Hauptmann, Gaby Die Italienerin, die das ganze Dorf in ihr Bett einlud

PIPER

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ISBN 978-3-492-97322-9

Mai 2016

© Piper Verlag GmbH, München 2016

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Prolog

Als Gabriella Cosini sich am späten Nachmittag des 28. August in ihr Bett legte, war sie zweiunddreißig Jahre alt. Ihr Haus mit den dicken Mauern war sonnendurchflutet, und von draußen strömte der Duft der wilden Rosen herein, die an der alten Sandsteinvilla emporrankten. Gabriella fühlte sich wie in einem Rettungsboot auf sturmumtoster See. Und ab sofort würde sie dieses Boot aus gestärktem weißen Leinen nicht mehr verlassen.

Erster Tag

Es war still, nur der Wind war zu hören und Emilias schwere Schritte auf dem alten Holzboden. Sie trat ins Zimmer und kniff in ihrer ganz eigenen Art missbilligend die Augen zusammen. Gabriella blickte ihr entgegen und musste lächeln, Emilia wird mich für verrückt halten, dachte sie, wenn sie es nicht schon längst tut.

»Unten steht der Schornsteinfeger.«

Gabriella nickte. »Gut. Er hat sich angemeldet.«

»Was soll ich ihm sagen?«

»Er soll heraufkommen.«

»In Ihr Schlafzimmer …?«

»In mein Schlafzimmer!«

Es war eine Mischung aus Fluch und Stoßgebet, was Emilia ausstieß, während sie sich umdrehte und hinausging, die braunen Augen zur Decke gerichtet. Der Schatten ihres schwarzen, wadenlangen Kleides wanderte langsam mit.

Gabriella blickte ihr hinterher.

Sie kannte Emilia, seit sie überhaupt denken konnte. Mit dem Tag ihrer Geburt war sie in ihr Leben getreten. Gabriellas Vater hatte sie eingestellt, um seiner Frau, der jungen Mutter, das Leben zu erleichtern. Das Leben in dieser großen alten Villa mit ihren vielen Zimmern und verwinkelten Fluren. Beide waren sie nicht mehr da, sinnierte Gabriella, meine Mutter nicht und auch nicht mein Vater. Nur Emilia ging noch wie all die Jahre zuvor aufrecht durch das Haus, kam jeden Morgen zur gleichen Zeit vom Dorf den Hügel hinaufgeschritten und ging abends denselben staubigen Weg zurück. Sie war wie das präzise Uhrwerk, das, von Meisterhand geschaffen, keine Verzögerung, keinen Ausfall kennt.

Gabriella seufzte und ließ sich in das große Kissen zurücksinken. Sie selbst war der Ausfall. Ein Ausfall auf der ganzen Linie. Seit ihrer Rückkehr war sie etwas, das nicht in Emilias Weltbild von großer Beständigkeit passte.

Gabriella sah durch die weit geöffneten Fensterflügel hinaus auf den Weinberg ihres Vaters, der sich fast bis hinunter zu den Dächern des Dorfes erstreckte. Die Nachmittagssonne lag auf den alten Ziegeln und färbte sie tiefrot, und der leichte Wind bauschte die Vorhänge aus cremefarbenem Taft, die Gabriella gleich nach ihrem Einzug in dieses Zimmer mitsamt den spitzengefassten Gardinen zur Seite gezogen hatte. Sie hörte die leisen Schritte, die zögernd die Holztreppe heraufkamen. Unwillkürlich musste sie lächeln. Sie hatte Flavio vor acht Tagen auf der Beerdigung ihres Vaters gesehen. Er hatte, wie alle Dorfbewohner, schweigend dagestanden, als der Sarg in die toskanische Erde gesenkt wurde und der Pfarrer seinen letzten Segen sprach.

Durch den Spalt der offenen Holztür sah Gabriella, wie Flavio eine Zeit lang vor ihrem Zimmer stehen blieb. Er hatte die Stelle seines Vaters übernommen, und sicherlich hatte der ihm ein paar Ermahnungen mit auf den Weg gegeben, bevor er zur Sandsteinvilla des alten Conte, den es ja nun nicht mehr gab, aufgebrochen war.

Schließlich hob Flavio die Hand und klopfte gegen das schwere Holz. Es hörte sich dumpf an, und Gabriella sah, dass er die Hand nicht sinken ließ. Offensichtlich ging er davon aus, dass er ein zweites Mal würde anklopfen müssen.

»Es ist offen«, rief sie. Er schob die Tür auf und kam forscher herein, als sie vermutet hatte. Vor dem großen Bett blieb er stehen und deutete mit einem knappen Kopfnicken eine Verbeugung an.

»Guten Tag, Contessa.«

»Guten Tag, Flavio. Bitte nenne mich Gabriella, ich bin keine Contessa.«

Es war seinem Blick anzusehen, dass er bei dieser Bezeichnung bleiben würde. Die Dorfbewohner hatten sie immer so genannt, was an der Vergangenheit des Hauses lag, nicht an seinen Bewohnern. Wer dort wohnte, war automatisch der Graf. So wie schon die hundert Jahre zuvor.

»Ich habe mir Ihre Heizung angesehen«, begann Flavio und versuchte, seine Augen nicht über das große Bett wandern zu lassen, dessen rechte Seite leer war. Ein weißes Laken, ein aufgestelltes weißes Kopfkissen, keine Decke, nichts. Gabriella klopfte sanft mit ihrer Hand neben sich.

»Setz dich zu mir. Oder leg dich. Wie du willst.«

Er sah an seinem schwarzen Kehranzug herunter.

Gabriella betrachtete ihn. Sie kannte ihn noch als kleinen Jungen, der seinem Vater stets wie ein junger Hund hinterhergelaufen war. Es war damals schon klar gewesen, dass er irgendwann in dessen Fußstapfen treten würde. Doch seit sie nach New York gegangen war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen, das war nun gut sieben Jahre her. Und bei der Beerdigung hatte sie Flavio nur erkannt, weil er neben seinem Vater gestanden hatte, der zwar grauhaarig geworden war, sich aber sonst kaum verändert hatte. Flavio dagegen schon: Aus dem schmächtigen kleinen Burschen war ein stattlicher junger Mann geworden.

»Du kannst deine Uniform ausziehen, ich nehme an, du trägst noch etwas darunter.«

Sie sagte es mit neckischem Unterton, und sein Mundwinkel zuckte kurz.

»Wir haben das nicht geglaubt«, sagte er.

»Was?«

»Das, was Sie bei der Beerdigung gesagt haben.«

Sie sahen einander kurz in die Augen, dann senkte er den Blick.

Gabriella setzte sich unter ihrer leichten Sommerdecke an die hintere Bettlade und umschloss ihre angewinkelten Beine mit den Armen.

»Ich habe gesagt, dass mich mein Job in New York völlig ausgebrannt hat, dass ich im Moment mit der Welt fertig bin und mich für die nächste Zeit nicht mehr aus meinem Bett fortbewegen werde. Wer was von mir will, muss zu mir kommen. In mein Schlafzimmer, in mein Bett. Egal. Und, dass dies keine intime Einladung ist, sondern eine freundliche Aufforderung. Sonst nichts.«

»Aber doch eher ungewöhnlich.« Er stand noch immer unbeweglich da, den rechten Daumen in der breiten Schnalle seines schwarzen Gürtels.

»Mag sein. Ich brauch aber auch keine neue Heizung. Offensichtlich hat es die alte all die Jahre über getan.«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Die Anspannung fiel wie eine Maske von ihm ab. Ein Lächeln zog sich von seinen Lippen über die Wangen nach oben zu den Augen. Und auch seine Schultern entspannten sich. »Mamma mia«, sagte er, dann öffnete er den Gürtel.

»Was haben Sie denn unter Ihrer Bettdecke an?«

»Jedenfalls kein Negligé«, Gabriella lächelte ihn an. Sie schlug die Decke zur Seite. »Einen leichten, sommerlichen Hausanzug.«

»Na, gut«, sagte Flavio. »Aber Sie dürfen nicht lachen!«

»Lachen entspannt die Seele«, sagte sie.

»Aber nicht die männliche!«, antwortete er und begann, seine schwarze Jacke aufzuknöpfen. »Zumindest nicht, wenn eine Frau über einen Mann lacht.«

»Die Absicht habe ich nicht. Mir genügt ein entspanntes Gespräch.«

Schließlich stand Flavio in einem weißen T-Shirt und halblangen, eng anliegenden Unterhosen neben ihr und setzte sich auf die Bettkante.

»Und warum sollte ich jetzt lachen?«

»Normalerweise trage ich die Unterwäsche, wie sie mein Vater auch schon getragen hat. Einen Einteiler wie aus Wildwest-Zeiten. Feinripp und leicht zum Aufknöpfen …«

»Und warum nicht heute?«

»Na ja, ich war ja ein bisschen vorbereitet. Sie haben es schließlich angekündigt, obwohl ich es nicht glauben konnte …«

Gabriella griff zu dem großen Wasserkrug, der neben ihrem Bett auf dem Nachtkästchen stand, und goss zwei Gläser ein. Eines reichte sie ihm.

»Erzähl mir, was in den letzten sieben Jahren passiert ist.«

Er nahm ihr das Glas aus der Hand, und die Berührung seiner Finger empfand sie als warm und schön.

»Im Dorf? Nichts.«

»Das kann ich nicht glauben«, widersprach sie. »Du bist jetzt … wie alt bist du?«

»Fünfundzwanzig.«

»Ich dürfte dich nicht mal mehr duzen. Du bist erwachsen geworden, Flavio. Sicher bist du schon verheiratet und hast Kinder?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber bestimmt eine Freundin?«

Flavio zuckte die Schultern. Gabriella betrachtete ihn, und außer dem leisen Rauschen der sich bauschenden Vorhänge war nichts zu hören.

»Es gab da so ein Mädchen«, begann er, »das hatte langes, dunkelbraunes Haar. Manchmal trug es einen Zopf, aber oft wehte es auch einfach dicht und wellig hinter ihr her, wenn sie durch das Haus rannte oder durch den Garten lief. Sie war sehr hübsch. Grüne Augen, ein voller Mund und ständig in Bewegung. Ich habe pausenlos von ihr geträumt und bin meinem Vater dauernd gefolgt, nur um sie zu sehen.«

Gabriella sagte nichts. Und auch Flavio schwieg.

»Aber dann zog sie fort.« Er sah zum Fenster. »Aber ich sehe sie noch immer vor mir …« Er wandte den Kopf, und sein Blick fing ihren auf. »So, wie sie damals war.«

Gabriella strich sich über die Arme. Sie fröstelte. »Das habe ich nicht gewusst.«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist bedeutungslos.«

»Wieso ist es bedeutungslos?«

»Das große Mädchen wurde eine erfolgreiche Brokerin in New York und der große Junge ein kleiner Schornsteinfeger in einem toskanischen Dorf. Es ist bedeutungslos.«

Gabriella räusperte sich. »Nur weil man in New York arbeitet, ist man noch lange nicht bedeutungsvoll.«

Flavios Lippen deuteten ein Lächeln an. Er senkte den Blick und betrachtete ihre Hand, die offen neben ihrer Bettdecke auf dem Laken lag. Gabriella sah ebenfalls hin. Eine Zeit lang geschah nichts, ab und zu hörte man die Zikaden vor dem Haus. Erstaunlich, dachte Gabriella, wie man die Zeit fließen lassen kann. Ein schwereloses Dahingleiten der Minuten, ganz ohne Bedeutung, ganz ohne Versäumnis, sie haben ihre Macht verloren. Es gab nichts einzuhalten, nichts nachzuholen, nichts aufzuholen. Ein Gefühl wie Samt und Seide, königlich.

»Darf ich?« Er riss sie aus ihren Gedanken. Gabriella besann sich und nickte. Flavio legte sich auf die Seite und griff vorsichtig nach ihrer Hand. Es war seltsam, fand Gabriella, wie er ihre Hand in seine bettete. Es hatte etwas von einem Nest, warm und behütend. Sie betrachtete seine Fingernägel, die männlich breit waren und Trauerränder trugen. Unwillkürlich musste sie an ihren Vater denken.

»Du hast lange Lebenslinien«, sagte er nachdenklich, und Gabriella fand es angenehm, dass er so beiläufig zum Du übergegangen war.

»Die hatte mein Vater auch …«, Gabriella schloss ihre Hand zu einer Faust. »Und vielleicht sogar meine Mutter.«

»Deine Mutter …« Flavio pustete auf ihre Finger wie auf eine Blüte, und Gabriella öffnete ihre Faust wieder. Langsam einen Finger nach dem anderen. »Sicher hast du sie sehr vermisst.«

»Ich vermisse sie noch heute.« Gabriella fragte sich, ob das stimmte. Heute vielleicht mehr als damals, dachte sie. Immerhin hatte sie in New York nach ihr gesucht. Aber welche Gefühle hatte sie als Vierjährige gehabt? Damals, als ihre Mutter eines Nachts verschwunden war? Zurück nach New York, zurück in ihr Leben als Schauspielerin? Ohne ihre Tochter? Wie lange hatte sie getrauert, geweint, nach ihr gerufen? Gabriella wusste es nicht. Sie konnte sich nicht erinnern.

Flavio rückte näher und begann mit seinem rechten Zeigefinger die Linien in ihrer offenen Hand nachzuzeichnen. »Die Hand gleicht der Seele«, sagte er. »Das wusste schon Aristoteles. Und ich glaube auch daran.«

»Und glaubst du nur – oder kennst du dich darin aus?« Gabriella richtete sich etwas auf.

»Deinem Venusberg nach bist du sehr leidenschaftlich und hast Hunger auf die schönen Dinge des Lebens.«

Gabriella ließ sich wieder zurücksinken. »Venusberg«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Venus? Die römische Liebesgöttin? Kein Wunder. Mir ist es aber weder nach Liebe noch nach Göttin. Ich brauche im Übrigen keinen Planeten, nur weil er Venus heißt. Ich brauche vor allem meine Ruhe.«

»Deshalb liegst du ja hier.«

»Deshalb liege ich hier.« Sie entzog ihm ihre Hand. »Hör zu, Flavio. Du hast dich in mich verliebt, als ich noch ein Mädchen war. Alle kleinen Mädchen sind süß. Jetzt bin ich eine erwachsene Frau, bin der Knochenmühle New York entronnen, habe einen Liebhaber zurückgelassen, der hinter meinem Rücken mehrere Venushügel bedient hat, und möchte in naher Zukunft nur eines spüren: mich selbst.«

»Der Venusberg gehört einfach zu den Handbergen unterhalb der Finger. Es gibt den Venusberg, den Jupiterberg und den Saturnberg. Nur so viel dazu.«

»In Ordnung.« Gabriella hielt wieder ihre Knie umschlungen. »Entschuldige. Du merkst, ich bin noch nicht wirklich entspannt.«

Flavio drehte sich auf den Rücken und sah zur Decke. »Unsere Erde wird es richten.«

»Was?«

»Riechst du die Erde nicht?«

»Riechen? Die Erde?« Sie konzentrierte sich. »Nein.«

»Dann solltest du mit mir hinausgehen. Überall spürst und siehst du das Leben. Auf dem erdigen Weg, im Getreidefeld, in der Baumkrone. Du musst dich nur dafür öffnen. Alle Dinge haben ihren eigenen Duft.«

»Wie der Ruß?«

»Wie der Ruß. Wie alles.«

Gabriella hielt inne, sie wollte ihn nicht verletzen. Sie war streitbar geworden, zynisch, unzufrieden. Sie hatte sich dem atemlosen New Yorker Tempo angepasst, es konnte ihr nie schnell genug gehen. Das alles wollte sie ablegen, hinter sich lassen.

Sie wandte sich ihm zu. »Erzähl von dir«, sagte sie. »Wie geht es dir? Was machen deine Eltern?«

Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. »Mein Vater hofft, dass ich einen Auftrag mit nach Hause bringe, und meine Mutter war besorgt.«

»Besorgt?«

»Sie kennt meine Schwärmerei. Sie war besorgt, ich könnte dir wieder verfallen.«

Gabriella lachte auf. »Das ist ein Witz!«

»Nein, das ist kein Witz.«

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. »Sieh mich an. Ungeschminkt und viel älter als du. Soll ich dich jetzt in mein Bett zerren?«

»Da bin ich schon!« Er lächelte.

Gabriella musste lachen. »Du hast recht!« Und sie lachten beide, bis Gabriella sich zu ihm hinüberrollte. »Komm, du kleiner Bub«, sagte sie und drückte seinen Kopf gegen ihre Brust. »Lass deine männlichen Gefühle aus dem Spiel, und fühl dich nur, wie du dich damals gern gefühlt hättest.«

Flavio regte sich nicht.

»Es fühlt sich gut an«, sagte er nach einer Weile mit veränderter Stimme. »Du stillst gerade eine ganz alte Sehnsucht! Danke!« Er drehte sich von ihr weg und stand auf. »Aber nun muss ich gehen.«

»Ohne Auftrag?«

»Ich komme wieder, wenn ich darf.«

»Du hast mir noch nichts über deine Mutter erzählt. Ich meine ihr Leben. Nicht ihre Befürchtungen. Und Geschichten aus dem Dorf.«

»Und mein Leben?«

»Und über dein Leben.«

»Dazu brauche ich ein Glas Rotwein.«

»Dann rufe ich Emilia.«

»Abends, ich trinke nur abends. Und am liebsten, wenn die Sterne am Himmel sind.«

»Und die Venus.«

»Auch die Venus …«

Gabriella lächelte. Es war schön zu lächeln, fand sie. Es war kein amerikanisches Maskenlächeln, das sie jahrelang gelächelt hatte, es war ein stilles, heiteres Lächeln. Es kam von innen, ganz leise, ohne Aufregung. Es war einfach da.

»Ist etwas?« Flavio hatte sie beobachtet.

»Ich lächle.«

»Das sehe ich. Darum frage ich ja.«

»Ich staune gerade über mein Lächeln. Es ist einfach da. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht.«

Flavio blieb regungslos stehen, dann bückte er sich nach seinen Sachen, die auf dem Boden vor dem Bett lagen, und begann sich anzuziehen. »Du staunst über dein eigenes Lächeln?«

»Ja. Es war einfach da.«

»Ich staune über dich.« Er schlüpfte in seine Hose, zog die Jacke an und schloss die Schnalle seines Gürtels. »Und du willst wirklich liegen bleiben?«

Gabriella blickte ihm ins Gesicht. So wie er dort stand, hätte er auch für ein Modemagazin Modell stehen können. In leicht trotziger Haltung, die Daumen im Gürtel eingehakt, Denkerfalten auf der glatten Stirn und die dunklen Augen herausfordernd auf sie gerichtet.

»Das habe ich vor«, sagte Gabriella.

»Wie viele werden da neben dir liegen?«

»So viele, wie kommen.«

Flavio ging zur Tür. »Der Pfarrer auch?«, fragte er im Hinausgehen.

»Der Pfarrer auch«, erwiderte Gabriella und lauschte seinen Schritten, die langsam auf der Treppe verklangen.

Gabriella rutschte im Bett hinunter und verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf. Ich bin frei, dachte sie. Was für ein Gefühl. Sie atmete einige Male tief durch und schloss die Augen. Aber dann nahmen andere Bilder in ihrem Kopf Gestalt an. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er mit ihr in ihrem verwilderten Park saß und von seiner Arbeit erzählte. Wie alt war sie damals gewesen? Zehn? Sie wusste noch, wie aufmerksam sie zugehört hatte, um auch bloß alles zu verstehen. Aber sie konnte trotzdem nichts mit seinen Worten anfangen. Sie wusste nur, dass er oft weg war und sie unter seiner Abwesenheit gelitten hatte. Ob sie eine neue Mutter wolle?, hatte er sie gefragt. Aber sie hatte sich das nicht vorstellen können. Sie konnte sich ja kaum an ihre Mutter erinnern, sie kannte das Gefühl nicht, eine Mutter zu haben. Sie hatte Emilia gehabt. Emilia sorgte für sie, aber Emilia war ihre Haushälterin und keine Mutter. Ob sie eine neue Mutter wollte? Damals hatte sie diese Frage zutiefst erschreckt. Wie sollte das gehen, eine neue Mutter? Ihre eigene Mutter war zurück nach Amerika gegangen, das wussten alle im Dorf. Nach einem Krach hatte sie das Haus verlassen, schön, wie sie war, jung, exzentrisch, anders, eine Filmschauspielerin, die es in die italienische Provinz verschlagen hatte. Was sollte sie halten? Der Mann? Der ohnehin zu alt für sie war? Die Villa auf dem Hügel? Die Idylle der einsamen Landschaft? »Ich will keine neue Mama«, hatte sie damals gesagt. Selbst darüber erschrocken, wie entschieden sie die Worte herausgestoßen hatte. Sie hatte auf der verblichenen Holzbank gesessen und ihr Vater ihr gegenüber auf einem Holzstuhl. Sie wusste noch heute, dass sie der Gedanke, der Stuhl könne unter seinem Gewicht zusammenbrechen, sehr viel mehr beschäftigt hatte als ihr ganzes Gespräch über seinen Beruf und über die neue Mutter. »Ich dachte, dir fehlt vielleicht eine Mama«, hatte er wieder begonnen, aber dann kam Emilia mit einem Krug Zitronenwasser und stellte ihn zusammen mit zwei Gläsern neben Gabriella auf die Bank. »Es gibt bald Abendessen«, sagte Emilia. »Spaghetti Vongole, Ihre Lieblingsmuscheln. Heute ganz frisch vom Markt.«

»Danke!« Ihr Vater hatte Emilia ein Lächeln geschenkt. »Venusmuscheln. Die liebe ich.«

Und Emilia war wieder gegangen, ihr langer schwarzer Rock streifte über die Gräser und die wild wuchernden Kräuter, während sie zur Villa zurückging.

»Emilia ist die gute Seele des Hauses.« Ihr Vater hatte ihr nachgeblickt, und dann begann er wieder von seinem Beruf zu erzählen, dass er Regisseur sei, das sei einer, der ein Theater oder einen Film dirigiere. Wie ein Lehrer, der vor der Klasse stehe. Aber eben kein ganzes Jahr, sondern immer nur so lang, bis eine Aufführung beendet oder ein Film abgedreht sei. Der Schatten kroch vom Haus zu ihnen herüber, und Gabriella wäre gern aufgestanden und zu der Schaukel gegangen, die im Baum hing. Aber sie traute sich nicht, ihren Vater zu unterbrechen. Sie saß, nickte immer wieder und betrachtete ihn. Noch heute sah sie sein Gesicht genau vor sich: die lockigen schwarzen Haare, in denen Silberfäden schimmerten. Er strich seine viel zu langen Haare ständig hinter seine kleinen Ohren, die die Menge der Haare aber nicht halten konnten. So wartete Gabriella darauf, bis sie wieder nach vorn fielen und das Spiel von Neuem begann. Die buschigen Augenbrauen über den braunen Augen, die von erstaunlich langen Wimpern gesäumt waren, die Nase, von der sie als Kind nie wusste, ob sie wirklich echt war. Sie ähnelte eher dem Schnabel eines Raben, und deshalb betrachtete Gabriella ihren Vater als Kind am liebsten von der Seite. Vielleicht hatte sie ein Geheimnis entdeckt? Vielleicht war er eine Kreuzung aus Mensch und Tier? War ein Fabelwesen aus irgendeinem Märchen?

Er hatte ihr ein Glas Zitronenwasser eingeschenkt und wollte wissen, ob es nicht doch schön wäre, wenn wieder eine Frau in sein Castello, so nannte er die Villa, einziehen würde? Emilia ist doch da, hatte sie geantwortet. »Ist sie keine Frau?« – »Doch, schon«, hatte ihr Vater geseufzt und sich aufgerichtet. »Ich wollte dir eigentlich auch nur erklären, warum ich so oft unterwegs bin.« Gabriella hatte gespürt, dass dies nicht die volle Wahrheit war. Aber was tat es schon. Sie ging zur Schule, sie hatte ihre Freunde im Dorf, sie hatte Emilia und ihr Kaninchen, das in ihrem Zimmer schlief. Sie hatte nicht das Gefühl, das ihr etwas fehlte, schon gar nicht eine neue Mama.

Es klopfte an der Tür, und Gabriella schlug die Augen auf. »Ja, bitte?« Emilia kam herein. »Wollen wir gemeinsam unten zu Abend essen?«, fragte sie.

Gabriella schüttelte den Kopf. »Sei nicht böse, Emilia, aber es bleibt dabei. Mein Entschluss steht fest.« Emilia nickte, und Gabriella fand, dass sie sich über all die Jahre kaum verändert hatte. Entweder war sie ihr schon damals so alt vorgekommen, oder das ruhige Leben war eine Art Jungbrunnen.

»Magst du dich zu mir setzen? Mir ein bisschen aus deinem Leben erzählen? Wir haben uns so lange nicht gesehen.«

»Sieben Jahre«, erwiderte Emilia.

Immer wenn Gabriella nach Hause gekommen war, hatte Emilia ihren Jahresurlaub genommen. So war Claudio versorgt, hatte sie gesagt, Gabriellas Vater. Wenn Gabriella nicht gekommen wäre, hätte Emilia auch den Sommer über gearbeitet. Das erschien ihr völlig normal. Man konnte einen Mann schließlich nicht sich selbst überlassen.

»Was ist in der Zwischenzeit passiert, Emilia?« Wie alt mochte Emilia jetzt sein? Ende fünfzig?

»Nichts, Gabriella. Es ist nichts passiert.«

»Keine Liebe, keine großen Gefühle, einfach gar nichts?«

»Einfach gar nichts.« Sie ging auf die andere Seite des Bettes und pflückte das leere Wasserglas vom Nachttisch. »Er hat sich also tatsächlich hingelegt«, stellte sie fest, und wirkte befremdet.

»Er hat sich tatsächlich hingelegt«, bestätigte Gabriella. »Flavio ist erwachsen geworden, aber das weißt du ja.«

»Alle werden älter.« Gabriella hörte den stillen Nebensatz heraus: Aber deshalb muss er sich nicht in dein Bett legen …

»Dann bringe ich das Abendessen hoch. Und gehe nach Hause.« Sie zögerte. »Oder möchten Sie, dass ich bleibe?«

Gabriella schüttelte den Kopf. »Nein, wieso?«

Emilia zuckte die Schulter. »Es ist einsam hier. Und das Haus ist groß. Sie sind das nicht mehr gewöhnt …«

»Hatte mein Vater Angst allein? Bist du die letzten Jahre nachts geblieben?«

»Nein. Nie!« Sie spie es förmlich aus. Klar, dachte Gabriella, das wäre auch unschicklich gewesen.

»Entschuldige«, sagte sie. »Es war nur ein Gedanke. Nach seinem ersten Herzinfarkt vor drei Jahren hätte es ja sein können …«

»Es war nur ein leichter Herzinfarkt, und er fühlte sich wohl hier. Er war noch nicht alt, und das Haus war sein Freund.«

»Ja.« Gabriella nickte. »Das war es wohl. Er hat dieses Haus immer geliebt! … Und ich wohl auch.«

Emilia ging zum Fenster, als wollte sie die Fensterläden schließen oder zumindest die Gardinen vorziehen. Sie blieb eine Weile stehen, dann drehte sie sich zu Gabriella um.

»Es ist seltsam, dass er nicht mehr hier ist. Ich dachte immer, er ist unsterblich.«

»Ja …« Was wohl sein Tod für Emilia bedeutete? Ihr ganzes Leben lang hatte sie dieses Haus und seine Bewohner umsorgt und behütet. Was, wenn Gabriella das Haus verkaufen würde?

»Bist du denn ordentlich abgesichert, Emilia? Hast du eine Rente?«

Emilia warf ihr einen eindringlichen Blick zu. »Ihr Vater hat für mich gesorgt.«

»Hast du ihn … bis zum Schluss gesiezt?«

»Natürlich.«

»Und er dich geduzt?«

»Natürlich!«

»Könnten wir beide das ändern? Du siezt mich ja erst, seitdem ich wieder hier bin.«

»Das gehört sich so.«

»Aber nein. Ich duze dich, du siezt mich, das ist doch falsch!«

»Nein, Sie sind jetzt die Herrschaft, kein kleines Mädchen mehr. Und ich bin die Angestellte. So ist es nun einmal!«

»Nein, so ist es nicht! Dann sieze ich dich auch!«

»Ich bereite jetzt Ihr Abendessen vor. Ich dachte an Tagliatelle mit Steinpilzen. Und den Salat wie früher? Mit Essig und Öl?«

»Das ist wunderbar.«

Emilia nickte, dann rauschte sie hinaus.

Die Zeit ist stehen geblieben, dachte Gabriella, ließ sich zurück an ihre Bettlade sinken und sah durch die weit geöffneten Fensterflügel hinaus. Das Licht hatte sich verändert. Die Landschaft, die eben noch in diesig blaues Licht getaucht war, leuchtete jetzt in einem satten Goldton. Und es schien, als dringe diese satte Atmosphäre durch das Fenster herein und tauchte auch Gabriella und ihr Zimmer in Gold. Schon schimmerten die gekälkten Wände golden, und Gabriella schloss die Augen.

Sie war bereit für diese Reise, die ihr so viele Bilder im Kopf bescherte, Bilder, die sie längst vergessen zu haben glaubte.

Dies hier war früher das Gästezimmer gewesen. Ihr Vater hatte immer mal wieder Gäste gehabt, die wichtig schienen. Jedenfalls hatten sie tagelang über Papieren und nachts über gut gefüllten Rotweingläsern gesessen. Ihr ehemaliges Kinderzimmer lag zwischen dem Elternschlafzimmer und dem Zimmer, in dem Emilia schlief, wenn ihr Vater nicht da war. Sie hatte es immer als riesig empfunden. Trotz des bemalten Schaukelpferds, des großen Schranks, des Holztischs am Fenster und der mit Spielzeug gefüllten Regale war es ihr stets groß erschienen. So groß, dass sie nachts manchmal Angst vor den Schatten hatte, die überall lauerten, sobald der Mond hereinschien. In ihrer Fantasie wurden sie zu Dämonen, und sie zog die Decke über ihr Gesicht, um unsichtbar zu sein. Später kamen die Nächte, in denen die Fantasie einen anderen Weg nahm. Wie oft hatte sie sich mit ihrer Freundin Sofia Geschichten zusammengeträumt, kindlich schöne Geschichten, bis Sofia, die ein Jahr älter war, mit dreizehn plötzlich von einem Jungen schwärmte, den Gabriella absolut uninteressant fand. Jetzt, nach all den Jahren, sah sich Gabriella wieder neben Sofia auf dem weißen Laken liegen und sich verschwörerisch kichernd zusammenkuscheln, sobald Sofia seinen Namen erwähnte. Sofia träumte von dem ersten Kuss und der großen Liebe, da wünschte sich Gabriella noch sehnlichst ein Pony. Das erschien ihr weitaus befriedigender als ein Halbwüchsiger mit schlechten Manieren.

Es klopfte, und Emilia riss sie aus ihren Gedanken. Sie balancierte ein Tablett mit einem Teller voller Pasta und einem Glas Wein.

»Wohin darf ich es stellen?«, fragte sie und blieb mit Blick auf den kleinen, runden Tisch im Zimmer stehen.

Gabriella klopfte neben sich auf die leere Bettseite. »Gern hierher.«

»Ins Bett?« Emilias Missbilligung drang aus allen Poren.

»Genau. Das geht schon.« Gabriella schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Ich werde es genießen.«

Emilia antwortete nicht, sondern stellte das Tablett ab und schob sich die Ärmel ihrer schwarzen Bluse hoch.

»Ich hätte noch eine Bitte.« Abwartend verharrte Emilia.

»Könntest du mir bitte die ganze Flasche bringen, ein zweites Weinglas und einen weiteren Krug Wasser?«

Emilia runzelte die Stirn, und fast hätte Gabriella gelacht.

»Ein zweites Weinglas?«, fragte sie nach.

»Ja, warum nicht. Man weiß ja nie.« Gabriella machte eine ausladende Handbewegung. »Eins könnte kaputtgehen, dann hätte ich keines mehr.«

Emilias Lippen wurden schmaler, und offensichtlich versagte sie sich eine Bemerkung, während sie am Bett entlang zur Tür ging. »Ich weiß nicht, was Ihr Vater dazu gesagt hätte«, konnte sie sich dann doch nicht verkneifen zu sagen.

»Ja«, sagte Gabriella, »ich habe es in den letzten Jahren versäumt, lange Abende mit ihm zu verbringen. Ich dachte immer, diese Gespräche hätten noch Zeit. Er war doch erst 78! Ich hätte gern mehr Zeit mit ihm verbracht.«

Emilia war stehen geblieben. »Ich habe ihn besser gekannt als er sich selbst«, sagte sie leise. Und damit war sie zur Tür hinaus.

Gabriella dachte über diese Worte nach. Zum ersten Mal kam es ihr in den Sinn, ihr Vater könnte ein Verhältnis mit Emilia gehabt haben. Auf der anderen Seite erschien es ihr absurd. Sie kannte die Frauen, die manchmal hier im Gästezimmer geschlafen hatten. Dieser Frauentyp war weit von dem entfernt, was Emilia verkörperte. Das waren elegante, weltgewandte Frauen, deren Lachen abends glockenhell bis in ihr Zimmer drang und Gabriella am Einschlafen hinderte, weil sie stets in Sorge war, eine könne bleiben und ihren Vater für sich beanspruchen. Aber sie blieben nie, und ihr Vater sprach auch nie wieder von einer neuen Mama.

»Auch einen zweiten Teller Pasta?«, wollte Emilia wissen, als sie mit einem zweiten Weinglas und einem gefüllten Wasserkrug in der Tür auftauchte. Gabriella hatte das Tablett auf ihre Knie gehoben und schüttelte nur den Kopf. Emilias selbst gemachte Bandnudeln waren die besten. »Hängst du sie immer noch über die Wäscheleine?«, wollte sie mit vollem Mund wissen. »Sie schmecken fantastisch. Und deine Steinpilze sind einfach köstlich! Diesen Geschmack bekommt sonst niemand hin.«

Emilias strenges Gesicht begann sich aufzuhellen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Züge, und sie hob den Kopf. »Ihr Vater sagte das auch immer. Ganz genau so!«

»Damit hatte er absolut recht. Und der Wein ist auch sehr gut!«

»Mit Wein kannte Ihr Vater sich aus. Sein Weinberg war ihm heilig.«

»Ja, das ist wahr. Ständig hat er mit Kellermeistern gefachsimpelt und neue Weinlagen probiert. Er hat eine Wissenschaft daraus gemacht.«

Emilia nickte, dann drehte sie sich abrupt um. »Ich gehe jetzt«, sagte sie, und ihre Stimme klang dumpf. Gabriella sah ihr nach, wie sie die Tür hinter sich schloss, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Sie trauert, dachte Gabriella. Natürlich, sie hat ihr halbes Leben hier verbracht. Es musste sich furchtbar für sie anfühlen. Plötzlich war diese vertraute Person weg, der Mann, für den sie so lange gesorgt hatte, für den sie gekocht, geputzt und dessen Wäsche sie gewaschen hatte. Emilia war ihm näher gewesen, als Gabriella es je war. Sie hatte einen Vater verloren, der ihr vertraut und gleichzeitig fremd geblieben war, aber Emilia hatte ihren ganzen Lebensinhalt verloren. Es musste ihr schlecht gehen, dachte Gabriella, furchtbar schlecht.

Sie nahm einen großen Schluck Wein und schob sich eine Gabel Tagliatelle in den Mund. Und sie versuchte sich ganz auf das zu konzentrieren, was sie schmeckte. Auf den feinen Buttergeschmack und die Würze der angebratenen Steinpilze und auf ihren Gaumen, der nach jedem Bissen mehr verlangte. Zusammen mit einem Schluck Rotwein war die Pasta paradiesisch. Und ihre Gedanken eilten nicht wie früher zum Business oder dem nächsten Meeting voraus und ließen sie vergessen, womit sie gerade ihren Magen füllte.

»Lieber Papa«, sagte sie laut, »jetzt bin ich da und werde Nächte erleben, wie du sie oft erlebt hast. Ich werde die Geräusche hören, die du auch gehört hast. Ich werde hören, wie das Holz arbeitet, die Äste gegen die Mauern kratzen und die Marder den Dachboden verlassen, um auf Jagd zu gehen. All diese vertrauten Geräusche werden mir zeigen, dass ich wieder zu Hause bin, in meinem Elternhaus. Es ist so traurig, dass ich nicht schon ein Jahr früher gekommen bin, dann hätten wir auf der Terrasse sitzen können, und du hättest mir all die Fragen beantwortet, die sich in mir angesammelt haben. Nun bin ich zu spät gekommen. Oder du hast dich zu früh davongemacht.« Sie hob das Glas gegen das Fenster. »Hab’s gut dort oben. Vielleicht kannst du ja zurückprosten. Wenn ich heute Nacht ein feines Gläserklingen höre, dann weiß ich, dass du es bist.« Sie lächelte und betrachtete das samtige Abendrot, in das der Goldton nun allmählich überging. »Ich werde jedenfalls gut auf alles aufpassen, das verspreche ich dir.«

Die Nacht hatte sich über die Landschaft gesenkt, und Gabriella war kurz vor dem Einschlafen, als sie ein Geräusch hörte. Augenblicklich war sie wieder hellwach. Waren es die nächtlichen Geräusche des Hauses, oder kam da jemand? Sicher hatte Emilia die Haustür nicht abgeschlossen. Das war nie üblich gewesen. Gabriella setzte sich auf. Sollte sie unten nach dem Rechten sehen? Aber damit würde sie ihren Vorsatz brechen, und das wollte sie nicht. Sie würde abwarten, hier im Dunkeln.

Das Nächste, was sie hörte, war das Knarzen der Holztreppe. Da kam jemand zu ihr herauf. Flavio? Weil er ein Glas Rotwein mit ihr trinken wollte? So, wie er es angekündigt hatte?

Ein leises Gläserklirren vor der Tür, ein ganz feiner hoher Ton, wie er nur durch dünnwandiges Glas entstehen konnte. Da stieß jemand an. Ihr Vater? Das hatte sie sich zwar gewünscht, aber das gab es ja nicht wirklich. Quatsch, sagte sie sich, er konnte es nicht sein. Er war tot. Sie verkniff sich ein fragendes »Hallo« und beschloss, einfach abzuwarten. Es war dunkel im Zimmer, und auch der Himmel war dunkel. Sie sah kurz hinaus, um ihren Blick von der Tür zu nehmen, konnte aber nur vereinzelte Sterne entdecken. Und dann wusste sie es. Ein leichtes Klopfen, das sie fast überhört hätte: lang kurz kurz lang.

»Sofia!«, rief sie

Die Tür flog auf, und ein schmaler Schatten huschte herein, lachend und temperamentvoll wie früher.

»Ciao, Kleine! Wo bist du denn? Ich sehe gar nichts!«

»Geradeaus im Bett!«

»Nicht zu fassen! Du meinst es wirklich ernst! Aber wo sollst du um diese Uhrzeit auch sonst sein?«

Sie stellte etwas neben dem Bett auf den Boden und ließ sich mit vollem Gewicht neben Gabriella auf das Bett plumpsen. »Schön, dass du wieder da bist!«

»Schön, dass du mich besuchen kommst!«

Sofia lachte. Ihr Lachen war unverändert durchdringend und endete in einem fröhlichen Glucksen. »Vielleicht eine etwas ungewöhnliche Zeit?« Sie drückte Gabriella einen Kuss auf, der irgendwo zwischen Wange und Stirn traf. »Wollen wir nicht doch Licht machen?«, fragte sie. »Ich weiß nicht, ob ich die Flasche Prosecco im Dunkeln öffnen kann …«

»Früher konntest du das!«

»Ja«, sie lachte wieder. »Stimmt … aber in den letzten Jahren hatte ich keinen Grund mehr, im Stockdunkeln eine Flasche zu öffnen.«

»Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?«

Sofia bückte sich und hob etwas vom Boden auf. »Achtung«, sagte sie. »Zwei Gläser.« Gabriella tastete danach. »Gar nicht so einfach. Es ist wirklich stockfinster!«

»Bist du überhaupt Gabriella?«

Gabriella kicherte. »Da hast du recht. Es ist nicht mal sicher, dass wir überhaupt wir sind. Ich gebe nach … Sekunde.« Sie streckte sich zu der Lampe, die neben ihrem Bett auf dem Nachttisch stand, und schaltete sie ein. Warmes Licht erfüllte den Raum, und die beiden Frauen sahen einander an.

»Du siehst gut aus«, erklärte Sofia.

Gabriella erschrak, versuchte das aber sofort hinter einem Lächeln zu verbergen. Sofia war stets die Hübschere von ihnen beiden gewesen, jetzt sah sie nur die zwei tiefen Furchen an der Nasenwurzel und die steilen Linien, die von ihren Mundwinkeln nach unten führten. Sofia war zu dünn. Viel zu dünn.

»Du auch!«, sagte Gabriella schnell.

»Früher hast du nicht gelogen …«

»Was ist passiert?«

Sie hatte Sofia zuletzt vor drei Jahren gesehen. Damals war sie zu ihrer Freundin ins Dorf hinuntergegangen. Aber Sofia hatte wenig Zeit gehabt, sie arbeitete in der Bäckerei, in die sie eingeheiratet hatte, und es gab Probleme mit ihrer ältesten Tochter, die die Schule schwänzte, außerdem hatte ihr jüngster Sohn die Masern. Es reichte gerade für einen Cappuccino.

Aber zumindest hatte Sofia damals gut ausgesehen, ihr honigblondes Haar hatte sie im Nacken mit einer Klammer gebändigt, ihre vollen Wangen hatten geglüht, und sie gestikulierte beim Reden, als müsste sie einen ganzen Wespenschwarm abwehren. »Wie sehe ich aus?«, wollte Sofia wissen. »Ehrlich.«

Schrecklich gealtert und verhärmt, lag Gabriella auf der Zunge. »Zu dünn!«, sagte sie. »Viel zu dünn. Und traurig! Dein fröhliches Lachen täuscht.«

»Mein fröhliches Lachen täuscht nicht. Ich freue mich aufrichtig, dich zu sehen. Endlich ist jemand auf meiner Seite.«

»Auf deiner Seite? Was soll das heißen?«

Sofia drückte ihr die beiden langstieligen Sektgläser in die Hände und bückte sich noch einmal. »Bevor er warm wird«, sagte sie, griff in den Korb und zog eine Flasche in einem Kühlmantel hervor. »Lass uns anstoßen. Auf uns, auf unsere Kindheit, unsere Jugend und auf Claudio!«

Gabriella nickte und sah zu, wie Sofia die Flasche entkorkte. »Er wird dir schmecken«, sagte sie. »Spritzig und leicht.« Sie lachte wieder, aber es klang nicht echt. »Wie wir.«

Gabriella hielt ihr die beiden Gläser hin und wartete, bis Sofia eingeschenkt hatte. »Komm«, sagte sie, »leg dich neben mich.«

»Dahin, wo heute schon Flavio lag?«

»Ist das bereits Dorfgespräch?«

»Nein, wir haben uns nur zufällig getroffen, und er hat mir von deiner Ankündigung erzählt und dass du sie tatsächlich wahrmachst.«

»Ja, stimmt«, fiel Gabriella auf. »Du warst ja bei der Beerdigung nicht dabei.«

»Ja, ich hatte mit Aurora einen Arzttermin. Den bekommt man nicht so schnell, und er ließ sich nicht verschieben.«

Sofia ging mit ihrem Glas auf die andere Seite des Bettes und legte sich neben Gabriella. »Wenn ich jetzt bei dir bin, dann ist alles andere weit fort.«

Sie stießen miteinander an und tranken jede einen Schluck.

»Lecker!« Gabriella nickte. »Wirklich gut, das Tröpfchen.«

Sofia grinste. »Im Korb sind auch ein paar Crossini, falls du Appetit haben solltest. Und Pistazien.«

Gabriella schüttelte den Kopf. »Emilia hat gekocht. Ich bin mehr als satt.«

»Ja, Emilia …« Sofia ließ den Namen in der Luft hängen. »Was will sie jetzt nach Claudios Tod machen?«

Gabriella zuckte die Schultern. »Nichts anderes als sonst auch. Das Haus hüten und dafür sorgen, dass alles in Ordnung ist.«

»Hat Claudio das so verfügt?«

»Ich habe keine Ahnung, ob er überhaupt etwas verfügt hat.«

Sofia nahm noch einen Schluck und sah ihre Freundin über den Rand ihres Glases hinweg an. »Claudio dachte noch nicht ans Sterben.«

»Nein«, stimmte Gabriella zu. »Sicher nicht. Er steckte mitten in einem Projekt, habe ich gesehen. Sein Arbeitszimmer ist voll von Skizzen und Drehbüchern, Storyboards und unendlich vielen losen Blättern, auf denen er alles Mögliche notiert hat. Ich habe die Tür sofort wieder zugemacht.«

»Du bist ja auch gerade erst angekommen.«

»Stimmt.«

»Bist du eigentlich richtig umgezogen, zurück nach Italien?«

»In Amerika braucht es nicht viel, um umzuziehen. Ich habe einfach mein möbliertes Appartement verlassen. Mit zwei großen Koffern voller Kleidung, mit ein bisschen persönlichem Kram, Nippes, Bilder, und das war’s.«

»Wolltest du nicht ursprünglich drüben bleiben?«

»Wollte ich.« Auch Gabriella nahm jetzt einen tiefen Schluck.

»Und warum jetzt nicht mehr?«

»Ansichten verändern sich, Lebensbedingungen verändern sich, alles verändert sich. Wir selbst verändern uns.«

»Wie wahr«, seufzte Sofia, dann war es eine Weile still. Auch draußen war es still. Gabriella lauschte, aber sie hörte nichts, kein Tier, kein Rascheln der Vorhänge oder der Blätter im Wind, keinen Laut, nichts.

»Und …« Gabriella legte sich auf die Seite und sah Sofia an. »Was wolltest du mir sagen? Was ist passiert?«

»Aurora hat sich schwängern lassen.«

»Aurora?«

»Meine älteste Tochter.«

Gabriella zog die Augenbrauen zusammen. »Wie alt ist sie denn?«

»Dreizehn.«

»Ach du je!«

»Du kannst dir vorstellen, was im Dorf los wäre, wenn sie das Kind tatsächlich bekommen würde. Und für Lorenzo bin natürlich ich schuld: Ich habe nicht aufgepasst!«

»Ich denke, da hat jemand anderer nicht aufgepasst.« Gabriella schüttelte den Kopf. »Ist der Junge älter als Aurora?«

»Sie sagt nicht, wer der Vater ist.«

Gabriella griff nach ihrer Hand. »Erzähl.«

Sofia lehnte sich an das Kopfteil des Bettes und überlegte, wo sie anfangen sollte, wie sie das, was sich in letzter Zeit bei ihr abgespielt hatte, zusammenfassen konnte. Sie sah es noch vor sich, wie Aurora morgens vor der Schule in die Bäckerei kam und sie ihr die heiße Schokolade und ein Croissant auf einen der kleinen Stehtische stellte. »Du hast noch gut Zeit«, hatte Sofia gesagt und ihrer Tochter eine Haarsträhne aus der Stirn gestrichen. Aurora lächelte ihr zu. »Danke, Mama.« Sie nahm einen Schluck aus der großen Tasse, und gleich darauf stürzte sie zurück in die Wohnung zur Toilette. Verwundert folgte Sofia ihr und hörte, wie sie sich übergab. Aber sie hatte Kundschaft im Laden und konnte nicht warten, bis Aurora wieder herauskam. »Kann ich dir helfen?«, hatte sie noch durch die Tür gefragt, aber es kam keine Antwort.

Die Bäckerei war noch so, wie ihre Schwiegereltern sie damals gebaut und eingerichtet hatten. Eine Zeit lang hatte Sofia das furchtbar altmodisch gefunden und hätte gern alles herausgerissen, aber jetzt war es retro und schon wieder gut, jedenfalls hatten sie mehr Zulauf als die moderne, sterile Bäckerei, die im neuen Supermarkt an der großen Zubringerstraße aufgemacht hatte. Und so war es klar, dass alle Neuigkeiten des Dorfes bei ihr im Laden zusammenliefen. Bei einem Espresso fand jeder die Zeit, dem anderen zuzuhören oder selbst den neuesten Klatsch zu verbreiten. Zwei der größten Tratschtanten standen gerade an einem der Stehtische, als Aurora bleich von der Toilette zurückkam.

»Oh, Kleines«, sagte eine der beiden Frauen sofort, »du siehst aber gar nicht gut aus«, und wandte sich über den Verkaufstresen hinweg an Sofia. »Was hat das Kind denn?«

»Ich bin kein Kind mehr«, sagte Aurora trotzig. »Ich habe gestern zu viel Martini getrunken.«

Es war Sofia klar, dass Aurora das extra sagte. Aurora hatte diese beiden Frauen, die sich ausschließlich über den beruflichen Erfolg ihrer Männer definierten, noch nie leiden können.

»Martini!«, flüsterte die eine lüstern. »Und das in deinem Alter!« Ihr tadelnder Blick traf Sofia.

»Jeder fängt mal an«, sagte Aurora schnippisch und griff nach ihrer Tasche. »Ich geh dann, ciao Mamma, bis heute Abend.«