Flanagan, Richard Tod auf dem Fluss

PIPER

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für Majda, meinen Fels, meine Liebe

Übersetzung aus dem australischen Englisch von Peter Knecht

ISBN 978-3-492-97259-8

Juni 2016

© Richard Flanagan, 1994

All rights reserved

Titel der australischen Originalausgabe:

»Death of a River Guide«, McPhee Gribble, Australien.

Auf Deutsch zuerst erschienen 2004 im Berlin Verlag.

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: Kornelia Rumberg, www.rumbergdesign.de

Covermotiv: konjaunt/Shutterstock

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Who Present, Past & Future sees

Whose ears have heard,

The Holy Word,

That walk’d among the ancient trees.

William Blake

Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann. Daß die Menschen in diesem Sinne feige waren, hat dem Leben unendlichen Schaden getan; die Erlebnisse, die man »Erscheinungen« nennt, die ganze sogenannte »Geisterwelt«, der Tod, alle diese uns so anverwandten Dinge, sind durch die tägliche Abwehr aus dem Leben so sehr hinausgedrängt worden, daß die Sinne, mit denen wir sie fassen könnten, verkümmert sind. Von Gott gar nicht zu reden.

Rainer Maria Rilke

Eins

Als ich geboren wurde, wickelte sich die Nabelschnur um meinen Hals, und ich kam auf die Welt, wild mit beiden Armen rudernd, unfähig, zu schreien und die Luft einzuziehen, die ich zum Leben außerhalb des Mutterleibs brauchte, stranguliert von ebendem Ding, das mich bis dahin ernährt und am Leben erhalten hatte.

So etwas ist Ihnen noch nie unter die Augen gekommen! Und das nicht allein deswegen, weil ich halb erdrosselt war.

Denn ich wurde in der Fruchtblase geboren, jenem durchscheinenden Ei, in dem ich im Leib meiner Mutter herangewachsen war. Lange bevor mein feuchter, grindiger Kopf vom wogenden Fleisch meiner Mutter in seine Form gepresst wurde, als sie mich unter Schmerzen in diese Welt hinausstieß, hätte die Fruchtblase eigentlich zerreißen sollen. Wunderbarerweise aber kam ich eingeschlossen in diese elastische Hülle aus meiner Mutter hervor und war bei meiner Ankunft in der Welt in einer ähnlichen Lage wie jetzt, da ich sie wieder verlassen soll. Ich schwamm in einem milchig blauen Beutel voll Fruchtwasser, meine Gliedmaßen zuckten sonderbar, schlugen und stießen hilflos gegen die dünne Haut. Von meinem Kopf, den zudem das Gewirr der Nabelschnur verbarg, war kaum etwas zu erkennen. Ich machte seltsame verzweifelte Bewegungen, als wäre ich dazu verdammt, das Leben immer nur durch den feinen schleimigen Film zu sehen, der mich umgab, als wollte mich das, was mich bis dahin schützend umhüllt hatte, von der übrigen Welt und meinem Leben abschneiden. Es war und ist ein komischer Anblick, meine Geburt.

Ich wusste damals natürlich nicht, dass ich bald aus meiner unvollkommen gerundeten Sphäre vertrieben werden sollte, die ihrerseits gerade aus ihrer Hülle, Mamas Leib, ausgestoßen worden war, nachdem dessen innere Wandung weniger als einen Tag vorher plötzlich in äußerst heftige Bewegung geraten war. Wenn ich etwas geahnt hätte von all den Schwierigkeiten, die schon bald über mich hereinbrechen sollten, hätte ich mich nicht von der Stelle gerührt. Nicht dass mir das etwas genützt hätte – die pulsierende Pressbewegung der Wände um mich herum diente ja einzig dem Zweck, mich aus einer Welt auszutreiben, von der ich immer nur Gutes erfahren und der ich nie etwas Böses angetan hatte, es sei denn, man wollte mir meine stete und zielstrebige Entwicklung von einem bloßen Zellhaufen hin zu einem vollständigen Menschen als einen feindseligen Akt auslegen.

Die Decke und der Fußboden meiner Welt kamen nicht mehr zur Ruhe, immer stärker wurden ihre Bewegungen, wie die hereindrängende Flut, die ein Riff nach dem anderen überspült und mit jedem Brecher mächtiger wird. Gegen eine derart heftige höhere Gewalt konnte ich natürlich nichts tun, ich musste mich der Brandung fügen, die mich in den engen Geburtskanal presste, musste es hinnehmen, dass mein Kopf hierhin und dorthin gequetscht wurde. Und wozu die ganze Plage? Ich hatte meine Welt geliebt, ihre sorglose pulsierende Dunkelheit, ihre warmen, milden Wasser, die Schwerelosigkeit, die es mir erlaubte, mich ohne Anstrengung hin und her zu drehen. Wer brachte Licht in meine Welt? Wer brachte den Zweifel in mein Tun und Lassen, das bis dahin grundlos und absichtslos unschuldig gewesen war? Wer? Wer schickte mich, der nie darum gebeten hatte, auf diese Reise? Wer?

Und warum fügte ich mich?

Aber wie kann ich etwas von alledem wissen? Es ist unmöglich. Kein Zweifel, ich fantasiere bloß.

Und doch … und doch …

Die Hebamme entwirrte mit geübten Fingern flink die Nabelschnur, dann steckte sie den Daumen in die Fruchtblase – geradeso wie ein Kind, das Rosinen aus dem Kuchen pult – und riss sie von unten nach oben auf. Eine kleine Sintflut ergoss sich auf die staubigen Bodendielen jener Kammer in Triest und machte sie so schlüpfrig wie das Leben selbst. Ein Schreien war zu hören. Und Lachen.

Mama behielt die Fruchtblase. Später trocknete sie sie, denn sie gilt als Glücksbringer, wenn das Baby in ihr zur Welt kommt. Man sagt, ein solches Kind und auch jeder, der die »Glückshaut« bei sich trägt, könne niemals ertrinken. Sie wollte sie eigentlich für mich aufbewahren, aber in meinem ersten Winter bekam ich eine böse Lungenentzündung, und so verkaufte sie die Membrane an einen Matrosen, damit sie mir ein bisschen frisches Obst kaufen konnte. Der Mann ließ die Haut in seine Jacke einnähen, jedenfalls sagte er Mama, dass er das vorhabe.

Nach meiner Geburt in jener längst vergangenen Nacht schaltete die Hebamme – sie war unter dem großartigen Namen Maria Magdalena Svevo bekannt, ihr wirklicher Name, den sie verabscheute, lautete Ettie Schmitz – das harsche elektrische Licht aus und öffnete nun, da keine Gefahr mehr bestand, dass wilde Schmerzensschreie einer Gebärenden an die Ohren von Passanten dringen würden, die Fensterläden. Die angenehme herbstliche Nachtluft und der Gestank der Adria strömten herein, jener eigenartig dumpfe europäische Geruch nach Tausenden von Jahren Krieg und Trauer und Überleben, und dieser Geruch traf auf den unverhohlen blutigen Geburtsgeruch, der in dem kahlen kleinen Zimmer hing, einem Raum mit einem improvisierten Vorhang, der die Tür ersetzte, an den bröckelnden Wänden einsam ein mit Silberfischchen übersätes Bild der Madonna, die mit den ausgestreckten Fingern ihrer rechten Hand ein blutendes Herz berührte. Ah, diese Finger! So vollkommen schlank und weich und seidig. So ganz anders als die abgearbeiteten kräftigen Hände von Maria Magdalena.

Maria Magdalena Svevo kniete nieder und begann mit diesen rauen Waschfrauenhänden und einem Putzlumpen das Blut und das Fruchtwasser, das noch nicht in den Bodendielen versickert war, abzuschrubben. All die Flecken auf dem Holz, so dachte sie versonnen, waren Zeugnisse menschlichen Lebens, verblichene Krakel, geschrieben mit Wein und Sperma, Urin und Kot, die den Lauf des Lebens dokumentierten, von der Geburt zur Jugend, zur Liebe, zur Krankheit und zum Tod. Meine Mutter sah Maria Magdalena Svevo bei der Arbeit zu, beobachtete, wie der große runde Rücken vor und zurück ging, ein Halbmond, versilbert vom Licht des Vollmonds, der die Kammer, in der ich geboren worden war, mit seinem ruhigen Schimmer erfüllte.

Woher ich das alles weiß? Maria Magdalena Svevo, die meinen Hals aus der Schlinge der Nabelschnur befreit und gelacht hatte und später immer wieder, wenn sie mich sah, lachen musste, hat mir nur wenig erzählt; von ihr kann ich es also nicht haben. Und Mama hat mir fast gar nichts erzählt. Sie hielt es lange nicht einmal für nötig, mir zu sagen, dass ich in Triest geboren wurde – ich erfuhr es erst, als ich zehn war und wir davon hörten, dass Maria Magdalena Svevo bei einem Besuch in ihrer alten Heimat unter etwas komischen Umständen beinahe ums Leben gekommen wäre. Zwei betrunkene Studenten hatten sie auf dem Markt von Triest mit dem Moped über den Haufen gefahren. Das war typisch Maria, fanden alle, die ihre robuste und dickköpfige Natur kannten: während die beiden jungen Burschen innerhalb von vierundzwanzig Stunden starben, kehrte die Achtzigjährige nach drei Monaten im Krankenhaus gesünder denn je nach Australien zurück. Aber sie war ja schon immer, wie mein Vater Harry es ausdrückte, hart im Nehmen gewesen.

Meine Mutter zahlte ihr für ihre Dienste bei meiner Geburt den üblichen Lohn, aber Maria fand das zu wenig und ließ deswegen eine Flasche kostbaren Whiskey mitgehen, die einzige Flasche Whiskey, die im Haus war – mein Vater hatte sie nach einer Liebesnacht mit meiner Mutter dagelassen. Der Whiskey und ich, ihr unerwünschtes Kind, waren bis dahin alles, was sie von meinem Vater bekommen hatte, der damals gerade in einem nahe gelegenen Gefängnis einsaß. Meine Mutter klagte oft darüber, dass Maria Magdalena Svevo nicht mich statt des Whiskeys mitgenommen hatte. Auch das brachte Maria Magdalena Svevo zum Lachen.

»Ihr Cosinis seid doch alle gleich«, sagte sie dann immer. »Da wird euch neues Leben geschenkt, und was macht ihr? Ihr wollt es wegwerfen! Deine Mutter will dich loswerden, und du selber wolltest nicht auf die Welt und hast, kaum am Ende des Tunnels im Licht angekommen, versucht, dich zu strangulieren.« Und dann paffte sie weiter ihre Zigarre; dieses Laster hatte sie mit meiner Mutter gemeinsam, und sie war nicht darüber erhaben, den einen oder anderen Glimmstängel von ihr zu stibitzen.

»Sie verkürzt damit nur ihr eigenes Leben und verlängert das meine«, pflegte meine Mama zu sagen, wenn die Rede auf diese kleinen Diebereien kam, »und dafür, dass ich weniger Zeit in ihrer Gesellschaft verbringen muss, bin ich ihr von Herzen dankbar.«

Hier war sie nicht ganz ehrlich: in Wahrheit genossen beide die gemeinsamen Stunden in vollen Zügen, hätten es aber nie und nimmer zugegeben. Wenn Maria Magdalena Svevo selbst Geld für Zigarren ausgab, was selten vorkam, kaufte sie eine obskure österreichische Marke; auf der Pappschachtel, in der die Zigarren verpackt waren, prangte ein geprägter Doppeladler.

»Das letzte Aufglimmen der Monarchie«, sagte sie immer, wenn sie den letzten köstlich fruchtigen Zug nahm, bevor sie den Stumpen ausdrückte. Ihr Lieblingsthema waren die Freuden der letzten Zigarre. »Wie viele Menschen lernen nie das Vergnügen kennen, ein letztes Mal zu rauchen? Zigarren, Zigaretten, im Prinzip ist es dasselbe. Sag mir, wie viele, Aljaz?« So wie sie meinen Namen aussprach, klang er weich und schön. Manchmal stellte ich mir sogar vor, dass es ihr eine Art von Lust bereitete, dem Gefühl nachzuspüren, wie mein Name durch ihre zerfurchte, geteerte Kehle holperte, um dann langsam in Rauchwölkchen eingehüllt von ihren ausgestülpten Lippen zu fließen.

»Ali-asch, Ali-asch, Ali-asch«, deklamierte sie wie einen Kinderreim vor sich hin, und dann schaute ich auf und lächelte, und manchmal erwiderte sie meinen Blick und lächelte zurück, bevor sie ihren Monolog über das Rauchen wieder aufnahm.

»Dann, auf dem Sterbebett, rauchen sie eine und dann noch eine und noch eine, und so wissen sie nicht, welche die letzte ist vor dem Tod, und können niemals jenen letzten köstlichen Moment des Schmeckens genießen.« Und sie unterstrich ihre Ausführungen, indem sie mit ihrer dicken Zigarre auf mich zeigte und damit herumfuchtelte wie ein Dirigent mit seinem Taktstock. »Und darum, Aljaz Cosini, musst du das Rauchen mindestens einmal pro Jahr aufgeben, denn dann ist es ein seltenes Vergnügen, auf das man sich lange freuen und an das man lange zurückdenken kann. So ähnlich wie eine Kur.« Dabei tätschelte sie die Schachtel mit dem Doppeladler, zwinkerte wissend und lachte. »So wie die Großen der Welt dem Krieg abschwören.« Ich verstand fast gar nichts von dem, was sie redete, aber ich habe offenbar alles behalten, es hat sich meinem Hirn eingeprägt wie der Doppeladler auf dem Karton jener Zigarrenschachtel, lebhaft, bedeutungsvoll, wenn man nur verstehen könnte, was damit gemeint ist.

Maria Magdalena Svevo hatte zahllose Geschichten von ihren letzten Zigarren auf Lager. Manchmal schilderte sie zärtlich große, denkwürdige Momente voller Romantik oder Tragik, andere dieser letzten Erfahrungen erschienen eher als kleine Freuden, leichten Herzens genossen und erinnert. Es gab die melancholischen letzten Zigarren, darunter jene, die sie an dem Tag rauchte, als sie Triest verließ, um nach Australien zu gehen; sie rauchte sie auf dem Balkon der Pension ihres verachteten Schwiegersohns Enrico Mruele, während sie ein letztes Mal die Sonne über ihrer geliebten Heimatstadt aufgehen sah. Sie erzählte in tief bewegenden Worten, wie Tränen auf ihre Hand fielen und auf die Zigarre rannen, weswegen dieser letzte Rauchgenuss einen bitter salzigen Nachgeschmack hatte. Es gab die amüsante letzte Zigarre, die sie sich gönnte, als sie und Mama in der Marmeladenfabrik am Hafen von Hobart arbeiteten, wo sie Etiketten auf die Dosen kleben mussten. Der Stumpen kam in eine Dose mit Ananas-Melonen-Marmelade. Maria Magdalena Svevo war eine Frau, der Qualität über alles ging, und sie führte oft und gern die australische Devise »Sydney oder der Busch« im Mund, die ihre eigene Lebenseinstellung genau auf den Punkt brachte. Warum hatte sie den Zigarrenstumpen in eine Marmeladenbüchse getan, die von irgendeiner armen Hausfrau irgendwo in der neuen hektischen Vorstadtwelt Australiens geöffnet werden würde? »Sydney oder der Busch«, hätte sie darauf geantwortet, und ihre Stimme hätte die Phrase mit dunklem Rauch brüniert. »Die Marmelade, die da hergestellt wurde, war der letzte Dreck. Die Leute sollten nicht so blöd sein, so etwas zu kaufen. Entweder macht man gute Marmelade, oder man isst einfach keine. Diese letzte Zigarre war eine Warnung an alle guten Australier in dieser Sache.« Sie ballte die rechte Hand zur Faust und ließ sie, die glimmende Zigarre, von der Asche niederrieselte, zwischen den Fingern eingeklemmt, immer wieder mit Wucht nach vorn schießen, um ihren Schlussworten dramatisch Nachdruck zu verleihen. »Gute Marmelade (zack) oder gar keine. (zack) Aber nicht diesen Scheißdreck. (zack) Sydney oder der Busch.«

Und es gab die tragischen letzten Zigarren, so wie die, die sie bei Mamas Beerdigung rauchte, wobei sie die Asche ins Grab schnippte, als der Priester »Asche zu Asche, Staub zu Staub« anstimmte. Dies ist eine letzte Zigarre, die ich selbst miterlebt habe. Der Priester hielt inne und sah angewidert auf. Alle wandten den Blick vom offenen Grab ab und drehten sich nach Maria Magdalena Svevo um. Sie trug ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Hut in einem Stil, der vielleicht in den Jahren nach 1930 in Triest als schick gegolten hatte. In Hobart, Tasmanien, war er 1968 gewiss nicht in Mode. Eine andere Frau hätte mit diesem Hut auf dem Kopf vielleicht lächerlich gewirkt. Maria Magdalena Svevo sah großartig aus. Ihre verschatteten Augen unter der weit geschwungenen Krempe – diese großen dunkelbraunen Augen, so tief zwischen lauter Runzeln versteckt, dass sie an die eingeweichten Muskatellersultaninen erinnerten, die Mama für ihre Rosinenstriezel verwendete –, diese außergewöhnlichen Augen, die einem das Gefühl gaben, dass man nie wieder an die Oberfläche gelangen würde, wenn man darin eintauchte, starrten den Priester mit einem Blick an, in dem alle Wildheit lag, deren Maria Magdalena Svevo fähig war. Und für eine kleine dicke Frau konnte sie mörderisch dreinschauen. In solchen Momenten hatte sie das, was man nicht anders als »Präsenz« nennen kann. In dem singenden Tonfall, den sie aus Triest mitgebracht hatte, die Stimme selbstbewusst erhoben, sagte sie:

»›Eitelkeit über Eitelkeit! spricht der Prediger. Alles ist eitel!‹« Und sie schnippte den Zigarrenstumpen fort. »›Ein Geschlecht vergeht, und ein anderes kommt, die Erde aber dauert ewig.‹« Der glimmende Stumpen stieg empor und fiel auf wunderbar gezirkelter Bahn vor unser aller Augen, eine Spirale aus schwelender Glut und Rauch sank nieder ins Grab. Und als wir, die Trauergemeinde, alle zugleich den Blick wieder von der Grube abwandten, sahen wir Maria Magdalena Svevos hohe Absätze (sie hatte die Schuhe eigens für diesen Auftritt gekauft) herumwirbeln und Maria Magdalena Svevo davonschreiten.

Ach, Maria Magdalena Svevo, wenn du jetzt nur hier wärst, hier im Franklin River, ausgerechnet hier, wo ich ertrinke, den Blick nach oben gerichtet durch sprudelndes Wasser in dem Spalt zwischen den Felsen, durch den ich Tageslicht schimmern sehe. Es ist nicht sehr weit weg, dieses Tageslicht, und ich würde dir, wenn du hier wärst, sagen, wie sehr ich mir wünschte, ich könnte dorthin gelangen. Sydney oder der Busch. Leben oder Tod. Andere Alternativen gibt es nicht.

Ich muss lachen, wenn ich daran denke, dass ich an Lungenversagen sterbe und nicht du, obwohl du so viel geraucht hast. Meine Lungen fühlen sich jetzt nicht mehr an wie riesige Ballons, in denen ein wildes Feuer brennt. Na ja, genau genommen fühlen sie sich immer noch so an, aber es macht mir nichts mehr aus, ja, mein Denken hat sich von dem Schmerz vollständig gelöst und treibt in sonderbar fahrigen Bewegungen umher, so ähnlich wie die Luftblasen, die ich über mir sehe: sie schießen so dahin, aber dann, wie von einer starken magnetischen Strömung erfasst, kommen sie plötzlich ins Taumeln und trudeln in die entgegengesetzte Richtung. Wie diese Luftblasen scheinen meine Gedanken keine spezifische Richtung zu haben, sosehr ich mich auch bemühe, einen bestimmten Punkt anzuvisieren und sie auf gerader Bahn dahin zu dirigieren. Das Feuer in meinen Lungen beobachte ich wie ein Lagerfeuer irgendwo in der Ferne, meine Gedanken gehen darüber hinweg und beschäftigen sich mit Dingen von ganz unmittelbarer Bedeutung, Ereignissen, die zwar nach wie vor bruchstückhaft bleiben, die ich immer noch nicht vollständig erfassen kann, die ich aber jetzt in einer Klarheit sehe, wie sie mir zu der Zeit, da sie geschahen, nie zu Gebote stand.

Und dann, bevor ich es denken kann, weiß ich es.

Mir sind Visionen geschenkt worden.

Plötzlich ist klar, was mit mir geschieht.

Ich, Aljaz Cosini, Flussführer, habe Visionen.

Und sofort kommen Zweifel über mich. Ich sage mir, das ist doch gar nicht möglich, ich befinde mich in einem Reich der Fantasie, das sind bloße Halluzinationen, es ist völlig ausgeschlossen, dass ein Ertrinkender solche Erfahrungen machen könnte. Aber meinem rational argumentierenden Verstand widerspricht ein Wissen, das ich niemals zuvor wahrgenommen habe. Und der Verstand kann lediglich räsonieren gegen diese Gewissheit, dass der Geist des Schlafenden und der eines Menschen, der im Regenwald stirbt, frei umherstreifen, alles sehen kann, dass wir sehr viel mehr über uns selbst wissen, als wir uns normalerweise eingestehen, Dinge, die nur in den großen Momenten der Wahrheit in unserem Leben zu Tage treten, in der Liebe und im Hass, bei der Geburt, im Sterben. Jenseits dieser Momente scheint unser Leben nichts anderes zu sein als eine einzige große Reise fort von den Wahrheiten, die wir alle in uns tragen, unsere Vergangenheit und unsere Zukunft, was wir waren und was wir wieder sein werden. Und auf dieser Reise ist der Verstand unser Führer, unser Mentor. Aber das ist vorbei. Der Verstand lässt sich nicht vom Wissen – von meinem Wissen – überzeugen, dass alles, was ich sehe, wahr ist, dass das alles wirklich geschehen ist. Egal. Das mögen keine Zeitungsfakten sein, aber Wahrheiten sind es gleichwohl. Ein Geschlecht vergeht, und ein anderes kommt. Aber was verbindet die zwei? Was bleibt? Was bleibt ewig bestehen auf der Erde?

Ich habe Visionen – großartige, wunderbare, wilde, überwältigende Visionen. Mir schwirrt der Kopf davon, wenn sie über mich kommen.

Und ich muss sie mitteilen, sonst wird ihr Zauber zu einer Last.

Zwei

Ehrlich gesagt, überrascht mich diese Sache mit den Visionen nicht. Überhaupt nicht. Soviel ich weiß, liegt das in der Familie. Harry hatte andauernd Visionen, vor allem an den Wochenenden, nachdem er werktags zusammen mit dem alten Slimy Ted, seinem Skipper auf dem Krabbenkutter, Unmengen von Cidre und billigem Riesling in sich hineingeschüttet hatte. Bei seinem wöchentlich stattfindenden Barbecue, an dem immer weniger von uns teilnahmen, weil uns seine Sauferei und sein zunehmend unberechenbares Benehmen abschreckten, redete Harry oft mit allen möglichen Tieren, die niemand außer ihm sehen konnte – höchstens einmal ein paar streunende Katzen oder räudige Hunde –, die aber, wie Harry versicherte, das gesellige Beisammensein sehr genossen; einmal behauptete er, sie seien mit ihm blutsverwandt. Unser Vetter Dan Bevan, den manche in der Verwandtschaft für verrückt erklärten, der aber gleichwohl ohne Zweifel zur Familie gehörte, ein Mann, der Warzen durch bloßes Anschauen vertreiben konnte und die Verschlüsse von Whiskeyflaschen abbiss, bevor er diese in wenigen Zügen leerte, sah ebenfalls Dinge, aber er sah sie nicht nur auf dem Boden der Flasche, sondern auch in der Form von Warzen. Er sah alle möglichen Sachen, schlechte wie gute, und die Leute im vierten Bezirk, wo er wohnte, nahmen seine Warzenund Furunkeldeuterei durchaus ernst. Was Mamas Verwandtschaft angeht, so hatte ihre Mutter das zweite Gesicht und las im türkischen Kaffeesatz. Sie fand darin die Prophezeiung, dass Würmer aus Mamas Magen kriechen würden, und mehr oder weniger geschah das auch tatsächlich. Über mein Schicksal konnte meine staramama weit weniger präzise Auskunft geben; sie sah lediglich einen Vogel am Himmel kreisen.

Ich kann also sagen, dass mich die Sache mit den Visionen nicht überrascht. Allerdings bin ich nicht sicher, ob diese Gabe überhaupt für etwas gut ist – ich meine: was habe ich davon, wenn mir so ein verdammter Vogel erscheint? Hilft mir das herauszukriegen, ob es mir bestimmt ist, am Leben zu bleiben oder nicht, und ob ich folglich um mein Leben kämpfen soll oder nicht? Nein, ganz bestimmt nicht. Eine Vision sollte einem doch Antworten liefern, oder nicht? Aber was ich sehe, wirft nur immer noch mehr Fragen auf. Das ist nicht in Ordnung, das kann ich Ihnen sagen, das ist krumm und falsch. Allerdings überrascht mich auch das nicht. Das ganze Leben war mir immer schon ein einziges verwirrendes Rätsel, warum sollte ich erwarten, dass der Tod nun plötzlich besonders viel Sinn macht? Und ich kann auch sagen, dass nicht einmal die Tatsache, dass ich im Begriff bin zu ertrinken, mich überrascht. Ich wusste von Anfang an, schon als das Stinkmaul anrief und mir diesen Job anbot, dass es nur böse enden konnte. Selbst der Kakerlak wusste, dass es böse enden würde. Warum habe ich mich überhaupt darauf eingelassen? Madonna santa, wie Maria Magdalena Svevo gern sagte, wenn sie gereizt war. Madonna santa. Die harten Kerle nach vorn! Was soll ich darauf antworten? Die Dinge sind bei mir nie richtig gut gelaufen. Es ist alles in dem großen Buch da oben aufgeschrieben, sagt man – was also interessiert es mich, warum ich den Job angenommen habe, der mich dahin geführt hat, wo ich jetzt bin, da ich doch genauso gut irgendwas anderes dafür verantwortlich machen kann? Mein Zug war längst abgefahren, bevor diese Sache aufs Tapet kam. Hören Sie zu. Na ja, womit fange ich am besten an? Mit der Familie? Mit der Kirche, deren Mauern Blut weinten? Mit der Schule, wo sie einem rückwärts laufen beibrachten? Mit meinem Vater, der Barbecues für Gespenster und Leute, die überhaupt nie existiert hatten, veranstaltete? Mit dem Baby und der ganzen schrecklichen Geschichte? Dem Laken mit dem Tränenfleck, der sich nicht rauswaschen ließ? Couta Hos blödsinnigen Signalflaggen? Diesem Bastard Stinkmaul? Diesem Idioten Gaia-Head? Ich kriege sonst immer Bauchgrimmen, wenn ich nur an das alles denke, aber im Moment stürmen so viele andere Schmerzen auf meinen Körper ein, dass es mir egal ist. Mir ist überhaupt nie etwas wirklich wichtig gewesen, ich meine: seit Jemmas Tod. Die Leute machen sich Gedanken über ihre Frisuren oder darüber, ob den Nachbarn wohl die Farbe, in der sie ihr Haus gestrichen haben, gefällt oder – das hat mich tatsächlich mal eine Frau gefragt – ob sie besser das kleine oder das größere Zierdeckchen auf die Waschmaschine legen sollen. Aber Sie werden mich schon verstehen, wenn ich sage, dass einem alle diese Dinge nicht übermäßig wichtig erscheinen, wenn man gerade dabei ist zu ertrinken. Und ich bin dabei zu ertrinken. Es kümmert mich nicht, ob Sie gut gekämmt sind oder nicht, ob Ihr Haus gestrichen ist oder nicht und ob Sie überhaupt ein Haus besitzen oder auch eine Waschmaschine, auf die Sie Zierdeckchen legen können. Zugegeben, es sollte mich kümmern. Ich will es nicht bestreiten, aber ich war immer schon ein Typ, der die Dinge so nimmt, wie sie sind. Träge, würden vielleicht manche sagen, aber das stimmt nicht. Oder vielleicht doch. Alles, was die Leute, die mich für träge halten, mir vorwerfen – dass ich mich treiben lasse, dass ich keine Zukunft habe, dass ich nicht weiß, was ich vom Leben will –, ist vielleicht doch wahr.

Vielleicht war ich mein Leben lang am Ertrinken.

Der einzige Unterschied zu jetzt ist, dass ich mich nicht mehr mit all den Dreckskerlen herumschlagen muss, die wollen, dass ich verschwinde, abhaue, mich verpisse, wie man so sagt. Ich könnte mich sogar an meinen jetzigen Zustand gewöhnen, so eingehüllt in rauschendes weißes Wasser, wenn es nur nicht so schmerzhaft wäre. Wo soll ich anfangen? Am besten vielleicht mit dem, was ich in diesem Moment gerade sehe. Denn mir ist ganz komisch zu Mute bei diesem Anblick. Ich habe so etwas ja noch nie gesehen, jedenfalls nicht in der Weise, wie ich es jetzt sehe. Wissen Sie, es ist wie ein Film, nur eben, dass ich diese eine Vision habe, die so bleibt, wie sie ist, während drum herum all diese anderen Dinge passieren. Und was just in diesem Moment passiert, stellt sich so dar.

Zuerst: ein Geruch. Es riecht nach Flut – nach Erde, die fortgespült wird, nach weggeschwemmtem Torf, nach Regenwald, ganz gesättigt von Regen. Genauer – denn wenn ich auch eine träge Natur sein mag, so habe ich doch immer Präzision sehr bewundert –, genauer: der kraftstrotzende Gestank von Verfall. Dann: ein Geräusch. Das Tosen, ein Tumult von Geräuschen, eines Flusses, der seine Ufer sprengt, durch das niedrige Buschwerk bricht, große Stromschnellen bildet, wo es vorher keine gab, von Regenschauern, die wie Axthiebe in die Tiefen der Schlucht schlagen.

Dann bricht ein Lichtstrahl durch, er fällt in einem bizarr flachen Winkel in die Schlucht ein und erhellt eine Welt, die sonst von den schwarzen Regenwolken in Dunkel gehüllt ist. Das Wasser spiegelt weißes glitzerndes Licht. An dem Punkt, von wo ich es sehe, ist das Weiß so gleißend, dass es mich zuerst blendet. Es dauert eine Weile, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben und ich den Fluss erkennen kann. Es ist der Franklin River. Eine Welt, die rein ist und heil und in sich vollkommen. Keine Kondome, keine Autoreifen, keine Blechbüchsen, keine Dioxine, keine verbeulten, rostigen Chromteile, die einst irgendwelche Autos zierten, und auch kein anderer Abfall unserer Welt scheint hier zu existieren. Das ist eine ganz andere Welt. Das ist der Fluss. Er entspringt in der CheyneKette. Stürzt vom Mount Gell herunter. Windet sich wie eine Schlange in der Wildnis zu Füßen des mächtig aufragenden Massivs von Frenchmans Cap. Schreibt seine Vergangenheit und die Prophezeiung seiner Zukunft ein in gewaltige Schluchten, die sich durch Berge und Felsen schneiden, oft so stark unterhöhlt, dass man sie »Balkone« nennt, in erodierte Felsblöcke und wunderschön golden schillernde Steinbuckel, in Kiesbänke, die von Jahr zu Jahr mit jedem Hochwasser wandern, in den Kies, der einst abgeschliffenes Geröll war, das einst ausgewaschener Fels war, der einst unterhöhlte Klippe war, die einst Berg war, in jenen Kies, der wieder Berg sein wird. Und dann sehe ich sie. Auf dem gleißenden Weiß zwei rote Schlauchboote, darauf Menschen, die ernst die Köpfe recken über dem reißenden Wasser der Stromschnelle, die sie gleich hinabstürzen werden.

Aljaz

Vor dem weißen Glitzern ist ein Felsen. Ein gewaltiger, sanft abfallender Felsen, so groß wie etliche Häuser, auf der einen Seite eine Steilwand, auf der anderen ein Wasserfall. Und da sind Menschen, vielleicht an die neun, und zwei rote Boote, die auf dem Felsen liegen. Aber ich kann die Gesichter der Leute nicht erkennen. Sie sind nur undeutlich durch das Gestöber der Myrtenblätter in dem strudelnden Wasser vor meinen Augen zu sehen. Die Leute drängen sich am Rand des Felsblocks neben dem Wasserfall zusammen und starren auf einen Arm, der gespenstisch wenige Meter von ihnen entfernt aus der reißenden Strömung herausragt.

Wie ein vereinzelter Scheinwerfer auf einer Bühne beleuchtet ein flach einfallender Sonnenstrahl den Arm und lässt ihn erst recht geisterhaft wirken. Die Menschen auf dem Felsen beobachten mit fasziniertem Grausen die Finger der Hand, die sich in einer fragenden Gebärde in das Licht recken, so weit, wie Finger sich irgend strecken können, und sie erschauern, und dabei dreht sich die Hand um die Achse des Handgelenks hin und her, schweift durch ihre kleine, eng umgrenzte, von dem Sonnenstrahl erhellte Welt, sucht nach irgendeiner Art Hoffnung, die sie fassen könnte. Der Körperteil, auf den die Leute wie hypnotisiert starren, streckt sich ein oder zwei Meter vor der Stelle, wo das Wasser senkrecht hinabstürzt, in die Luft. Hier ist der Fluss ein Mahlstrom von reißendem, wild strudelndem Wasser. Und eingeklemmt zwischen Felsen unter der Oberfläche, gefangen in dem tobenden Wasser, ist der Mann, dem jener Arm gehört.

Ich. Aljaz Cosini, Flussführer.

Genauer: der Arm im Rampenlicht ist mein Arm.

Meinen Kopf, der zwischen den Felsen eingekeilt ist, kann man ohne Zweifel von dem großen Felsen da oben aus erkennen. Ohne jeden Zweifel. Die Leute dort können das Blau meines Schutzhelms und die Fläche meines Gesichts unter dem bisschen Wasser bestimmt sehen, es sind ja nur ein paar Zentimeter. (Wie viele? Sieben oder acht oder neun? Was spielt das für eine Rolle? Ich bin nur einen Mückenschiss weit von diesen Leuten und der schönen Luft, die sie atmen, entfernt und kann doch nicht zu ihr und zu ihnen kommen und sie nicht zu mir.) Der Rest meines Körpers allerdings, der zwischen den Felsen, in dem schwarzen Wasser weiter drunten, feststeckt, ist schlicht unsichtbar. Für die, die da verzweifelt und hilflos zu mir runterschauen, sehe ich wahrscheinlich so aus wie Johannes der Täufer, als man seinen Kopf dem König Herodes auf einem Teller präsentierte. Komischer Gedanke. Komisch, dass man sogar beim Sterben noch komische Gedanken haben kann. Vielleicht ist der Humor Teil des Horrors.

Und dann überfällt mich die Erkenntnis: Die Stätte meines Todes wird eine – wenn auch nicht allzu prominente – touristische Sehenswürdigkeit werden. Und dieser Gedanke, diese Offenbarung, amüsiert mich. In meinem Todeskampf werde ich zu einer Reliquie werden und damit zu einem Teil von diesem ganzen Quatsch. Ich vermute stark, ich bin bereits ein Teil von diesem verdammten Quatsch. Das ist zu viel für mich. Ich muss lauthals lachen. Und während mein Lachen sich in immer kleineren Blasen entlädt und mit den anderen Blasen in der reißenden Strömung wegsprudelt, versuche ich unwillkürlich einzuatmen. Wasser bricht in meinen Mund ein und strömt meine Kehle hinunter.

Ich spüre meine Sinne schwinden.

Ich fühle mich, als löste ich mich in nichts auf.

Und als der Schwall dieses Gefühls durch mich hindurchfließt, spült er mich fort. Nicht meinen Körper, nein, mich, er trägt mich fort in eine andere Zeit, in einen anderen Fluss. Nein, es ist derselbe Fluss, aber er ist so angenehm, so freundlich, so warm, dass er mir vorkommt wie aus einer anderen Welt. Und jetzt erkenne ich den Ort wieder – es ist die Stelle, an der wir unsere Flussfahrt begonnen haben. An der Brücke über den Collingwood River. Es muss heute vor sechs Tagen sein, nein, fünf, fünfeinhalb. So lange ist es her, und es war diese Stelle. Und ich bin es, der da am Fluss steht. Wenn ich jetzt nach all der Zeit zurückblicke auf mich selbst, sehe ich lediglich einen fremden Menschen. Aber das bin ich. Ich erkenne diese dümmlich krumme Nase, dieses Raubvogelprofil, und die Figur, ja, die Figur ist so lachhaft unverkennbar wie nur etwas. Mein Gott, schau dir das bloß an! Das ist mein Körper, das sehe ich nun, kurzbeinig, stämmig, aber anders als früher stößt mich dieser Anblick nicht mehr ab. Damals fand ich diese Mischung aus gedrungen und schlaff einfach widerwärtig – überall dort, wo ein Kerl, der Leute durch die Wildnis führt, Muskeln haben soll, war bei mir hauptsächlich schlaffes Fleisch, das die Farbe von Bratensaft hatte. Aber wenn ich meinen Körper jetzt betrachte, scheint mir, dass er den Anforderungen des Lebens vollauf genügt. Wenn seine Gangart auch linkisch und ein bisschen komisch wirkt, kann er sich doch auf zwei Beinen fortbewegen, mehr wie ein Pavian als wie ein Mensch, aber immerhin tun die Beine sehr wohl ihren Dienst. Und die Arme taugen prächtig dazu, Dinge aufzuheben oder hinzulegen oder was man eben sonst von Armen verlangen kann. Und was Mund und Nase angeht, so atmen sie ohne Anstrengung.

Ohne Anstrengung!

Das muss man sich vorstellen: Ein Mann, der ohne jede Anstrengung atmet, macht sich Gedanken darüber, ob die Kundschaft, Leute, die dafür bezahlt haben, dass sie an dieser Flussfahrt teilnehmen dürfen, vielleicht die Nase rümpfen könnte oder nicht, weil er ein bisschen mollig um die Taille ist! Das ist geradezu komisch. Zum Lachen.

Am interessantesten ist, dass man ihm diese nervöse Eitelkeit nicht ansieht. Ebenso wenig seine übliche Schüchternheit. Er wirkt entspannt und selbstsicher, seine ungepflegte Erscheinung erzeugt bei den Leuten, denen seine lässige Art imponiert, Zutrauen. Und was seine sonnengegerbte Visage angeht, nun, ich glaube, das Gesicht ist nicht uninteressant. Sicher, ihm fehlt das Jungenhafte, das sein Kollege, der andere Flussführer, hat. Es ist ein wüstes Gesicht, schmutzig fahl, wohin man schaut, stoppelig, mit sonderbar hohen Wangenknochen, die wirken, als hätte man fast alle Spuren von Leben planmäßig mit Stumpf und Stiel ausgetilgt und sie der Erosion der Zeit überlassen, aber es ist, ähnlich wie die abgeholzte Flanke eines Bergs, nicht ohne einen perversen Reiz. In der kahlen Landschaft dieses Gesichts, wo die Erosion den schwarzen Fels freigelegt hat, unterbricht nur die große Nase die allgemeine Monotonie; wie der Förderturm einer stillgelegten Zeche ragt sie über der Ödnis ringsum auf. So hoch und stolz, dass sich mir die Frage aufdrängt, ob das Gesicht vielleicht das Ergebnis einer Züchtung ist, die nur auf dieses eine Detail abzielte und es in Kauf nahm, dass alles Übrige verfiel. Warum hat dieses Gesicht dennoch etwas Faszinierendes? Vielleicht sind es diese frühen Andeutungen verästelter rötlicher Falten, oder es sind die gelben Zähne oder die glatten roten Haare oder dieser düstere Ton – es liegt etwas darin, was auf Erfahrung und Leiden schließen lässt. Vielleicht sogar auf Wissen.

Vielleicht.

Und diese brennenden Augen, ein aggressives Blau. Blau wie das Innere der fauchenden gelben Flamme an der Düse des Schweißbrenners, wenn man das Gas abdreht. Rothaarig, dunkelhäutig, blaue Augen, große Nase. Sonderbar. Und beunruhigend. Verletzlichkeit und tragischer Stolz und sehr weite Nasenlöcher.

Ich beobachte fasziniert, wie dieser Aljaz Cosini niederkauert, die Hände vor sich im Wasser des Flusses aufsetzt, die Beine nach hinten ausstreckt, so dass sich der Körper in ungefähr horizontaler Lage befindet, und wie er sich dann, das Gewicht auf den Armen, als wollte er einen Liegestütz machen, sinken lässt. Sein Kopf verschwindet im Fluss. Unter Wasser öffnet Aljaz die Augen und blickt auf die braun und golden glänzenden Kiesel auf dem Grund. Das Sonnenlicht fällt unter Wasser genauso wie an der Luft in einzelnen schmalen Streifen ein – es dringt durch Öffnungen im Laubdach des Regenwalds, der ringsum alles umgibt –, es fällt auf die Felsen da unten und verleiht dem ganzen Fluss einen rotgoldenen Schimmer. Während Aljaz Cosini sich umsieht, öffnet er den Mund, nimmt einen Schluck von dem Flusswasser und spürt ihm nach, wie es kühl seine Kehle hinabrinnt. Ich beobachte auch seine Gedanken: Er denkt, dass kein Wasser auf der Welt so gut schmeckt wie das, das man so trinkt. Ich sehe, dass er sich fragt, wie es sich wohl anfühlte, wenn er selbst ein Teil des Flusses wäre. Ich beobachte, wie sein dünnes rotes Haar hin und her treibt wie Riementang, bewegt von der langsamen Strömung im seichten Wasser, und wie er denkt: Vielleicht würde es sich genau so anfühlen. Oder vielleicht, denkt er dann, würde es sich wie überhaupt nichts anfühlen. Und dann denkt er, vielleicht ist es das, was ihm am besten gefällt an diesen Fahrten auf dem Franklin River, den »Bach« hinunter, wie die Flussführer sagen: dass er den Bergen und den Flüssen und dem Regenwald gleichgültig ist. Sie empfinden ihn weder als Teil von sich noch als etwas Fremdes, sie wünschen seine Anwesenheit nicht und wünschen ihn auch nicht weg von hier, sie lieben ihn nicht, noch hassen sie ihn, sie betrachten seine Anstrengungen weder mit Neid noch mit Geringschätzung, sie halten ihn nicht für gut und nicht für schlecht. Sie haben so wenig irgendeine Meinung über ihn wie über einen dürren Zweig, der am Boden liegt, oder auch über einen ganzen Fluss. Er fühlt sich nackt, ohne Bedürfnisse, ohne Begierden. Er fühlt sich umschlossen von den Mauern der Berge und des Regenwalds. Er fühlt sich, zum ersten Mal in all der Zeit, wohl. Vielleicht ist so der Tod, denkt er. Friede im Herzen einer Leere.

Schsch, schsch, schsch. Die großen leuchtend roten Schwimmkörper des Schlauchboots, auf dem sie den Fluss befahren werden, füllen sich langsam mit Luft, während der Arzt aus Adelaide mit der teuren purpurroten Jacke aus Polarvlies und den weißen Storchbeinen die Pumpe tritt.

Schsch, schsch, schsch. Ich beobachte mich dabei, wie ich ihn ansporne und mich fast überschlage vor Heuchelei. »Du machst das großartig, Rickie, wirklich. Ja, so ist es richtig.« Es ist nicht richtig, aber Aljaz weiß genau, dass es besser ist, wenn andere einen Teil der Arbeit tun, auch wenn sie’s schlecht machen. Dann braucht er es nicht zu tun. »Weiter so, Rickie.« Ich sehe Rickie tapfer entschlossen lächeln, ich sehe, dass er sich nützlich und wichtig und anerkannt fühlt.

»Endlich hier zu sein am Franklin River«, schsch, schsch, schsch, »du weißt gar nicht, was das für mich bedeutet«, sagt Rickie. Schsch, schsch, schsch.

»Einen steifen Rücken, schlechtes Essen und Darmverstimmung, das bedeutet es«, sagt Aljaz, und ich sehe, dass dieser Aljaz den Komiker gibt, dass er meint, seine Leute nicht allein führen, sondern auch unterhalten zu müssen. Ich sehe, dass diese aufgesetzte Lustigkeit dazu dient, seine Schüchternheit zu überspielen.

Ich beobachte diesen Aljaz, wie er seinen Blick von dem Fluss abwendet und ihn über das Buschwerk an seinen Ufern schweifen lässt. Ein Lächeln geht über sein Gesicht. Ich weiß, was er jetzt denkt: Er ist glücklich, dass er wieder auf dem Fluss ist, unterwegs auf diesem Blutegel-Bach. Um ihn herum scheinbar undurchdringlicher Regenwald, massige Mauern aus Myrten und Sassafras und australischem Lorbeer und Lederholzbäumen, vor ihm strömt stetig das teefarbene Wasser des Flusses, das den Felsen Tag um Tag zunehmend diese goldene oder bronzene Patina verleiht.

Ich weiß, dass dieses Lächeln den Gästen gilt: Wenn sie auch lautstark das Gegenteil behaupten und beteuern, wie wunderschön diese Landschaft sei, spüren sie bereits jetzt ein immer stärkeres Unbehagen in dieser fremden, unheimlichen Umgebung, die der Wildnis der Naturkalender, die sie in ihren Wohnzimmern und Büros hängen haben, so ähnlich sieht und doch ganz anders ist. Da ist dieser starke, beißende Geruch nach fruchtbarer Erde, und die milde Feuchtigkeit lastet auf ihnen, engt ihre sinnliche Wahrnehmung ein wie eine Zwangsjacke. Es gibt kein Entkommen, wohin sie sich auch wenden, überall ist immer nur Regenwald, immer mehr, und er lässt sich immer weniger auf ein bloßes Fotomotiv reduzieren. Es gibt keine glatt verputzten Wände und keine Abstelltischchen, die dieser Landschaft Grenzen setzen und ihr die gebührende Rolle einer dekorativen Staffage zuweisen würden. Die Leute versuchen ihr Bestes: fast bei jeder Tour ist mindestens einer dabei, der am ersten Tag in seiner ängstlichen Erregung einen Film oder auch zwei voll knipst. Sie werden das Gefühl nicht los, dass sich hinter ihnen etwas bewegt, und blicken sich immer wieder furchtsam um, Aljaz dagegen ist hier zu Hause.

»Das ist vielleicht ein komischer Typ«, raunt der andere Führer, der Kakerlak, und deutet auf den hoch gewachsenen Buchhalter aus Melbourne. »Sieht aus wie eine Gans.«

»Wie ein Emu«, höre ich Aljaz sagen.

»Wie ein …«, sagt der Kakerlak. Ich sehe, wie er nach einem passenden Tier sucht, mit dem er den linkischen und arroganten Buchhalter vergleichen könnte. »Wie so ein blöder …« Aber er kommt nicht drauf. »Wie heißt der überhaupt?«, flüstert der Kakerlak.

»Derek«, antwortet Aljaz. Er betrachtet versonnen die Gestalt des Buchhalters, dann sagt er: »Eine Gottesanbeterin.«

»Jaha«, sagt der Kakerlak, dann: »Nein. Es ist nahe dran, aber nicht ganz.« Er überlegt weiter, er sagt: »Wie eine Wanderheuschrecke, das ist es, wie so eine blöde Wanderheuschrecke.« Und das stimmt haargenau.

Derek sieht aus wie ein fremdartiges Geschöpf, das aber jedenfalls kein Mensch sein kann – dafür ist es zu groß und massig –, seine weiten Pupillen wirken merkwürdig sensibel und zugleich ganz und gar unmenschlich, sie können sowohl Leere als auch eine gewisse Gier signalisieren. Er führt andauernd die nervösen Hände zum Mund, entweder um zu essen oder zu rauchen. Seine lachhaft dünnen Beine unter dem massigen Rumpf stecken in neongrün gestreiften Thermo-Unterhosen.