Cover

Almut Hielscher und Uta König

Mord am Waterberg

Impressum

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2016 bei hey! publishing, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-049-5

www.heypublishing.com

Das Buch beruht auf historischen und kulturellen Tatsachen. Die genannten Orte sind real. Alle Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Arnold Kaure ist mächtiger als sie gedacht hat. Dirk Mertens will nichts gegen ihn unternehmen. Sie ist niedergeschlagen, aber auch ein bisschen stolz, dass sie diesem gewieften Diplomaten nicht auf den Leim gegangen ist. Sie fährt zur Independence Avenue, der Hauptstraße von Windhoek. Mitten im belebten Zentrum will sie Agnes treffen. Hier gefällt es ihr. Alte Kolonialhäuser neben Hochhäusern aus Glas und Stahl, auf den Bürgersteigen haben Händler afrikanische Andenken ausgebreitet. Touristen in Safari-Anzügen und Shorts schlendern durch die Straßen. Schwarze Frauen und Männer in gepflegter Büro-Kleidung stehen in ihrer Mittagspause Schlange vor Fast-Food-Ständen.

Katrin kommt nur im Schritt-Tempo voran. So viele Autos und so viele Menschen auf einem Fleck hat sie bisher in Namibia noch nicht gesehen. Vor dem Hauptpostamt findet sie einen Parkplatz, was auch in Windhoek ein Kunststück ist. Gegenüber liegt die Passage, die Agnes ihr als Treffpunkt vorgeschlagen hat. Katrin erspäht in dem vollbesetzten Café Schneider einen kleinen freien Tisch in der Ecke. Eine Kellnerin mit hellbrauner Haut und hohen Wangenknochen fragt sie freundlich und in gutem Deutsch: „Was darf ich Ihnen bringen?“ Die Speisen werden in drei Sprachen angeboten. In Englisch, Deutsch und Afrikaans. Katrin wählt Kohlrouladen. Das Lokal ist überfüllt mit Ausländern, aber auch einheimische Besucher sind unter den Gästen. Wo bleibt Agnes? Da kommt sie durch die Tür – in ihrem flammend roten Herero-Kleid und dem breiten Hut. Die Touristen starren sie an, einige zücken ihre Fotoapparate. Agnes winkt strahlend und zwängt sich mit ihren Röcken durch den engen Gang zwischen den Tischen. „Wo sind denn deine Einkäufe? Hast du nichts Schönes gefunden?“

„Oh, doch. Ich habe herrliche Stoffe gesehen. Den Laden muss ich dir zeigen, er ist der schönste im ganzen Land. Mit Anna war ich auch einmal da. Sie hat gestaunt, du glaubst es nicht. Aber jetzt habe ich Hunger. Agnes bestellt auch Kohlrouladen. Ein weißer Mann in Bermuda-Shorts und kariertem Hemd baut sich breitbeinig vor dem Tisch auf, an dem die beiden Frauen essen. Er fotografiert sie. Agnes wehrt erbost ab: “No, no photos!“

Katrin findet ihre Reaktion übertrieben und versucht die Freundin zu beschwichtigen. „Der will doch nur ein Foto von dir. Du siehst hinreißend aus.“

„Aber er hätte mich wenigstens fragen können. Wir sind hier doch keine Affen im Zoo. Du würdest auch protestieren, wenn wildfremde Afrikaner von dir in einem Stuttgarter Lokal Bilder machen würden, während du zu Mittag isst.“ Der aufdringliche Tourist hat sich mit seinem Fotoapparat wieder zu seiner Gruppe an den Tisch gesetzt und blickt grimmig zu den beiden Frauen herüber.

Draußen auf der Straße hakt sich Katrin bei Agnes unter. Sie erzählt der Freundin, was sie erlebt hat. „Ich bin traurig. Der DED interessiert sich auch nicht für die Wahrheit. Die wollen, dass ich schnell abhaue. Aber diesen Gefallen tue ich ihnen nicht.“

„Das darfst du auch nicht“, erwidert Agnes. In Gedanken ist sie ganz woanders. „Komm, ich zeige dir jetzt die Stoffe, die Anna so gut gefallen haben.“

Katrin lässt sich gerne ablenken. Noch nie hat sie einen so prächtigen Stoffladen gesehen. Von Agnes erfährt sie, dass das Geschäft seit Jahrzehnten einer indischen Familie gehört. Meterlange Regale mit dicken Stoffballen reichen bis zur Decke. Seide, Baumwolle, Satin, Wollstoffe in allen Farben und Nuancen, schillernd, leuchtend, grell und matt. Überall auf den langen Tischen breiten indische Verkäuferinnen in bunten Saris Stoffbahnen aus und besprechen mit den Käuferinnen die Schnittmuster, die in Dutzenden von Variationen ausliegen. Herero-Frauen kommen von weit her und bringen viel Zeit mit, um sich hier beraten zu lassen, wie Kleider und Kopfschmuck am schönsten geschneidert werden können. Aber auch schwarze und weiße Frauen in Hosen und Minirock gehören zu den Stammkundinnen. In einem Nebenraum gibt es alles, was man zum Schneidern braucht. Hunderte von Röllchen Nähseide in allen Farben und Stärken, dicke, dünne, kurze und lange Nadeln für Maschine und Handarbeit, Scheren, Schnittmusterrädchen, Bordüren und Bänder aus Seide und Samt, Schleifen, Rüschen, Applikationen mit glitzernden Steinen, Perlen und Pailletten. Katrin ist erschlagen von dieser Fülle. Die kostbaren Stoffe haben auch ihren Preis. Frauen mit großen Tüten verlassen den Laden und Katrin wundert sich. „Das ist ja richtiger Luxus für Reiche.“

„Nein, ich kann mir hier auch alle paar Jahre Stoff kaufen. Hier gibt es alles – von Schnäppchen bis sündhaft teueren Stoffen und Nähutensilien. Viele Frauen sparen jahrelang für ein neues Kleid. Ich auch. Komm mit, ich zeige dir, was ich mir ausgesucht habe.“ Es ist ein weich fallender samtiger Stoff. Katrin hält ihn Agnes ans Gesicht. „Dieses leuchtende Blau steht dir wunderbar.“ Agnes hat auch passende Seidenbänder und Glitzersteine ausgewählt, die sie um das Dekolleté herum aufnähen will.

„Hast du in Okakarara überhaupt Gelegenheit, so ein elegantes Kleid zu tragen?“

„Du bist erst eine Woche bei uns. Du weißt nicht, wie oft wir feiern und uns elegant anziehen. Anlässe gibt es mehr als genug: Hochzeiten, Kindstaufen, Beerdigungen.“ Agnes wird ernst. „Wenn du wüsstest, wie viele Menschen bei uns sterben. Und es werden immer mehr, und die Toten immer jünger.“

„Aids?“

Agnes nickt. Und wieder dieses lange Schweigen, das Katrin bei mehreren Afrikanern erlebt hat. Sie kann es nicht deuten und sie ist unsicher, ob sie es durchbrechen darf. Sie passt sich an und bleibt einfach neben Agnes stehen. Nach ein paar Minuten wird sie aber ungeduldig. „Komm, kauf deinen Stoff. Wenn wir gleich losfahren, dann schaffen wir es noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück nach Okakarara. Beeile dich, bitte!“

„Das glaubst du doch selber nicht. Wir brauchen drei bis vier Stunden für die Rückfahrt. Und in zwei Stunden wird es dunkel. Außerdem wollte ich dir Windhoek zeigen. So, wie es die Touristen nicht kennen. In Katutura leben Verwandte von mir. Die warten schon auf uns.“

„Eigentlich bin ich sehr müde“, sagt Katrin kleinlaut. Sie will die Freundin nicht verletzen.

„Siehst du. Und trotzdem willst du die weite Strecke fahren. Ich kann dich am Steuer nicht ablösen, ich habe keinen Führerschein. Bis Katatura sind es nur 17 Kilometer.“

Die beiden Frauen fahren die Independence Avenue entlang, die über eine große Eisenbahnbrücke führt. Von dort oben sehen sie in der Ferne lauter kleine Häuser, die wie auf Ketten aufgereiht sind. Über dem dicht besiedelten Wohngebiet liegt im Abendlicht eine gelbgraue Dunstglocke. „Das ist Katutura. Da leben 250 000 Afrikaner. Und die meisten kochen noch mit Holz. Deshalb ist die Luft dort so dreckig. In Windhoek ist alles sauber. Da wohnen nur etwa 40 000 Menschen, früher nur Weiße. Denen geht es sehr viel besser.“ Agnes weist Katrin den Weg durch die engen Gassen, die mit ihren vielen flachen Häusern alle gleich aussehen: Verrußte rotbraune Backsteinfassaden, Blechdächer und winzige Fenster. Das Leben spielt sich hier auf der Straße ab. In den Eingängen sitzen Alte beisammen, an den Ecken lungern Jugendliche herum, Kinder toben zwischen Autos und Mopeds. Bürgersteige gibt es nicht. Agnes erklärt: „Zum Glück hat jedes Haus eine Nummer. Schau mal, über der Tür steht ein Buchstabe: O für Ovambo, N für Nama, D für Damara, und rate mal, wofür das H steht?“

„Das kann nur Herero heißen“, sagt Katrin. „Aber warum muss man öffentlich kennzeichnen, zu welchem Stamm die Bewohner gehören? Das ist doch absurd!“

„Heute gilt das nicht mehr. Das war die Apartheid unter den Südafrikanern. Die haben nicht nur zwischen Weiß und Schwarz, sondern auch zwischen den einzelnen Stämmen scharf getrennt. Die weiße Stadtverwaltung von Windhoek hat Anfang der 60er Jahre Katutura auf dem Reißbrett entworfen. Die schwarze Bevölkerung, die verstreut in und um die Stadt herum lebte, sollte in diesem Stadtteil konzentriert werden. Die Schwarzen wurden abgesondert, damit sie besser kontrolliert werden konnten. Katutura war umzäunt, jeder musste an einer Eingangspforte der Polizei beim Rein- und Rausgehen seinen Pass vorzeigen.“

„Und da sind die Leute freiwillig hingegangen? Das ist ein Ghetto.“

„Was heißt hier freiwillig? Wir wurden mit Waffengewalt gezwungen, es gab wochenlange Unruhen. Nur eines haben die Weißen nicht erreicht: Sie konnten nicht verhindern, dass wir den Namen des Ortes selbst bestimmten. Wir nannten ihn Katutura. Das heißt übersetzt: Der Platz, an dem wir nicht leben wollen. Und an der Zufahrtsstraße zum Township war ein großes Eisentor mit der Inschrift „Jedem das Seine.“ Nach der Unabhängigkeit wurde die Inschrift abmontiert.“

Katrin ist schockiert: „Dieser Spruch stand bei uns während der Nazizeit an den Toren von Konzentrationslagern.“

Kinder umringen lachend das Auto. „Hier wohnt meine Familie. Wir sind da. Hier kannst du direkt vor der Tür parken. Das stört niemanden. Ich stelle dich allen als Annas Schwester vor. Die kennen sie.“

Katrin lässt die Vorstellungs-Prozedur über sich ergehen und beantwortet artig alle Fragen: Bist du verheiratet? Wie viele Kinder hast du? Wie gefällt dir unser Land?

Agnes drängelt: „Ich kann dir nicht alles übersetzen. Ich muss noch eine Familienangelegenheit klären. Für dich ist das völlig uninteressant.“ Katrin bekommt eine grellgrüne Limonade und einen Schemel. Sie setzt sich in eine Ecke des winzigen Hofes und fühlt sich wie im Theater. Sie beobachtet, wie eine Frau einen kleinen Jungen in einer winzigen Blechschüssel badet und dann von Kopf bis Fuß mit fettiger Creme einreibt, auch die Haare. Eine Greisin zieht genüsslich an einer Pfeife, die sie in den rechten Mundwinkel geklemmt hat. Immer wieder stopft sie neuen Tabak hinein. Sie holt ihn aus einem bestickten Lederbeutel, der an ihrem Gürtel hängt. Agnes ist umringt von Frauen und Männern, die erregt gestikulieren. Dazwischen lärmende Kinder, die herumtollen und Verstecken spielen. Immer wieder bleiben sie vor ihr stehen und starren sie an, als hätten sie noch nie eine Weiße gesehen. Aus dem Haus dröhnt Musik aus dem Fernseher. Durch das Fenster sieht Katrin Jugendliche, die sich eine Sendung anschauen. Sie hat das Gefühl, der Verwandten-Plausch nimmt kein Ende. Sie langweilt sich, möchte weg und winkt Agnes zu sich. Katrin quengelt: „Können wir jetzt endlich nach Windhoek zurückfahren?“

„Nein, ich schlafe bei meinen Verwandten. Für dich finden wir hier auch ein Plätzchen, wenn du magst.“ Katrin überlegt sich, wie die vielen Erwachsenen und Kinder in dem winzigen Haus zu Bett gehen. Sie sieht sich schon auf einer Pritsche mit der Pfeife rauchenden Oma. „Nein, bitte nicht. Keine Umstände. Ich fahre in die Stadt zurück und suche mir ein Zimmer in einer Pension.“

Agnes ist erleichtert: „Alleine findest du aus Katutura niemals raus. Ein Township ist wie ein Labyrinth.“ Agnes ruft laut ins Haus: „Hey Johnson, komm sofort her. Du musst meine Freundin zur großen Straße begleiten.“ Der junge Mann möchte viel lieber fernsehen, knurrt aber missmutig: „Okay.“ Johnson leitet Katrin bis zur Independence Avenue. Als er aussteigt, ist es schon dämmrig. Um 17 Uhr schließen die Geschäfte. Die Innenstadt ist jetzt menschenleer – bis auf die wenigen Passanten, die zu den Sammeltaxis hetzen. Sie wollen nach Katutura. Katrin steuert die erste Pension an. Eine beleuchtete Tafel mit dem Namen Uhland. Ein Pfeil weist ihr den Weg in einen hübschen Innenhof. Unter hohen Palmen parken Autos. Hier gefällt es ihr.

Das Zimmer ist adrett mit weißen Möbeln eingerichtet, daneben ein hell gekacheltes Bad. Es sieht genau so aus wie ein gepflegtes Drei-Sterne-Hotel in Deutschland. Katrin hat in der Stadt ein neues Aufladegerät gekauft und schließt ihr Handy ans Netz.

Katrin hat Lust auf ein Bier. Unten an der Bar sitzt ein junger Mann am Tresen, der vertrauenswürdig aussieht: Offenes Gesicht, blonde Wuschelhaare, sportliche Figur, Lederjacke. Katrin setzt sich neben ihn. Er dreht sich zu ihr. „Sprechen Sie deutsch? Sie sehen deutsch aus. Oder irre ich mich?“

„Sie irren sich nicht. Ich komme aus Stuttgart.“

„Sind Sie zum ersten Mal in Namibia? Was haben Sie hier schon alles gesehen? Waren Sie in der Wüste?“

„Nein, ich habe nichts gesehen. Ich war bisher nur in Okakarara. Das ist nicht weit vom Waterberg.“

„Was wollen Sie denn in diesem Kaff? Da ist doch vor ein paar Tagen eine deutsche Entwicklungshelferin ermordet worden. Wissen Sie mehr über den Fall?“

Katrin weicht aus: „Und Sie? Was machen Sie hier?“

„Entschuldigung, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Manfred Koller und arbeite seit drei Jahren als Biologe in der Wüstenforschungsstation Gobabeb.“

„Was sucht ein Biologe in der Wüste? Da wächst doch nichts.“

„Wenn Sie wüssten, was in der Wüste alles los ist.“

Seine gute Stimmung steckt Katrin an: „Erzählen Sie. Was erforschen Sie denn da?“ Sie merkt, dass er aufblüht und nichts lieber tut, als von seiner Arbeit in der Wüste zu reden.

„Ich verrate Ihnen etwas Aufregendes. Das haben wir noch nicht in unseren Fachzeitschriften veröffentlicht. In der Namib-Wüste gibt es ein Phänomen, das einzigartig ist in der Welt: Ein Rad in der Natur. Das ist ein Tier, das seinen Körper so umformen kann, dass es seinen Feinden immer entkommt. Es ist eine Spinne. Wir haben ihr den Namen Golden Wheel Spider gegeben – Goldene Radspinne. Dieses Tier stellt bei Gefahr seine Beine wie zu einem Rad aus. Es kann sich dann so schnell drehen und fortbewegen, dass sein Hauptfeind, die Hornisse, keine Chance hat, es einzuholen. Die Spinne lässt sich die Sanddüne einfach herunterrollen. In ihrer Staubwolke ist sie für all ihre Feinde unsichtbar.“

„Das ist ja toll. Das würde ich auch gern können.“ Katrin ist hin und weg.

„Leben Sie so gefährlich?“

„Im Augenblick schon.“

„Sind Sie überfallen worden?“

„Nein, das ist mir bisher nicht passiert.“

„Und was wollen Sie hier in Windhoek?“

„Ich war heute beim DED.“

„Dann sind Sie in Wahrheit gar keine Touristin. Raus mit der Sprache! Wollen Sie Entwicklungshelferin werden?“

„Nie und nimmer. Das ist das Letzte, was ich machen würde. Lieber gehe ich putzen.“

„Was ist denn so schlimm am Entwicklungsdienst?“ Manfred Koller sieht, dass es der Frau neben ihm nicht gut geht. „Sind Sie wegen der toten Deutschen hier?“

Katrin nickt: „Sie war meine Schwester.“ Und dann erzählt sie dem Mann in der Bar die ganze Geschichte ihrer Reise nach Namibia. Die Art, wie er ihr zuhört und einfühlsam nachfragt, macht es ihr leicht, ehrlich zu sein und über alles zu sprechen, was sie in Okakarara erlebt hat. Zum ersten Mal kann sie ihre Ängste, Zweifel und Schuldgefühle mitteilen – und das auch noch einem Mann, den sie nicht kennt. Zum Schluss ereifert sie sich über den DED-Direktor.

„Meinen Sie etwa Dirk Mertens?“, fragt Manfred Koller überrascht.

„Wieso? Kennen Sie den?“

„Ja, sehr gut sogar. Mertens ist integer, zupackend und ein guter Chef. Der setzt sich für seine Leute ein. Den können Sie nicht meinen.“

„Ich weiß doch, mit wem ich heute Vormittag gesprochen habe. Es war Dirk Mertens.“

„Wir in der Forschungsstation haben mit ihm jedenfalls nur gute Erfahrungen gemacht. Er unterstützt unsere Arbeit, hat uns einen Entwicklungshelfer besorgt. Diese neue Stelle haben wir dringend gebraucht. Dirk Mertens kommt uns häufig besuchen. Wir sind inzwischen auch befreundet.“

Katrin findet, dass Manfred Koller den DED–Direktor zu sehr in Schutz nimmt. Und schon bereut sie, dass sie ihm soviel aus ihrem Leben erzählt hat.

„Kannten Sie eigentlich meine Schwester?“

„Ja, ich habe sie bei einem Empfang in unserer Botschaft kennengelernt und danach noch ein paar Mal in Windhoek getroffen. Sie war wagemutig und engagiert für die Sache der Herero. Darüber hat sie sofort mit mir gesprochen.“

„Welchen Eindruck hatten Sie von ihr?“

„Naja, mein Freund Dirk fand Ihre Schwester eher ein bisschen nervig.“ Der Biologe beugt sich zu Katrin hinüber und flüstert ihr ins Ohr: „Ich will’s mal so sagen: Dirk war nicht gut auf Anna zu sprechen, ich glaube, er fühlte sich von ihr zurückgewiesen.“

„Aber er hat ihr doch nicht den Hof gemacht? Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Sie sieht ihn ungläubig an.

Manfred Koller lacht auf. „Um Gottes Willen, nein. Sie war überhaupt nicht sein Typ. Er fühlte sich von ihr nicht ernst genommen. Sie fand ihn wohl reaktionär und er sah in ihr eine zickige Linke. Aber ich schwöre, mein Freund Dirk ist überhaupt nicht reaktionär.“

„Ich will wissen, wie Sie meine Schwester fanden.“

„Darüber habe ich überhaupt noch nicht nachgedacht.“ Er grübelt vor sich hin und nimmt einen Schluck aus seinem Bierkrug.

Katrin hakt nach: „Das glaube ich Ihnen nicht. Welchen Eindruck hatten Sie denn von ihr?“

„Ich glaube, ich wäre ihr zu deutsch gewesen. Ich wusste, dass sie eine Liaison mit einem Afrikaner hatte.“ Frech lächelnd setzt er nach einer kurzen Pause hinzu: „War wohl eine sehr romantische Geschichte.“

Katrin will sich zurückziehen, sie hat keine Lust mehr, mit ihm den Abend zu verbringen. Sie bezahlt ihr Bier und verabschiedet sich. Er unternimmt einen letzten Versuch, sie wieder für sich zu gewinnen. „Übrigens, die Namib-Wüste ist die älteste Wüste der Welt. 50 Millionen Jahre! Kommen Sie mit mir. Ich zeige sie Ihnen. Wir fliegen morgen zurück und haben noch einen Platz in der Maschine frei. Wenn Sie die Wüste sehen, dann kommen Sie auf andere Gedanken. Ich schwöre es Ihnen: Die Wüste wird Sie trösten.“ Manfred Koller legt ihr seine Visitenkarte in die Hand und sagt zum Abschied: „Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie den Mörder Ihrer Schwester finden. Schreiben Sie mir. Wenn Sie das nächste Mal nach Namibia kommen, besuchen Sie mich in der Wüste.“

Oben in ihrem Zimmer sitzt Katrin frisch geduscht im Hotelbademantel auf ihrem Bett. Sie ist niedergeschlagen und gekränkt. Was hat der Mann ihr denn Böses getan? Er hat ihr aufmerksam zuhört und ist zufällig ein Freund des DED-Direktors. Was nimmt sie ihm übel? Natürlich musste er seinen Freund, Dirk Mertens verteidigen und dass er von Anna nicht gerade geschwärmt hat, ist naheliegend. Er war für sie wohl nicht interessant genug. Katrin bereut inzwischen, dass sie die Bar so abrupt verlassen hat. Warum ist sie so mimosenhaft und misstrauisch? Sie will noch einmal runter an die Bar und sich bei dem Mann, den sie so attraktiv findet, entschuldigen. Da klingelt ihr Handy. Am Apparat ist leider nicht Manfred Koller. es meldet sich DED-Direktor Mertens. „Entschuldigen Sie die Störung. Aber es ist wichtig. Ihr Bruder in Stuttgart war so freundlich, mir Ihre Mobilnummer zu geben. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie spätestens übermorgen mit Ihrer Schwester abreisen müssen. Die Leichenhalle in Windhoek ist überfüllt. Ich habe heute die Nachricht erhalten. Tut mir sehr leid. Sind Sie noch in der Stadt?“

„Warum wollen Sie das wissen? Ich bin müde. Rufen Sie mich bitte morgen in Okakarara an. Gute Nacht.“ Katrin schaltet ihr Handy aus.

Sie greift zum Telefonhörer auf ihrem Nachttisch und fragt den Barkeeper, ob Herr Koller noch da sei. „Ja, er sitzt hier.“ Katrin zieht sich ein T-Shirt und einen Rock an. Sie steht vor dem Spiegel und betrachtet sich sehr genau. Sie will ihm gefallen, aber nicht aufdringlich wirken. Den Lippenstift, den sie schon in der Hand hat, legt sie zur Seite – zu auffällig. Sie sprüht sich einen Hauch ihres Eau de Toilette mit Zitronenduft auf die Handgelenke, das Dekolleté und den Hals. Sie fühlt sich wie vor ihrem ersten Rendezvous, als sie gerade 18 war. Jetzt ist sie genau so aufgeregt wie damals. Damals hatte sie sich fünfmal umgezogen, immer wieder die Haare neu aufgerollt und lockig geföhnt. Katrin redet sich in Gedanken gut zu: Ich habe nichts zu verlieren. Niemand weiß, was ich tue, diesen Mann muss ich nicht wiedersehen, wenn alles schiefläuft.

Katrin geht runter an die Bar. Als Manfred ihre Schritte hört, dreht er sich um und lächelt sie an. „Was für eine Überraschung. Das habe ich mir gewünscht.“

Katrin tritt nahe an ihn heran und sagt entschlossen: „Ich auch.“

Manfred Koller freut sich und schaut auf seine Armbanduhr. „Ich wollte gerade ins Bett gehen. Gehen wir zu dir oder zu mir? Du hast die Wahl.“

Katrin überlegt nicht lange: „Lieber zu dir.“

Sie ist gern mit Manfred Koller ins Bett gegangen. Sie wundert sich über sich selbst. So was hat sie noch nie gemacht. Aber schön war es trotzdem. Keine Minute hat sie an ihren Freund Gert gedacht. Der Fremde ist ihr mehr als sympathisch, sein Kompliment am Morgen, sie sei eine tolle und attraktive Frau, hat ihr gut getan. Er wollte sie wiedersehen, sprach sogar davon, sie in Deutschland zu besuchen. Hat er auch Feuer gefangen oder redet er nach einer Liebesnacht immer so daher? „Ich weiß genau, dass wir uns bald wiedersehen“, sagte er ihr zum Abschied, als sie in ihr Auto stieg.

Agnes steht zum verabredeten Zeitpunkt an der Tankstelle Ecke Independence Avenue und Otjomuise Road. Sie läuft auf das Auto zu. Ihre zwei prall gefüllten großen Taschen wirft sie mit Schwung auf die Rückbank. Sie rafft mit beiden Händen ihre Röcke zusammen und lässt sich schwerfällig auf den Beifahrersitz fallen. Katrin tastet unter den Röcken nach dem Schalthebel. „Wie viele Unterröcke hast du an?“

„Heute sind es nur fünf, manchmal sind es sieben!“

Katrin kichert und fährt los. Sie erzählt kurz, dass sie gestern Abend in der Pension mit einem Biologen aus der Namib-Wüste ein Bier getrunken hat und der sehr nett gewesen sei. Mehr sagt sie nicht. Sie schämt sich ein bisschen, weil sie sich in einer solch dramatischen Situation in einen Fremden verknallt hat. Sie berichtet Agnes aber ausführlich von dem nächtlichen Anruf des DED-Direktors. Agnes schüttelt so energisch den Kopf, dass ihre Haube verrutscht. „Dieser Lügner! Niemals. Unsere neue große Leichenhalle kann nicht voll sein. Komm, wir fahren hin und schauen selber nach. Hier geradeaus und an der nächsten Ampel links. Dann sind wir gleich da.“

Nur zehn Autominuten von der Innenstadt entfernt, liegt die Leichenhalle mitten auf einer großen unbebauten Fläche. Ein grauer, lang gestreckter Betonklotz. Katrin parkt am Straßenrand, stellt den Motor aus und macht keine Anstalten, das Auto zu verlassen. Agnes legt ihr eine Hand auf den Arm und flüstert: „Wir brauchten dringend diese neue Halle. Wir wussten nicht mehr, wohin mit den vielen Toten.“ Agnes zwängt sich mit ihren Röcken aus dem Kleinwagen. Sie geht um das Auto herum und öffnet die Fahrertür. Sie reicht Katrin die Hand. „Komm, ich weiß. Es ist schwer für dich. Ich bin bei dir.“ Arm in Arm gehen die Frauen zur Pforte. Agnes redet auf einen älteren uniformierten Mann ein, der in einem Büdchen sitzt und ein kleines Fenster geöffnet hat. Katrin steht stumm daneben. Immer wieder lachen die beiden laut auf. Agnes raunt der Freundin ins Ohr: „Er ist ein Herero aus Okondjatu. Er hat mir versichert, die Leichenhalle sei überhaupt nicht voll. Du kannst dir Zeit lassen. Du musst nicht in den nächsten Tagen abreisen. Ich habe es doch geahnt. Dein DED-Mann sagt nicht die Wahrheit. Er will dich loswerden. Dieser Halunke.“

„Ach, Agnes, wenn ich dich nicht hätte.“ Katrin will ganz schnell zum Auto zurück. Ihre Schwester in einer Metallschublade – eisgekühlt, eine unerträgliche Vorstellung. Sie kann das Bild nicht abschütteln: Annas nackter, schmaler Körper mit einer klaffenden Wunde auf der Stirn, die Haut wächsern fahl und die Lippen violett verfärbt. Am linken großen Zeh ein Zettel mit der Nummer 535 drauf.

Auf der Rückfahrt nach Okakarara gelingt es Agnes, ihre Freundin auf andere Gedanken zu bringen. Sie brennt darauf, eine Neuigkeit loszuwerden. „Stell dir vor, gestern Abend kam Mary zum Essen zu uns. Sie ist die Tochter meiner Schwester und arbeitet in Katutura als Sozialarbeiterin. Mary kennt sich aus. Sie hat gemeinsam mit fünf anderen Frauen eine Initiative gegründet. Die wollen Druck auf die Politiker ausüben und erreichen, dass die Banken endlich auch armen Frauen kleine Kredite geben. Wenn das klappt, dann müssen wir nicht mehr zu den privaten Geld-Verleihern gehen, zu Leuten wie Onkel Jonas. Dann geht es uns Frauen etwas besser.“

„Warum kann eure Regierung diese Kredit-Haie nicht einfach verbieten?“

„Die Regierung? Ach, die kannst du vergessen. Die Politiker haben selber genug Geld. Sie interessieren sich nicht mehr für unsere Sorgen. Sie sind weit weg von uns. Wer oben angekommen ist, hat keine Geldsorgen mehr.“

„Das ist bei uns genauso. Wenn die Politiker von den Bürgern keinen Dampf kriegen, dann bewegt sich nichts.“

„So ist es. Deshalb wollen Mary und ihre Initiative jetzt aktiv werden. Die gehen zu den Zeitungen und zu den Politikern, damit das Thema in Namibia endlich öffentlich diskutiert wird. Und dann muss Druck auf die Banken ausgeübt werden, damit sie uns Kleinkredite zu niedrigen Zinsen geben. Das wird ein harter, langer Kampf.“

„Bei uns in Deutschland gibt es viele Initiativen, die sich für gute Sachen einsetzen und oft auch was erreichen. Ich habe bei so einem Protest aber noch nie mitgemacht.“

Agnes schaut Katrin ungläubig von der Seite an. „Wirklich? Bedauerst du das nicht?“

Katrin schaut weiter geradeaus auf die Straße und nickt. „Eigentlich schon.“

„Mary hat mich gefragt, ob ich in Okakarara nicht auch so eine Initiative aufziehen will.“

„Und was hast du geantwortet?“

„Ja, ich hätte schon Lust dazu. Ich kenne viele Frauen, die mitmachen würden. Aber wie wird Onkel Jonas darauf reagieren? Der würde sich bestimmt an uns rächen. Das dürfen wir nicht unterschätzen. Der ist geldgierig und wird die Macht, die er über uns hat, nicht so einfach abgeben. Und er hat seine Bodyguards.“

„Anna hätte sofort bei eurer Gruppe mitgemacht, und wenn ich in Okakarara leben würde, dann wäre ich auch dabei.“

Fünf Kilometer hinter der Abzweigung von der großen Hauptstraße in den Norden fängt das Auto an zu schlingern. Katrin fährt an den Straßenrand und hält an. „Oh Gott, auch das noch: eine Panne!“ Die Frauen entdecken schnell den Grund: Der rechte Hinterreifen hat einen Platten. Katrin hat noch nie einen Reifen gewechselt. „Verdammt, ich kann das nicht und du sowieso nicht. Und hier gibt es keinen ADAC. Scheiß Afrika!“ Katrin hat auf Deutsch geflucht und Agnes hat nur das Wort Afrika verstanden.

„Was hast du gesagt?“, fragt sie.

„Schade, dass man in Afrika keinen Auto-Reparaturdienst herbeirufen kann. Bei uns kommt der sofort.“ Katrin macht ein böses Gesicht. Die Straße ist leer, Autos kommen nur selten vorbei. Die Mittagssonne brennt auf die beiden Frauen herunter. Agnes setzt sich auf eine Baumwurzel und packt ihr Lunchpaket aus. Katrin trippelt übel gelaunt hin und her und ärgert sich über die Freundin, die jetzt seelenruhig ein Ei pellt. „Du machst hier Picknick. Ich glaube es nicht! Wir müssen was unternehmen.“

Agnes lässt sich von Katrins Ausbruch nicht aus der Ruhe bringen. „Wir kennen das. Unsere alten Karren gehen ständig kaputt. Es wird schon irgendwann jemand kommen. Reg dich ab und setz dich zu mir. Meine Tante hat auch für dich Proviant eingepackt.“ Agnes reicht ihr eine große Plastikflasche mit Wasser. „Hier, komm, trink erst mal. Das beruhigt.“ Katrin greift nach der Flasche und nimmt einen großen Schluck. Die beiden Frauen sitzen fast eine Stunde neben dem Auto. Agnes muss Katrin immer wieder besänftigen. „Glaub mir, irgendwann kommt einer und nimmt uns mit. Du wirst sehen, in Namibia halten die Autos an, wenn man eine Panne hat. Deinen Wagen lassen wir dann einfach stehen.“

Katrin widerspricht: „Wir können die Kiste doch nicht einfach hier am Straßenrand zurücklassen. Die wird doch geklaut. Das ist ein Mietwagen. Was das kostet! Davon hast du keine Ahnung.“

„Wer soll denn das Auto klauen? Die Affen etwa?“

Nur Agnes lacht über ihren eigenen Witz. Endlich nähert sich auf der schnurgeraden Straße von weit her ein Fahrzeug. „Siehst du, ich hatte recht. Da kommt einer. Hilf mir aufstehen.“ Nur mit Mühe gelingt es Katrin, die schwere Agnes mit ihren umfangreichen langen Röcken hochzuziehen, ohne selbst das Gleichgewicht zu verlieren. „Du bist aber schwer“, stöhnt sie.

Ein grüner Geländewagen hält. Ein Mann mit rotblondem Vollbart und Sommersprossen fragt, ob sie Hilfe brauchen. Er begrüßt Katrin auf Deutsch und Agnes auf Herero. Sein Handschlag ist zupackend, seine Stimme liebenswürdig. „Meine Damen. Ich bin Friedrich Kleiber. Meine Farm liegt nur acht Kilometer von hier entfernt. Jetzt gucken wir doch mal, wo das Problem liegt.“ Er zieht aus dem platten Reifen einen dicken Nagel und öffnet den Kofferraum. „Sie haben keinen Ersatzreifen in Ihrem Mietauto? Typisch afrikanische Schlamperei. Da kann ich hier gar nichts machen. Der Reifen muss auf der Farm repariert werden.“ Friedrich Kleiber holt ein Abschleppseil und befestigt es an der Stoßstange von Katrins Auto.

Jetzt wird Agnes nervös. „Ich muss in zwei Stunden zurück sein. Leider kann ich nicht mit. Ich nehme das nächste Sammeltaxi von Otjiwarongo nach Okakarara.“ Sie bleibt am Straßenrand zurück.

Ob sie sich scheut, eine weiße Farm zu betreten, fragt sich Katrin. An einem Schild mit der Aufschrift „Gästefarm Heimat“ biegt der Farmer von der Straße ab. Katrin fällt ein, dass sie sich noch nicht vorgestellt hat. Sie nennt ihren Namen, doch Friedrich Kleiber unterbricht sie. „Ich weiß längst, wer Sie sind. Ihre Schwester war die Entwicklungshelferin im Kulturzentrum. Schrecklich, einfach schrecklich. Anna Sattler war mehrmals bei uns auf der Farm und ich habe meinen Gästen regelmäßig das Zentrum gezeigt. Meine Frau und ich können uns den Raubmord nicht erklären. Die Leute hier sind zwar sehr arm, aber Ihre Schwester war keine Touristin, ich meine kein leichtes Opfer für einen Raubüberfall. Sie stand voll und ganz auf der Seite der Herero. Deshalb ist der Mord so rätselhaft.“

Und wieder einmal muss Katrin richtig stellen: „Es war kein Raubmord.“

„Das ist mir aber neu. Sicher, unsere Polizei ist noch nicht auf der Höhe der Zeit. Sie werden schon bemerkt haben, dass hier die Uhren anders gehen. Sie müssen mir alles erzählen. Sie haben doch hoffentlich Zeit? Haben Sie schon etwas gegessen?“

„Danke. Sie sind wirklich freundlich zu mir.“

„Wir Namibier sind besonders hilfsbereit. In einem so großen Land mit so wenigen Menschen ist das lebenswichtig.“

Die Sandpiste macht eine kleine Kurve. Rechts steht ein Wasserturm. Als das Auto durch das weit geöffnete Tor fährt, sieht Katrin zum ersten Mal ein typisch deutsches Farmhaus. Ockerfarbene Wände, ein Dach mit alten Ziegeln. Das Anwesen ist von herrlichen alten Bäumen und blühenden Büschen umgeben. Eine Treppe führt zu einer überdachten Terrasse, hinter der das türkisfarbene Wasser eines Schwimmbeckens glitzert. Palmen umsäumen den Pool. Eine Seite des ebenerdigen Hauses ist von einem riesengroßen, pinkfarbenen Bougainvillea-Busch zugewachsen. „Was für ein Luxus, hier in Afrika!“, staunt Katrin.

Ihre Bemerkung missfällt dem Farmer: „Da stecken 100 Jahre harter Arbeit drin. Mein Großvater ist 1908 mit leeren Händen hier angekommen. Er war ein Handwerker aus Oldenburg mit Frau und sieben hungrigen Kindern. Jetzt kommen Sie erst mal rein. Ich stelle Ihnen meine Frau vor.“ Auf der Terrasse deckt eine Schwarze mit weißer Schürze den Mittagstisch. „Unsere Perle Hilda. Sie ist schon seit 20 Jahren bei uns. Eine treue Seele.“ Friedrich Kleiber geht auf seine Hausangestellte zu. „Wir sind heute zu dritt. Komm her und begrüße unseren Gast.“ Hilda reicht Katrin die Hand und macht einen Knicks. „Und hier kommt meine Frau Monika“, ruft der Hausherr mit ausladender Gebärde. Die pummelige Monika ist blond und lächelt. Sie stellt einen großen Glaskrug mit frisch gepresstem Orangensaft auf den Tisch. „Willkommen auf unserer Farm.“

Bei Tisch wollen die Kleibers alles über die Bluttat wissen. Interessiert fragen sie immer wieder nach, und Katrins anfängliche Scheu verfliegt. Frau Kleiber sagt: „Anna war immer willkommen bei uns, aber leider war sie selten hier. Wahrscheinlich hat sie am Anfang gedacht, wir lehnten ihr Projekt ab. Aber das änderte sich zum Glück. Später hat sie sich sogar bei uns Rat geholt, wenn sie mit den Herero Probleme hatte. Wir sind schon in dritter Generation in Namibia. Wir kennen alle wichtigen Leute, wir sprechen mit ihnen in ihrer Sprache. Wir kennen ihre Mentalität sehr genau. Auch die traditionellen Führer kommen oft zu uns.“

Katrin hat den Eindruck, die Kleibers fühlen sich von ihr angegriffen und glauben, sie müssten sich vor ihr rechtfertigen. „Gibt es denn keine Spannungen zwischen den Herero und den deutschen Farmern?“, fragt sie.

Auf diese Frage hat Friedrich Kleiber gewartet. „Wir kommen gut mit den Herero aus. Schließlich finden 40 von ihnen Arbeit auf unserer Farm und können so ihre Familien ernähren. Ich weiß, worauf Sie anspielen, aber ich kann Sie beruhigen. Mein Großvater hat dieses Land nicht gestohlen, er hat es gekauft, und er hat es kultiviert. Und wir Deutschen sind nach über 100 Jahren nicht mehr die Herren im Land. Wir sind Bürger Namibias, wir haben die Unabhängigkeit akzeptiert. Wir sind weiße Namibier. Dieses Land ist auch unsere Heimat.“

Katrin wirft ein: „Von Anna weiß ich, dass die meisten Schwarzen kein Land haben, dass die Regierung ihnen aber welches versprochen hat.“

„Wir weißen Farmer haben nichts gegen eine Landreform, wenn sie vernünftig durchgeführt wird. Wir sind bereit abzugeben, aber wir lassen uns nicht alles wegnehmen. Unsere große Sorge ist, dass es unter den Schwarzen Leute gibt, die nur darauf warten, uns aus dem Land zu jagen. Unser Schreckensbeispiel ist Simbabwe. Dort wurden fast alle weißen Großfarmer vertrieben. Und jetzt liegt das Land am Boden, weil die Farmen verrotten.“

„Haben Sie denn keine Angst, dass Ihnen Ihre schöne Farm weggenommen wird?“

„Noch nicht. Die Landreform in Namibia sieht – bisher jedenfalls – keine Enteignung vor. Aber einige wenige weiße Farmer sind schon zum Verkauf ihres Eigentums gezwungen worden. Dafür sind sie entschädigt worden. Die Regierung will auf diesen Farmen teilweise schwarze Kleinbauern ansiedeln, die aber gar nicht wissen, wie man eine große Rinderfarm führt. Das wäre für Namibia sehr schädlich.“

„Reden Sie auch mit den Herero über solche Probleme?“

„Aber ja, das ist unser Dauer-Thema. Es gibt ja inzwischen auch die ersten schwarzen Farmer hier.“

Katrin erzählt den Kleibers von der Farm, die einst ihre Großtante aufgebaut hatte. „Die gehört jetzt Schwarzen. Ich hatte den Eindruck, dass die Angst haben, ich könnte Ansprüche auf die Farm meiner Tante anmelden.“

Der Farmer fällt ihr ins Wort: „Unsinn. Die kennen die Gesetze nicht. Seit der Unabhängigkeit ist es nach geltendem Recht nicht mehr so leicht für Ausländer, in Namibia Farmen zu erwerben. Wenn Sie zum Beispiel auf die Idee kämen, sich in Namibia eine Farm zu kaufen, dann müssten Sie sich schon einiges einfallen lassen: Sie müssten einen namibischen Mann heiraten, die namibische Staatsbürgerschaft annehmen und viel, viel Geld haben. Und wenn dann die Farm Ihrer Großtante zum Verkauf stünde, dann könnten Sie sich bewerben. Ganz sicher aber würden schwarze Käufer bevorzugt. Denn es gibt auch hier eine neue Schicht von reichen Schwarzen, die Farmen aufkaufen. Wir haben Minister in der Regierung, die besitzen drei oder vier Farmen.“

„Aber die wenigen Weißen haben doch immer noch viel mehr Land als die vielen Schwarzen. Anna hat das immer als ungerecht empfunden.“

„Ja, das empfinde ich genauso. Gerade unter uns weißen Farmern gibt es eine stattliche Zahl von Landwirten, die mehr als eine große Farm haben. Einige junge Farmer in unserem Verband fordern deshalb: ein Farmer – eine Farm. Keiner, egal ob schwarz oder weiß, sollte mehr als eine Farm in einer bestimmten Größe besitzen. In unserem Verband setzt sich diese Meinung langsam durch. Ich gebe zu: Ich war jahrelang strikt dagegen, aber jetzt glaube ich auch, das ist die beste Lösung. Aber nur, wenn sie für alle gilt, auch für die reichen Schwarzen.“

Katrin findet es immer interessanter, mit dem Farmer zu diskutieren. Sie kann ihn alles fragen und bekommt nüchterne Antworten. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle weißen Farmer so denken wie Sie. Ich habe gehört, dass der Besitzer der Farm „Vaterland“ das Kulturzentrum für überflüssig hält. Stimmt das?“

„Ja, unser Siegbert trauert immer noch den alten Zeiten nach. Es dauert eben, bis sich Menschen ändern. Man muss Geduld haben.“

„Stehen Sie mit dieser Meinung allein da?“

„Nein, natürlich nicht. Aber es gibt die ewig Gestrigen. Denen passt es nicht, dass die Schwarzen jetzt an der Macht sind. Die halten alle Afrikaner für unfähig, korrupt und faul. Im besten Falle sagen sie: Die sind wie die Kinder, die brauchen noch Generationen, um auf unser Niveau zu kommen. Das klingt überheblich, aber da ist etwas dran.“

„Für solche Leute muss das Kulturzentrum ein Graus sein.“

„Ja, die lästern. Mein Nachbar Siegbert hat von Anfang an das Projekt kritisiert. Eine Vergeudung deutscher Steuergelder sei das. Er hat Ihre Schwester bei uns auf einem Neujahrsempfang getroffen. Da kam es zu einem Eklat. Er muss Anna so provoziert haben, dass sie ihm ein Glas Rotwein ins Gesicht gekippt hat.“

Katrin will weiterfragen, aber da kommt ein junger schwarzer Arbeiter im blauen Overall auf die Terrasse. „Chef, ich habe den Reifen geflickt und den Luftdruck der anderen überprüft. Das Auto ist startklar.“ Katrin kramt ihr Portemonnaie aus der Umhängetasche und schaut Friedrich Kleiber fragend an. Der hat verstanden. „Ja, John freut sich bestimmt über ein Trinkgeld.“ Katrin bedankt sich und gibt dem jungen Mann 20 Namibia Dollar. Sie wendet sich wieder an den Gastgeber. „Noch eine Frage. Was halten Sie eigentlich von Herrn Kaure?“

Friedrich Kleiber sagt spontan: „Er ist ein kompetenter, kooperativer und liebenswürdiger Mann. Wir verstehen uns ausgesprochen gut mit ihm.“ Katrin erzählt nichts von dem Verdacht, den sie gegen Kaure hegt. Sie will losfahren. Monika Kleiber steckt ihr lächelnd den Flyer ihrer Jagd-Farm in die Tasche: „Wir würden uns freuen, wenn Sie in besseren Zeiten mal als Touristin nach Namibia zurückkommen.“

„Ich bin keine Jägerin. Ich schieße nicht auf Tiere.“ Friedrich Kleiber schiebt sich vor seine Frau und sagt: „Sie müssen bei uns keine Tiere schießen. Aber einen saftigen Gemsbock-Braten werden Sie bestimmt nicht verschmähen.“

Gerade rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit kommt Katrin in Okakarara an. Die drei Katzen sitzen in der Dämmerung vor der Tür – miauend neben ihren leeren Schälchen. Sie beugt sich zur einäugigen Otjiwa herunter und tätschelt ihr den mageren Rücken. „Ihr Armen, hat Kavera euch vergessen?“ Katrin ruft verärgert in den Nachbargarten hinüber. „Kavera, Kavera, wo bist du?“ Das Mädchen kommt sofort angerannt und gesteht. „Heute habe ich die Katzen vergessen. Wir hatten so viele Schularbeiten auf. Aber gestern, da habe ich ihnen ganz bestimmt etwas gegeben.“ Katrin muss über sich selbst lachen. Seit sie in Annas Haus lebt, entwickelt sie sich zu einer Katzenmutter. Sie macht sich schon Sorgen, wenn die Samtpfoten mal einen Tag kein Futter kriegen.

In der Nacht klingelt das Telefon. Katrin tastet nach dem Hörer auf dem Nachttisch. Ein Blick auf die leuchtend grünen Zeiger des Weckers, es ist kurz vor eins. Das kann nur Martin sein, der Nachtschwärmer. „Hallo Brüderchen, ich habe schon tief und fest geschlafen.“ Es ist ganz still. Dann knackt es in der Leitung. „Hallo Martin. Scheiß Telefon.“ Es kommt ihr so vor, als atme jemand am anderen Ende der Leitung. „Martin, ist alles in Ordnung bei dir? Sag was.“ Immer noch Schweigen, immer noch dieses unheimliche Atmen. Dann hört sie eine Stimme, die dumpf und verstellt klingt: „Verschwinde sofort. Sonst passiert etwas.“