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Heinz Ryborz

Herausforderung

Angst

Heinz Ryborz

Herausforderung

Angst

Ängste verstehen und überwinden

Für Fragen und Anregungen:

3. Auflage 2013

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Münchner Verlagsgruppe GmbH

ISBN Print 978-3-86882-381-3

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Inhalt

Kapitel 1
Die neue Sicht der Angst

Angst als Grundelement des Lebens

Angst als psychische Unordnung des Bewußtseins

Angst als Enge und Fixierung

Angst als Herausforderung, höhere Komplexitäten des Bewußtseins zu entwickeln

Warum Flow-Erfahrungen des Bewußtseins hilfreich sind

Märchen und Angstbewältigung

Angst und Aggression

Überwinden Sie Ihre Angst nicht zu spät

Kreativität, Lebenssinn, Mut, Vertrauen, Hoffnung, Hartnäckigkeit und Humor sind dissipative Strukturen Ihres Bewußtseins

Warum es notwendig ist, eine Beziehung zum Unfaßbaren und Unendlichen einzugehen

Kapitel 2
Die schädlichen Angstabwehrmechanismen

Warum es notwendig ist, sich mit den Angstabwehrmechanismen auseinanderzusetzen

Identifizierung

Verdrängung

Projektion

Verschiebung und Symptombildung

Reaktionsbildung

Vermeidung

Abschirmung und Betäubung

Rationalisierung

Zwangshandlung

Regression und Fixierung

Rollenspiel

Gefühlspanzerung

Abwehr- und Fluchtmechanismen

Bewältigung der Abwehrmechanismen

Kapitel 3
Die verschiedenen Ängste

Angst vor der Angst

Angst durch enges Denken

Angst vor der Ablehnung, der Mißbilligung und der Kritik

Angst vor der Individualität und der Freiheit

Angst vor der Einsamkeit und dem Alleinsein

Angst vor dem Neuen und der Wandlung

Angst vor dem Tod

Angst vor der Trennung

Angst vor der Bindung und der Fesselung

Angst am Arbeitsplatz

Angst vor dem Gewissen

Angst vor dem Altern

Angst vor der Zukunft und Weltangst

Kapitel 4
Wie Sie Ängste überwinden

Erkennen Sie Ihre eigene Angst

Entspannung harmonisiert Ihr Energiesystem

Graduelle Angstkonfrontation in der Realität

Konfrontation mit der Angst in der Vorstellung

Besiegen Sie Ihre soziale Angst durch Selbstbehauptung

Bauen Sie Hoffnung und Vertrauen auf

Entwickeln Sie Mut, und werden Sie tätig

Lenken und trainieren Sie Ihr Bewußtsein

Strategien, um Ihre Angst zu besiegen

Freude und das Erleben des Schönen wirken der Angst entgegen

Bekämpfen Sie mit Kreativität und Inspiration Ihre Angst

Humor löst Sie aus den Fixierungen der Angst

Kapitel 5
Der Königsweg der Angstauflösung

Gibt es einen Weg, die Angst für alle Zeiten los zu werden?

Die transpersonalen Erfahrungen

Die Meditation erweitert die Grenzen des Ichs

Die Erfahrung der Raumunendlichkeit

Das Gebet

Angstfreiheit durch Gelassenheit

Die Naturerlebnisse

Was gilt es zu tun?

Literaturhinweise

Kapitel 1
Eine neue Sicht der Angst

 

Angst als Grundelement des Lebens

Die Angst ist ein Bestandteil unseres Lebens, in den verschiedensten Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tod. In der Geschichte der Menschheit sind schon zahlreiche Versuche unternommen worden, die Angst zu vermindern oder ganz zu überwinden. Angst stellt ein unerschöpfliches Thema dar.

Dieses Buch beinhaltet eine neue Auffassung über die Angst. Angst ist eine Unordnung im Bewußtsein, die sich als Folge einer vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohung des Menschen einstellt. Der Druck der Angst bewirkt, daß wir uns mit ihr auseinandersetzen und unser Bewußtsein zu höheren Komplexitäten entwickeln. So ist die Angst der treibende Faktor für die Entwicklung des einzelnen Menschen und für die Evolution der gesamten Menschheit. Deshalb gehört sie zu unserer Existenz. Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten sie völlig überwinden.

Das Buch will Ihnen helfen, das Phänomen der Angst besser zu verstehen und Gegenkräfte zu entwickeln, um sie immer wieder neu zu besiegen. Die Angst existiert unabhängig von der Kultur eines Volkes. Die Fortschritte der Wissenschaft und Technik haben bereits sehr viele Angstauslöser und gewisse Ängste beseitigt – so bewirkt eine Sonnen- und Mondfinsternis keine unguten Gefühle mehr, da wir wissen, durch was sie verursacht wird –, dafür sind aber wiederum andere Ängste entstanden: die Angst vor Verkehrsunfällen, vor dem Atomtod, vor Aids und dem Alter, um nur einige Beispiele zu nennen.

Wir leben in einer Zeit, in der sich große Veränderungen mit erheblicher Geschwindigkeit vollziehen. Alles wird sich zukünftig noch schneller ändern. Die Zukunft wird immer mehr chaotische Züge annehmen. Zwar hat es eine Sicherheit im Leben nie gegeben und sie wird auch nicht möglich sein, aber die schnellen Veränderungen steigern die Ungewißheit des Lebens noch mehr. Die Menschen reagieren darauf mit großer Angst.

Das Gefühl der Angst wird schon durch den Namen näher erläutert. Abgeleitet vom lateinischen Wort „angustus“ bedeutet Angst „Beengtheit“.

Das Leben eines jeden Menschen erfährt in der Angst eine Einengung und ist gleichzeitig eine Erregungsform des Lebensgefühls, das auch in den leiblichen Gefühlen des Herzklopfens und der Pulsbeschleunigung erlebt wird. So sehr auch die Angst verbreitet ist, jeder erlebt seine eigene individuelle Angst trotz aller Gemeinsamkeiten des Angsterlebnisses. Die Angst ist genauso eine Abstraktion wie die Liebe oder der Tod.

Nicht nur der Mensch, auch das Tier empfindet Angst bei einer Bedrohung. Angst tritt auch immer dann auf, wenn wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Alles, was wir noch nicht können oder kennen, löst Angst aus. So stellt alles Neue und Unbekannte einen Angstauslöser dar. Es gibt nahezu nichts, vor dem ein Mensch nicht Angst entwickeln kann.

Früher wurde zwischen Angst und Furcht unterschieden. Die Wissenschaftler meinten, man solle besser von Furcht als von Angst sprechen, wenn das Objekt oder die bedrohliche Situation bekannt sei. Die klare Eingrenzung der Angst mag zwar einfach sein, wenn es sich zum Beispiel um die Furcht handelt, einen Vortrag zu halten. Wenn sich aber eine Mutter um ihre Kinder ängstigt, kann sie Angst vor den unterschiedlichsten Ereignissen haben. Da es oft sehr schwer ist, zwischen Furcht und Angst zu trennen, will ich im folgenden immer nur den Begriff Angst verwenden. Wer sich seinen Ängsten nicht stellt und sich mit ihnen nicht auseinandersetzt, wird feststellen, daß seine allgemeine Bereitschaft zur Angst zunimmt. Wenn Sie die Unordnung in Ihrem Bewußtsein nicht wieder in Ordnung bringen können, werden im Laufe der Zeit immer kleinere tatsächliche oder eingebildete Bedrohungen Unordnung in Ihrem Bewußtsein auslösen. Es findet mit der Zeit ein Übergang von der spezifischen Angst zu einer diffusen beziehungsweise freischwebenden Angst statt. Es entwickelt sich eine Neigung, leicht in den Angstzustand zu verfallen.

Die Bereitschaft zur Angst ist bei labilen und sensiblen Menschen größer als bei ausgeglichenen und robusten. Und wer nicht ausreichende Erholung hat, verfügt nicht über genug Nervenkraft, die Bereitschaft zur Angst wächst.

Ausdauersport wirkt sich nicht nur auf das Wohlbefinden aus, Joggen beeinflußt ebenso die seelische Ausgeglichenheit positiv, die Bereitschaft zur Angst nimmt ab.

Da Krankheit, Alter und Tod unvermeidbare Ereignisse für einen jeden Menschen sind, werden durch diese Bedrohungen des Ichs tiefste Ängste ausgelöst, die ich als Urangst oder Existenzangst bezeichnen will. Denn der Tod bedroht nicht nur das Ich, er löscht es sogar aus.

Die ägyptischen Pharaonen, die römischen Kaiser, die Borgias und andere haben das Problem der menschlichen Existenz zu lösen versucht, indem sie den verzweifelten Versuch unternahmen, die Grenzen der menschlichen Existenz zu überschreiten. Sie handelten so, als ob es keine Beschränkungen für ihre Machtgier und Begierden gab. Sie töteten viele Menschen, errichteten überall ihre Paläste und schliefen mit zahllosen Frauen. Sie wollten das menschliche Problem auf die Weise lösen, daß sie vorgaben, ein Gott und somit nicht menschlich zu sein. Aber je größer das Streben eines Menschen ist, eine Art Gottheit darzustellen, um so mehr isoliert er sich von den Mitmenschen. Diese Isolation löst eine zunehmende Angst aus, denn jeder wird als Feind betrachtet. Um mit der Angst fertigzuwerden, muß er seine Macht und seine Unmenschlichkeit vergrößern.

In der heutigen Zeit empfinden nicht wenige Menschen bereits Passivität als Ohnmacht und Bedrohung. Viele Menschen versuchen, das Gefühl des Ausgeliefertseins und der eigenen Vergänglichkeit so zu besiegen, daß sie es auf konkrete Objekte projizieren.

Der Autorennfahrer Niki Lauda gab in einem Zeitungsinterview zu: „Ich habe Angst vor der Nacht. Ich habe Angst davor, daß mich einer anspringt, wenn es finster ist. Dann bekomme ich richtig Herzklopfen. Aber ich habe keine Angst beim Rennfahren, weil ich das beherrsche.“

Und Reinhold Messner gestand in einem Zeitungsinterview, daß er auf die Berge steige und zum Südpol gehe, um nicht verrückt zu werden.

Ich will den Mut der beiden Männer keineswegs herabsetzen, doch niemand vermag der Angst vor der Vergänglichkeit und dem Tod dadurch zu entgehen, daß er stellvertretend konkrete Gefahren wie beim extremen Bergsteigen und Autofahren besiegt.

Angst als psychische Unordnung des Bewußtseins

Ihr Bewußtsein steht mit Ihrem komplexen Nervensystem in Wechselwirkung. Das bedeutet aber nicht, daß es nur von biologischen Programmen gesteuert wird. Ihr Bewußtsein hat auch die Fähigkeit entwickelt, sich selbst und das Nervensystem zu steuern und so einen selbstbestimmten Kurs einzuschlagen. Die Aufgabe des Bewußtseins ist es, Informationen aus der Außenwelt und der Innenwelt und dem Körper aufzunehmen und zwischen den Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken eine Gewichtung zu vollziehen. Sie müssen nicht instinktiv reagieren, Sie können entscheiden, wie Sie auf bestimmte Informationen reagieren wollen.

Im Laufe der Evolution wurde das Nervensystem sehr komplex und erlangte die Fähigkeit, seinen eigenen Zustand zu beeinflussen. Sie vermögen sich wohl oder unwohl zu fühlen, ganz unabhängig, was in der Außenwelt passiert. Um diese Möglichkeit zu nutzen, ist es notwendig, das Bewußtsein lenken zu lernen. Mit diesen Darlegungen haben wir zwar keine Anatomie und Strukturanalyse des Bewußtseins vorgenommen, wir besitzen aber ein einfaches Modell, mit dem es sich gut arbeiten läßt. All das, was unser Bewußtsein ausmacht, was wir also sehen, fühlen und denken, sind Informationen, die wir beeinflussen können.

Wir können das Bewußtsein mit einem Spiegel vergleichen, der unter Inanspruchnahme der Sinne das reflektiert, was außerhalb und innerhalb des Körpers vor sich geht. Das Bewußtsein spiegelt nicht vollständig, sondern selektiv und schafft seine eigene Realität.

Wie wirkt sich nun Angst auf das Bewußtsein aus? Und wodurch wird Angst hervorgerufen? Angst ist eine Unordnung im Bewußtsein. Diese Unordnung entsteht dadurch, daß die Informationsteilchen, die Bits, im Bewußtsein in einer Konfliktsituation zueinander stehen. Angst ist also das Ergebnis ungelöster Konflikte zwischen den Strukturelementen der Persönlichkeit. Es gibt verschiedene Arten von Konflikten:

– Sie möchten ein bestimmtes Ziel erreichen, innere Widerstände stehen aber Ihrem Vorhaben entgegen. Eine mögliche Ursache für einen solchen Anziehungs-Abneigungskonflikt wäre die Sexualangst.

– Einen weiteren Konflikt stellt der doppelte Anziehungs-Abneigungskonflikt dar. Hierbei besitzen zwei mögliche Alternativen sowohl erwünschte wie unerwünschte Aspekte. Solche Situationen treten beispielsweise bei der Auswahl der beruflichen Stellung oder beim Hauskauf auf.

– Sie haben das Verlangen, Ihre unbewußten Triebe auszuleben, aber Sie haben Angst vor den Normen der Gesellschaft.

– Sie möchten Ihre Freiheit wahren, sehen sich aber von der Notwendigkeit eingeengt. Sie haben Angst vor der Notwendigkeit.

– Sie wollen Ihre Individualität entfalten, fühlen sich aber durch den Partner darin behindert. Sie haben Angst vor der Selbsthingabe.

– Sie gehen im Partner auf, da Sie keine eigene Selbständigkeit aufbauen können. Sie haben Angst vor der Isolierung.

– Sie suchen die Beständigkeit, doch die Umwelt wandelt sich. Sie haben Angst vor der Wandlung, die Sie als Vergänglichkeit und Unsicherheit erleben.

– Sie sehnen sich nach Größe und Vollkommenheit und haben dennoch Angst vor dem Bewußtsein der eigenen Unvollkommenheit.

– Sie befinden sich in einem Konflikt zwischen dem Wunsch, von anderen Menschen oder dem Universum angenommen zu werden, und der Erfahrung des Verworfenseins im Leben.

– Sie sehen sich mit Ihrer Sehnsucht nach Unsterblichkeit und der Realität Ihrer Vergänglichkeit konfrontiert.

Beenden wir diese Beispiele. Jeder Konflikt wird als Bedrohung erlebt. Wenn diese Konflikte unbewußt, unterbewußt und somit uneingestanden sind oder wenn sie bewußt und ungelöst sind, dann machen sie sich in dauernden Angstzuständen bemerkbar. Solche ungelösten Konflikte erhöhen außerdem die allgemeine Angstbereitschaft.

Ganz allgemein besteht eine Unordnung im Bewußtsein immer dann, wenn eine Information das Selbst bedroht. Wenn jemand zum Beispiel hört, daß in der Abteilung, in der er beschäftigt ist, Entlassungen vorgenommen werden, dann wird er Angst empfinden.

Da die Angst eines jeden Menschen dann am größten ist, wenn das eigene Selbst extrem bedroht ist, wird die Angst vor dem Tod die größte Angst des Menschen bleiben.

Eine wichtige Frage drängt sich auf: Wenn Angst eine Unordnung des Bewußtseins ist, haben wir dann je eine Chance, mit der Angst richtig umzugehen?

Die moderne Physik hat den Begriff der Entropie für das Maß der Unordnung in der Thermodynamik entwickelt. Da die Entropie bei Prozessen im geschlossenen System immer mehr zunimmt, ist der Wärmeverlust der Welt unvermeidlich. Müssen wir Menschen also auf Dauer an einer wachsenden Unordnung unseres Bewußtseins leiden, die wir als psychische Entropie bezeichnen? Oder können wir der Angst entkommen, indem wir die Möglichkeit haben, Ordnung – psychische Negentropie in unserem Bewußtsein aufzubauen?

Bevor wir uns mit diesen Fragen beschäftigen, wollen wir uns mit einem weiteren Phänomen der Angst, nämlich der Fixierung des Bewußtseins beschäftigen.

Angst als Enge und Fixierung

Angst vermag das Bewußtsein derartig einzuengen, daß außer der bedrohlichen Situation der Rest der Realität nicht mehr wahrgenommen wird.

Folgende Begebenheit, die sich während des Korea-Krieges ereignete, macht diesen Sachverhalt deutlich: Eine Gruppe von Soldaten flog in einem Flugzeug. Als die Fallschirme für den Absprung verteilt wurden, ergab sich, daß nicht genügend Fallschirme vorhanden waren. Da aber noch ein Fallschirm für einen Linkshänder im Flieger war, gab der Gruppenführer diesen einem Rechtshänder und erläuterte ihm: „Der Fallschirm verhält sich genauso wie alle anderen Schirme, es gibt nur einen einzigen Unterschied: Die Reißleine, um den Schirm zu öffnen, befindet sich auf der linken Seite.“ Danach sprang ein Soldat nach dem anderen aus dem Flugzeug. Alles verlief gut, nur ein Fallschirm öffnete sich nicht und der Soldat kam ums Leben. Der verunglückte Soldat war derjenige, der den Fallschirm für Linkshänder erhalten hatte. Seine rechte Hand war blutig, und die Uniform war auf der Seite aufgerissen, an der Stelle, an der sich sonst die Reißleine für Rechtshänder befand. Das Bewußtsein des Soldaten war durch die Angst sehr eingeengt. Er vermochte nicht zu entdecken, daß die Reißleine in seiner Reichweite zu finden war.

Wenn eine Situation bedrohlich wird, richten wir alle Energien darauf, die Bedrohung abzuwenden. So wird das Bewußtsein fixiert und ist nicht mehr in der Lage, flexibel zu sein und die Umwelt wahrzunehmen.

Angst als Herausforderung, höhere Komplexitäten des Bewußtseins zu entwickeln

Kommen wir nun auf die Frage zurück, ob Sie die Möglichkeit haben, die Angst, also Chaos im Bewußtsein, in Ordnung zu bringen. Sie werden nicht nur eine Antwort erhalten. Wir werden dazu die neue Sichtweise der Angst vertiefen. Um die neuen Aspekte der Angst noch umfassender zu verstehen, gehen wir zunächst von den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften aus. Die Natur hat Möglichkeiten entwickelt, Abfall in strukturierte Ordnung umzuwandeln. Nehmen wir als Beispiel dafür das Pflanzenreich, es nutzt das bei der Sonnenstrahlung anfallende Licht, um diese Energie in komplizierte Bausteine wie Blätter, Stämme, Rinde zu verwandeln. Die Anzahl der komplexen Systeme ist sehr groß. Es existieren beispielsweise allein Tausende Baumarten im tropischen Regenwald. Eine große Zahl unbekannter Baumarten wird noch vermutet. Die Anzahl der Blumen ist sogar noch größer. So gibt es im Universum auf der einen Seite die bereits erwähnten Prozesse wachsender Unordnung, auf der anderen Seite existiert ein Entwicklungsprozeß, bei dem sich das Leben selbst zu einer wachsenden Ordnung und Komplexität entwickelt. Atome vereinigen sich zu Molekülen, wie Proteine, die wiederum Zellen für die höheren Organismen bilden.

Während ein physikalisches System ein geschlossenes System ist, sind alle lebenden Systeme – natürlich auch das menschliche Gehirn – offene Systeme.

Der in Rußland geborene und in Belgien lebende Nobelpreisträger für Chemie Ilya Prigogine hat für die offenen und lebenden Systeme ein Modell entwickelt, das wir hier sehr vereinfacht darstellen und anhand von Bildern veranschaulichen.

Bild 1: Offenes System

Bild 1 veranschaulicht ein offenes System. Der Unterschied gegenüber geschlossenen Systemen besteht darin, daß offene und lebende Systeme die aufgenommene Energie nicht behalten. Sie tauschen immer Materie und Energie mit der Umwelt aus.

Wird die Energiebelastung erhöht, dann organisiert sich das System selbst neu und gibt mehr Entropie an die Umgebung ab (Bild 2).

Bild 2: Eine kleine Veränderung im System bewirkt, daß größere Energien weitergeleitet werden.

Nun können die Einwirkungen von außen aber gelegentlich so stark sein, daß kleine Veränderungen in der Struktur nicht ausreichend sind, die Struktur stabil zu erhalten. Damit das System die große Energie abgeben kann, muß ein ganz neues Muster geschaffen werden.

Bild 3: Eine große Energiezufuhr bringt das System in eine kritische Phase: Übergangsstadium.

Bild 3 zeigt, wie die große Energiezufuhr das System in eine kritische Phase bringt, die zu zwei Möglichkeiten führt:

  1. Das System verändert sich nicht und zerfällt (Bild 4).

  2. Es wird ein neues Muster, also eine höhere Komplexität geschaffen, das heißt, es wird eine höhere Ordnung der inneren Organisation entwickelt, um einen Kollaps zu überstehen (Bild 5).

Ihr Gehirn mit seinem Nervensystem und dem Bewußtsein ist ein offenes und lebendes System. Sie haben die Möglichkeit, auf Einflüsse und große Bedrohungen von außen dadurch zu reagieren, daß Sie höhere Komplexitäten im Bewußtsein entwickeln. Ihr Bewußtsein verfügt also über die Möglichkeit zur Selbstorganisation zu höheren Komplexitäten. So meistern Sie jede Situation. So wird die Angst zum entscheidenden Faktor Ihrer Weiterentwicklung, da sie Entwicklungsprozesse in Gang setzt. Sie wachsen an der Herausforderung.

Bild 4: Zerfall des Systems

Bild 5: Die Entwicklung einer Struktur höherer Komplexität, eine höhere Ordnung der inneren Organisation.

Durch schwere Bedrohungen kann ein Mensch auch dazu gebracht werden, seine Lebenssituation nicht mehr kontrollieren zu können, das ist vor allem dann der Fall, wenn er all seine Ängste unterdrückt. Dann findet auch kein Energieaustausch mit der Umwelt statt. Das Fließen der Energie (Flow) ist zum Ende gekommen (Bild 4), die Persönlichkeit zerstört sich. Das zeigt sich im täglichen Leben an einigen Verhaltensweisen des Menschen, beispielsweise: Eine Person wird sehr mißtrauisch und aggressiv und zieht sich hinter Barrieren zurück.

Natürlich soll ein solcher Zustand vermieden werden, daher werden wir uns in Kapitel 2 und 3 damit beschäftigen, wie Sie Ängste besiegen und höhere Komplexitäten des Bewußtseins entwickeln können.

Warum Flow-Erfahrungen des Bewußtseins hilfreich sind

Das freie Fließen von Energie ist nur möglich, wenn Sie innerlich offen sind und sich als Teil der Umwelt fühlen. Davon sind viele Menschen der Gesellschaft noch weit entfernt. Der westliche Mensch hat einseitig den Verstand, das Bewußtsein und den Willen betont. Das Gefühl und das Unbewußte mit seinen Bildern und Symbolen wurde verdrängt, und so wurde eine Ganzwerdung verhindert. Was eine Ganzwerdung erfordert, zeigt Bild 6.

Die einseitige Betonung von Verstand und Willen führt bei vielen Menschen zu Handlungsweisen, die von Habgier und Ich-Aufblähung geprägt sind, die nicht mit Ich-Findung verwechselt werden darf. Diese oberflächliche Daseinsform schafft Angst vor sich selbst und den natürlichen Gefühlen. Angstauflösung ist aber nur möglich, wenn Sie sich Ihrer eigenen Tiefe immer mehr bewußt werden und sich selbst mit der Natur und dem Kosmos als Einheit erleben.

Besonders im Traum werden Verdrängungen aufgehoben. Das Unbewußte organisiert sich in einem inneren Prozeß selbst. Das Zentrum für diesen Steuerprozeß wollen wir als Selbst bezeichnen, denn es schafft symbolische Brücken zum Bewußtsein. Daher spielt die Besprechung von Träumen in der Psychoanalyse eine wichtige Rolle. Im Unterbewußtsein sind zum Beispiel viele naturhafte Bilder und Symbole gespeichert, wie Berg, Baum, Wasser, Wind, Wolken, Stern, Höhle, Fels, Vogel, Wald, Wüste, Schnee, mit denen Sie sich als Teil der Natur erfahren.

Bild 6: Vorgang der Ganzwerdung

Durch den Kontakt mit den verdrängten Kräften des Unbewußten werden Bewußtseinserweiterung und Heilung möglich. So gelingt es Ihnen, das zu leben, was in Ihnen angelegt ist.

Die Flow-Erfahrungen finden niemals statt, wenn Sie sich von Angst beherrschen lassen. Damit es zu Flow-Aktivitäten kommt, darf die Herausforderung Sie nicht überfordern.

Dazu ein Beispiel: Nehmen wir an, Sie lernen Skifahren. Nach einiger Zeit kommen Sie auf dem sogenannten Idiotenhügel ganz gut zurecht. Bald stellt er keine Herausforderung mehr für Sie dar, und es wird Ihnen langweilig. Wenn Sie sich gleich als nächstes an einem längeren Steilhang versuchen würden, wäre das wahrscheinlich eine zu große Herausforderung für Sie. So beginnen Sie mit einer Abfahrt, die nicht über zu schwieriges Gelände führt. Da sich die Herausforderung in Grenzen hält, vermögen Sie Ängste zu überwinden. Bald macht Ihnen das Skifahren Freude. Eine Flow-Erfahrung im Bewußtsein stellt sich ein. Bei diesem Flow-Erlebnis empfinden Sie ein Hochgefühl, das Ihre Lebensqualität steigert.

Es kann durchaus sein, daß es längere Zeit braucht, um dieses Flow-Gefühl erleben zu können.

Dazu ein anderes Beispiel: Eine Frau ängstigte sich davor, mit Erwachsenen Unterrichtsveranstaltungen durchzuführen. Sie sagte: „Als ich den Raum betrat und mich auf den Stuhl setzte, spürte ich, wie meine Knie zitterten. Am folgenden Tag war ich schon weniger aufgeregt. Nach dem vierten Mal hatte ich keine Angst mehr, ein Gefühl der Freude erfüllte mich.“

Was ist die Konsequenz aus den Beispielen? Tun Sie das, wovor Sie sich fürchten. Lenken Sie Ihre Energien nicht in eine falsche Richtung, indem Sie eine Vermeidungshaltung aufbauen. Zugegeben, es ist nicht einfach, das zu tun, wovor Sie sich fürchten. Notwendig ist es, sich darauf gut vorzubereiten, denn je positiver Ihre eigene Einstellung ist, desto größer sind Ihre Chancen, Erfolg zu haben.

Kennen Sie den Wallenda-Effekt? Karl Wallenda war einer der bedeutendsten Hochseilartisten. Bei einer Vorstellung stürzte er ab und verunglückte tödlich. Reporter waren sehr daran interessiert, die Ursache seines Absturzes herauszufinden. Als sie sich mit den Angehörigen seiner Familie unterhielten, erfuhren sie bemerkenswerte Tatsachen. Karl Wallenda hatte sich beim Training immer darauf konzentriert, sicher über das Seil zu laufen, um an das Ziel zu gelangen. Am Tage vor dem Unglück hatte Wallenda jedoch wiederholt seine Angst vor dem Fallen zum Ausdruck gebracht und sich darauf konzentriert, ein eventuelles Fallen zu vermeiden.

Zwischen beiden Übungen besteht ein tatsächlicher Unterschied. Wer sich darum sorgt, nicht zu fallen, beschäftigt sich bereits mit dem Fallen. Und deshalb wächst die Wahrscheinlichkeit, diesem unglücklichen Umstand tatsächlich zu begegnen.

Denken Sie an das positive Ziel, das Sie erreichen wollen. Beschäftigen Sie sich nicht ständig damit, was Sie verhindern wollen. So werden sie nicht das Opfer des Wallenda-Effekts.

Märchen und Angstbewältigung

Im Märchen spielt die Angst eine große Rolle, ohne daß sie direkt erwähnt wird. Wenn wir ein Märchen hören und uns von seiner Bilderwelt ergreifen lassen, dann erleben wir mit dem Helden auch seine Angst. Wenn der Held die Gefahren überwunden hat, können wir aufatmen, denn wir haben mit ihm die vorhandene Angst bewältigt.

Die Schwierigkeiten, die die Märchenhelden zu bewältigen haben, sind auch Ihre Schwierigkeiten. Das Problem im Märchen ist auch oft ihr Problem, da im Märchen allgemein menschliche Probleme und mögliche Lösungen entwickelt werden. Indem Sie sich mit den Märchenhelden identifizieren, glauben Sie, daß auch Ihre Probleme wie im Märchen lösbar seien. Die Märchen machen Ihnen Mut, Sie glauben an Ihre Zukunft.

Das Märchen ist keineswegs irgendein Wachtraum, seine Bedeutung reicht viel tiefer. Es bedient sich archetypischer Symbole und Urbilder, deshalb wirken Märchen auf die tiefsten Schichten der Seele. Wenn der Zuhörer seine Ängste in das Märchengeschehen hineinprojizieren kann, dann werden innere Blockaden aufgelöst.

Dazu ein Beispiel: Charlotte Bühler und Josefine Bilz erzählen von einem dreijährigen Mädchen, das zunächst bei der Geschichte vom Rotkäppchen und dem bösen Wolf in erhebliche innere Nöte geriet. Trotzdem wollte das Mädchen die Geschichte etwa ein dutzendmal vorgelesen bekommen. Aus Angst vor dem bösen Wolf schlief sie sogar unruhig. Die Mutter beruhigte die Kleine mit den Worten: „In unserem Wald gibt es keine Wölfe mehr, die gibt es nur in Rußland.“ Einige Wochen später machte die Familie mit dem Kind einen Ausflug in den Wald. Die Mutter sagte zu dem kleinen Mädchen: „Im Wald wirst du Häslein sehen.“ Als die Familie aufbrach, fragte ein Bekannter die Kleine, wohin sie denn gehen wolle. Sie erwiderte: „In den Wald zum Rußland-Wolf.“

Nicht das harmlose Häslein, sondern der gefährliche Wolf war zum Anziehungspunkt für das Kind geworden. Offenbar waren im Kind Kräfte wach geworden, sich dem bedrohlichen, aber auch faszinierenden Wolf zu stellen.

Kinder brauchen die Schreckensgestalten der Märchenwelt, um selbst reifen zu können. Wer keine Geschichten erzählt bekommt, der bleibt mit seinen traumatischen Erlebnissen allein. Er erhält keine Bildangebote, die die in ihm verborgenen Hoffnungsschichten erwecken.

Wie schon zu Anfang erwähnt, ist die Heilkraft der Märchen keineswegs auf Kinder beschränkt. Auch Erwachsene können durch sie von innen her geheilt werden. Märchen können auch seelische Qualitäten vermitteln, die Menschen müssen sich nur in die Märchenfiguren hineinversetzen.

Da in den tiefsten Schichten Ihres Selbst alle archetypischen Symbole enthalten sind, können auch Sie den gesamten Urgrund der Menschheit in sich zum Leben erwecken. Da das Märchen in Symbolen spricht, verdichten sich darin psychische Inhalte, Erfahrungen und Emotionen. Märchenbilder sind Verdichtungen grundlegender Erfahrungen. Die besondere Wirkung der Märchen auf Sie besteht darin, daß sie die in Ihnen verborgenen Bilder ansprechen. So werden fixierte Vorstellungen und Emotionen Ihrer Persönlichkeit in Bewegung gebracht.

Traumbilder und spontane Phantasiebilder sind Symbole, die als natürliche Lebensäußerungen des Unbewußten immer dort entstehen, wo eine Emotion im Spiel ist. Da im Symbol auch immer etwas noch nicht Gewußtes enthalten ist, äußert sich durch das Symbol eine Entwicklung, die über den jeweiligen Zustand hinausführt. So verändert sich das Selbstbild und das Weltbild, wenn wir die Bilder aufnehmen.

Wenn Sie mit Märchenbildern arbeiten, dann stoßen Sie auf einen Entwicklungsprozeß, der von einer tiefen Hoffnung getragen wird. Festgefahrene Gefühls- und Gedankenprozesse kommen auf diese Weise wieder in Bewegung. Märchen erschließen Ihnen ganz neue Bereiche Ihrer Persönlichkeit.

Angst und Aggression