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Lesen was ich will!
www.lesen-was-ich-will.de

ISBN 978-3-492-97416-5

März 2016

© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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»Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.«

Chinesisches Sprichwort

Jillians Stundenplan im dritten Schuljahr

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10.30 – 11.30

Dämonologie

Wahlfach 2

Grundlagen der
Mairajagd

Artenkunde

Magie

Verteidigung

11.30 – 12.30

Dämonologie

Wahlfach 2

Grundlagen der
Mairajagd

Artenkunde

Magie

Verteidigung

12.30 – 13.30

13.30 – 14.30

Wahlfach 1

Waffenkunde

Verteidigung

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Wahlfach 3

Offensive Magie

14.30 – 15.30

Wahlfach 1

Waffenkunde

Verteidigung

Sport

Wahlfach 3

Offensive Magie

Kapitel 1

»Mach ihn auf.«

Ich ignorierte die nervige Stimme an meinem Ohr und versuchte, mich wieder auf das Buch zu konzentrieren.

»Jetzt mach ihn endlich auf, Jill«, rief Conchobhar erneut, und mit einem Satz landete er auf den mitgenommenen, vergilbten Seiten meines Romans. Ich fegte den kleinen Kobold mit einer lockeren Handbewegung beiseite, doch er hüpfte nur geschickt an das Fußende meines Bettes und wackelte wütend mit seinen grünen Fledermausohren. Nach einer Weile seufzte ich unter dem bohrenden Blick seiner Kulleraugen und klappte das Buch zu.

»Ich will es nicht wissen.«

Er verdrehte die Augen und warf mir den Brief der Verborgenenorganisation zu, der seit drei Tagen auf meinem Schreibtisch lag und mich so vorwurfsvoll anstarrte, wie es nur Papier mit schlechten Nachrichten konnte.

»Im Ernst, Cox. Lass mich die letzten beiden Ferienwochen noch sorglos genießen.«

Der Kobold schnaubte. »Heute Abend ist es sowieso vorbei mit deiner Sorglosigkeit. Hast du vergessen, was heute für ein Tag ist?«

»Nein, habe ich nicht«, flüsterte ich und kämpfte gegen das aufsteigende Übelkeitsgefühl an. Nun war es endgültig vorbei mit meiner Ruhe, also schwang ich mich aus dem Bett und beschloss, eine Dusche zu nehmen. Vielleicht konnte mir das rauschende Wasser etwas von meiner Anspannung nehmen. Außerdem war das Badezimmer koboldfreie Zone, und das allein war für mich Grund genug, die Haare besonders lange zu föhnen und sogar etwas Make-up aufzulegen. Lustlos wischte ich mit der Hand über den beschlagenen Spiegel und gab mir Mühe, meine Wimpern zu tuschen, ohne mir dabei die türkisen Augen auszustechen.

Mein Blick wanderte zu der feinen Silberkette, die sich um meinen Hals schlängelte und einen glitzernden Libellenanhänger trug. Sie war ein Geschenk von Ryan, meinem Vampir-Exfreund, womit wir bei einem weiteren Problem waren.

Seit ich im letzten Schuljahr etwas Zeit in der Unterwelt verbracht hatte, um meine beste Freundin Alissa zu retten, hatte sich einiges verändert. Nicht nur, dass ich plötzlich und unerwartet in einem Beschwörungskreis mitten in der Turnhalle der Winterfold Akademie aufgetaucht war, und das auch noch vor den Augen einiger Lehrer – es hatte sich auch herausgestellt, dass der neue Typ in unserem Jahrgang mein dämonischer Bruder war. An sich war Chaz gar nicht so übel, und mit seiner Hilfe hatten wir es geschafft, dem Dämonenfürsten Leviathan zum wiederholten Mal das Handwerk zu legen.

Allerdings hatte ich mal wieder etwas fertiggebracht, was ich eigentlich gar nicht hätte können sollen. Ich hatte Leviathan seine Lebensenergie, die Prana, entzogen, bis er kurz vor dem Tode stand und ich ihn seinem Schicksal überließ. Bisher wussten nur meine Freunde, was genau in der Unterwelt passiert war. Allerdings war unter ihnen auch Ryan, der wie immer einen Schritt weiter dachte: Wenn es mir möglich war, einem Lebewesen die Prana zu entziehen und ihm nur noch so viel zu lassen, dass er kaum mehr als ein Mensch war, dann müsste es mir auch möglich sein, Ryan von seinem Vampirdasein zu erlösen, das er so hasste. Und das Schlimmste war: Er wollte es mir zuliebe, damit er keine Gefahr mehr für mich darstellte.

Vor fast genau einem Jahr war unser leidenschaftlicher Kuss etwas außer Kontrolle geraten, und ohne Alissas rechtzeitiges Eingreifen hätte ich an der ebenmäßigen Haut auf meinem Hals wohl noch mehr Narben gehabt, als es ohnehin schon waren. Von meinen Gefühlen überrumpelt hatte ich es nicht geschafft, ihn mithilfe meiner Magie aufzuhalten, als er mein Blut trinken wollte. Ich hatte ihm einfach nicht wehtun können. Ryan verabscheute sich dafür, dass er mich beinahe verletzt hatte. Doch die ganze Sache wäre vergessen gewesen, wäre er nicht für ein paar Monate spurlos verschwunden und hätte mich damit meiner Verzweiflung überlassen.

Am Ende war es Nathan gewesen, der mich aus dem tiefen Loch meiner Gefühlswelt wieder herausgezogen hatte. Allerdings war der Lehrer im letzten Schuljahr umgekommen, was die ganze Sache noch verkomplizierte. Ich hatte Nathan geliebt, und jetzt war er tot. Zwar konnte ich auch meine Gefühle für Ryan nicht leugnen, doch er hatte mich verletzt. Und die Tatsache, dass er mich kaum berühren konnte, ohne sich zu versteifen und Angst zu haben, sein Blutdurst würde ihn übermannen, machte es nicht einfacher, so mir nichts, dir nichts von vorne zu beginnen. Er wollte der Mensch sein, der mich beschützte, aber gerade damit wurde er selbst zu einer potenziellen Gefahr für mich.

So hatten wir beide unsere Probleme, mit denen wir klarkommen mussten. Ryan war jedoch der Ansicht, seine würden sich in Luft auflösen, sobald ich ihn zum Menschen machte. Für mich kam das nicht infrage. Ich wusste, wie sehr Ryan seine Schnelligkeit, die Stärke sowie die übernatürliche Hörkraft und den Geruchssinn vermissen würde. Wie er es liebte, lautlos wie eine Katze durch die Schatten zu schleichen. Das Vampirdasein war ein Teil von ihm, und ich weigerte mich, ihm diesen Teil zu nehmen, ohne dass er sich zu hundert Prozent sicher war.

Ryans Ansicht nach konnten wir nur zusammen sein, wenn er ein Normalsterblicher war. Ich dagegen hielt eben genau das für das Problem. Als Vampir hatte er mir geholfen, einige meiner Kämpfe auszufechten, und war dem Tode trotz seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten mehrmals nur knapp entgangen. Selbst Nathan war einer der Besten unter den Hexen gewesen, die ich kannte, doch den Kampf gegen meine dämonische Verwandtschaft hatte er verloren. Ständig mussten Menschen in meiner Umgebung sterben. Als Normalsterblicher würde Ryan vermutlich keine zwei Wochen in meiner Gegenwart überleben, wenn man mein Talent betrachtete, den Ärger magisch anzuziehen oder regelmäßig Magieausbrüche zu haben, wenn meine Gefühle überhandnahmen.

Jedenfalls hatte es einen schrecklichen Streit gegeben, und wir hatten den Rest des Schuljahres nicht mehr miteinander geredet. Der Preis für diese Beziehung war einfach zu hoch, und wenn wir einmal ehrlich waren: Dämonen und Vampire passten einfach nicht zueinander. Auch wenn ich Ryan trotzdem schrecklich vermisste.

Ich verzog das Gesicht bei dem Gedanken und schlüpfte in das schlichte schwarze Sommerkleid, das ich mir zurechtgelegt hatte, als Tante Amalias Stimme die Treppe herauf hallte.

»Wenn du mitkommen willst, dann solltest du dich beeilen.«

»Ich komme schon«, rief ich aus der Badezimmertür und eilte in mein Zimmer, um meinen kleinen Rucksack zu suchen.

Tante Am stand am Küchentresen und verstaute ihre selbst gemachten Kerzen, Glücksbringer und Amulette in einem Korb, während Cox auf ihrer Schulter turnte und die Streicheleinheiten genoss, die sie ihm geistesabwesend verpasste.

Tante Amalia hatte mein neues »Haustier« mit Freuden aufgenommen, und die beiden waren gute Freunde geworden. Conchobhar verabscheute es, wenn ich ihn so nannte, doch betrachtete man die Tatsache, dass er mir auf Schritt und Tritt folgte, dann kam ich nicht umhin, ihn mit einem Dackel zu vergleichen.

»Wir sind spät dran«, tadelte Tante Am, und ich zuckte entschuldigend mit den Schultern, woraufhin sie mir ein warmes Lächeln schenkte, das die kleinen Fältchen um ihre hexengrünen Augen vertiefte. Ich hatte meine gesamte Kindheit bei ihr verbracht und es nur selten erlebt, dass sie einmal wirklich sauer gewesen war.

Verstohlen blickte ich mich um und hoffte, dass sie dieses Mal etwas von dem ganzen Krimskrams, mit dem unser Haus vollgestopft war, auf dem Markt der Nachbarstadt Gorham verkaufen würde. Doch die Wände waren nach wie vor mit allerlei Schnickschnack behangen, der von Traumfängern bis hin zu selbst gemachter Dekoration reichte. Auf jedem freien Regal standen Kerzen in den verschiedensten Farben und Formen, die angeblich heilende oder beruhigende Wirkungen hatten. Weihrauchstäbchen hüllten unser Haus regelmäßig in einen angenehmen Duft, und Porzellangeschirr sowie bestickte Kissen und Deckchen in allen Ecken sorgten dafür, dass alles etwas altmodisch, aber auch elegant und gemütlich wirkte.

»Wenn wir jetzt nicht gleich fahren, dann brauche ich meinen Stand gar nicht erst aufzubauen«, rief Tante Am über die Schulter. Ich schlüpfte schnell in meine Riemchensandalen und folgte ihr durch den Garten.

Auf der Fahrt nach Gorham nagte das schlechte Gewissen an mir, und ich konnte Amalias misstrauische Blicke spüren, doch ich brachte es heute einfach nicht fertig, ungezwungen vor mich hin zu plappern. Es gab so vieles, was ich ihr noch nicht erzählt hatte. Ich kurbelte das Fenster herunter, um etwas frische Luft in den heißen, stickigen Wagen zu lassen. Meine Haare klebten feucht in meinem Nacken.

In Gorham angekommen half ich ihr eilig, den Verkaufsstand herzurichten, und verabschiedete mich wie üblich, um über den Markt zu schlendern. Sobald ich außer Sicht war, steuerte ich Cassandras Laden am Marktrand an.

Die läutende Türglocke ließ mich zusammenzucken und erinnerte mich daran, wie nervös ich war. Der Laden war leer, bis auf die Besitzerin Cassandra, die damit beschäftigt war, einige Zauberutensilien und Porzellantassen auf dem Regal abzustellen. Kein Wunder, dass sie sich so gut mit Tante Amalia verstand.

»Ich habe dich erwartet.« Sie lächelte, und ihr penetranter Geruch nach Flieder vermischte sich mit Weihrauch, der die Luft in dem Laden schwer und drückend werden ließ, sobald sich die Tür schloss.

»Ja, ich bin hier, um dir den nervigen Kobold zurückzugeben, der mich seit meinem letzten Besuch bei dir verfolgt«, scherzte ich, und mit einem Zischen wurde Cox auf meiner Schulter sichtbar, wobei er empört aufschrie. Cassandra blinzelte mich nur verdutzt an, und ich bedeutete ihr, dass sie sich keine Sorgen machen brauchte, bevor ich sie umarmte. Conchobhar stellte sich mit einer galanten Verbeugung vor, und mit einem amüsierten Lächeln lauschte Cassandra seiner Geschichte, wie ich ihn im letzten Jahr aus ihrer Wanduhr befreit hatte.

»Ist er schon da?«, fragte ich so beiläufig wie möglich, als die beiden verstummten, und begutachtete betont lässig eine eigenartige Kerze, die einen Mann verschlungen mit einem Wolf darstellte.

Die Frau mit den kurzen schneeweißen Haaren und den übergroßen Ohrringen warf einen flüchtigen Blick auf eine der kuriosen Standuhren.

»Ich werde ihn in ein paar Minuten beschwören. Du kannst so lange hier vorne warten. Auf dem Tresen steht Tee, bedient euch.«

Enttäuscht goss ich mir die dampfende Flüssigkeit in eine Tasse und beobachtete, wie Cassandra hinter dem Vorhang zum Hinterzimmer verschwand. Ihr Tonfall hatte unmissverständlich klargemacht, dass sie mich bei der Beschwörung nicht dabei haben wollte, auch wenn ich sie gerne beobachtet hätte. Nervös setzte ich mich auf den Tresen und ließ die Beine baumeln, während Cox die Regale inspizierte und entzückt vor einer Spieluhr stehen blieb, auf der sich eine Ballerina drehte.

Nur mit Mühe konnte ich meine Finger davon abhalten, ungeduldig auf die Tischplatte zu klopfen. Cassandras Murmeln aus dem Hinterzimmer war zu hören und ich hielt gespannt den Atem an, als nach einer Weile eine Männerstimme antwortete und der Geruch von verbranntem Laub an meine Nase drang.

All die Ängste und Sorgen, die mich den ganzen Tag verfolgt hatten, schienen mit einem Mal von mir zu fallen, während ich plötzlich in das Gesicht meines Bruders schaute, der lässig in einem engen schwarzen T-Shirt in der Tür lehnte. Er lächelte mich an und änderte seine Augenfarbe von Blau zu Grün, bevor er mich in eine herzhafte Umarmung zog.

»Prinzessin, du scheinst in den letzten beiden Monaten gewachsen zu sein.«

Ich schnaubte und sah ihm mit hochgezogenen Augenbrauen ins Gesicht, wobei uns beiden nicht entging, dass er mindestens einen ganzen Kopf größer war als ich. »Machst du dich etwa über mich lustig, Cherufe?«

»Nein, solange du mich nie wieder mit diesem Namen ansprichst.«

Mit der Hand wuschelte er mir durch die lockigen braunen Haare und gab mir das Gefühl, als wäre ich nicht älter als zehn. Wir plauderten noch kurze Zeit mit Cassandra, bevor wir uns mitsamt seinem Gepäck auf den Weg machten und durch die Stadt schlenderten.

»Also, wo gehen wir hin?«

»Wir fahren mit dem Bus nach Langfield. Tante Amalia wird noch bis heute Abend mit ihrem Stand zu tun haben, und du willst sicher erst einmal unser Haus sehen«, wich ich aus.

Chaz Augen begannen zu leuchten.

»Was ist los?«, fragte ich verwirrt.

»Ich bin noch nie Bus gefahren«, grinste er.

»Ich glaube, du hast noch so einiges nachzuholen, Kumpel«, meldete sich Cox zu Wort, und ich zuckte zusammen, weil ich schon wieder vergessen hatte, dass ich den unsichtbaren Kobold auf der Schulter sitzen hatte.

Für Chaz musste es schwer sein, sich in der völlig neuen Welt zurechtzufinden. Unser Vater Baal hatte ihn so gut wie möglich auf das vorzubereiten versucht, was ihn in der Realität erwartete, doch war das meiste nur Theorie gewesen. Ich lachte in mich hinein, als ich mich an seine erste Erkältung im letzten Jahr erinnerte.

»Also«, begann ich, »wie ist die Lage da unten? Heiß?«

Chaz überging meine Anspielung. Obwohl in der Unterwelt eine gewisse Wärme herrschte, war sie eher eine zweite Dimension und hatte rein gar nichts mit der klischeehaften Hölle gemein – auch wenn ich sie nicht gerade als Paradies bezeichnen würde.

»Es ist beunruhigend still. Leviathan hat sich zurückgezogen, seit du ihm die Kräfte entzogen hast.«

Ich runzelte die Stirn. »Vielleicht muss er sich noch erholen. Oder er hat es endlich aufgegeben und will in Ruhe seinen Lebensabend genießen. Gibt es bei euch so etwas wie Rente?«

Mein Bruder lachte leise, doch ich konnte die Besorgnis hinter seiner Fassade erkennen.

Eine Gruppe Highschool-Mädchen lief an uns vorbei. Sie schenkten meinem Bruder schmachtende Blicke und schienen die Augen kaum von ihm lösen zu können. Mit seinen blonden Haaren, die ihm lässig in die Stirn fielen und ihn umso attraktiver machten, je zerzauster sie waren, musste er wohl der Traum aller Kleinstadt-Teens sein. Verwegen und süß, mit einem Hauch von Gefahr. Ich unterdrückte ein Glucksen. Wenn sie wüssten.

»Leviathan ist ein Dämonenfürst, seine Kräfte erholen sich ziemlich schnell, und ich bin mir sicher, dass er sie wieder fast vollständig zurückerlangt hat«, antwortete Chaz. »Er hat sein Leben lang versucht, erst die Unterwelt und später die Realität an sich zu reißen. Ich glaube nicht, dass er sich von einem solchen Rückschlag aus der Bahn werfen lässt. Vielleicht plant er etwas oder er wartet einfach nur ab, wie sich die Lage entwickelt. Vielleicht liegt es auch daran, dass Vater zurück ist.«

Ich stolperte bei seinen Worten.

»Er ist zurück?«, fragte ich so beiläufig möglich, doch selbst ich konnte spüren, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. So, wie Chaz mich musterte, fiel es ihm ebenfalls auf.

»Ja, und er war sehr beeindruckt, als ich ihm von deinem Trip durch die Unterwelt erzählt habe. Er würde dich gerne kennenlernen, wenn du so weit bist.«

Wenn ich so weit war? Würde ich überhaupt jemals so weit sein? Um meinen Vater zu treffen, würde ich in die Unterwelt reisen müssen, und seit meinem ersten und einzigen Ausflug dorthin hatte ich mir geschworen, dass mich keine zehn Pferde mehr an diesen Ort bringen würden. Es schien ja auch nicht so, als hätte meinem Vater die letzten neunzehn Jahre viel daran gelegen, mich kennenzulernen. Zudem stellte ich es mir eigenartig vor, einem der Dämonen, die ich bisher bekämpft hatte, die Hand zu reichen und »Hey, Daddy« zu sagen.

Ich könnte vielleicht einen Beschwörungskreis in meinem Zimmer ziehen, auch wenn ich dabei nur sein Abbild sehen würde. Eine Beschwörung war allerdings eine sehr unangenehme Sache, nur um zu sagen: »Hey, Dad, willkommen zu meiner Teeparty. Ich bin übrigens deine Tochter. Tut mir leid, dass ich dich gerade mitten in eine andere Welt katapultiert habe, aber könntest du mir bei den Hausaufgaben helfen? Übrigens ist der Nachbarjunge gestern sehr aufdringlich geworden, ich wäre dir dankbar, wenn du ein ernstes Wörtchen mit ihm reden könntest.«

Der Gedanke amüsierte mich, und ich nahm mir vor, ein anderes Mal ernsthaft darüber nachzudenken. Jetzt allerdings gab es erst einmal wichtigere Dinge zu regeln. Sofort wurde mein Mund trocken. Natürlich sprach Chaz genau in diesem Moment das Thema an, vor dem ich mich seit Wochen drückte.

»Wie hat Amalia darauf reagiert, dass du ein Dämon bist?«

Betreten biss ich mir auf die Lippe und zwirbelte eine dunkle Locke um meinen Finger. Conchobhars Schnauben trug ebenfalls nicht dazu bei, dass ich mich besser fühlte.

»Ich habe es ihr noch nicht gesagt.«

Verdutzt blieb Chaz stehen und starrte mich an.

»Na ja«, versuchte ich zu erklären und wand mich unter seinem Blick, »sie war so froh, dass ich wieder zuhause bin, und ich wollte ihr nicht gleich die Ferien verderben. Du weißt schon, ›Hey, Tante Am, du lebst übrigens seit vielen Jahren mit einem Monster unter einem Dach. Trotzdem schön, dich wiederzusehen‹ schien mir keine besonders gute Begrüßung zu sein. Außerdem musste sie erst einmal verdauen, dass ich von einem Kobold gestalkt werde.«

»Du hattest Schiss«, schnaubte Chaz, und ich funkelte ihn an, während Cox auf meiner Schulter schimpfte.

Ja, ich hatte Angst. War das so verwunderlich, dass ich meiner Tante, die mich mein Leben lang aufgezogen und behütet hatte, nicht unbedingt freiwillig einen Schlag ins Gesicht verpassen wollte?

»Was hast du ihr dann gesagt, wer ich bin?«

»Ähm«, stotterte ich, und mir schoss die Röte ins Gesicht, während ihm die Gesichtszüge entglitten.

»Sie weiß noch nichts von mir?!«

Stumm schüttelte ich den Kopf und zwang mich zu einem unschuldigen Lächeln. Chaz atmete hörbar aus und fuhr sich durch das blonde Haar.

»Wir werden also gleich unserer ahnungslosen Tante offenbaren, dass ihre Nichte ein Halbdämon ist und dazu noch einen dämonischen Bruder hat, von dem bisher niemand etwas gewusst hat, der aber mal eben für zwei Wochen bei euch wohnen soll.«

Ich nickte, da mich der Kloß in meinem Hals daran hinderte, auch nur den geringsten Laut von mir zu geben.

»Das dürfte interessant werden«, murmelte Chaz, und ich seufzte.

Interessant? Es würde eine Katastrophe werden. Willkommen in meiner Welt.

Kapitel 2

Die Porzellantasse klapperte unter meinen zittrigen Händen, als ich den heißen Tee vor Tante Amalia abstellte. Sie saß stumm auf der gemütlichen Couch in unserem Haus und sah mit bleichem Gesicht immer wieder von mir zu Chaz und dann wieder zu mir zurück.

»Ich glaube, sie ist in einem Schockzustand«, murmelte mein Bruder leise, während ich nervös von einem Fuß auf den anderen trat.

»Gib ihr etwas Zeit«, antwortete ich und betete, dass sie nicht jeden Moment ausflippen oder hysterisch loslachen würde. Ihr sommersprossiges Gesicht war leichenblass. Die kurzen roten Locken hoben sich in einem starken Kontrast dazu ab. Seit ich ihr offenbart hatte, dass ich ein Halbdämon war, war kein einziges Wort mehr über ihre Lippen gekommen. Ich hatte einfach weiter geredet und die ganze Geschichte heruntergerasselt, inklusive meines Ausflugs in die Unterwelt. Nun kam es mir vor, als wäre mir eine gewaltige Last von den Schultern gefallen. Um Tante Amalias seelische Verfassung allerdings machte ich mir ernsthaft Sorgen.

Endlich bewegte sie sich etwas und öffnete den Mund, doch es brauchte drei Anläufe, bis sie ein Wort herausbrachte. »Du bist also ...«

»Ja«, unterbrach ich sie, damit sie es nicht laut aussprechen musste.

»Und er ist ...«

»Ja.«

Sie atmete tief ein und griff mit bebenden Händen nach der Teetasse. Das war schon mal ein Fortschritt. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie sie Chaz musterte. Vielleicht suchte sie nach Ähnlichkeiten mit Mum oder unserem Vater.

»Tja, dann ... willkommen in der Familie«, sagte sie heiser und zwang sich zu einem Lächeln. Mir fiel die Kinnlade herunter. Das war alles? Hilfesuchend sah ich zu Chaz, doch er zuckte nur mit den Schultern und lächelte sichtlich erleichtert.

Das Abendessen lief trotzdem gezwungen ab. Chaz zauberte uns einen fantastischen Gemüseauflauf, wahrscheinlich, um unsere Tante davon zu überzeugen, dass er sich weder von verwesenden Tieren noch von Hexen oder ähnlichen Dingen ernährte. Tante Amalia schaffte es sogar, ihn nach seiner Kindheit zu fragen, und Chaz erzählte ihr bereitwillig so viel wie möglich über die Zeit mit unserem Vater.

Amalias Augen leuchteten tatsächlich etwas auf, als er von den riesigen Gewächshäusern in der Unterwelt erzählte, die von Elfen bewirtschaftet wurden und einem kleinen Paradies glichen. Mir fiel auf, dass er dieses Thema absichtlich gewählt hatte und wohlweislich nichts von der Tierwelt erzählte. In der Unterwelt waren selbst Rehe und Kaninchen zu widerlichen Bestien mit Knochenpanzern und messerscharfen Zähnen mutiert.

Ich räumte das Geschirr ab, denn ich wollte den beiden etwas Zeit lassen, um sich zu unterhalten. Allerdings ging der Schuss nach hinten los, und es endete in einem peinlichen und schweigsamen Gegenübersitzen. Seufzend führte ich Chaz in das Gästezimmer, als Tante Am sich zurückgezogen hatte, und machte mich bettfertig. Vielleicht brauchte Tante Amalia nur eine gute Mütze voll Schlaf, um die Neuigkeiten zu verdauen.

Als ich mich jedoch unter die warme Decke kuschelte und zu meinem Buch griff, klopfte es leise an der Tür. Cox hatte sich am Fußende meines Bettes eingerollt und hob verschlafen den Kopf, als Tante Amalia eintrat und sich an den Bettrand setzte.

»Bisschen viel auf einmal, was?«, murmelte ich schuldbewusst, doch zu meiner Überraschung lächelte Tante Am.

»Es kam sehr unerwartet«, gab sie zu, doch dann nahm sie meine Hand. »Ich wusste schon immer, dass du etwas Besonderes bist, und es macht für mich keinen Unterschied, ob du ein Dämon oder eine Hexe bist.«

»Halbdämon«, verbesserte ich sie und schloss sie in den Arm, bevor ich ein zaghaftes »Danke« in ihr Ohr flüsterte.

»Also, dein Bruder, hm?«

»Hör zu, ich weiß, dass es eigenartig für dich sein muss. Ich kann es selbst noch immer nicht richtig glauben. Aber Chaz ist wirklich in Ordnung, und ohne ihn hätten es Alissa und ich nicht aus der Unterwelt zurückgeschafft. Wenn du ihn erst einmal kennengelernt hast, wirst du mich verstehen. Für ihn ist das alles auch nicht einfach. Aber ich hätte dich vorwarnen sollen.«

Tante Amalia seufzte. »Schon gut. Er ist sehr höflich und hat sogar angeboten, in ein Hotel zu ziehen, falls mir seine Anwesenheit unangenehm sein sollte. Natürlich kommt das nicht infrage, er ist ein Teil der Familie, und ich bin mir sicher, dass ich mich daran gewöhnen werde.«

Ich lehnte mich zurück und lächelte. »Du glaubst gar nicht, wie erleichtert ich bin.«

Tante Amalia drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich bin stolz auf dich, Liebes.«

Als sie das Zimmer verlassen hatte, bekam ich einen weiteren Anflug des schlechten Gewissens. Seit meiner Kindheit hatte Tante Amalia nichts als Ärger mit mir. Angefangen hatte es mit kleineren Hexereien und Gefühlsausbrüchen in der Welt der Normalsterblichen, die wir aber gekonnt vertuschen konnten. Seit ich jedoch die Winterfold Akademie besuchte, schlitterte ich mit Anlauf von einer Katastrophe in die nächste, wurde ständig in Kämpfe und Intrigen verwickelt und war dem Tod mehr als einmal von der Schippe gesprungen. Zum ersten Mal wurde mir jedoch klar, wie schlimm das alles für meine Tante gewesen sein musste und wie viel Vertrauen sie in mich setzte.

Befreit von der Last meines Geheimnisses fiel ich in einen traumlosen Schlaf.

Das Geräusch von reißendem Papier ließ mich blinzelnd den Kopf heben. Die Sonne schien durch die orangefarbigen Vorhänge meines Fensters und ließ die funkelnden, winzig kleinen Staubkörnchen in ihren Strahlen tanzen. Durch das offene Fenster wehte ein angenehmer Wind, der endlich einen kühleren Tag ankündigte. Cox lag noch immer am Fußende meines Bettes und schnarchte, als säge er einen ganzen Wald ab.

»Was zur Hölle tust du da?«, fragte ich drohend und war mit einem Schlag hellwach.

»Ich lese deine Post«, sagte Chaz achselzuckend und völlig vertieft in den Brief der Verborgenenorganisation, den ich unter keinen Umständen hatte öffnen wollen. Er lungerte lässig auf dem Drehstuhl, der vor meinem Schreibtisch stand, doch ich konnte die Besorgnis auf seinem Gesicht ablesen. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett und lief nicht einmal rot an, als Chaz stirnrunzelnd einen Blick auf das Donald-Duck-T-Shirt warf, das mir als Nachthemd diente.

»Gibt das her«, zischte ich und entriss ihm das Schreiben. Ohne es zu betrachten, stopfte ich es unter den nächsten Bücherstapel und kroch mürrisch zurück ins Bett, wo ich die Arme verschränkte. Chaz öffnete den Mund, doch mit einer Handbewegung brachte ich ihn zum Schweigen.

»Ich will es nicht hören.«

»Du solltest aber ...«

»Nein, Chaz. Ich meine es ernst. Ich möchte das nicht hören, es sei denn, es betrifft irgendetwas, das mit unseren letzten beiden Ferienwochen oder meiner Rückkehr an die Winterfold Akademie zu tun hat. Wenn nicht, wirst du gefälligst die Klappe halten.«

Mit angehaltenem Atem wartete ich auf seine Reaktion und schloss erleichtert die Augen, als er seufzte und gleichgültig mit der Hand wedelte.

»Also, was stellen wir heute an?«, lenkte ich vom Thema ab.

»Ich würde mir gerne die Stadt ansehen, wenn es für dich okay ist.«

»Klar, ich werde dich ein bisschen herumführen«, murmelte ich und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass ich etwas Privatsphäre benötigte.

Als ich mich gewaschen und angezogen hatte, betrat ich mit hochgezogenen Augenbrauen die Küche. Chaz und Tante Amalia unterhielten sich am Tresen angeregt bei einer Tasse Kaffee. Tante Am hatte wieder deutlich mehr Farbe im Gesicht als am Abend zuvor. Erleichtert verschlang ich den Speck und die Eier, die sie mir vor die Nase stellte, und machte mich dann mit Chaz auf den Weg, Langfield zu erkunden.

»Ihr scheint euch mittlerweile recht gut zu verstehen«, grinste ich, als wir die Jefferson Street entlang gingen. Ich konnte die Blicke der die Nase rümpfenden Nachbarn auf Chaz’ unordentliches blondes Haar und die verschlissene, coole Lederjacke förmlich spüren. Allerdings hielten sie mich und Tante Amalia sowieso für verrückt, und es hatte mich noch nie interessiert, was diese Spießer dachten.

»Sie gibt sich Mühe«, stimmte mein Bruder zu. »Allerdings hat sie seit gestern Abend auch eine Kreiderune an der Innenseite ihrer Schlafzimmertür, die Dämonen und böse Geister abwehren soll. Sie ist nutzlos, aber ich spüre jedes Mal ein unangenehmes Kribbeln, wenn ich daran vorbeigehe.«

Brummend strich ich mir die langen Haare aus dem Gesicht. Nach der Hitzewelle vergangene Woche hatte sich das Wetter abgekühlt, und eine angenehme Brise strich über meine Haut.

»Ich bin sicher, dass sie es nicht böse gemeint hat«, versuchte ich, mich zu entschuldigen, doch im tiefsten Inneren stellte ich mir die Frage, ob diese Rune vielleicht auch mir galt.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Chaz, der wie üblich meine Gedanken erraten hatte. »Ich kann ihr keinen Vorwurf machen. Dämonen sind und bleiben Geschöpfe, die für gewöhnlich eine Spur aus Tod, Zerstörung und Chaos hinter sich herziehen. Es sind nicht nur Vorurteile, die die Menschen aus der Realität haben. Ich habe noch nie von einem Dämon gehört, der nicht lügt und betrügt, von Gram zerfressen und grausam ist, und das will was heißen, schließlich bin ich in ihrer Welt aufgewachsen. Amalia tut gut daran, mir nicht bedingungslos zu vertrauen, selbst wenn ich ihr Neffe und auch eigentlich nur ein Halbdämon bin. Du solltest ihr keinen Vorwurf machen.«

So hatte ich das noch gar nicht betrachtet. Trotzdem hatte ich das Gefühl, ihm ein paar tröstende Worte spenden zu müssen. »Ich vertraue dir.«

Spielerisch boxte er mir vor die Schulter. »Natürlich tust du das, du bist vom selben Blut, und schließlich haben wir eine Menge durchgemacht. Aber die Menschen haben Angst vor uns oder mehr noch vor dem, zu dem wir fähig sind. Bei dir und Amalia ist das etwas anderes, sie hat dich großgezogen und kennt dich wahrscheinlich besser, als du selbst es tust. Natürlich wird es auch manche Menschen geben, die dich trotz der potenziellen Gefahr, die du darstellst, besser kennen und lieben lernen. Du kannst dich glücklich schätzen, wenn du solche Freunde hast, und die hast du. Aber verschwende nicht deine Zeit damit, die Gesellschaft davon überzeugen zu wollen, dass du nie im Leben die Macht an dich reißen würdest oder niemals deine Fähigkeiten dazu einsetzen wirst, andere zu unterwerfen. Sie werden es dir nicht glauben, denn Fakt ist und bleibt: Du könntest es. Und nur das zählt für die meisten Menschen.«

Schweigend ließ ich die Worte auf mich wirken, während Chaz sich verträumt umschaute. Der Himmel leuchtete in einem strahlenden Blau, und die Sonne ließ sein helles Haar leuchten wie feines Gold. Wir erreichten den Park, und das Zwitschern der Vögel vermischte sich mit dem fröhlichen Geplapper der Menschen, die sich an dem großen See niedergelassen hatten. Er atmete tief ein, und ich wusste, dass uns derselbe Geruch betörte. Der Duft nach Sommer.

»Es ist so friedlich hier«, murmelte er fast schon verwundert.

Ich konnte nichts darauf erwidern, denn ich wusste, wie trostlos und unheimlich die Unterwelt war.

»Hast du nicht gesagt, dass es momentan ruhig in ... du weißt schon wo ist?«, traute ich mich dennoch zu fragen.

Chaz allerdings schnaubte verbittert. »Ruhig hat in Ignis Tenebris eine andere Bedeutung. Zusammen mit Vater sind auch die übrigen Dämonen wieder heimgekehrt, und die Stadt ist bei Weitem nicht mehr so verlassen, wie du sie damals vorgefunden hast. Leviathan hat sich zwar mit seinen engsten Anhängern zurückgezogen, doch der Krieg geht weiter. Es gibt immer noch viele, die auf seiner Seite stehen und die Stadt an sich reißen wollen. Dad und seine Schar halten dagegen, wie schon seit vielen, vielen Jahren. Es herrscht Krieg, auch wenn es Tage gibt, an denen nichts zu passieren scheint. Die Anspannung jedoch bleibt, die Straßen sind erfüllt mit Rauch und der Asche verendeter Dämonen. Die Gebäude brennen und zerfallen, und niemand macht sich die Mühe, sie wieder aufzubauen. Es ist trostlos.«

»Dann bleibe hier«, erwiderte ich plötzlich und zwang ihn, für einen Augenblick stehen zu bleiben. »Im Ernst, du kannst weiter bei mir und Tante Amalia wohnen. Wir werden dir schon beibringen, wie du dich in der Realität zu schlagen hast. Du musst nicht wieder zurückkehren.«

Das würde zwar heißen, dass er unseren Vater nicht wiedersehen konnte, allerdings redete Chaz für gewöhnlich in einem sehr nüchternen Tonfall von ihm, und ich konnte mir kaum vorstellen, dass die beiden ein inniges Vater-Sohn-Verhältnis hatten.

»Es ist nicht immer so einfach, wie es scheint«, antwortete Chaz lächelnd. »Ich habe Verpflichtungen. Irgendwann wirst du es verstehen. Und jetzt lass uns nicht weiter von der Hölle sprechen, sondern eines dieser Boote mieten. Ich würde zu gerne einmal normale Fische angeln.«

Entgeistert starrte ich ihn an. Angeln? Wo war der coole, verwegene Chaz, der sich in jedes Abenteuer stürzte und nicht genügend Action bekam? Ihm zuliebe willigte ich allerdings ein, und so verbrachten wir einen wahnsinnig witzigen Nachmittag damit, auf dem See zu paddeln und uns gegenseitig ins Wasser schubsen zu wollen. Am Ende hatten wir sogar eine kleine Forelle gefangen, die wir Tante Amalia stolz am Abend präsentierten. Ich hatte Chaz nur mit Mühe davon abhalten können, das Wasser mithilfe von Magie zu beeinflussen und somit zu schummeln.

Es wurden zwei wundervolle Wochen, in denen ich Chaz die Welt der Normalsterblichen zeigte. Wir besuchten einen Zoo, einen Freizeitpark und gingen ins Kino. Begeistert zeigte Tante Amalia ihm das Museum der Stadt, während ich gelangweilt hinter den beiden hertrottete. Ich brachte Chaz in einer kleinen Bar das Billardspielen bei, und er besiegte mich haushoch beim Darts, bis ich mitbekam, dass er die Flugbahn der Pfeile mit der Aerokinese, dem Wind, beeinflusste. Wir faulenzten in unserem prachtvoll gestalteten Garten, unter den mit bunten Bändern, Zierkugeln und Solarleuchten geschmückten Bäumen und Sträuchern. Chaz tauschte sogar die zerbrochenen Ziegel auf unserem Dach aus, als kleine Gegenleistung für Tante Amalias Gastfreundschaft, auch wenn sie ihm abends die Hände einreiben musste, um die Blasen, Schnittwunden und blauen Flecke, die er sich mit dem Hammer zugefügt hatte, zu behandeln.

Das Verhältnis der beiden wurde immer besser, und am Ende der Ferien war Tante Amalia weitestgehend von ihren Zweifeln bezüglich Chaz’ Charakter befreit. Fast schon verblüfft stellte ich fest, dass wir uns prächtig verstanden und ich die Rückkehr an die Winterfold Akademie weitaus weniger willkommen hieß als erwartet. Ich hatte Chaz nie so fröhlich und ausgeglichen erlebt, dennoch kam ich nicht umhin, den leichten Anflug von Sorge in seinem Gesicht zu erkennen, wenn er mich anschaute.

»Also schön«, seufzte ich, als ich am Abend vor unserer Abreise die Taschen packte und Chaz auf meinem Bett lümmelte.

»Was meinst du?«

»Nun kannst du mir sagen, was in diesem verfluchten Brief von der Verborgenenorganisation steht.«

Chaz versteifte sich unmerklich, und ich wappnete mich. Post von der »Polizei« aller übernatürlichen Wesen zu bekommen, konnte nichts Gutes bedeuten.

»Es ist eine Vorladung. Am 30. Oktober wollen sie dir einige Fragen zu dem Vorfall im letzten Schuljahr stellen.«

Sofort rutschte mir das Herz in die Hose, und alle Farbe wich aus meinem Gesicht. »Welche Fragen? Ich habe ihnen schriftlich alles beantwortet, was sie wissen wollten. Nämlich, dass ich keine Ahnung habe, warum der Beschwörungskreis mich zurück in die Realität gezogen hat.«

Ich konnte ihnen schlecht sagen, dass Derek mich nur hatte beschwören können, weil ich ein Halbdämon war. Wir hatten versucht, ihnen zu erklären, dass es auf dieselbe Art und Weise geschehen war, wie Leviathan Alissa in die Unterwelt ziehen konnte. Es benötigte zwei identische Beschwörungskreise, die zusammen ein Tor zwischen der Realität und der Unterwelt bildeten. Alissa war unbemerkt in unserem Schlafzimmer wieder aufgetaucht, direkt in dem Kreis, den Jonathan heimlich auf ihre Matratze gezeichnet hatte. Wir hatten in Leviathans Hauptquartier einbrechen müssen, um den identischen Bruderkreis der Unterwelt zu finden, mit dessen Hilfe Ally zurückgelangen konnte. Als Halbdämon benötigte ich allerdings keine Zwillingskreise, und Derek konnte mich ohne Probleme mit einem selbstgezeichneten Beschwörungskreis in der Turnhalle der Schule zurückholen – direkt vor den Augen einiger Lehrer und Jäger der Verborgenenorganisation. Wir hatten behauptet, dass dies ebenfalls nur mit einem identischen Kreis in der Unterwelt gelungen war.

»Anscheinend glauben sie es dir nicht.«

Ich presste die Hände vor mein Gesicht und atmete aus. »Sie können nicht wissen, was ich bin. Vielleicht glauben sie es ja, wenn ich es ihnen persönlich sage. Bei Alissa stellt auch keiner infrage, dass sie eine Hexe ist, und sie ist ebenso aus der Unterwelt wieder aufgetaucht wie ich.«

Chaz räusperte sich, und ich ahnte Schlimmes, schon bevor er die Worte aussprach.

»Die Vorladung beruht nicht auf den Beobachtungen der Jäger, die sie an diesem Abend in der Turnhalle gemacht haben. Sie beruht auf der Aussage eines gewissen Jonathan Matterick.«

Mit offenem Mund starrte ich ihn an, und kalter Schweiß bildete sich auf meinem Gesicht. Der Werwolf war der widerlichste Typ, den ich kannte. Und er wusste, dass ich ein Dämon war.