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BALANCE IN DER BEWEGUNG

Für meine Mutter,
die meinen Blick in die richtige
Richtung lenkte.

BALANCE
IN DER BEWEGUNG

Der Sitz des Reiters

SUSANNE VON DIETZE

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2003 FNverlag der Deutschen Reiterlichen Vereinigung GmbH, Warendorf. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs. 2, UrhG werden durch die Verwertungs gesellschaft Wort wahrgenommen.

3. Auflage 2010

Lektorat und Beratung:
Isabelle von Neumann-Cosel, Edingen-Neckarhausen

Korrektorat:
Stephanie Vennemeyer, Ahlen

Zeichnungen:
Jeanne Kloepfer, Winterkasten

Fotos:
Thoms Lehmann, Warendorf

Gesamtgestaltung:
mf-graphics, Marianne Fietzeck, Gütersloh

Lithographie:
Scanlight, Marienfeld

E-Book-Herstellung:
Open Publishing GmbH

VORWORT

„Wer besser Reiten lernen möchte, muss den eigenen Körper kennen und verstehen, bevor er ihn beherrschen kann. Hier liegt der Schlüssel für das Geheimnis des reiterlichen Gefühls verborgen.“ Diese von der Autorin verfassten Zeilen verdeutlichen den Anspruch des Buches.

Das Geheimnis des guten Sitzes liegt in der Verbindung von Sitz und Einwirkung. Ziel ist die harmonische äußere Form in Verbindung mit einer gefühlvollen, fast unsichtbaren Verständigung zwischen Reiter und Pferd. Die geschickte, fein abgestimmte und möglichst unaufwändige Verständigung des Reiters mit dem Pferd fassen wir unter dem Begriff „reiterliches Gefühl“ zusammen. Es ist die Krönung aller reiterlichen Fertigkeiten.

Der Begriff „Gefühl“ verweist zu Unrecht in einen für uns scheinbar unzugänglichen Bereich. Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren jedoch bewiesen, dass der Zusammenhang zwischen Sinneswahrnehmung und Empfindung durchaus gelernt und trainiert werden kann. Beim Reiten ist hier insbesondere die Körperwahrnehmung angesprochen, die Gesamtheit aller körpereigenen Rezeptoren für Gelenkstellungen und -bewegungen, Muskelspannung und Gleichgewicht. Auf diesem Wege erhält der Reiter unmittelbare Auskunft über die Bewegungen des eigenen Körpers – und über die des Pferdes. So ist das reiterliche Gefühl kein Geschenk, das ein „begnadeter“ Reiter von Geburt an besitzt. Es wird vielmehr durch die Gesamtheit feiner Wahrnehmung und entsprechender sensibler Reaktionen allmählich ausgebildet. Ausbilder, die das erwünschte Einfühlungsvermögen für Reiter und Pferd im Detail beurteilen können, werden mit ihren zwei- und vierbeinigen Schülern besonders erfolgreich sein.

Mit den geschulten Augen einer Krankengymnastin, Dressurreiterin und Ausbilderin betrachtet Susanne von Dietze in diesem Buch den „klassischen Sitz“ des Reiters und die Systematik der Hilfengebung. Dabei vermittelt die Autorin dem Leser die überraschende, ja frappierende Einsicht, wie genial die in der traditionellen Reitlehre festgeschriebenen Anforderungen an den reiterlichen Sitz und die Einwirkung auf den menschlichen Körper zugeschnitten sind.

Die Autorin erliegt nicht der Versuchung, von einer statischen äußeren Idealform auszugehen. Sie begreift das Zusammenspiel von Pferderücken und Reitergewicht in jedem Augenblick als Balance in der Bewegung. Und sie lässt jeden menschlichen Körper in seiner spezifischen Individualität gelten. Dafür appelliert sie eindringlich an die Verbesserung von Körperkenntnis, -wahrnehmung und -kontrolle. Die eigene Sensibilität soll geschult werden, damit sich das reiterliche Gefühl – unabhängig vom jeweiligen reiterlichen Niveau – ausprägen kann.

Längst hat sich dieses Buch seit seinem Ersterscheinen im Jahr 1993 als Ergänzung zu den „Richtlinien für Reiten und Fahren“, Band 1 und 2 sowie zum „FN-Handbuch Lehren und Lernen im Pferdesport“ (früher die „Sportlehre“) als Klassiker etabliert. Die 2003 komplett überarbeitete Neuauflage präsentiert den erweiterten Erfahrungsschatz der Autorin, die neben der anatomischen Analyse des Reitersitzes eine Fülle von praktischen Tipps und Übungen für die Verbesserung des eigenen Reitens auf jedem Niveau und mit den unterschiedlichsten Zielen bereithält. Balance in der Bewegung sollte zur Pflichtlektüre für unsere Ausbilder und fortgeschrittenen Reiter gehören.

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Christoph Hess
Leiter der Abteilung Ausbildung
Bereich Sport – Deutsche Reiterliche Vereinigung e.V. (FN)

Inhalt

Reiten lernt man nur durch Reiten …
– aber lesen kann nicht schaden!

Und wer besser reiten lernen will, dem kann lesen, verstehen, den eigenen Körper erfahren und kennen lernen nur helfen, seine Stärken zu nutzen und an Schwächen zu arbeiten.

Freilich, es gibt genug Bücher über das Reiten, und neu erfinden möchte auch ich die Reiterei keineswegs. Im Gegenteil – in manchen uralten, verstaubten Büchern lassen sich Weisheiten über den Reitsport finden, die nichts an ihrer Wahrheit und Aktualität eingebüßt haben. Allzu oft scheinen allerdings die hohen Ideale des guten Reitens kaum noch Berührungspunkte mit den eigenen praktischen Erfahrungen im Sattel zu haben.

Graue Theorie mit Leben zu füllen und möglichst praxisbezogen darzustellen, ist ein zentrales Anliegen dieses Buches. Dabei ist ein Buch allein das denkbar schlechteste Medium, um sich dem Wesen des Reitens zu nähern. Ein Buch ist starre Theorie – Reiten aber lebt von Bewegung und Dynamik.

Natürlich muss man alles auf dem Pferd üben. Zwar scheint es sich nie besser zu reiten als auf der Tribüne – wenn man den Kommentaren dort lauscht – aber kein angelesenes Wissen kann das eigene praktische Reiten ersetzen. Reiten lernen ist eine lebenslange Aufgabe.

Heutzutage wird Leistung oft an Zeit gemessen: mehr erreichen in kürzerer Zeit. Doch gerade beim Reitenlernen gibt es keine Abkürzungen. Wer Bausteine überspringt, der fällt früher oder später auf die Nase. Die wirklich guten Reiter sind deswegen immer wieder bereit, zur Basis zurückzukehren und an ihr zu arbeiten.

Je tiefer man sich mit einer Sache beschäftigt, desto mehr geraten eigene Gewissheiten ins Wanken. „Zu glauben, man wisse etwas, was man tatsächlich nicht weiß, ist ein verhängnisvoller Fehler, zu dem wir alle neigen. Wir Reiter mehr als andere Menschen!“

Der selbstkritische Satz von Udo Bürger bringt diese Einsicht auf den Punkt. Wer nicht stets bereit ist, von der Basis aus erneut zu lernen, wird sich in Scheinwissen verlieren und nicht wirklich weiterkommen.

Die beim Sitz zu Pferde geforderte Balance ist ohne Bewegung undenkbar. Stellen Sie sich nur einen Fahrradfahrer vor, der an einer roten Ampel durch Fahren im Zeitlupentempo versucht, die Balance auf dem Fahrrad zu halten. Sobald er steht, muss er einen Fuß auf die Straße setzen, um sein Gleichgewicht zu retten. Balance ist immer nur in der Bewegung möglich.

Bewegung, besonders aber die Harmonie, ja sogar Schönheit einer Bewegung, hat mich schon früh fasziniert. Schon von weitem erkannte ich andere Menschen an ihren typischen Bewegungen, eher als am Gesicht. Die harmonische Übereinstimmung der Bewegungen von Pferd und Reiter waren in meiner eigenen Reitpraxis wichtigere Ziele als Turniererfolge. Mein Beruf lehrte mich schließlich, Bewegung zu analysieren und zu verstehen, denn als Krankengymnastin ist man Bewegungstherapeutin. Bald erkannte ich, wie schwierig schon die selbstverständlichste Alltagsbewegung wird, wenn ein Muskel oder ein Gelenk aus irgendeinem Grund nicht funktionieren. Die Aufgabe einer Krankengymnastin ist es, einen Patienten individuell angepasste, ökonomische Bewegungen zu lehren. Viele dieser Bewegungen geschehen unwillkürlich und unbewusst. Solches Bewegungsverhalten neu zu steuern, ist eine schwierige Herausforderung. Die Krankengymnastik orientiert sich immer an der gesunden Bewegung. Diese ist natürlich, funktionell und körperschonend. In meiner Ausbildung und während meiner beruflichen Erfahrungen wurde mein Blick für Bewegungen aller Art immer wieder neu geschult. So habe ich auch Reiten als Bewegung begriffen und mich neu dafür interessiert, wie diese Bewegung funktioniert und wie sie erlernt werden kann.

Mein eigenes Reitenlernen fand unter günstigsten Bedingungen statt. Ich wuchs in einer Reiterfamilie mit kleiner privater Zucht auf, saß auf dem Pferderücken, bevor ich laufen konnte. So hatte ich Vorteile gegenüber Problemen, die im Werdegang junger Reiter häufig auftreten: Ich lernte früh genug reiten, hatte ein gutes, abwechslungsreiches Pferdeangebot und wurde fachlich wie pädagogisch mit außerordentlich guter Hand angeleitet. Eigentlich hätte aus mir eine erfolgreiche Jugendreiterin werden können. Aber mit dem Beginn der Pubertät schoss ich extrem in die Länge und erreichte bald mein heutiges Gardemaß von 1,80 Meter. Damit kam der große Einbruch in meine Reiterei. Pferde, die vorher bei mir selbstverständlich am Zügel gingen, wurden plötzlich zu Giraffen; ich verlor mein selbstverständliches Gefühl auf dem Pferderücken, war unausbalanciert, bekam schnell Angst und flog dementsprechend häufig in den Sand. Der Geduld meiner Eltern und einiger besonderer Pferde und Ponys habe ich es zu verdanken, dass ich trotzdem bei der Reiterei geblieben bin.

Meine Mutter legte in der Ausbildung immer allergrößten Wert auf den korrekten Sitz. So lernte ich allmählich, mit meinen langen, schlaksigen Armen und Beinen wieder die Ruhe auf dem Pferd zu finden. Mit einer koordinativ feinen und dabei effektiven Einwirkung hatte ich allerdings noch sehr lange Probleme.

Im Verlauf meiner Ausbildung als Krankengymnastin wurde mein Reiten erstaunlicherweise um ein Vielfaches besser. Parallel zum besseren Verstehen der menschlichen Anatomie lernte ich meinen eigenen Körper besser kennen, konnte an meinen Bewegungs- und Haltungsschwächen arbeiten, sie kontrollieren und so besser reiten. Mit großer Faszination stellte ich fest, dass sich die krankengymnastischen Grundlagen auch auf den reiterlichen Sitz übertragen lassen. Ich absolvierte eine Zusatzausbildung in Hippotherapie, der Behandlung von Patienten auf dem Pferd. Die Bewegung des Pferdes wird dabei genutzt, um natürliche, gesunde Bewegung zu schulen.

Meine eigene Reitausbildung führte mich nach der Amateurreitlehrerausbildung für einige Zeit als Bereiterin in einen Dressurstall, später in einen Springstall. Der rege Gedankenaustausch mit Berufs- und Amateurausbildern, aber auch mein eigener Werdegang zeigten mir, wie wenig über das Problem des Reitenlernens gelehrt wird – ganz einfach deshalb, weil so wenig darüber gewusst wird.

Es herrscht allgemein eine riesige Diskrepanz zwischen dem Wissen über die Ausbildung eines Pferdes und der eines Reiters. Was das Pferd angeht, ist man sich weitgehend einig. Grundsätzliche Ausbildungsschritte sind in der Ausbildungsskala festgelegt. Konzepte, wie man ein Pferd muskulär auftrainiert oder falsche Bewegungsabläufe korrigiert, gibt es genug.

Für den Reiter allerdings wird immer nur das starre Idealbild des absoluten Könners herangezogen. Daran gemessen, können alle Abweichungen nur als Fehler registriert werden. Eine generell verbindliche Sequenzierung in kleine Lernschritte gibt es nicht. Selbst die „Gelehrten“ streiten sich, ob zuerst mit oder ohne Bügel, Leichttraben oder Aussitzen, „Kopf hoch“ oder „Absatz tief“ gelehrt werden muss.

Da mir die Wahl zwischen meinen beiden Berufen außerordentlich schwer fiel, verwirklichte ich sie schließlich beide: Ich arbeitete halbtags in einer Krankengymnastik-Praxis mit dem Schwerpunkt „Wirbelsäule“ und verbrachte den Rest des Tages in einem Reiterverein. Ich unterrichtete dort Kinder und erwachsene Anfänger, behandelte Hippotherapie-Patienten und verlegte mich zunehmend auf Sitzschulung für fortgeschrittene Reiter.

Dabei knotete ich sozusagen zwei weit voneinander entfernt scheinende Enden meiner beiden Berufe zusammen und stellte fest: der Knoten hält!

Aus der Praxis heraus wuchs dann die Idee, diese Einsicht auch in einem Buch zusammenzufassen. Immer wieder bestätigten mir andere Reiter und Ausbilder, dass mein Wissen in der Bewegungsanalyse von grundlegender Bedeutung für den Reiter und seinen Sitz ist.

Zu verstehen, warum und wie sich etwas anfühlt, warum jenes dem einen leicht fällt, und für den anderen fast unmöglich ist;

zu erkennen, welches die nächsten Lernschritte sind und vom Pferd den Erfolg zu spüren – das alles wollte ich versuchen, schwarz auf weiß zu Papier zu bringen.

Nach gut zwei Jahren Arbeit war die erste Ausgabe von „Balance in der Bewegung“ fertig. Mir war damals nicht klar, welch eine Auswirkung dies Buch auf mein Leben haben würde. Vorträge, Lehrgänge und Seminare folgten. Das Manuskript wurde ins Englische übersetzt und ein ergänzendes Video mit Praxisübungen gedreht. Internationale Lehrgänge folgten, und inzwischen lebe ich im Ausland (Israel) und bin selbstständig in Krankengymnastik und Reitsport tätig.

Reiter auf unterschiedlichstem Ausbildungsstand haben mir Leserbriefe geschrieben. Für alle stellte das Buch die Basis dar, von der aus sie sich neues Wissen für ihr Reiten zu Eigen machen konnten.

Reitschüler auf den unterschiedlichsten Ausbildungsstufen kamen mit ihren individuellen Fragen und Problemen zum Unterricht, und ich habe in den letzten Jahren so viel neues Wissen über den Sitz des Reiters erworben, dass ich es für sinnvoll hielt, dieses Buch komplett zu überarbeiten, Bewährtes beizubehalten und neue Erkenntnisse hinzuzufügen.

Balance in der Bewegung hat sich als Standardwerk in der Reitlehre etabliert: ein Basiswerk, das von Reitern aus jeder Disziplin und aus jedem Ausbildungsstand verstanden und genutzt werden kann.

Für diese Neuauflage habe ich mich deshalb entschlossen, mit Reitern auf unterschiedlichem Ausbildungsstand auf unterschiedlich weit ausgebildeten Pferden zu arbeiten.

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Susanne von Dietze und Isabelle von Neumann-Cosel während der Foto-Arbeiten

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International Academy for Equestrian Studies in Warendorf, von links nach rechts: Marcel Neukirch,
Stephan Kiesewetter, Tanya Boyd, Judy Peel

Mein besonderer Dank geht an diese Reiter. Absichtlich nicht nur Können, sondern auch Fehler zu zeigen, mit dem Wissen, dass diese oft unvorteilhaften Situationen auch fotografiert werden, ist keine Selbstverständlichkeit. Ich bin dankbar, dass mir die International Academy for Equestrian Studies in Warendorf mit fachkundigem Wissen, Können und dem nötigen Humor beiseite gestanden hat.

Ein Foto ist stets nur ein Ausschnitt aus einer ganzen Bewegungseinheit. Perfekte Momente sind rar, und doch kann ein Foto widerspiegeln, wo Schwächen oder auch Stärken der Bewegung sind. Aufzeigen, wie ein Reiter individuell seine Stärken nutzt, um besser an Schwachstellen zu arbeiten, war ein Hauptkriterium bei der Auswahl der Bilder.

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Verblüffend, wie anders die ganze Welt aussehen kann, wenn man sie „auf den Kopf“ stellt

Die bewährte, kritische und fachkundige Mitarbeit meiner Cousine Isabelle von NeumannCosel war eine unverzichtbare Hilfe.

Jeanne Kloepfer hat dieses Buch mit ihren besonderen Zeichnungen illustriert, sie hat es geschafft, meine Texte in Bildern wiederzugeben. Möge es allen Lesern gelingen, unsere Worte und Bilder nun in die Tat umzusetzen!

Oft hilft es zu neuer Erkenntnis, bekannte Tatsachen von einer anderen Warte aus zu betrachten. Von einer ausgedehnten hippologi-schen Australien-Reise habe ich mir eine ganz besondere Weltkarte mitgebracht. Sie steht – aus unserer Sicht – auf dem Kopf und Australien liegt genau in der Mitte. Es ist einfach verblüffend, wie anders die ganze Welt aus neuer Perspektive aussehen kann, obwohl die Geographie nicht verfälscht wurde.

Genauso verblüffend ist es, wie sich manche Schwerpunkte verlagern, wenn man den Mut hat, Dinge „auf den Kopf zu stellen“. So hatte ich eine Fülle alter/neuer Aha-Erlebnisse, als ich die Reiterei, die ich auf dem klassischen Weg ja selbst von klein auf erlernt hatte, durch die Brille einer Krankengymnastin betrachtete. Manche Sachverhalte habe ich erst dadurch richtig verstanden.

Reiten ist ein ganzheitlicher, komplexer Sport, der in allen geforderten Bewegungen immer natürlich bleibt. Es werden keine unnatürlichen Verrenkungen verlangt. Ein gesundes, normales Bewegungsverhalten ist die beste Voraussetzung, gut Reiten zu lernen. Der Umkehrschluss gilt auch: Gutes Reiten hilft, gesunde, natürliche Bewegungen zu schulen. Eine wichtige Erkenntnis für die heutige bewegungsarme Zeit, in der Defizite im menschlichen Bewegungsverhalten an der Tagesordnung sind.

In diesem Buch möchte ich keine neue Reitlehre schreiben. Im Gegenteil – die gültige Reitlehre

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Willkommen zur Reiterei aus
anderen Blickwinkeln!

BEWEGUNGSLERNEN UND REITENLERNEN

Bewegungslernen: Am besten wie ein Kind

„Leben ist Bewegung!“ Diesen Ausspruch einer bekannten Therapeutin sollte man sich in der heutigen bewegungsarmen Zeit immer wieder vor Augen halten. Wie aber definiert sich Bewegung, wie entsteht sie, wie wird sie erlernt und angewandt?

Das Bewegungsverhalten ist etwas ganz Individuelles. Jeder Mensch bewegt sich anders, hat seine eigenen für ihn typischen Bewegungen. Diese sind abhängig von Körperbau, Konstitution und der gesamten Persönlichkeit des betreffenden Menschen. Bewegung wird vom menschlichen Gehirn aus gesteuert. Bewegungsmuster – wie zum Beispiel Gehen, Stehen, Sitzen, Hüpfen können so im Gehirn gespeichert werden, dass sie bei Bedarf automatisch zur Verfügung stehen. Bis zur Geburt reifen im Gehirn Zellen, die sich durch Zellteilung immer weiter vermehren. Mit der Geburt hört die Zellteilung auf. Nun beginnt der Prozess des Lernens. Einzelne Zellen werden miteinander über Synapsen verknüpft. Es entsteht ein regelrechtes Netz von Bahnen und Leitungen.

Solche Netze enthalten den individuellen Vorrat an Bewegungsmustern. Mit dem Beginn der Pubertät wird ein Hormon freigesetzt, welches das weitere Verknüpfen von Zellen unmöglich macht. Das bedeutet: Neue Bahnen können dann nicht mehr angelegt werden. Deshalb ist die Kindheit für alle Bereiche des Lebens von so prägender Bedeutung. Um diesen Prozess ein wenig anschaulicher darzustellen, vergleiche ich das Gehirn gerne mit einem Stadtplan.

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Stadtplan im Kopf

Zum Zeitpunkt der Geburt stehen im Kopf viele einzelne Häuser, und man beginnt Straßen zu bauen. Ein ganzes Verkehrsnetz entsteht. Wenn man beispielsweise von A nach B fährt, so baut man dabei gleich eine direkte Straße, auf der man dann immer diesen Weg fährt. So lernen Kinder spontan komplexe Bewegungsabläufe. Der Erwachsene muss in seiner Stadt im Kopf zunächst suchen, ob es eine direkte Straße von A nach B gibt. Wenn nicht, so kann er B vielleicht über C erreichen.

Ein Erwachsener setzt folglich eine neue Bewegung aus bereits vorhandenen Bewegungselementen zusammen und greift auf bekannte Bewegungen zurück. Er kann in seiner Stadt keine neuen Straßen mehr bauen. Dabei ist er davon abhängig, wie gut sein Verkehrsnetz im Kopf ausgebaut ist und wie gut er sich darin auskennt – denn es kommt durchaus vor, dass direkte Wege verschüttet sind und man eine unnötige Umleitung fährt. Dieses Bild erklärt auch, warum ein Erwachsener eine Bewegung vielleicht einmal ausgeführt hat, aber diesen Weg nicht zum zweiten Mal finden kann. Ein über Umleitungen gefundener Weg muss gebahnt, eingeschliffen werden, damit man die Abzweigungen nachher „im Schlaf“ findet. Der Erwachsene muss daher neue Bewegungsabläufe einüben und trainieren.

Die Leitung der Nervenbahnen im Gehirn ist unvorstellbar schnell. So kann auch eine Umwegebahn fast ohne Zeitverlust benutzt werden. Im Hochleistungssport jedoch haben die meisten Sportler ihre Disziplin schon im frühen Kindesalter erlernt, und die wenigen Spitzensportler, die erst später angefangen haben, konnten als Kinder eine Vielzahl von Bewegungserfahrungen sammeln.

Straßen im Gehirn, die nicht benutzt werden, können defekt, verschüttet und reparaturbedürftig werden. Je weniger man als Erwachsener seine Bewegungsvielfalt trainiert, desto mehr geht verschütt. Dies äußert sich in Haltungsproblemen und einer Dysbalance des gesamten Bewegungsverhaltens, unserer Zivilisationskrankheit. Verschüttete Bahnen frei zu räumen und wieder zu neuem Leben zu erwecken ist eine mühsame, kraft- und zeitraubende Arbeit.

Wenn Sie nun nicht als Kind mit dem Reiten angefangen haben, so klappen Sie bitte das Buch jetzt nicht zu, und betrachten sich nicht als hoffnungslosen Fall. Gerade das Reiten ist eine Sportart, die auf einer Vielzahl bekannter Bewegungsmuster aufbaut. So wird im therapeutischen Reiten der Schritt des Pferdes genutzt, weil der Pferderücken auf den Rumpf des Reiters das normale Gangbild überträgt. Das Reiten hat mit dem Gehen sehr vieles gemeinsam. Die Bewegungen und geforderten Reaktionen im Rumpf sind häufig nahezu identisch. Dies ist mit ein Grund für den hohen gesundheitlichen Wert des Reitens. Und man kann auch als „Seiteneinsteiger“ mit späteren Jahren ein guter Reiter werden!

Bewegung ist der Ausdruck der ganzen Persönlichkeit eines Menschen. Der „innere“ Mensch beeinflusst die Qualität der Bewegung entscheidend. Wenn es einem gut geht, wird man sich ganz anders halten und bewegen als in einem seelischen Tief. Aufrichtung, ein gerader und freier Gang ist immer ein Zeichen von innerer Sicherheit und Ausgeglichenheit. Wer in sich zusammensackt, versteckt nicht nur den Kopf zwischen den Schultern, sondern auch seine ganze Persönlichkeit vor der Umwelt.

Feinde des Bewegungslernens sind Angst, Stress, Monotonie, Chaos, kräftemäßige und koordinative Überforderung. Angst blockiert Bewegungsabläufe. Wer Angst bekommt, weicht in Schutzreflexe wie Klemmen, Hochreißen der Hände, Beugemuster im Rumpf (im Extremfall bis zur embryonalen Kauerhaltung) aus. Stress dagegen erzeugt nur Automatismen. Unter Stress kann man nur noch automatisch reagieren, aber eine adäquate Feinabstimmung auf die aktuelle Situation ist nicht mehr möglich. So kann man beim Reiten unter Stress nicht mehr auf die akuten Forderungen des Augenblicks reagieren und schon gar nicht neue Bewegungserfahrungen ausprobieren. Ein gestresster Reiter wird beispielsweise eine ganze Parade immer nur nach „Schema F“ absolvieren, ohne sich auf die subtile Botschaft des Pferdes für die nötige Dosierung und Abstimmung der Hilfen einstellen zu können. Monotonie, erstarrte Routine, sture Wiederholung, pure Langeweile schließlich machen Fortschritte unmöglich, denn Lernen ist untrennbar mit der Lust auf neues Erleben verknüpft. Das krasse und ebenso unfruchtbare Gegenteil ist das durch die Anhäufung unterschiedlichster neuer Anforderungen entstehende Chaos, in dem zwischen Neuem und Vertrautem gar nicht mehr unterschieden werden kann.

Merke:
  • Das wirklich gute Lernen bewegt sich in kleinen Schritten auf einem schmalen Grat zwischen Monotonie und Chaos.

Wenn Neues dazukommt, müssen die übrigen Grundvoraussetzungen konstant bleiben. Auf einem neuen Pferd wird man zunächst vertraute Lektionen reiten. Eine neue Lektion dagegen wird man sich in kleinen Schritten mit steigendem Schwierigkeitsgrad erarbeiten: Die ganze Parade zunächst in einem bestimmten Abschnitt der langen Seite, dann am geforderten Punkt auf dem Hufschlag, erst zuletzt ohne Anlehnung an der Bande bei X …

Kräftemäßige und koordinative Überforderung ist meist die Folge einer falschen Zielsetzung. Die falschen Ziele setzt aber oft nicht der Reitlehrer, sondern der Reitschüler sich selbst. Am Modell kindlicher Bewegungsentwicklung las sen sich drei klare Grund sätze für das Bewegungs lernen ablesen:

Merke:
  • Von innen nach außen
  • Über die Grobform zur Feinform
  • Über Bewegung zu Haltung

Der Rumpf entwickelt sich vor den Extremitäten, da er diesen stabilen Halt gewährleisten muss. Zuerst lernt das Kind den Stütz auf der Schulter, dann auf den Ellenbogen, dann Handstütz, und wenn der sicher ist, beginnt das Greifen der Finger. Gezielte Bewegungen der Extremitäten sind erst möglich, wenn der Rumpf stabil ist. Die Körperbeherrschung entwickelt sich vom Rumpf zu den Extremitäten oder allgemein: von innen nach außen.

Bewegungen sind zunächst größer und werden mit mehr Aufwand als nötig durchgeführt. Sie werden dann optimiert und mit dem geringst nötigen Kraftaufwand ökonomisch angewandt: über die Grobform zur Feinform.

In einer neuen Position kann man sich zuerst bewegen, bevor man die Koordination für die Haltung erlernt. Ein Kind wird im Vierfüßlerstand zunächst wackeln und wippen, bevor es diesen ausbalancieren kann; es kann zuerst laufen, dann still stehen: über Bewegung zu Haltung. Wer reiten lernen möchte, ist ebenfalls diesen Grundsätzen unterworfen. Zuerst muss der Rumpf stabil werden, bevor an eine Kontrolle der Extremitäten zu denken ist. „Absatz tief“ und „Hände still“ in der ersten Reitstunde zu verlangen wäre blanker Unsinn: Von innen nach außen! – Wer sich gleich die Feinform vornimmt, wird einem viel zu weit entfernten Ziel entgegengehen. Man muss sich zunächst mit einer Grobform zufrieden geben und an dieser dann Stück für Stück feilen und arbeiten: Über die Grobform zur Feinform. Die feine Balance, das scheinbar ruhige Sitzen wird zunächst über ein vermehrtes Bewegen erreicht. Der typische unruhige Sitz eines Anfängers ist kein Fehler, sondern der erste Schritt auf dem Weg, Balance in der Bewegung zu finden: über Bewegung zu Haltung.

Die genaue Vorstellung einer Bewegung ist dabei hilfreich. Gute Reiter zu beobachten, ist von großer Wichtigkeit für die Schulung des eigenen inneren Bewegungsbildes. Ein Kind kann sich eine neue Bewegung direkt spontan abgucken. Es beobachtet zum Beispiel ein anderes Kind beim Leichttraben und kann es dann oft, ohne dass man ihm einzelne Schritte zeigen oder erklären muss. Ein Erwachsener benötigt beides, Bewegungsbild und eine Erklärung. Der Erwachsene lernt viel bewusster, kopflastiger. Er verlangt viel mehr Details, Erklärungen der Lernschritte; jede neue Bewegung wird strukturiert und zusammengesetzt. Das Bild der fertigen, korrekten Bewegung ist eine wichtige Vorstellung, damit sich seine Puzzleteile der Bewegung richtig sortieren und zusammensetzen.

Ein typisches Beispiel ist ein Anfänger, den man zum ersten Mal von der Longe „frei lässt“ und ihn das Pferd im Schritt trockenreiten lässt. Der Erwachsene wird sofort fragen: „Wie reite ich an, was muss ich machen, wie lenke ich …?“ Und wenn man ihm dann eine technische Beschreibung gibt, die natürlich nicht funktioniert, weil sie nicht auf das Pferd abgestimmt werden kann, ist der Frust da. Die einzige Erfolg versprechende Strategie für den Reitschüler wäre es, sich auf die ungewohnte Situation einzulassen, das Erlebnis mit allen Sinnen auszukosten und auszuprobieren, sich der Pferdebewegung anvertrauen. Das wiederum ist die Domäne der Kinder. Sie bezeichnen spontan ihr Schulpferd als ihren Freund und vertrauen sich diesem viel unbefangener als ein Erwachsener an. Sie sind viel offener, vom Pferd zu lernen. So ein wenig Kind bleiben, den technisch denkenden Kopf ausschalten und sich neuem Erleben unbefangen öffnen zu können, das wünsche ich vielen Reitern.

Das Bewegungslernen geschieht folglich nicht nur in der Praxis, sondern zu einem nicht unerheblichen Maße auch im Kopf. Dieser Vorgang wird im Sport als mentales Training bezeichnet und genutzt. Mentales Training besteht in planmäßigem, wiederholtem und bewusstem SichVorstellen eines Bewegungsablaufes mit optimalem inneren Ablauf- und Ergebnisfeedback. In dieser Definition steckt eine geballte Ladung an Information. Eine Bewegung wird genauestens durchdacht und sich immer wieder innerlich vorgestellt. Dabei wird diese Bewegung optimiert, man stellt sich positiv auf die Bewegung ein. Ablauf und Erfolg der Bewegung und damit der Sinn und die Zweckmäßigkeit werden verdeutlicht. Wenn ein Reiter versteht, warum es notwendig ist, schnurgerade zu sitzen, wird er sich mehr bemühen, diesen Sitz einzunehmen. Gerade auch im Leistungssport ist eine mentale Vorbereitung von großer Wichtigkeit, denn wie schnell kann sich ein Reiter durch Stress, Angst, Leistungsdruck von innen oder von außen so blockieren, dass er sein eigentliches Können nicht entfalten kann?! Hier bietet das mentale Training eine gute Hilfestellung an.

Ausbildungsweg des Reiters

Nirgends gibt es so viel Unsicherheit, so viele verschiedene Meinungen wie bei der Fragestellung, in welchen Lernschritten sich das Reitenlernen vollzieht. Was sollte zuerst, was zweitrangig erlernt werden? Worauf sollte man achten? Soll ein Reitanfänger zuerst mit oder ohne Steigbügel reiten, zuerst leichten Sitz oder zuerst Dressursitz … Auf all solche Fragen sind sicherlich viele unterschiedliche Antworten möglich. Deutlich werden die individuell verschiedenen Meinungen regelmäßig bei der Platzierung von Führzügelwettbewerben und Reiterwettbewerben.

Aber welchen Stellenwert man Detailproblemen auch immer einräumt – um einem Reitschüler gerecht zu werden, ist es wichtig, ihn nicht als Zusammensetzung von Fehlern (Kopf wackelt, Beine liegen falsch, Hände verdeckt …) zu betrachten, sondern als einen Lernenden, der auf seinem Weg schon einige Dinge kann und andere noch nicht.

Für einen erfolgreichen Unterricht muss der Reitlehrer sehen, was sein Schüler als nächsten Schritt dazulernen wird. In den meisten anderen Sportarten ist das Erlernen der Sportart theoretisch in genaue Lernschritte unterteilt, die aufeinander aufbauen. Reiten als sehr komplexe Sportart bringt für das Lernen besondere Schwierigkeiten mit sich. Der Lernerfolg ist nicht nur vom Reiter, sondern auch vom Umfeld und ganz besonders vom Pferd abhängig. Man kann Reitenlernen nicht in ein Schema pressen. Die von Eltern oder erwachsenen Anfängern oft gestellten Fragen: „Wie viele Longenstunden benötigt man, um frei zu reiten?“ oder „Wie viele Reitstunden braucht man, um Reiten zu können?“ kann man unmöglich pauschal beantworten.

Eine Reitschule ist keine (Auto-)Fahrschule, in der eine Mindestzahl an Stunden für den Pferdeführerschein Pflicht ist, und sich die Schüler im Unterbieten der Stundenzahl übertreffen wollen. Situation und Pferd spielen hier eine wichtige Rolle. Frühes freies Reiten muss nicht unbedingt von Vorteil sein. Reitschüler, die länger an ihrer Sitzschulung an der Longe gearbeitet haben, machen hinterher oft größere Fortschritte, da sie nicht gleich mit allen Anforderungen auf einmal konfrontiert werden. Nicht umsonst leistet sich eine Institution wie die Wiener Hofreitschule, deren Reiter für ihren vorzüglichen Sitz berühmt sind, eine monatelange reiterliche Grundausbildung ausschließlich an der Longe.

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Sitzschulung an der Longe

Dafür hat das freie Reiten wiederum einen großen psychologischen Effekt und stellt eine hohe Motivation dar. Beides miteinander abzuwägen ist die anspruchsvolle Aufgabe an den Reitlehrer. Reiten lässt sich nicht nach einem sturen Schema erlernen. Und doch gibt es Kriterien für das, was zuerst erlernt werden soll, und was danach darauf aufbauen kann. Diese Kriterien sind Bausteine des Reitenlernens, und auf diesem nie enden wollenden Weg wird man immer wieder an diesen Bausteinen vorbeikommen und daran arbeiten müssen.

So wird man beispielsweise mit verbesserter Balance sicherer sitzen und feiner einwirken können. Dies verbessert das Gefühl, die Einwirkung wird genauer und erfolgt präziser im richtigen Moment der Bewegung. Um den richtigen Moment zu erwischen, wird ein sichereres Rhythmusgefühl notwendig, was wiederum die Balance verbessert …

Auch ein fortgeschrittener Reiter wird an den gleichen Bausteinen seiner Reitkunst feilen wie ein Anfänger.

Die Reitlehre unterteilt das, was ein Reiter auf dem Pferd können muss, in Sitz, Hilfengebung, Gefühl und Einwirkung. Diesen Ausbildungsweg des Reiters möchte ich im Folgenden darstellen, wobei ich die einzelnen Bereiche noch weiter unterteilt habe. Vergleichbar ist der Ausbildungsweg des Reiters mit der Ausbildungsskala eines Pferdes in der klassischen Reitlehre.

Kontakt

Der Kontakt zum Pferd ist die wichtigste Grundvoraussetzung, um Lernen zu ermöglichen. Ein guter innerer Draht zum Pferd baut Ängste ab und schafft eine beidseitige stabile Vertrauenssituation. Nicht selten ist solch ein innerer Draht stärker als technisches Können. Wer kennt nicht die Beobachtung, dass manche Pferde, die immer für einen Satz, eine unliebsame Überraschung gut sind, dieses Verhalten aber niemals unter Kindern zeigen? Und die wirklich großen Leistungen im Pferdesport basieren auf diesem inneren Kontakt, dem Sich-Kennen von Reiter und Pferd.

Rhythmus

Genau wie das Pferd am Beginn der Ausbildungsskala den spezifischen Takt in jeder Gangart erlernen und festigen muss, so ist es auch für den Reiter notwendig, in das Gleichmaß der Bewegung in allen Schritten, Tritten und Sprüngen hineinzufinden. Harmonie kann auch im musikalischen Zusammenspiel nur dann entstehen, wenn alle Musiker den gleichen Takt halten. Reiter und Pferd müssen zu einem gemeinsamen Bewegungsrhythmus finden. Nur wenn der Takt als Grundlage für den Rhythmus existiert, können harmonische Feinheiten erarbeitet werden. Schon beim Erlernen des Leichttrabens wird deutlich, wie viel leichter Pferden und Reitern die gestellte Aufgabe fällt, wenn der Takt stimmt! Dieses Prinzip wiederholt sich auch in allen anderen Lektionen. Die grundlegende Forderung nach rhythmischer Bewegung ist ein Grund dafür, dass Taktfehler in der Dressur so hart bestraft werden. – Und die meisten Taktfehler werden vom Reiter verursacht, nicht vom Pferd.

Balance

Auf dem Pferd wird vom Reitschüler als erstes Ziel die Balance gefordert. Ohne Balance würde er fallen oder sich mit Kraft festhalten müssen. Balanceschulung besonders für den Oberkörper ist Voraussetzung für jeden weiteren reiterlichen Ausbildungsweg. Hier bietet es sich an, auch einmal ohne Sattel zu reiten, um die Bewegung des Pferdes direkt zu spüren und darauf reagieren zu müssen. Sich in jeder Gangart senkrecht und quer zum Pferderücken auszubalancieren, immer „in der Bewegung“, das heißt mit dem eigenen Schwerpunkt über dem des Pferdes zu bleiben, ist das erste Ziel des jungen Reiters.

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Losgelassenheit

Wer sein Gleichgewicht in der Bewegung gefunden hat, benötigt nicht mehr Kraft als notwendig für die jeweilige konkrete Situation. Beim Reiten steht kein Muskel unter Dauerspannung, es erfolgt ein rhythmisches An- und Entspannen der Muskulatur parallel zu der Pferdebewegung. Losgelassenheit ist nicht zu verwechseln mit Lockerheit, Schlaffheit der Muskeln. Die Muskulatur arbeitet unter der korrekten Losgelassenheit ökonomisch, für den eigenen Körper optimal, und die Grundspannung der Muskulatur ist der geforderten Situation angepasst – im versammelten Trab höher als im Schritt am langen Zügel. Erst ein losgelassener Sitz ermöglicht die Kontrolle und unabhängige Bewegung der Extremitäten, auf der eine feine Hilfengebung basiert.

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Voraussetzung für eine effektive Einwirkung ist ein tiefer, geschlossener Sitz. Die gesamte Muskulatur, die für die Aufrichtung im Sitz verantwortlich ist, muss eine gute Grundspannung aufweisen, ohne dass die Losgelassenheit dabei verloren geht. Sein Pferd so am Sitz zu kontrollieren gehört zu dem Geheimnis des Reitens. Der Reiter sitzt dann im Pferd, nicht mehr auf dem Pferd, Pferd und Reiter werden eins.

Parallel zu der Sitzschulung verläuft das Erlernen der Hilfengebung.

Technik

Die Hilfengebung wird zunächst rein technisch erlernt: „Da liegt das Bein“, „so wird die Hand eingedreht“ … Der Reitschüler wird anfangs zweifellos eine gröbere Hilfengebung ausüben müssen, bis er sie immer feiner abstimmen kann. Ein Anfänger wird sein Pferd mit viel mehr Aufwand in eine Wendung steuern als ein fortgeschrittener Reiter. Isoliert lassen sich Hilfen nur sehr bedingt üben, weil Pferde aus dem Zusammenhang der Hilfengebung gerissene Hilfen meist ignorieren oder missverstehen. Für das nötige Zusammenwirken der Hilfen ist der Reiter von Anfang an mit einer höchst komplexen Aufgabe gefordert, nicht selten überfordert. Die Anwendungssituationen müssen vom Reitlehrer deshalb vielfältig auf das Können des Schülers abgestimmt werden.

Gefühl

Das reiterliche Gefühl, die optimale Kommunikation zwischen Reiter und Pferd, gilt als die Krone reiterlicher Fähigkeiten. Dieses Gefühl ist nicht etwa das angeborene Privileg einiger weniger begnadeter Talente, sondern ein Hauptlernziel für den jungen Reiter. Die sensible Verständigung mit dem Pferd muss von der ersten Stunde an gelernt und gelehrt werden. Der wichtigste Lehrer ist dabei das Pferd. Nur auf einem gut ausgebildeten Lehrpferd wird der Reitschüler es erreichen können, seine Hilfen auf die geforderte Aufgabe und zugleich auf die Reaktion des Pferdes abzustimmen.

Physiologie der Bewegung

Werkzeuge für Bewegung:

Gelenke –
Wo Bewegung stattfindet

Ein Gelenk ist die bewegliche Verbindung zweier Knochen. Gelenke ermöglichen Bewegung und geben durch ihren Aufbau bestimmte Bewegungsrichtungen und -ausmaße vor.

Das Gelenk besteht aus einem Gelenkkopf und einer Gelenkpfanne. Die sich gegenüberstehenden Gelenkflächen sind mit einer Knorpelschicht überzogen, die wie ein Puffer den Knochen schützt. Außen wird das Gelenk durch die Kapsel begrenzt. Die Gelenkhöhle ist von einer Flüssigkeit ausgefüllt, die als Gelenkschmiere dient. Zusätzlich befinden sich in dieser Flüssigkeit Nährstoffe für den Knorpel, da dieser nicht durchblutet wird und sich nur durch Diffusion ernähren kann. Die Gelenkkapsel ist mit feinem Nervengewebe umflochten, dort sitzen Rezeptoren, die jede auch noch so kleine Veränderung des Gelenkes bezüglich Gelenkstellung und Spannung der Kapsel melden. Die Muskulatur als Beweger zieht über das Gelenk hinweg und setzt mit der Sehne an der Knochenhaut an. Manchmal strahlt ein Muskel auch direkt in die Gelenkkapsel ein (Schulter), diese Kapsel ist dann noch empfindlicher auf kleinste Veränderungen, verkrampfte Schultern zum Beispiel blockieren das gesamte Schultergelenk.

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Aufbau eines Gelenkes

In Gelenken können je nach Gelenktyp unterschiedliche Bewegungen stattfinden. In einem Scharniergelenk, zum Beispiel am Finger, kann man beugen und strecken. Es gibt dort nur eine Bewegungsebene. Anders ist es im Handgelenk. Dort gibt es zwei Bewegungsebenen, man kann es strecken und beugen, und zum Daumen oder zum kleinen Finger hin bewegen. Das Kreisen im Handgelenk ist eine Mischbewegung dieser zwei Hauptbewegungsrichtungen. Noch komplizierter wird es in einem Kugelgelenk wie der Schulter oder der Hüfte. Dort gibt es drei Bewegungsebenen, die miteinander verknüpft werden können: nämlich Beugen und Strecken, Abspreizen und Heranziehen und Drehen nach innen und nach außen.

Würden wir uns nur in den gedachten Bewegungsebenen bewegen, dann sähen die Bewegungen eckig wie bei einem Roboter aus. Eine schöne, ökonomische Bewegung verbindet immer alle drei Ebenen und ist fließend und rund. Dreidimensional muss also eine Bewegung stattfinden – zum Glück hat man noch kein Denkmodell für die vierte Dimension entwickelt.

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Die Gelenkform bestimmt die Bewegungsrichtung

Die Bedeutung der Mittelstellung:

Aus einer mittleren Stellung heraus kann sich das Gelenk in jede mögliche Richtung bewegen. Wenn das Gelenk in einer Endstellung ist, ist nur eine mögliche Richtung frei. Wenn Sie auf den Zehen stehen und nach oben springen wollen, so ist das nur möglich, wenn man zunächst die Füße absenkt, um dann abspringen zu können.

Ein Mitschwingen in der Pferdebewegung ist nur möglich, wenn unsere Gelenke nicht in Endstellungen blockiert sind. Dies gilt insbesondere für die Lendenwirbelsäule und die Hüftgelenke, aber auch für alle anderen Gelenke.

Der korrekte Sitz lässt allen Gelenken Spiel in mögliche Richtungen und stellt somit für die Gelenke auch keine Dauerbelastung und Überbeanspruchung dar!

Was passiert nun im Gelenk selbst, wenn es bewegt wird? Wie Sie auf der Zeichnung sehen können, gleitet der eine Gelenkpartner um den anderen herum. Dabei entsteht auf der einen Seite Zug-, auf der Gegenseite Druckbelastung für das Gelenk.

Merke:
  • Aus der Mittelstellung können sich Gelenke am besten Bewegungen anpassen.
  • In der Mittelstellung besitzt das Gelenk die größte Bewegungsmöglichkeit in alle freien Richtungen.
  • Beim Reiten braucht man keine extremen Gelenkbewegungen,sondern Bewegungsspiel um die Mittelstellung.

In der Mittelstellung eines Gelenkes ist die Kapsel am entspanntes ten, und das Gelenk hat den gerings ten Gelenkinnendruck. Die Nerven melden dies als Normalwert. In dieser Stellung kann auch Diffusion am besten stattfinden. Ist der Gelenkinnendruck zu hoch, können dort keine Nährstoffe mehr diffundieren, was auf Dauer dem Knorpel und somit dem Gelenk schadet.

Die Gelenkrezeptoren der Gelenkkapsel melden deshalb sofort Abweichungen von der Mittelstellung, damit die Muskulatur automatisch darauf reagiert und den Normzustand wieder herstellt. Deshalb ist auch die Muskulatur in der Gelenkmittelstellung am entspanntesten.

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Gelenk in Biegung

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Muskulatur – Wie Bewegungen ausgeführt werden

Die Muskulatur ist unser wichtigstes Bewegungsorgan. Ihr Aufbau ist der Vielzahl und der Funktion unserer Bewegungen angepasst. Wie eine Apfelsine ist der ganze Muskel in einzelne längliche Fasern aufgeteilt. Jede einzelne Faser besitzt elastische, kontraktile Elemente, die sich verkürzen und dehnen.

Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Arten von Muskelfasern unterscheiden. Einmal die dynamischen für Bewegung zuständigen Fasern, die sich zu einem hohen Maße zusammenziehen können, und zum anderen die statischen für Haltung zuständigen Fasern.

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Beispiele für verschiedene Muskeltypen

Die großen Muskeln an Armen und Beinen bestehen zum größten Teil aus dynamischen Fasern, da dort am meis ten Bewegung stattfindet. Der Rumpf, der dem Körper die Stabilität zum Bewegen gewährleisten muss, besitzt deshalb einen größeren Anteil an statischen Fasern.

Dies sollte man auch beim spezifischen Training der Muskeln berücksichtigen. Ich denke hierbei besonders an das beliebte Bauchmuskeltraining in Form von Sit-up's oder Klappmessern. Dabei müssen die Bauchmuskeln Weg zurücklegen, sie werden auf Bewegung, nicht auf Haltung trainiert. Man erreicht mit solch einem Training nur einen geringen Anteil der Bauchmuskelfasern, der erhoffte Erfolg bleibt trotz des schweißtreibenden Trainings oft aus!

Was passiert nun im Muskel, wenn er arbeitet?

Um sich die drei Hauptarbeitsweisen eines Mus kels zu verdeutlichen, nehmen Sie einen schweren Gegenstand in die Hand und halten ihn mit einem etwa rechtwinklig gebeugten Ellenbogen vor dem Körper. Hierbei muss der Oberarm-Beuger Haltearbeit verrichten. Man nennt dies isometrische Kontraktion, der Muskel arbeitet, ohne einen Weg zurückzulegen. Beugen Sie nun den Ellenbogen weiter und heben den Gegenstand, so verkürzt sich der Oberarm-Beuger, es wird ein Weg zurückgelegt, der Muskel arbeitet konzentrisch. Wird der Arm langsam wieder gesenkt, streckt man den Arm, die Hauptarbeit leistet aber immer noch der Oberarm-Beuger (nicht der Strecker!). Diesmal verlängert er sich beim Arbeiten. Diese exzentrische Kontraktion