, schlägt sie wie eine Peitsche auf das Wasser. Im nächsten Moment jedoch steigen Nebel auf und verschlucken den Mann. Und kein Laut. Nichts.

Wer kann Himmel und Meer, Küste und Land noch voneinander trennen? Der Angler hat nur noch die glucksenden Wasser um seine Stiefel, das leichte Surren der Rolle, von der die Schnur abspult, und das Ufer ist so fern wie der Mond.

1

Hauke Lorenzen angelt an diesem Februarmorgen Dorsche. Er ist vor dem Morgengrauen aufgestanden, ohne seine Frau zu wecken, die um diese Zeit ganz fest schläft. Ist geräuschlos in seine Angelkleidung gestiegen, hat sich in der Küche einen Becher Pulverkaffee aufgegossen, zwei Zwiebacke eingesteckt und ist mit dem Angelzeug draußen, als eben der erste helle Lichtstreifen sich im Osten zeigt.

Die Bucht am Ende der Landzunge, in der Hauke am liebsten fischt, hat aus der Vogelperspektive die Form einer Sichel. Hellgelber Muschelkalk, der das graue Meer von grünen Koppeln trennt. Ein ebenmäßiger schöner Bogen, mit der Mondsichel am dritten Tag nach Neumond vergleichbar.

Im Norden ist die Bucht von einem verwilderten Obstgarten begrenzt. Die Gatter längst verrottet, die Zäune morsch, zerborsten. Und an den verschrumpelten Äpfeln, die im Herbst ins hohe Gras fallen, sind nicht einmal die Vögel interessiert. Das Obstgärtchen gehört zu einem Gut, das früher einmal im Besitz einer dänischen Baronin war. Ihre Großtante wanderte nach Kenia aus, um dort glücklos in zu großer Höhe Kaffee anzubauen. Jetzt sucht Ole Jürgensen, der Immobilienhändler, seit Jahren einen Kaufinteressenten für das Land. Aber Experten haben Bodenproben genommen und festgestellt, dass die Wiesen versalzen und die Äcker überdüngt sind. Wer kauft schon ein Gut mit saurem Boden?

Im Süden der Bucht die Reetdachkate, die im siebzehnten Jahrhundert für den Amtsrichter der Gegend gebaut worden war, den man damals den Hardesvogt nannte und der ein ärmliches Leben wie die Lehensbauern führte. Zwei Zimmer, Küche, Wirtschaftsraum. Das Bad wurde erst Ende der Fünfzigerjahre eingebaut. Imposant ist nur die Allee mit den Ulmen, die auf das Haus zuführt, und die beiden keltischen Grabsteine rechts und links der Einfahrt. Seit die Ulmenkrankheit in Jütland grassiert, bangt Hauke Lorenzen um seine Ulmen. Sein Stolz, die ganze Pracht dieser Gegend. Ein Wahrzeichen, das die Fischer, wenn sie draußen mit ihren Booten unterwegs sind, immer erkennen. Acht Ausrufezeichen auf einem langen Gedankenstrich. Ohne die Ulmen würde sein Haus schutzlos wirken. Hilflos vor Sturm, Kälte und dem Schnee, der gegen die Fenster treibt.

Ein Pilz, der sich in dem Wasseradergeflecht der Wurzeln bis hoch in die Zweige festsetzt, verstopft die Wasserwege und lässt jahrhundertealte Bäume im Sommer verdursten.

Im Juli werden die Blätter schon gelb, und im August stehen sie ohne Laub da. Und Käfer tragen die Krankheit unterdessen von einem Baum zum anderen. Die Baumfäller werden reich und fühlen sich unglücklich. Jeder Baum hier hat eine Geschichte. Jeder Baum wird geliebt.

»Ohne die Ulmen«, sagte Hauke einmal zu seiner Frau Rieke, »wäre unser Haus beim Verkauf nur noch die Hälfte wert.« – »Aber wir wollen das Haus doch gar nicht verkaufen«, rief Rieke, und Hauke nickte. »Nie im Leben.«

Hauke wirft die Angel wieder aus und wartet. An diesem Morgen ist er der einzige Angler in der Bucht. Manchmal stehen sie im Abstand von zwanzig oder fünfzig Metern und rufen sich gegenseitig ihre Fangquoten zu. Heute gäbe es nicht viel zu prahlen. Am Ufer steht der Plastikeimer. Der nasse schwere Sand ist von einer dünnen Schneekruste bedeckt, die leise knackt, wenn der Dorsch im Eimer um sein Leben kämpft. Manchmal geht Hauke den Weg mit dem Angelzeug und dem Eimer zu Fuß nach Hause. Aber heute parkt sein Wagen oben bei den Pappeln. Neben der Bank, auf der im Sommer die Feriengäste sitzen und das glitzernde Meer bestaunen. Reglos stehen die Möwen auf den schwankenden Bojen, die Köpfe alle in die gleiche Richtung, damit der Wind ihnen nicht ins Gefieder greifen kann. Oder sie sitzen auf den Schiffsplanken und den Algenbergen, die von der letzten Flut angeschwemmt wurden.

Hauke kann das Linienschiff nach Faarborg nicht sehen. Zwei Meilen nördlich zieht es vorbei und stößt in gleichmäßigem Abstand warnende Nebelhornrufe aus. Manchmal hört man in den Pausen das sanfte Klatschen von Rudern, die aufs Wasser fallen. Aber sehen kann man in der Nebelsuppe nichts.

Hauke spürt seine Füße schon lange nicht mehr. Jetzt werden auch die Waden taub. Er muss vorsichtig sein, wenn er die Angel einrollt und mit seinem Fang zum Ufer zurückstakst. Er hat nach ein paar Stunden im drei oder vier Grad kalten Meer kein Gefühl mehr für den Untergrund, für die Form der Kiesel und Steine am Boden, kann sich in den Algen verfangen, ohne den Widerstand zu merken.

Oft dauert es den halben Tag, bis seine Füße wieder warm werden. Manchmal länger. Er spürt es an dem Prickeln, das zuerst an den Knöcheln beginnt und dann im großen Zeh. Es ist, als würden aus einem Blasrohr lauter winzige spitze Pfeile auf seine Beine abgeschossen. Es tut weh, aber trotzdem ist es ein schönes Gefühl.

Hauke lehnt sich dann immer von seinem Schreibtisch zurück, zieht die Knie so an den Körper, dass die Füße noch auf der Sitzfläche seines Schreibtischstuhles Halt finden, umschlingt die Zehen in den Wollsocken mit den warmen Händen und sagt »Aah«.

»Na«, fragt Martin dann, der wieder einmal gerade davon träumt, irgendwann einen ganz großen Gangsterboss in flagranti zu erwischen, »kommt das Leben zurück?«

Und Hauke nickt und lächelt versonnen in sich hinein. Wenn er beschreiben sollte, was er unter Glück versteht, wäre es wahrscheinlich das: wie die Wärme in den Körper zurückkommt. Wie alles, Muskelfasern, Nerven, das Adergeflecht wieder fühlbar wird. Hauke hat Bücher gelesen über die Möglichkeit, sich einfrieren und im dritten Jahrtausend wieder auftauen zu lassen. Er kann sich vorstellen, was diese Menschen in den ersten Stunden fühlen. Er wäre, wenn die Zeit für solche Experimente reif ist, gerne dabei, fürchtet aber, dass er das nicht mehr erlebt.

So lange wird er weiter im Winter in der Bucht oben an der dänischen Grenze fischen, in den Nebel starren, auf das warnende Horn der Fährschiffe lauschen, die den Liniendienst mit den kleinen dänischen Inseln auch bei Eisgang aufrechterhalten.

Sein Wagen parkt weiter westlich, wo der Boden nicht ganz so sumpfig ist nach den letzten großen Regenfällen. Die Heckklappe ist geöffnet, der Wagenschlüssel steckt. Jeder könnte einfach einsteigen und wegfahren. Wahrscheinlich liegen die Wagenpapiere griffbereit im Handschuhfach.

Aber er ist unbesorgt. In dieser Gegend hat es noch keine Autodiebstähle gegeben, jedenfalls nicht um diese Jahreszeit. An einem neblig-eisigen Februarmorgen, an dem nicht einmal die Dorsche beißen.

2

Der einzige Fisch, den er in drei Stunden gefangen hat, zappelt in dem roten Plastikeimer, der einsam auf dem gefrorenen Sand steht. Er krümmt sich und schlägt mit der Schwanzflosse in einem fast verzweifelten Kraftakt gegen die Wand des Eimers. Aber es genügt nicht, um hinauszuschnellen. Er gibt auf. Seine Augen werden glasig, die Kiemen sind weit geöffnet. Und er rührt sich nicht mehr, als der Angler seine Schnur einrollt und zum Eimer geht, ihn hochhebt und hinüberträgt zu seinem Auto. Der Dorsch ist ein guter Dreipfünder, eine ausreichende Mahlzeit für drei Personen. Er wird ihm eine Schnur durch die Kiemen ziehen und ihn an Leonies Tür hängen. Er wird nicht klingeln. Nicht darauf warten, dass Leonie öffnet und etwas zu ihm sagt. Auch wenn er gerne ihr Lächeln sähe an so einem Tag, in dem sonst alles im Nebel versinkt.

Dieses Lächeln, das die Landschaft, wie er findet, ein bisschen heller macht. Wird er sich das versagen? Nicht aus Schüchternheit. Nicht, weil es ihm peinlich wäre, dass Leonie endlich wüsste, wer ihr morgens manchmal einen Fisch an den Haustürknauf hängt. Er ist einfach so.

Er drängt sich nicht auf. Leonie ist eine verheiratete Frau, und er will ja nichts, als ihr eine Freude machen.

Es genügt ihm schon, wieder ins Auto zu steigen und sich ihr Erstaunen auszumalen, wenn sie morgens aus dem Haus tritt, in ihrer Gartenkluft, und plötzlich den silbernen Fisch entdeckt. Es genügt ihm, sich vorzustellen, dass sie dann lächelt und sich überlegt, wer das wohl war.

Das Haus, in dem Leonie mit ihrem Mann Tjark und ihrer Tochter Annkatrin wohnt, liegt auf dem höchsten Punkt der kleinen Halbinsel von Börmoos. Es liegt höher als die anderen Häuser des Dorfes. Selbst die Kirche, ein aus großen grob gehauenen Felsquadern im dreizehnten Jahrhundert errichteter klotziger Bau, liegt ein bisschen tiefer als Leonies Haus. Nur die Kastanienbäume, deren Wurzeln manchmal die Grabsteine an den Friedhofsmauern aufheben und umstürzen lassen, ragen, vom Meer aus gesehen, über Leonies Reetdach hinaus. Das hat er oft festgestellt. Im Sommer, wenn er mit dem Boot unterwegs ist.

Rieke wird er nicht erzählen, dass er etwas gefangen hat. Er hat keine Lust auf ihre Fragen. Dabei mag sie gar keinen Dorsch. Aber einer anderen gönnt sie die Fische auch nicht. Schon gar nicht Leonie.

»Wieso der?«, hat sie gefragt, als er einmal unvorsichtig genug war zu sagen: »Ich habe den Fisch an Leonies Tür gehängt.« Ebenso gut hätte er sagen können: »An Tjarks Tür.« Und es wäre okay gewesen. Denn Tjark ist einer von hier. Einer aus dem Dorf.

Ein bisschen hat ihn schon der Teufel geritten, als er Leonies Namen ins Spiel gebracht hat. Er weiß, wie die Frauen im Dorf über sie reden. Sie ist ihnen mit ihren dreiunddreißig Jahren ein bisschen zu langbeinig, ein bisschen zu stolz, die Figur zu mädchenhaft, zu attraktiv. Und sie ist wortkarg. Hinter ihrer glatten hohen Stirn verbergen sich Gedanken, die keiner kennt. Sie blickt den Leuten in die Augen, ohne zu zucken. Weicht keinem Blick aus. Verweigert nie eine Antwort. Aber lacht nicht, wenn andere lachen.

Der Witz, bei dem Leonie Broders lacht, hat jemand neulich beim Skatturnier gesagt, als die Rede zufällig auf sie kam (die Rede kommt oft zufällig auf Leonie), der muss noch erfunden werden.

Mit Leonie tratscht keine der Frauen von Börmoos. Sie erfährt nichts über die Dinge, die im Dorf passieren. Und es geschieht vieles, und nicht alles ist gut. Der Pastor macht manchmal Andeutungen in seiner Predigt von der Kanzel.

Doch Leonie geht nicht in die Kirche. Nicht zu Taufen, Konfirmationen und Beerdigungen. Als der alte Hinnerk aus dem Dorf gestorben ist, hat nur Tjark seinen schwarzen Anzug aus dem Schrank geholt und den Trauerzug begleitet.

Wie eine Mauer aus Felsstein ist das Schweigen um Leonies Haus herum. Das Gewisper und Geflüster im Dorf, das Tratschen und Tuscheln prallt an dieser Wand ab, sucht sich seinen Weg darum herum.

Sie hilft ja nicht einmal bei den Vorbereitungen zur Adventsfeier, nicht beim Weihnachtsbasar. Sie hat mit Tjark den Silvesterball noch vor Mitternacht verlassen. Vielleicht nur, um sich nicht an der großen Umarmung, an der Küsserei zu beteiligen. An dem Partnertauschtanz in Sektlaune nach alten Frank-Sinatra-Platten. In ihrem hautengen schwarzen Kleid, hochgeschlossen, aber so kurz, dass man die wohlgeformten Schenkel sehen konnte, hat sie an Tjarks Seite den Ballsaal in Roikier verlassen. Und so einer hängt Riekes Mann einen Dorsch an die Tür und macht sich im Dorf zum Narren. Glaubt er denn, die anderen merken das nicht? Glaubt er denn, bei Kalle Jensens Haus bewegt sich nicht die Gardine, wenn sein Wagen vor Leonies Tür hält?

»Es wird schon seinen Grund haben«, knurrt Rieke, »dass niemand sonst ihr etwas steckt. Dass niemand sonst mit ihr redet. So was hat immer seinen Grund.«

Hauke Lorenzen hebt die Schultern. Rieke mustert ihren Mann von ihrem Sessel aus, die geschwollenen Beine hoch gebettet.

Sie hat ihn lange nicht so angeschaut. Wie eine Fremde betrachtet sie den Mann, mit dem sie zwanzig Jahre verheiratet ist, und stellt fest, dass er noch ziemlich gut beieinander ist. Besser als sie jedenfalls. Viel, viel besser. Immer noch gut gebaut und der Gang wie ein Athlet. Und wenn er da am Tisch sitzt, seinen Tabaksbeutel ausrollt, ein Zigarettenblatt nimmt, Tabak hinaufrieseln lässt, das Blättchen anfeuchtet mit dem Blick gegen die Zimmerdecke, als erfordere das unglaubliche Konzentration, das Blatt mit der Zunge anfeuchtet, die Enden festklopft, das silberne Feuerzeug aufflammen lässt und die Tabakkrümel von den Fingerkuppen bläst, dann ahnt sie, wie die Mädchen der Handballer ihm wohl hin und wieder Blicke zuwerfen. Dann ist er für sie nicht der alte Champion, der die Jungs trainiert, einer, der seine aktiven Sportjahre schon lange hinter sich hat, sondern einer, mit dem man, wenn es sich so ergibt, durchaus noch was anfangen könnte … Hauke spürt ihren Blick. Er bläst Rauchkringel in die Luft.

»Na?«, fragt er. »Noch was?«

Rieke nickt. »Ja«, sagt sie. »Und es wird seinen Grund haben, dass ausgerechnet mein Hauke so scharf auf diese Frau ist.«

Hauke steht auf. Sucht den Aschenbecher. Geht dicht an seiner Frau vorbei, legt seine Hand auf ihren Nacken. Massiert sie ein bisschen.

»Ich interessiere mich nur von Berufs wegen«, sagt er sanft. »Spinn dir jetzt ja nicht was zusammen. Rein von Berufs wegen.«

Rieke nickt. Aber sie glaubt ihm nicht.

Die Luft ist voller Geschrei, den ganzen Morgen schon, voller Gekrächze und Gezänk. Mit dem Aufwachen hat es begonnen. Selbst bei geschlossenen Fenstern hat man es gehört. Tjark schläft lieber so, mit heruntergezogenen Rollos. Sie könnte immerzu die Luft und den Wind hereinlassen. Die Geräusche draußen hört sie sowieso, das Käuzchen und den heiseren Schrei des Fasanenmännchens, der den Fuchs verschreckt. Bei Nordwind das Brummen der Fernlaster, die in Gelting die erste Fähre nach Faarborg erreichen wollen, das Husten der Schafe hinten auf der Koppel: sie hört sowieso alles. Sie kann nicht abschalten, auch nicht nachts. Manchmal träumt sie schon von den Krähen, bevor sie überhaupt auf der Kastanie gelandet sind, das blauschwarze Gefieder schütteln. Sogar das kann sie hören.

»Du musst das einfach wegknipsen, dieses Geräusch«, sagt Tjark, »mich stört das doch auch nicht.«

Leonie sagt nichts dazu. Was soll sie auch sagen? Tjark wirft den Krähen manchmal morgens auf dem Weg zur Garage ein paar Brotkrumen hin. Sie beobachtet es vom Küchenfenster aus. Sie weiß nicht, ob er es tut, um sie zu ärgern. Sie kann es sich nicht vorstellen, aber er lacht, wenn er sieht, wie die Vögel sich gierig ganz nah an ihrem Haus auf den Boden fallen lassen, um jede Krume zanken und sich mit scharfen Flügelhieben gegenseitig von der Futterstelle vertreiben.

Der Morgen ist hell und klar, ein Februartag.

Der eisige Ostwind hat etwas nachgelassen – Windstärke sechs bis sieben, hat der Radiosprecher angekündigt. Sie könnte ebenso gut ein bisschen im Garten arbeiten. Seit fünf Tagen hat es keinen Frost gegeben, die Erde müsste wieder weich sein. Vielleicht vertreibt ihre Geschäftigkeit draußen die Vögel, vielleicht lässt es sie für eine Weile verstummen. Krähen sind neugierige Tiere. Möglich, dass sie über dem Zuschauen das Schreien vergessen. Sie könnte sich Ohrenschützer aufsetzen oder einen Wollschal um den Kopf binden. Aber das nützt gar nichts. Sie hat alles schon versucht. Das Gekrächze der Vögel dringt durch jede Pore in sie hinein; sie weiß es, sie kann nichts dagegen tun.

Die Krähen sitzen seit dem Morgengrauen in ihrer Kastanie, der großen, vielleicht achtzig oder hundert Jahre alten Kastanie an der Westseite des Hauses, hüpfen auf den Ästen herum, picken zornig auf die Rinde, hacken sich gegenseitig, flattern auf, lassen sich auf einem anderen Ast nieder. Manchmal lassen sie sich fallen, wie tot, landen trotzdem weich abgebremst auf dem Rasen, der braun und morastig ist von dem langen, nassen Winter. Faules Obst liegt noch da; sie war wieder nicht sorgfältig genug. Die Krähen sehen alles. Auch das Stückchen Butterbrotpapier auf dem Kompost, um das sie sich zanken, als gälte es das Leben. Sie sehen genau, was Leonie in der Emaille-Schüssel nach hinten bringt. Von der Küchentür zum Kompost. Es sind gekochte Kartoffeln. Das wird sich wie ein Lauffeuer herumsprechen, und weitere Krähenscharen werden in der Nacht über ihren Garten herfallen. Sie hört das im Schlaf, fühlt das im Schlaf, auch wenn sie lautlos kommen, sich lautlos im Schutz der Nacht ihren Platz in der knorrigen Baumkrone suchen, den Kopf eingezogen, den Schnabel gegen die Brust gepresst, die starren kalten Augen geschlossen. Es gibt auch andere Leute in der Gegend, die Krähen nicht leiden können. Die sie fürchten wie böse Geister aus dem Totenreich.

Sie steht an dem Küchenfenster, von dem aus sie einen Teil der Bucht sehen kann, trinkt ihren zweiten Becher Kaffee und hört ein Oboenkonzert von Vivaldi.

Die Nebel haben sich fast aufgelöst. Nur noch Fetzen wie von zerrissenen Tüchern jagen sehr flach über das Meer in Richtung Süden. Sie lehnt auf dem Arbeitstisch unter dem Fenster und kann sich nicht satt sehen an diesen durchsichtigen Schleiern, an der Eile, mit der sie sich auflösen, neu gruppieren und schließlich hinter den blinkenden Getreidesilos verschwinden. Dieser Seenebel, der sich in nichts auflöst, fasziniert sie. Wie das angehen kann: dass eben alles noch so grau, so undurchdringlich, so ausweglos war, auf einmal wie durch Zauberhand klar und einfach und schillernd schon daliegen kann.

An dieser Stelle ihrer Gedanken wirkt der klare Ton der Oboe auf einmal verzerrt, und Leonie schließt gepeinigt die Augen. Sie kann nicht herausfinden, warum die CD mal glatt durchläuft und dann wieder hakt. Es wird Zeit, mit Musik aufzuhören und in den Garten zu gehen. Im Wetterbericht gestern Abend haben sie ein neues Tief aus Norwegen angekündigt. Das wird am Abend schon da sein, und dann kann sie vielleicht wieder tagelang nicht draußen arbeiten.

Tjark schaut sie dann, wenn er abends heimkommt, immer so mitleidig an, als wisse er, wie ihr das fehlt. Das Schuften draußen in der kalten Luft, das Auslüften, das Durchpusten des Kopfes. Wenn sie am Tag im Garten gewesen ist, hat sie nachts sanftere Träume. Ob Tjark das ahnt?

Leonie, in Jeans, dicken Wollsocken und Holzpantinen, geht durch die Küche, den Wirtschaftsraum mit den Waschmaschinen, dem Trockner und der Kühltruhe in den Schuppen. Sie holt die Schubkarre, eine Forke, einen Spaten. Sie wird Komposterde unter das Malvenbeet neben der Haustür arbeiten; dort ist die Erde weich, auch wenn woanders der Frost im Boden steckt. Es ist zu nah am Haus, außerdem die Südseite. Vielleicht laufen auch Rohre in der Nähe, Warmwasserrohre. Irgendetwas, das den Frost aufhält.

Als sie die Schubkarre neben dem Beet absetzt und sich aufrichtet, um eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu schieben, fängt ihr Auge einen Blitzstrahl auf, wie ein Messer, das man dreht, bis das Licht in einem bestimmten Winkel darauf fällt. Etwas silbern Blinkendes hängt an ihrer Haustür. Es ist ein Fisch. Bei jedem Windstoß schwankt er ganz leicht, und die Sonne verfängt sich in den Schuppen. Leonie stellt den Spaten weg, wischt die Hände an den Jeans ab und geht auf die Haustür zu.

»Ein Dorsch«, sagt sie. Und fügt hinzu: »Schon wieder.«

Sie weiß natürlich, dass man im Winter in dieser Gegend fast nur Dorsche und Makrelen fängt. Dennoch ist sie ein bisschen enttäuscht. Sie schaut sich um. Es ist niemand zu sehen. Sie blickt in den Briefkasten. Keine Nachricht, kein Zettel. Also wieder Hauke Lorenzen. Wieder hat er ihr einen Fisch an den Türknauf gehängt. Und noch immer weiß sie nicht, warum er das tut. Ihre Finger sind ein bisschen klamm und ungelenk. Sie hat Schwierigkeiten, den Bindfaden vom Türknauf zu lösen. Irgendwann gelingt es, und sie trägt den Fisch in die Küche, lässt ihn ins Spülbecken gleiten und dreht den Wasserhahn auf. Als sie den Fischkopf anhebt, kommt es ihr vor, als blicke der Fisch sie an. Als wäre in seinem Gesicht ein Ausdruck, den sie an den anderen Fischen, die schon in diesem Becken auf ihre Zubereitung gewartet haben, nicht bemerkt hat. Sie lässt den Fisch wieder los. Er rutscht ins Becken zurück.

»Meinetwegen«, sagt sie zu ihm, »hättest du nicht sterben müssen.«

Zwei Stunden später, als das Malvenbeet längst versorgt ist und sie eigentlich in der Küche stehen und das Mittagessen für sich und Annkatrin zubereiten sollte, steht sie mit einem Kännchen an der Gartenpforte, um die alten Scharniere zu ölen. Sie tut es wegen Tjark. Tjark ist in der letzten Zeit jedes Mal wach geworden, wenn die Gartenpforte quietscht. Es ist wirklich ein abscheuliches Geräusch, und Tjark wird so leicht nicht wach.

Sie war schon vorher wach gewesen, hatte das Auto gehört, das vor der Tür gehalten hatte. Die Stimme ihrer Tochter, das Lachen, dann eine dunklere, unbekannte Stimme. Das Schlagen von Wagentüren und dann Stille, endlos, ewig, bis die Wagentüren noch einmal schlugen und sie noch einmal die Stimme ihrer Tochter hörte. Dann endlich das Quietschen der Gartentür.

»Was ist los?«, Tjark schreckt aus dem Schlaf. Sie legt ihre Hand auf seine Schulter und murmelt besänftigend: »Nichts. Schlaf weiter.«

Sie liegt mit offenen Augen und lauscht weiter auf die Geräusche im Haus. Annkatrin unten in der Küche holt sich aus dem Kühlschrank etwas zu trinken. Immer, wenn sie heimkommt, hat sie Durst. Möchte möglichst wenig Lärm machen. Zieht vor der Treppe ihre Stiefel aus. Schleicht sich nach oben in ihr Zimmer. Kommt wieder heraus. Verschwindet im Bad. Das dumpfe Brummen, wenn die Dusche läuft. So lange unter der Dusche, mitten in der Nacht. Es ist halb eins. Und Annkatrin muss am nächsten Morgen um Viertel vor sieben wieder raus. Und steht eine halbe Stunde unter der Dusche mitten in der Nacht.

Besser, sie ölt die Scharniere der Gartentür. Besser, Tjark wird nicht misstrauisch. Tjark und Annkatrin verstehen sich so gut. Er liebt das Mädchen, von ganzem Herzen. Das weiß Leonie. Und manchmal verspürt sie einen Stich von Eifersucht, wenn sie das geheime Verständnis der beiden beobachtet. Dieses stillschweigende Vertrauen. Dabei lügt Annkatrin, und es macht ihr nichts aus, dass Leonie das weiß. Sie lügt zum Beispiel, wenn Tjark sie fragt, wann sie nach Hause gekommen ist von ihrer Freundin. »Oh«, sagt Annkatrin, »so gegen elf, glaube ich.«

Dabei war es eins, und bei der Freundin ist sie auch nicht gewesen. Besser, Tjark erfährt es nicht.

Daran denkt sie, als ein Motorengeräusch sie aufblicken lässt. Der Wagen biegt von der Norderstraße ab und kommt an den Höfen von Sieks und Martens vorbei die Straße nach Börmoos herauf.

Als der Wagen zwischen der Scheune und der Rübenmiete auftaucht und ein Sonnenstrahl die Breitseite erhellt, sieht sie, dass es ein Polizeiwagen ist. Hauke Lorenzen also.