Lassberg, Martin LSteinroller

PIPER

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ISBN 978-3-492-97338-0

Mai 2016

© Martin Lassberg 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Max Osvald, XAM-Graphics.com

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Wenn ein nackter toter Jäger, den man im Sumpfgras findet, ganz fürchterlich zerquetscht aussieht, ist meistens nur ein wütendes Mammut über ihn hinweggetrampelt. Vor allem kam das bei Neumond vor, wenn man das Mammut nicht rechtzeitig kommen sah.

Da in der Nacht zuvor aber Vollmond gewesen war und der junge Jäger vom Kopf bis zu den Zehenspitzen seltsam hässlich aufgeplatzt dalag, obwohl nicht ein einziger Mammutabdruck zu sehen war, wurde Steinroller skeptisch.

Er kroch aus der gegenüberliegenden Höhle, wo er wieder an seinen Wandbildern gemalt hatte, wischte sich die Ockerfarbe von den Fingern und schlich durch die hüfthohen Gräser und Farne zu dem Toten hinüber.

Er sah es schon von Weitem. Die Leiche war Taamu, sein älterer Vetter, der beste Höhlenbärjäger der Sippe. Steinroller war mit ihm aufgewachsen und hatte ihn immer für seinen Mut bewundert. Taamu hatte zwar leider schon von Natur aus einen ziemlich flachen Schädel, nur noch ein Ohr und jede Menge Narben, weil das Höhlenbärfangen kein Honigschlecken war, aber so platt hatte man sein Gesicht noch nie gesehen. Auch sein lebloser Körper war nur noch eine Hand breit hoch, als wäre ein Hartholzbaum auf ihn gefallen. Doch Hartholzbäume gab es in der ganzen Gegend nicht.

Steinroller – der eigentlich Kamu hieß, aber keiner nannte ihn so – schob sich die Haare aus dem Gesicht, hob kritisch die dicken Augenbrauen, schnupperte eine Weile intensiv über dem Toten und sog durch seine großen Nasenlöcher die warme Luft ein. Die Leiche roch nur ein kleines bisschen nach Blut. Kein Wunder, denn das war offenbar schon lange geronnen. Nur die Gedärme stanken. Und auch sonst war einiges auffallend. Der Umhang aus Wolfsfell, den sein Vetter immer trug, war nirgendwo zu sehen. Auf seiner haarigen Brust lag auch nicht der Lederbeutel mit dem Feuerstein, den Taamu wie jeder in der Sippe immer um den Hals tragen musste. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Er war plötzlich sicher, dass Taamu heimtückisch ermordet worden war. Heimtückisch bedeutete in seiner Sippe, dass sich sein Mörder nicht zu der Tat bekennen wollte. Und so etwas hatte es seit Generationen nicht gegeben.

Natürlich kam es immer wieder vor, dass ein Jäger einen anderen im Streit erschlug. Normalerweise nahm man einen großen Stein in die Hand und brachte die Auseinandersetzung ordentlich zu Ende. Waffen waren dabei tabu, denn der Speer oder das Steinmesser sollten nur mit den Tieren des Waldes in Berührung kommen. Ein eingeschlagener Schädel dagegen war immer eine saubere Sache. Höflicherweise fütterte der Überlebende dann noch einen Winter lang die Frau und die Kinder des Getöteten durch, aber auch nicht viel länger, denn die Frau konnte sich ja leicht wieder einen anderen Jäger zur Paarung suchen.

Nachdenklich kehrte Steinroller ins Lager zurück.

Traurigkeit stieg in ihm hoch. Gleichzeitig beschwor der große Schmerz, Taamu verloren zu haben, etwas Kämpferisches in ihm herauf.

Seine haarige Verwandtschaft saß am Feuer und lutschte von den Frauen zubereitete Biberknochen aus. Stumm und eilig ging er durch den Matsch an ihnen vorbei, erleichtert darüber, dass sie ihn nicht weiter beachteten. Wegen seiner Höhlenmalerei hielten sie ihn ohnehin nicht für normal, und er genoss in gewisser Weise Narrenfreiheit. Wirklichen Respekt hatte er sich nur einmal erworben, als er der Beste im Steinerollen geworden war, mit einer strategischen Bestleistung, die bisher keiner der Kraftprotze da draußen übertroffen hatte.

Nur Weichhaar schaute vom Feuer lächelnd zu ihm herüber. Sie war gerade dabei, einige der Biberknochen mit einem Stein zu zertrümmern, um spitze Nadeln daraus zu gewinnen. Sie hatte die Methode selbst erfunden. Steinroller bewunderte sie dafür. Sie war anders als die anderen, und das gefiel ihm. Er lächelte zurück.

Der Alte saß wegen seines Rheumas mit dem Rücken an einem großen wärmenden Stein, den man vorher für ihn im Feuer erhitzt hatte. Als Ältester und Anführer der Sippe konnte er sich solche Extrawünsche leisten.

»Na, Schmierfink. Schwänzt du wieder das Biberessen ?«

»Ich habe eine Entdeckung gemacht, die ich dir mitteilen möchte.«

Felsschmetterer, wie sein Vater für alle nur hieß, knurrte düster und forderte seinen Sohn mit einer unwilligen Geste auf, zu sprechen. Seine große, scharfkantige Steinkeule lehnte jederzeit griffbereit hinter ihm am heißen Stein.

Steinroller setzte sich auf den harten Boden und begann zu schildern, wie er Taamu gefunden und was er sonst noch an dem Toten beobachtet hatte.

Sein Vater verzog keine Miene, während er seine erste Frage stellte. Er war zwar klein, aber trotzdem breitschultrig und muskulös wie ein Wisent, so wie auch sein bärtiges Gesicht und die langen Haare zu einem zerzausten Rind passten.

»Was heißt das – es war kein Blut im Gras ?«

»Was immer ihn auch plattgemacht hat – es ist nicht da geschehen, wo er lag. Sonst müsste ja alles voller Blut gewesen sein. Und Mammutabdrücke.«

»Du Schlauberger. Vielleicht ist er irgendwo anders unter ein Mammut geraten und konnte dann noch bis zum Sumpf laufen.«

»Der konnte nicht mal mehr kriechen.«

Felsschmetterer knurrte. »Warum sollte mich das kümmern ? Es gibt noch andere gute Bärenjäger bei uns.«

»Ist dir auch egal, dass sein Beutel mit dem Feuerstein fehlt ?«, fragte Steinroller und fügte listig hinzu: »Ich weiß nämlich auch, dass nicht nur ein Feuerstein darin eingewickelt war.«

»Was ?« Der Alte schien plötzlich alarmiert und beugte sich vor. »Woher weißt du das ?«

»Von Taamu selbst. Du hast ihm einen weißen Stein gegeben, der Zauberkraft gegen die Bären haben soll.«

»Wie konnte er ein solches Geheimnis verraten ?«, schnaubte Felsschmetterer und sah seinen Sohn wütend an.

Steinroller hielt dem Blick stand. »Weil er stolz darauf war. Und deshalb glaube ich auch, dass jemand ihn umgebracht hat, weil er den Zauber selbst haben wollte. Aber was hat Taamu nur so furchtbar entstellt, frage ich mich ? Ich habe derart Brutales noch nie gesehen.« Er machte eine Pause und fragte dann: »Willst du den Toten sehen ?«

»Lieber nicht«, sagte Felsschmetterer. »Ich vertraue dir voll und ganz.«

Er dachte einen Augenblick nach. Als er weitersprach, wirkte er plötzlich sachlicher. Wie alle Sippenführer vermochte er sich jederzeit auf neue Situationen einzustellen.

»Also gut … Wenn es wirklich Mord wäre, dann … So was kann ich momentan gar nicht brauchen. Wir sind sowieso nur noch so wenige und vermehren uns nicht genug. Ich will nicht, dass wir irgendwann aussterben. Du zum Beispiel hast ja nicht mal eine Frau.«

Steinroller wehrte sich sofort.

»Ich habe schon einige ausprobiert, aber auf Dauer wollen sie alle nur einen Jäger.«

Er hatte sich schon oft mit den Mädchen der Sippe gepaart, aber allein schon die plumpe Bereitwilligkeit, mit der sie beim Wolfssprung grunzend ihre Fellschurze zur Seite schoben und sich im Gehölz vor ihm hinknieten, machte ihn unzufrieden. Das konnte doch nicht alles sein. Außerdem endete jede Paarung damit, dass die Mädchen ihn anschließend zu überreden versuchten, doch mit den anderen zur Jagd zu gehen. Es war immer dasselbe.

»Kannst du ihnen das verdenken ? Wer braucht schon einen Höhlenmaler ?«, antwortete sein Vater höhnisch. »Sie wollen Fleisch.«

Steinroller war traurig darüber, dass ihm niemand Bewunderung dafür schenken wollte, was er Tag für Tag an den Wänden der Höhle schuf. Er hatte sich vor einiger Zeit entscheiden müssen – mit den anderen zur Jagd gehen oder Kunst schaffen. Die Entscheidung war ihm leichtgefallen.

»Ich weiß, dass du ein kluger Kopf bist, Sohn«, lenkte sein Vater ein. »Aber nennen wir die Sache ruhig beim Namen. Zum Rentierjagen bist du zu unsportlich, und dein Schwanz ist auch nicht gerade der längste. Du könntest also nie mein Nachfolger werden. Warum versuchst du nicht rauszukriegen, woran Taamu gestorben ist, wenn das wirklich so geheimnisvoll ist, wie du sagst ?«

Steinrollers Herz machte einen Sprung. Das würde ihm gefallen, weil es etwas Sinnvolles war. Und eine intellektuelle Herausforderung für sein schon ziemlich großes Steinzeitgehirn.

»Du meinst, ich darf den Mord selbstständig aufklären ?«

»Schnüffel ein bisschen in der Gegend rum und frag dich durch. Ich mag nicht, wenn meine Mannschaft plattgemacht wird. «

»Gut. Habe ich auch einen offiziellen Titel ? Den werde ich brauchen, wenn ich an den Lagerfeuern die Leute befrage. Ich habe keine Lust, dass mir die Jäger einen überziehen, nur weil sie mich für zu neugierig halten.«

»Ich ernenne dich zum Besserwisser«, sagte sein Vater. »Davor haben alle Respekt. Außerdem schenke ich dir eine Frau, damit auch dieses Thema endlich erledigt ist und du standesgemäß loslegen kannst.«

Steinroller hatte geahnt, dass noch irgendein saurer Apfel vor seine Füße fallen würde.

»An wen hast du gedacht ?«, fragte er vorsichtig.

»Du kriegst Weichhaar. Die ist hübsch, aber leider auch schlau. Ich weiß nicht, was wir sonst mit ihr machen sollten.«

Für Steinroller war das eine gute Nachricht. Weichhaar und er mochten sich, weil sie beide als Außenseiter galten. Weichhaar hatte nicht nur weiche, sondern vor allem leicht gekringelte braune Haare, was relativ selten war, denn die meisten seiner Sippe waren blond oder schwarz mit filzigen Strähnen. Sie war etwa so alt wie er. Und sie fiel bei den anderen immer wieder unangenehm auf, weil sie jeden Tag im Fluss badete und kein bisschen stank.

Bevor sein Vater es sich anders überlegen konnte, sagte Steinroller: »Einverstanden. Ich nehme sie.« Dann fiel ihm noch etwas ein. »Außerdem brauche ich noch einen persönlichen Helfer, der mir zur Verfügung steht.«

»Der beste Helfer ist zwar meiner Meinung nach eine hübsche große Keule, aber meinetwegen … Nimm dir Otterfang dazu, der ist groß und stark.«

Das war keine schlechte Idee, auch wenn Steinroller nicht mochte, dass sein Vater die Notwendigkeit einer funktionierenden Exekutive in seiner Sippe nicht begriff und so grob daherredete. Immerhin war der Flussfischer Puku Otterfang ein grundanständiger Kerl, ein Hüne, der am liebsten Frösche verschlang, aber auch ein gutes Herz hatte. Wegen seiner Größe hatten die meisten Angst vor ihm. Außerdem besaß er die besten Augen von allen und war ein brillanter Spurenleser.

»Dann wäre ich jetzt komplett«, sagte Steinroller zufrieden.

Sein Vater griff nach einem Lederbeutel, in dem sich Wasser befand, und schüttete sich den gesamten Inhalt mit Schwung in den Mund. Seine Barthaare tropften, während er schluckte. Als er mit dem Trinken fertig war, sagte er: »Gut. Wie wär’s, wenn du dich jetzt erst mal um Weichhaar kümmerst ? Sag Otterfang, er soll euch die Höhle am Wald herrichten. Ich will, dass Weichhaar so schnell wie möglich Junge kriegt.«

»Ich gebe mein Bestes«, versprach Steinroller. Doch in Wirklichkeit war er fest entschlossen, sich sogleich wieder dem Toten zuzuwenden. Hier mussten noch jede Menge Spuren gesichert werden.

So viel war klar: Mit seiner neuen Tätigkeit würde jetzt viel Arbeit auf ihn zukommen. Plötzlich gefiel ihm nicht mehr, dass er nur den Titel eines Besserwissers haben sollte. Was war das schon, ein Besserwisser ? Jeder Steinaxt-Hauer kam sich ebenfalls als Besserwisser vor.

Sprachbegabt wie er war, dachte er sich schnell eine wohlklingende Bezeichnung aus. Es war die eindrucksvolle Kombination von zwei doppelten Konsonanten, die ihm spontan gefiel und die immer Eindruck machte.

Er wandte sich noch einmal selbstbewusst an seinen Vater.

»Könnte ich nicht auch Kommissar heißen ?«, fragte er forsch. »Das klingt mehr nach Obrigkeit …« Er verbesserte sich. »Nach deiner allgegenwärtigen Macht, meine ich.«

»Was du nur immer für Worte erfindest …«, sagte sein Vater, nicht ohne Bewunderung in der Stimme. Dann dachte er kurz nach. »Aber du könntest recht haben. ›Kommissar Steinroller‹ – da denkt man doch gleich viel mehr an einen Mann von Bedeutung und Klugheit.«

»Während Otterfang Assistent heißen könnte«, setzte Steinroller nach.

»Auch das«, sagte sein Vater, der Sache bereits überdrüssig.

»Danke«, sagte Steinroller. »Dann werde ich jetzt mal anfangen.«

Das Schlimmste an der Steinzeit, das fanden alle Beteiligten, war die Unbequemlichkeit. Was immer man anpackte, bedeutete harte Arbeit. Auch das ständige Sitzen auf kalten Steinen war ungemütlich und nicht gerade gesund für die Blase. Ständig verschwand einer aus der Sippe zum Pinkeln im Wald, und wenn er zum Jagdmahl zurückkehrte, war die Wildschweinkeule schon aufgegessen.

Die meisten wohnten in Zelten aus Holzstangen und Häuten. Sie waren ebenso schnell aufgebaut wie auseinandergenommen. Nur wer die Arbeit beim Weiterziehen nicht scheute, gönnte sich eine Hütte aus Mammutrippen und Fellen. Ganz Faule gaben sich mit Erdvertiefungen zufrieden, ebenfalls mit Fellen überdacht – ziemlich unbequeme Behausungen, da man oft morgens mit einem Stachelschwein oder einer Sumpfkuh aufwachte.

Doch niemand hatte eine große Höhle wie jene, in die noch am selben Vormittag Steinroller und Weichhaar einziehen durften. Es war ein wirklich generöses Geschenk von Felsschmetterer, das mussten alle zugeben.

Weichhaar hatte sichtlich Freude gezeigt, als Steinroller zu ihr in den Kreis der Frauen gegangen war und ihr ein bisschen verlegen mitgeteilt hatte, dass sie jetzt ihm gehörte. Sie war aufgestanden, hatte ihn umarmt und ihre breite Nase fest an seine gedrückt, wie es üblich war unter Frischversprochenen. Dabei hatte sie geflüstert: »Endlich. Länger hätte ich es bei diesen Dummköpfen auch nicht mehr ausgehalten. Ich hole gleich meine Sachen.«

Unter den Dingen, die sie mit in die Ehe brachte – ein buschiger Hyänenschwanz als Besen, eine Ledermatte zum Schlafen, zwei Steine zum Zerstampfen von Gräsern, das Übliche eben –, waren auch drei Handtaschen aus Ziegenmaul, Mammuthoden und Echsenfuß, denn Weichhaar sammelte Handtaschen wie andere Leute Steinkeile.

Während Steinroller hinter ihr die geräumige Höhle betrat, beäugte er skeptisch das große Paket mit ihren Habseligkeiten, die sie an einer Lederschnur über der Schulter trug. Eine Frau mit Handtaschenfimmel hatte er sich zwar nicht gewünscht, aber Weichhaar bewegte sich so geschmeidig und trug das Bündel an der Schnur so elegant, dass er sie augenblicklich begehrte und ihr die kleine Schwäche sogleich verzieh.

Normalerweise, so war es der Brauch, hätte Weichhaar ihrem Gemahl nach Bezug der Höhle sofort zu Diensten sein müssen. Doch Steinroller, der durchaus Lust dazu gehabt hätte, musste dauernd an den Toten im Sumpfgras denken und an seine neuen Pflichten als Kommissar. Da auch Weichhaar keine Anstalten machte, ihm wie eine Wölfin ihr Hinterteil entgegenzustrecken, sondern sogleich damit begonnen hatte, ihre Handtaschen in die steinernen Fächer der Felswand einzusortieren, traute er sich, ihr seine momentanen Prioritäten mitzuteilen. Er setzte sich vor sie auf einen großen, rund gewaschenen Stein, der als Sessel diente, und weihte sie in seine neue Aufgabe als Kommissar und Besserwisser ein. Aufmerksam zuhörend stand sie vor ihm, das hübsche schwarz-weiß gefleckte Ziegenfell von der rechten Brust nach unten um die Hüfte gebunden. Als er auf den geheimnisvollen Todesfall zu sprechen kam, unterbrach sie ihn.

»Ich habe Taamu vorgestern Abend zuletzt gesehen«, sagte sie. »Er schlich sich kurz vor Sonnenuntergang aus dem Lager. Ich dachte, dass er sich irgendwo mit einer Frau trifft.« Manchmal kam es vor, dass Männer ihrer Sippe heimlich Kontakt mit Frauen einer anderen Sippe aufnahmen.

Steinroller kratzte sich seine gewölbte, mit dichten schwarzen Haaren bedeckte Stirn.

»Also hatte Taamu ein Geheimnis«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht liegt hier der Anfang der Lösung.« Er blickte seine schöne breitnasige Frau verliebt an. »Danke, dass du mich bei meiner Arbeit unterstützen willst.«

»Ich liebe Totschlaggeschichten«, sagte sie. »Schon immer. Wenn die Männer uns Kindern erzählten, wie sie einem anderen den Garaus gemacht hatten, wollte ich jedes Mal genau wissen, wie es zu dem Streit gekommen war und wie sie es angestellt hatten. Einmal haben sie mir einen gezeigt, dem man mit der Keule den Schädel eingeschlagen hatte. Das war besonders interessant, weil man bis in den Kopf gucken konnte.«

»Du willst also auch immer alles genau wissen, wie ich. Das ist gut«, sagte Steinroller. Plötzlich hatte er eine Idee. »Hättest du Lust, mich zum genauen Anschauen der Leiche in den Sumpf zu begleiten ?«

Weichhaar zeigte sich begeistert.

»Damit würdest du mir eine große Freude bereiten. Warte, ich will nur noch schnell was holen.« Sie ging zu ihren Steinfächern hinüber und kramte einen Moment in ihren Sachen herum. Nachdem sie schnell etwas in den Beutel unter ihrem Fell gesteckt hatte, wandte sie sich wieder Steinroller zu. »Wir können gehen. Oder willst du vorher noch den Wolfssprung machen ?«

»Ich hätte lieber mehr Zeit dafür«, wagte Steinroller offen zu sagen. »Wir haben ja noch die ganze Nacht vor uns …«

Sie drückte ihm liebevoll ihre warme Nase ins Gesicht und flüsterte: »Das gefällt mir. Und dann zeige ich dir, dass es noch mehr als nur den Wolfssprung gibt.«

Erleichtert und erfreut leckte ihr Steinroller über die Lippen, das Höchstmaß an Zuneigung in seiner Sippe. Weichhaar leckte liebevoll zurück.

Als sie wenig später auf der Sumpfgraswiese ankamen, trottete am Waldrand eine Herde kleiner Wildpferde vorbei. Die Tiere hatten Glück, dass die Steinzeitsippen im Lager sich gerade mit Biberbraten die Bäuche vollgeschlagen hatten. Als sie Steinroller und Weichhaar kommen sahen, galoppierten sie schnell davon und verschwanden im Wald. Auerhähne flogen auf.

Taamus zerquetschter Körper lag noch da wie am Morgen. Zum Glück hatten die Geier ihn noch nicht entdeckt.

Steinroller kniete sich neben die platte Leiche und betrachtete sie intensiv von allen Seiten. »Bauchdecke gerissen … Hüft- und Beinknochen zerdrückt … Todesursache unbekannt«, konstatierte er in sachlichem Ton.

»Interessant«, sagte Weichhaar und verscheuchte ein paar Riesenfliegen. »Sieht aus wie ein aufgeplatzter Fisch, den man mit der Keule bearbeitet hat.«

Ohne ein sichtbares Zeichen von Ekel hockte sie sich neben Taamus Kopf auf den Boden und zog etwas aus den Haaren des Toten. Es war ein kleines Ästchen. Sie gab es ihrem neuen Gemahl.

»Hier. Ein Stück vom Großblätterbaum. Hat das was zu bedeuten ?«

Steinroller nahm es ihr ab, während er mit der anderen Hand Taamus steifen Kopf anhob.

»Ja. Siehst du, da.« Er zeigte auf den blutigen Hinterkopf des Toten. »Schleifspuren. Er muss also dort umgebracht worden sein, wo der Großblätterbaum wächst. Und das ist weit entfernt.«

Steinroller öffnete den Mund des Toten und schaute hinein. Der Mundraum war voller Kieselsteine.

»Hab ich mir doch gedacht«, sagte er zufrieden. »Taamu hat uns noch etwas sagen wollen. Er hat wahrscheinlich gewusst, dass er bald dran glauben muss, und vorher schnell ein paar Steinproben eingesammelt. Das sieht ihm ähnlich.«

Steinroller zog ein paar Kiesel hervor und betrachtete sie in der offenen Hand.

»Und ?«, fragte Weichhaar. »Kiesel von hier oder von hinter dem Berg ?«

»Hinter dem Berg«, konstatierte Steinroller. »Vom Stinkmorchel-Steinbruch, dem Gebiet der Flachköpfe …«

Nur an zwei Plätzen der Gegend – in der großen Ebene und am Steinbruch – existierten noch kleine Gruppen von Neandertalern, die letzten ihrer Art. Sie waren scheue, kurzbeinige Kreaturen, die sich kaum fortpflanzten. Kein Wunder, dass sie dabei waren, auszusterben.

»Meinst du, die Flachköpfe haben ihn auch ermordet ?«

Steinroller betrachtete noch einmal intensiv den Toten.

»Das glaube ich nicht«, sagte er. »Sie sind meist friedlich. Aber vielleicht hatte er heimlich was mit einer ihrer hässlichen Frauen …« Vorsichtig versuchte er, etwas unter Taamus linkem Fuß hervorzuziehen. Es war eine Faser. Sie löste sich jedoch nicht, sondern hing fest.

»Warte«, sagte Weichhaar, griff in ihren Beutel und holte einen kleinen spitzen Gegenstand hervor. »Am besten nimmst du das hier, um keine Geruchsspuren zu zerstören.«

Überrascht sah Steinroller sie an. So eine praktisch begabte Frau hatte er sich immer gewünscht.

»Was ist das ?«

»Ich nenne es Pinzette«, sagte Weichhaar, als wäre es nichts Besonderes. »Ich habe es mir aus dünnen Vogelknochen geschnitzt, ich kann damit meine Augenbrauen zupfen.«

Tatsächlich waren die Steinzeitaugenbrauen dick wie Antilopenschwänze und störten oft beim Sehen. Steinroller gefiel das ungewöhnliche Werkzeug. Es war wie gemacht für seine Ermittlungen. Offenbar war Weichhaar die geborene Erfinderin.

Vorsichtig zogen sie die Faser mit der Pinzette hervor.

Es handelte sich um das Stück einer geflochtenen Liane, wie sie oft zum Festbinden des Lendenschurzes benutzt wurde. Steinroller schnupperte daran. Seine Nase, wie überhaupt die Nasen aller Sippenmitglieder, war fast so fein wie die eines Wolfes. Er roch den starken, unverwechselbaren Duft von Flieder. Auch Weichhaar schnupperte daran.

»Oje«, stöhnte sie, als sie die Faser aus der Pinzette auf Steinrollers Hand fallen ließ.

Der Kommissar nickte. »Genau«, sagte er. »Pilu war hier.«

Pilu war der kleine Lendenschurzmacher der Sippe. Er trug als Einziger nach hinten gekämmte Haare und glättete sie jeden Morgen mit einer selbst gemischten Flüssigkeit aus Kräutersaft. Jeder wusste, warum er keine Frau besaß.

»Aber Pilu ist doch kein Mörder«, sagte Weichhaar mit fester Überzeugung. »Er kann ja nicht mal zusehen, wenn ein Feldhase geschlachtet wird.«

»Aber er war hier beim Toten und weiß irgendetwas«, beharrte Steinroller. »Vielleicht ist er ein wichtiger Zeuge.«

In diesem Augenblick hörten sie ein Geräusch im Wald.

Instinktiv warfen sie sich neben dem Toten flach auf den Boden und spähten über Taamus blutigen Bauch hinweg zu der Stelle, an der sich in diesem Moment das Gebüsch teilte und ein Neandertaler zum Vorschein kam. Er war klein, breitschultrig und hatte kräftige krumme Arme. Seine Beine, vor allem die Unterschenkel, waren auffallend kurz. Alles an ihm schien haarig zu sein, ein Kopf voller zottiger Strähnen, die sogar seinen Hals bedeckten. Geduckt stand er da und schaute zu ihnen herüber. Plötzlich zog er etwas aus den dreckigen Fellfetzen hervor, die seinen Bauch bedeckten, und warf es zum Toten herüber. Dabei rief er ihnen mit heiserer Stimme etwas zu.

»Brachzfchulipkroopachzhoo.«

Für einen kurzen Moment richtete er sich noch einmal hoch auf. Die Haare über seiner fliehenden Stirn wehten im Wind. Seine großen Augen hatten einen seltsam traurigen Ausdruck. Dann duckte er sich wieder und verschwand ebenso plötzlich, wie er gekommen war, im Dickicht.

Steinroller und Weichhaar wagten sich wieder aus ihrer Deckung hervor und standen auf.

»Man versteht sie immer so schlecht«, sagte Steinroller. »Sie haben fürchterlich schlechte Zähne. Ich glaube, er hat irgendwas von einem Baum gesagt.«

Weichhaar ging zu der Stelle, wo das Päckchen lag, das der Neandertaler in ihre Richtung geworfen hatte. Sie hob es auf und brachte es zu Steinroller. Es war ein Bündel aus stinkendem, grauen Kaninchenfell.

Vorsichtig wickelte Steinroller das Fell ab. Zum Vorschein kam ein Vogelnest, in dem ein toter Stieglitz lag.

»Die haben wirklich einen Vogel, die Neandertaler«, sagte Weichhaar mitleidig. »Und dafür macht der den weiten Weg ?«

Steinroller schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er mit ernstem Gesicht. »Das ist eine Botschaft. Sogar eine ziemlich dramatische.«

»Und welche Bedeutung hat die Botschaft ?«

»Die Neandertaler wollen uns damit verraten, wo Taamu umgebracht wurde. Im Tal der Stieglitze, auf der anderen Seite des Spitzen Berges.«

Er wühlte mit Daumen und Zeigefinger im Nest herum und zog schließlich ein auffallend dünn geschnitztes Holzplättchen sowie einen runden weißen Stein hervor. Als Erstes hielt er das Stück Holz vor Weichhaars Nase.

»Und das hier soll heißen: Dort im Tal ist Taamu auch plattgemacht worden.«

»Ich liebe kluge Männer«, sagte Weichhaar bewundernd. »Aber was bedeutet wohl der weiße Stein ?«

Steinroller wurde noch ernster. »Der Stein ist aus dem Besitz meines Vaters. Taamu muss ihn verloren haben. Und er ist etwas sehr Geheimes. Dass die Neandertaler ihn besitzen und uns geschickt haben, heißt nichts anderes, als dass sie eine Verschwörung fürchten und uns helfen wollen, wenn wir sie brauchen.«

»Ach du liebe Zeit«, sagte Weichhaar. »Und ich dachte, wir machen uns die nächsten Tage eine gemütliche Zeit in der Höhle.«

Steinroller hob bedauernd die Schultern. »Tut mir leid. Jetzt, wo der Fall eine solche Wende nimmt, bin ich als Kommissar gefordert. Es wird ernst. Ich hole meinen Assistenten und lasse noch mal die Steinmesser nachschleifen. Dann muss ich wohl los ins Tal der Stieglitze.«

Weichhaar umarmte ihn liebevoll, schleckte ihm einmal zärtlich über die Lippen und flüsterte: »Ich richte uns inzwischen die Höhle gemütlich ein. Auch das Nachtlager.«

»Apropos«, sagte Steinroller, »ich schlafe immer rechts.«

Dann schritt er voller Energie ins Lager zurück, fest entschlossen, seine Ermittlungen aufzunehmen.

Schon bei Steinrollers Ahnen hieß die Zeit des langen Redens Sitzung, weil man dabei auf kalten Steinen saß. Seine erste Sitzung mit Otterfang fand in einer ruhigen Ecke des Lagers zwischen zwei Holundersträuchern statt, wo niemand sie sehen konnte. Gleich dahinter befand sich ein Birkenholzgestell, auf dem Fische zum Trocknen lagen. Während ihres Gesprächs griff Otterfang immer wieder durch die Büsche und schob sich vor Aufregung einen Salzbarsch nach dem anderen in den Mund.

Zweifellos erfüllte es ihn mit Stolz, ab jetzt Steinrollers Assistent sein zu dürfen. Er zeigte seine Freude, indem er mehrfach das Genick seines neuen Chefs drückte und nach jedem Barsch laut rülpste. Das machte man nur, wenn man wirklich zufrieden war, und so fasste es Steinroller auch auf. Gegen Otterfangs hünenhafte Gestalt war er klein. Alles an Otterfang war groß, vor allem seine Ohren und die runde Nase.

»Bin ich bewaffnet ?«, fragte Otterfang mit der tiefen Stimme riesiger Menschen.

»Das Übliche«, antwortete Steinroller. »Axt und Speer. Ansonsten werden wir ja mehr unseren Verstand benutzen, denke ich.«

»Genau. Das denke ich auch«, sagte Otterfang dumpf und nickte.

Steinroller erklärte ihm, wie er sich die künftige Zusammenarbeit vorstellte und dass er sich auf Otterfangs archaische Fähigkeiten als Spurenleser und Geräuschelauscher unbedingt verlassen können musste. Auch Otterfangs Geschmacksnerven waren in der ganzen Sippe berühmt, er konnte aus jedem Regenwurm herausschmecken, aus welcher Erde er kam.

Nachdem der Assistent sich alles angehört hatte, nickte er noch einmal sichtlich erfreut und versprach, sein Leben zu geben für die neue Aufgabe. Steinroller war klar, dass Otterfang erst noch mühsam eingearbeitet werden musste und vermutlich noch gar nicht begriff, wie diffizil so ein Fall werden konnte. Aber da die Zeit drängte und sie keinen Tag verlieren durften, musste sich alles Weitere unterwegs ergeben.

Als erste Amtshandlung, bevor sie endgültig ins Tal der Stieglitze aufbrechen konnten, musste Pilu verhört werden. Er konnte ein wichtiger Zeuge sein – oder er war sogar in den Mord verwickelt. Alles war jetzt möglich.

Sie trieben den Lendenschurzmacher beim Spielen mit seinem kleinen Warzenschwein auf, dem er ein lila Schleifchen aus gefärbter Liane umgebunden hatte. Er selbst trug ein weißes Schaffell um die Hüften. Eigentlich war sein Warzenschwein nichts anderes als das zwergwüchsige Wildschwein der Berge, aber da diese Sorte dicke Knubbel auf der Schnauze trug, nannten die Sippen es Warzenschwein.

Der Lendenschurzmacher hatte sich eine feste Hütte errichtet, in der er seinem Handwerk nachging. Steinroller blieb davor stehen und rief mit strenger Stimme: »Pilu !«

Pilu, klein und rundlich – eine äußerst seltene Körperform unter den Sippenmitgliedern –, nahm das Warzenschwein auf den Arm und kam fröhlich zu Steinroller, der sofort erschnupperte, dass Pilus nach hinten gekämmtes Haar heute nach Thymian duftete. Hinter dem Kommissar hatte sich Otterfang aufgebaut. Er bemühte sich, ebenso streng wie sein neuer Chef dreinzublicken, obwohl er sich insgeheim mächtig über Pilu und seinen kleinen Appetithappen amüsierte.

»Heho, ihr zwei !«, grüßte Pilu aufgekratzt. Er hatte fast immer gute Laune und schien sich an den strengen Gesichtern seiner Besucher nicht zu stören. »Wollt ihr euch schon mal die neue Winterware ansehen ?«

»Was hast du denn so ?«, fragte Otterfang spontan, ohne zu bemerken, dass auch Steinroller gerade den Mund aufgemacht hatte, um zu antworten.

»Was ganz was Tolles«, antwortete Pilu begeistert und kraulte seinem Schweinchen den Bauch. »Kuscheliges Wollnashorn, als Schlafdecke und als Lendenschurz. Jetzt auch mit Eingriff !«

»Vielleicht führst du uns das ja mal vor«, sagte Steinroller mit hintersinnigem Lächeln. »Zum Beispiel auf der schönen Sumpfgraswiese.«

Pilu versuchte, seine Leichtigkeit beizubehalten. »Also bitte, ihr Lieben – doch nicht in der feuchten Ecke !« Er schien amüsiert zu sein. »Da wüsste ich hübschere Plätze.«

»Tatsächlich ? Und was treibt dich dann nachts dort hin ?«

»Wie soll ich das verstehen ?«

»Das frage ich dich«, sagte Steinroller, und sein Lächeln war verschwunden. »Wo warst du gestern zwischen Sonnenuntergang und Bisontränke ?«

»Ich verstehe nicht …« Pilu sah auf einmal gehetzt aus. »Ich war in meiner Hütte … Wo sollte ich sonst gewesen sein ?«

Steinrollers Miene wurde noch ernster. »Ich nehme an, du weißt, dass Taamu ermordet wurde. Ich bin hier, weil ich im Auftrag meines Vaters seinen Tod untersuche. Und du bist ein wichtiger Zeuge.«

Aus Pilus Gesicht war die Farbe gewichen. Trotzdem lachte er auf. »Ich ?« Er knubbelte nervös das Schweineschwänzchen, was irgendwie obszön aussah. »Taamu war nicht mal Kunde bei mir. Er hat sich seine Sachen immer von seiner Mutter nähen lassen.«

»Und was hast du dann bei seiner Leiche gemacht ?«

Pilu erschrak sichtlich. »Woher wisst ihr das ?« Er setzte sein Haustier ab. Quiekend lief es in die Schneiderei zurück.

Steinroller erklärte ihm, dass man sein Duftwasser noch heute Vormittag im weiten Umkreis hatte riechen können. Leugnen war also sinnlos.

Pilu beteuerte seine Unschuld. »Ich bin nur zufällig vorbeigekommen … Da hab ich ihn liegen sehen, und dann bin ich weggelaufen, weil ich nicht der sein wollte, der ihn fand.« Er hob hilflos die Hände. »Versteht ihr nicht, dass so was schlecht fürs Geschäft ist, wenn man mit einem Toten in Verbindung gebracht wird ?«

Steinroller gab Otterfang einen Wink. »Hüttendurchsuchung !«

Pilu war entsetzt. »Was ?«

Der Kommissar und sein Assistent marschierten in Richtung der großen Hütte, in der Pilu lebte und arbeitete. Sie bestand aus senkrecht aufgestellten bleichen Mammutrippen, die mit großen Lederstücken bedeckt waren. Der Schneider lief hinter ihnen her, das weiße Schaffell beim Gehen glatt streichend.

»Kinder, macht doch keinen Unsinn !«

Doch Steinroller blieb unerbittlich. Er bahnte sich seinen Weg durch die Berge von groben Fellen und fertigen Schurzen verschiedener Größen, die sich am Eingang stapelten. Auf einem breiten Stein lagen ordentlich aufgereiht Nähnadeln aus Elfenbein.

Das Erste, was ihnen auffiel, war Pilus Handtaschensammlung. Die Täschchen hingen an einem Ast, der im hinteren Teil der Hütte im Boden steckte. Weichhaar hätte ihre Freude an den originellen Stücken gehabt. Aber Handtaschen für Männer waren ja schließlich nur verpönt und nicht verboten, auch wenn Otterfang angewidert mit den Fingern darüber streifte und das Gesicht verzog.

Viel bedenklicher waren die fingerlangen Köcher, die daneben auf einem Brett lagen.

»Sieh mal an«, sagte Steinroller zu Pilu, der sich stumm und bleich neben sie gestellt hatte. »Was haben wir denn hier ?«

»Sammelst du Fingerhüte ?«, wandte sich Otterfang ahnungslos an Pilu und nahm einen der Köcher in die Hand. Er war aus hauchdünnem Frettchenleder genäht.

»Nein«, sagte Steinroller. »Das alte Ferkel verkauft heimlich Stängelschützer, obwohl das streng verboten ist.«

Sein Vater höchstpersönlich hatte dieses Verbot erlassen, weil ihre Sippe ohnehin schon vom Aussterben bedroht war und nicht enden sollte wie die Neandertaler.

»Ich … ich bastele sie nur so zum Spaß, wisst ihr …«, stammelte Pilu. »Aus alter Tradition. Man kann sie auch sehr gut als Blumenvase benutzen.«

»Jetzt reicht’s«, sagte Steinroller. »Entweder, ich gebe meinem Vater einen kleinen Hinweis, oder du sagst uns endlich, was du wirklich bei dem Toten gemacht hast.«

Pilu gab sich geschlagen und packte aus. Er wusste genau, wenn Felsschmetterer, der Sippenälteste, sich erst einmal aufregte, stand man hinterher schnell mit ausgeschlagenen Zähnen oder nur einem Baumelbällchen da.

Mit schuldbewusstem Gesicht führte er seine Besucher zu den Fellen. Dort hob er den obersten Stapel ab. Zum Vorschein kam ein prachtvolles graues Wolfsfell, das an zwei Enden Lederschließen aufwies. Steinroller zog es hervor und hob es in die Höhe, um es besser betrachten zu können.

Kein Zweifel – es war der gesuchte Umhang, der Taamu gehört hatte und den Steinroller bei der Leiche vermisst hatte.

»Du hast es dem Toten gestohlen ?«, fragte der Kommissar ungläubig.

Pilu nickte kleinlaut.

»Ich sah es liegen und dachte … weil es doch so ein wunderbares Fell ist, mit einzigartiger Färbung … Und ohne hässliche Blutflecke …«

Steinroller wurde sofort klar, was Pilu da gerade gesagt hatte: Ohne hässliche Blutflecke. Er sah sich das Wolfsfell noch einmal genauer an. Tatsächlich war es vollkommen sauber, was eigentlich nicht sein konnte, hätte Taamu es zum Todeszeitpunkt getragen.

»Wo hat das Fell gelegen, als du es entdeckt hast ?«, fragte er streng. »Neben dem Toten ?«

Der Lendenschurzschneider schluckte.

»Ich will die ganze Wahrheit, Pilu !«, drängte der Kommissar, als er merkte, dass sein Gegenüber noch etwas verbarg.

Pilu räusperte sich. »Es war so: Ich glaube, ich habe den Mörder gesehen … Jedenfalls den Mann, der Taamu gebracht und auf die Sumpfwiese gelegt hat.«

Steinroller wollte seinen Ohren nicht trauen, aber er wagte nicht, Pilu zu bremsen, wenn er schon einmal dabei war, die Wahrheit zu sagen.

»Erzähl.«

Es war in der Nacht gewesen, bei schönstem Vollmond. Pilu hatte mit seinem kleinen Warzenschwein noch einen Spaziergang gemacht, weil er wegen des Mondes nicht schlafen konnte. Plötzlich sah er aus dem Wald einen Mann kommen, das Gesicht geschwärzt. Auf seinen Armen trug er einen leblosen Körper, den er auf der Wiese ablegte. Es war Taamus Leiche. Der Unbekannte hatte auch Taamus Fell dabeigehabt und es neben dem Toten auf den Boden gelegt. Dann war er so schnell verschwunden, wie er gekommen war.

»In welche Richtung ?«, fragte Steinroller. »Wieder in den Wald ?«

»Nein«, antwortete Pilu. »Er verschwand zwischen den Zelten. Als wäre er einer von unseren Leuten gewesen.«

»Hältst du für möglich, dass es ein Neandertaler war ?«

Pilu lachte auf. »Du liebe Zeit, nein ! So ein Kerlchen hätte ich doch sofort am Geruch erkannt ! Wie frisch aus der Kloake, sage ich immer, völlig ohne Stil.«

»Ist dir sonst noch was aufgefallen ?«, fragte der Kommissar.

Pilu überlegte. »Nach einer Weile hörte ich ein seltsames Geräusch aus dem Wald, so ein Knirschen und das Rumpeln von Steinen … Aber ich traute mich nicht, nachzuschauen.«

Steinroller blickte vielsagend zu Otterfang. »Interessant. Vielleicht hat der Geheimnisvolle drüben am Geröllhang etwas vergraben.«

Er nahm noch einmal den Wolfspelz in die Hand und betrachtete ihn sorgfältig. Auf der Rückseite entdeckte er zwei kräftige dunkle Flecke, der größere von ihnen wirkte klebrig. Steinroller winkte seinen Assistenten zu sich heran. Plötzlich war er wieder ganz der Kommissar, schon allein, um Pilu Respekt einzuflößen.

»Otterfang, bitte Geschmacksproben nehmen. Zunge.«

Otterfang trat näher und streckte brav die Zunge heraus. Steinroller hob das Wolfsfell hoch und rieb einen der Flecke an der Zunge seines Assistenten, die so breit und lang war wie der Waidlöffel eines Auerochsen.

»Und ?«, fragte er.

Schmatzend versuchte Otterfang, den Geschmack einzuordnen.

»Mäusedreck«, stellte er fest. »Feldmaus, mittlere Größe.«

»Gut, dann Probe Nummer zwei.«

Der Assistent leckte ein zweites Mal am Leder. Diesmal schien ihm die Probe deutlich besser zu schmecken. »Gletschersalz«, sagte er voller Überzeugung. »Eindeutig. Allerdings mit einem kleinen Spritzer Bergziegenpisse. Das Ganze erst zwei Tage alt.«

»Danke, das passt«, sagte Steinroller. »Damit steht für mich fest, dass Taamu vor seinem Tod bei der Turit-Sippe gewesen sein muss. Im Gletscherbergland.«

»Ihr seid ein großartiges Paar«, sagte Pilu ehrfurchtsvoll und blickte bewundernd von Steinroller zu Otterfang. »Ich bedauere aufrichtig, dass ich euch so viel Mühe gemacht habe.« Direkt neben ihm stand der Hüne Otterfang, der sich gerade mit dem Handrücken den Mund abwischte. Plötzlich, als könnte Pilu nicht mehr an sich halten, griff er von der Seite an Otterfangs Lendenschurz und zupfte an ihm herum. »Entschuldigung, aber ich kann das gar nicht mit ansehen. Du musst dein Schürzchen nicht immer so weit hochziehen, Großer, wie oft hab ich dir das schon gesagt !«

Otterfang knurrte unwillig, zog aber gehorsam sein Leder zurecht.

Währenddessen dachte Steinroller nach. Das Berglager der Turits war in den vergangenen Wochen schon mehrfach Gesprächsthema zwischen seinem Vater und ihm gewesen. Der Turit-Gletscher war nur eine Tageswanderung weit entfernt, und normalerweise mied ihre Sippe den Kontakt mit den arroganten Turits. Doch in letzter Zeit hatte sein Vater schon zweimal Sippenmitglieder bei Morgengrauen aus Richtung der Berge kommen sehen. Alle diese Jäger hatten behauptet, sie seien nicht bei den Turits, sondern nur auf dem Weg dorthin in der Tundra gewesen, um Elche zu jagen. Viel Beute hatten sie jedoch nicht mitgebracht. Irgendetwas hatte seinen Vater skeptisch gemacht an diesen Erklärungen. Wollten die Männer ohne sein Wissen engere Kontakte zu den Turits knüpfen ?

Und warum ?

In diesem Moment erscholl ein Höllenlärm hinter ihnen. Eine Gruppe Jäger, angeführt von Steinrollers Vater, kam durch die Reihe der Zelte auf sie zugerannt. Das Trampeln ihrer Füße ließ den Boden erzittern. Die Männer hielten ihre Speere und Äxte in den Fäusten und schwangen sie über ihren Köpfen. Mehrere Männer trugen auch Keulen aus Feuerstein. Die Stimme des Sippenältesten übertönte alles, als er seinem Sohn und Otterfang zurief: »Mammut ! Wir brauchen jeden Mann !«

Steinroller wusste, dass er sich diesem Befehl nicht entziehen konnte, wenn er seinen Vater nicht verärgern wollte. Er musste sich ja später nicht am Töten beteiligen. Gehorsam reihten er und Otterfang sich in die Gruppe der aufgeregten Jäger ein. Selbst Pilu lief spontan mit, obwohl er schon am Lagerrand atemlos war. Plötzlich galoppierte auch das Schweinchen aufgeregt quiekend neben seinen Füßen her, was ihm jede Menge spöttischer Zurufe der anderen einbrachte.

Das Mammut saß in einer Fallgrube, die eigentlich zum Fang von Hirschen gebaut worden war, denn an dieser Stelle wechselte das Wild in großer Zahl. Es handelte sich um ein kleineres Tier. Sein wolliges braunes Fell war verkrustet, sein Rüssel schwang wütend hin und her, und die riesigen, nach oben geschwungenen Stoßzähne bebten. Die gewaltigen Beine des Mammuts versuchten mit aller Kraft, das enge Erdgefängnis zu zertrampeln.

Einen Moment lang blieben die Jäger andachtsvoll schweigend am Rand der Grube stehen und sahen bewundernd dem mächtigen Tier zu.

»Oh, ein Rüde !«, rief Pilu aufgeregt in das Schweigen hinein.

»Das heißt nicht Rüde, sondern Bulle«, raunte ihm Steinroller leise zu.

Doch Speerschleuderer, der Oberste Jäger der Sippe, der später auch das Fleisch in private und gemeinschaftliche Portionen aufteilen durfte, hatte ihn gehört. Er war ein herrischer Mann und bekannt für seine Strenge.

»Verschwinde !«, fuhr er Pilu scharf an. »Du hast hier nichts zu suchen ! Geh lieber Beeren pflücken in deinem …« – spöttisch beäugte er Pilus kuschelweiches Lammfell, – »… Fummel !«

Plötzlich erklang die laute Stimme Felsschmetterers.

»Jagd !«, brüllte er. »Tötet ihn !«