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Martin Mylonas

Vergessen Sie Sokrates!

Vergessen Sie Sokrates!

I

Stoisch gelassen musste der Reisende, der unbeweglich in einer Ecke saß, jedem erscheinen, dessen Blick sich in sein Abteil verirrte. Ein dunkler, schon etwas abgetragener Nadelstreifenanzug samt Fliege sowie eine schlichte Nickelbrille rundeten einen ungewöhnlichen Anblick ab. Doch die Ruhe täuschte. Im Innern des Mannes fochten Zuversicht und Skepsis heftige Kämpfe um die Vorherrschaft aus. Hatte er sich zu leichtfertig entschieden? Am Ende auf das falsche Pferd gesetzt? Würde, was als Überraschung gedacht war, gelingen? Vor wenigen Stunden hatte unser Reisender seiner Vergangenheit Adieu gesagt und den unwiderruflichen Aufbruch in eine Zukunft gewagt, die vorerst so viel Halt versprach wie ein Floß auf bewegter See. Andererseits, einst trieb auf solchem Notbehelf auch ein Odysseus seiner Rettung entgegen! Wer weiß, vielleicht hatte das Schicksal einen vergleichbaren Ausgang auch für diese Reise vorgesehen.

Und doch, was veranlasst einen, der seinem Habitus nach eher am Überkommenen hängt, zu solch verwegenem Schritt? Angestoßen hatte diesen Wandel Katrin Schneider, eine anderthalb Jahrzehnte jüngere Frau. Seit ihrer ersten Begegnung und einem gemeinsamem Urlaub danach war unser Reisender in Gedanken umso häufiger bei ihr, je weiter das zurücklag. Sie übte eine unerklärliche, bis dahin nicht gekannte Macht über ihn aus. Katrin und er hatten nach jenem Urlaub ein Jahr lang den Kontakt über Telefonate, E-Mails und zwei kurze Treffen in Dresden aufrechterhalten. Bei der letzten Begegnung hatte sie ihn mit dem Vorschlag überfallen: „Warum kommst du nicht einfach an den Rhein? Das ist die Lebensader im Herzen Europas! Da haben schon viele ihr Glück gefunden. Keine Sorge, ich finde ganz schnell was Passendes auch für dich!“

Wie ernst durfte er dies Angebot nehmen? Inzwischen war er überzeugt, sie habe „zu mir an den Rhein“ gesagt. Es war ungewöhnlich für ihn: Er hatte sich damals Hals über Kopf in die ungezwungene, lebenslustige Frau verliebt, und eine alles verklärende Erinnerung hielt diese Flamme am Lodern. Schicksal? Mit der Vernunft jedenfalls kam er dagegen nicht an. Und sie? Sie empfand für ihn, nein, durfte für ihn nicht anders empfinden als er für sie. Denn daran, dass ihr spontanes Angebot ernst gemeint war, ließ er keinen Zweifel nagen. Und so hatte er sich entschlossen, in den Westen überzusiedeln, und das endgültig.

Seine Tätigkeit als Dozent in Leipzig und als nebenamtlicher Museumsführer in Dresden hatte er ihretwegen aufgegeben. Der Verzicht wäre zu verschmerzen, sofern mit ihrer Hilfe ein Neustart gelänge. Handelte es sich doch in beiden Fällen um zeitlich befristete, schlecht bezahlte Teilzeitjobs, um deren Verlängerung er Jahr für Jahr bangen musste. Nur eine genügsame Lebensweise hatte verhindert, dass sich auf seinem Konto dauerhaft Ebbe breitmachte. So gesehen konnte es nur aufwärts gehen.

Was aber erwartete ihn – von dieser Katrin abgesehen – am Ziel seiner Reise? Da war vor allem das gewaltige, alles überragende Versprechen, sie könne für eine feste Anstellung an ihrer Schule sorgen. Hatte er vielleicht zu voreilig darauf vertraut, dass dies tatsächlich in ihrer Macht stünde? Doch einmal angenommen, es gelänge ihr: Wie würde er dort mit Heranwachsenden umgehen? Bisher hatte er es mit Erwachsenen zu tun gehabt. Einige durfte er stundenweise ein Stück ihres Weges begleiten, andere ließen sich von ihm auch nur die Zeit vertreiben. Nun sollte es darum gehen, Jugendlichen einen Weg zu weisen und ihnen bei der Arbeit am „Drehbuch ihres Lebens“ behilflich zu sein, wie Katrin das genannt hatte. Aber es würde nicht ein einziges Drehbuch, es würden ihrer viele sein, und das Fortschreiben wäre eine Folge von immer neuen Einträgen. „Eine Art weltlicher Seelsorge“, hatte sie das mit Blick auf seine Vergangenheit lachend genannt, ihn mit „Das ist doch dein Fach!“ ermuntert. Er hatte ihr einmal verlegen gestanden, dass er die religiöse Seelsorge beinahe zu seinem Beruf gemacht hätte. „Das stört mich weiter nicht“, hatte sie erwidert. Wie hatte sie das gemeint?

Während er so mit jeder Bahnstation, die vorbeiflog, Abstand zu seiner bisherigen prekären Lage, aber nur zögerlich Nähe zu einer Zukunft gewann, die noch alles und doch nichts konkret verhieß, rief ihn die Durchsage des Zugführers in die Gegenwart zurück: In wenigen Minuten, entnahm er dessen Ankündigung, habe er sein Fahrtziel erreicht. Wie zu unvermeidlichem Neustart atmete er tief durch und schloss das Buch, auf das er sich schon lange nicht mehr konzentrieren konnte. Dann faltete er entschlossen die Zeitung zusammen, der er auf sechsstündiger Fahrt an den Rhein alles Lesenswerte entnommen hatte, und drückte sie heftig in den Abfallcontainer, als entsorge er damit ein Stück Vergangenheit. Jetzt konnte er damit beginnen, sein Gepäck Stück für Stück aus dem Abteil hinaus zur Plattform vor den Ausstieg zu schleifen. An normales Tragen war nicht zu denken. Als er das mit einiger Mühe bewältigt hatte, hielt der Zug gerade mit kreischenden Bremsen. Ein älterer Herr, dem er den Vortritt gelassen hatte, drehte sich auf dem Bahnsteig um, bedankte sich höflich und bot an, die Koffer von draußen entgegenzunehmen. Der ahnte nicht, was auf ihn zukam! Denn der Jüngere hatte Mühe, die Koffer anzuheben und hinauszureichen. Schon das Einladen zu Beginn der Reise hatte er nur mit Hilfe eines Gepäckträgers bewältigt.

Als beide dann schnaufend neben dem anfahrenden Zug standen und einander ansahen, ergriff der Ältere die Initiative: „Gestatten, Hans von Bader. Sie fielen mir schon in Leipzig auf, als ich an ihrem Abteil vorbeikam. Sie kommen vermutlich aus Dresden?“ Der Jüngere war überrascht, er hatte sich während der Fahrt nicht um Mitreisende gekümmert. Stattdessen hatte er, als sei der Zug mit ihm alleine unterwegs, gelesen, häufig auch nur vor sich hin sinniert oder die vorbeiziehende Landschaft betrachtet. Jetzt musterte er den Fremden kurz. Von seiner Kleidung her musste er Geschäftsmann sein, sein Verhalten und seine Gesichtszüge ließen vermuten, dass sich hinter bulliger Erscheinung ein gutmütiger Kern verbarg. Deshalb stellte sich, obwohl das nicht seine Art war, auch der Jüngere dem Fremden vor: „David Rabe, komme, wie Sie ganz richtig bemerken, aus Dresden.“

„Verzeihen Sie, ich will nicht indiskret sein“, nahm von Bader den Faden auf, „Sie sind mit ungewöhnlich schwerem Gepäck unterwegs. Wohl Handelsreisender! Habe ich recht? Bin selbst auch im Handel tätig“, bemerkte er lachend, „vermarkte allerdings Immobilien. Wie der Name schon sagt: Man kann damit nicht auf Reisen gehen, man führt allenfalls einen Prospekt mit sich. Hat Vorteile, junger Mann, unser Gewerbe kennt keine Transportprobleme!“

David Rabe sah auf das leichte Gepäck seines Gesprächspartners, eine Tasche, in der wohl ein Laptop und einige Unterlagen steckten, und nickte zustimmend: „Handel, sagten Sie? Ja, doch, irgendwie handle auch ich. Ich bin mit Wissen unterwegs …“

„Wissen? Lassen Sie mich raten: Dann handeln Sie mit Enzyklopädien. Anders lässt sich das Gewicht Ihrer Koffer nicht erklären. Denn Wissen selbst ist das glatte Gegenstück zu meinen Immobilien: Vorläufig, überall leicht verfügbar. Sofern man welches hat, kann man es problemlos im Kopf spazieren tragen“. Er scherzte: „Oder in Koffern verpackt wie Sie.“

Da von Bader keine Anstalten machte, sich zu verabschieden, sah sich Rabe gezwungen, ihn aufzuklären. Er habe vor, am Ort eine Stelle als Lehrer anzutreten. Was seine Koffer so schwer mache, sei seine Handbibliothek, von der er einen Teil mit sich führe. Den Rest wolle er sich später nachsenden lassen: „Eine Absicherung gegen die Flüchtigkeit, die allem Wissen auch eigen ist!“

„Verstehe!“, entgegnete von Bader, „Ich habe nichts weiter zu transportieren. Darf ich einen ihrer Koffer mit zum Ausgang nehmen? Denn was man schwarz auf weiß besitzt, lässt sich halt doch nicht so leicht nach Hause tragen …“

Als sie in der Bahnhofsvorhalle ankamen, hätte sich David Rabe gerne verabschiedet. Von Bader spürte das, zögerte aber, er hatte noch ein Anliegen: „Sagen Sie, Sie sprachen vorhin von Schule, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Wo werden Sie denn unterrichten?“

„Am Erasmianum!“

Jetzt konnte von Bader sich ein Pfeifen nicht verkneifen: „Da sehen Sie, wie klein unsere Welt ist: In diesem Gymnasium hat mich neun lange Jahre die Bank gedrückt, und das nicht gerade sanft. Vor mir schon meinen Vater und nach mir meine Tochter. Welche Fächer unterrichten Sie, wenn ich so unhöflich …?“

„Deutsch, die alten Sprachen und Geschichte, auf Grund meiner ursprünglichen Ausbildung auch die evangelische Theologie …“

„Chapeau! Da reisen Sie in der Tat mit schwerem Gepäck. Na, es wird sich kaum vermeiden lassen, dass wir uns ab und zu über den Weg laufen. Das Städtchen ist übersichtlich, und zur Schule habe ich noch regelmäßig Kontakt. Wir werden uns sicher wiedersehen!“ Er drückte David Rabe kraftvoll die Hand, überreichte eine Visitenkarte und entschwand mit einem „Wenn Sie mal wieder einen brauchen, der Ihnen eine Last abnimmt, rufen Sie mich einfach an!“

David Rabe war zuletzt ungeduldig geworden. Erst jetzt kam er dazu, einen Blick auf sein Reiseziel zu werfen. Der Bahnhofsvorplatz: Eher alltäglich, so ganz anders nicht als dort, wo er herkam, die Straße, die davon wegführte, offenbar eine Einkaufsstraße mit dem üblichen Gemisch von Läden des alltäglichen Gebrauchs. Doch welches kleinstädtische Bahnhofsumfeld ist schon aufregend? Egal, er war nicht als Tourist hierhergekommen. Worauf es jetzt ankam: Er musste endlich Katrin erreichen. Augen würde sie machen, würde herbeieilen, um ihn abzuholen, und ihm stürmisch die Arme um den Hals werfen, nicht anders als zuletzt vor sechs Monaten.

Statt der vertrauten Stimme meldete sich eine vom Band: Der Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Hinterlassen Sie eine Nachricht! Enttäuscht hinterließ David Rabe die Mitteilung, er warte am Bahnhof, begab sich in den kleinen Warteraum und kaufte erneut eine Zeitung, doch sie bot noch weniger als die im Zug zurückgelassene. Es verging eine halbe Stunde mit zerstreuten Blicken auf die Zeitung oder die Uhr, unterbrochen von suchenden Blicken zum Bahnhofsvorplatz, da machte sich das Handy bemerkbar.

„Schatz, du hast auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Bahnhof? Sag mal, wo steckst du eigentlich? Wie geht’s dir? Wir sollten uns mal wieder …“

„Ich bin hier, Katrin!“

„Hier? Was soll das heißen?“

„Na, was schon? Ich warte hier im Bahnhof auf dich!“

„Ja bist du …?“

„Genau, ohne dich habe ich es in Dresden nicht mehr ausgehalten. Und da dachte ich … Haben wir doch so ausgemacht, dass ich sobald wie möglich …“

„Klar, wir haben darüber gesprochen. Aber doch nicht so! Ich dachte, du gibst mir Bescheid, wenn es soweit ist, und ich schaue erst einmal, dass ich etwas für dich finde … Mal ehrlich, David, das kommt mir jetzt alles ein bisschen plötzlich!“

„Meinst du ungelegen? Dann kaufe ich mir am besten gleich die Rückfahrkarte! Ich habe doch …“

„Nein, so auch wieder nicht. Wenn du schon einmal da bist … warte am Bahnhof, ich komme. Kann aber etwas dauern. Dann werden wir weitersehen.“

Hatte er das richtig mitbekommen, dass sie tief durchatmete, während sie das Gespräch beendete? Die Leichtigkeit, die ihn zu Beginn ihres Anrufes beflügelt hatte, war verflogen. Plötzlich kam er sich mit seinem schweren Gepäck vor, als sei er an unbekanntem Ort gestrandet.

Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, da bremste auf dem Vorplatz ein gelber Käfer. Eine blonde Frau, kurzes, schwarzes Kleid und schicke Pumps, stieg aus, warf hastig die Wagentür ins Schloss und steuerte zielstrebig auf den Warteraum zu. Es war seine Katrin.

„David!“ Große Augen, ein flüchtiger Kuss links, ein ebensolcher rechts, Kopfschütteln. „Du hast mir einen schönen Schreck eingejagt, mein Lieber! Verstehe mich nicht falsch, aber so war das nicht abgemacht. Du hättest mich doch vorher informieren müssen!“

„Was heißt das jetzt? Störe ich? Hast du inzwischen einen anderen?“

„Aber nein, was ihr Männer immer gleich denkt! Aber deinem Gepäck nach zu urteilen, kommst du nicht mal eben zum Nachmittagskaffee vorbei. So etwas will doch vorbereitet sein.“

„Und was schlägst du vor?“

„Hm, du kommst jetzt erst einmal mit.“ Sie hielt den Autoschlüssel hoch und zeigte in Richtung des gelben Käfers.

„Ich glaube, ich weiß, wo ich dich unterbringe. Zumindest vorerst. Danach sehen wir weiter. Sag mal, hast du tatsächlich alle Brücken abgebrochen? Einfach so? Hätte ich dir echt nicht zugetraut!“

Ohne die Antwort abzuwarten, hatte sie eines der kleineren Gepäckstücke aufgenommen, er folgte mit der Hauptlast in Etappen. Mit viel Mühe verstaute er alles auf dem Rücksitz ihres Käfers.

„Wohin“, wollte er schnaufend wissen, „bringst du mich jetzt?“

„In ein Heim für schwer erziehbare Jungs! Oder was hast du erwartet?“

„Und du wirst mich dort ab und zu besuchen?“

„Mal sehen, bei guter Führung deinerseits hat die Leitung des Hauses sicher nichts einzuwenden!“

Er überlegte noch, ob er Scherz oder Kopfschütteln hinter ihren Worten vermuten sollte, da hielt sie vor dem mehrstöckigen Haus einer Vorstadtstraße, nicht allzu weit vom Bahnhof entfernt: „David, du hast echt Glück! Ein Kollege mit Zeitvertrag hat andernorts eine feste Stelle gefunden. Ist vierzehn Tage her. Seitdem steht dessen möblierte Wohnung leer. Das Haus verwaltet Schlosser, der Hausmeister unserer Schule. Er selbst wohnt im Parterre. Da bringe ich dich jetzt unter. Morgen spreche ich mit dem Schulleiter. Vielleicht sieht der eine Möglichkeit, dich vorläufig irgendwie einzusetzen. Und sei es nur in der Bibliothek.“

„Was meinst du mit vorläufig? Unterbringung, bis man mich abschiebt?“

„Nun komm schon, leg nicht jedes Wort auf die Goldwaage! Das ist so eine Berufskrankheit von euch Geister …“

„Du meinst wohl Geisteswissenschaftler. Oder doch Geisterfahrer?“

„Kommt vielleicht auf dasselbe ‘raus! Doch vorläufig heißt hier einfach: bis die Behörde grünes Licht gibt. Du ahnst ja nicht, wer da alles mitsprechen muss, bis du ein anständiger Lehrer bist.“

„Ich will nicht schon wieder penibel … aber wer beurteilt meinen Anstand?“

Katrin zog vielsagend die Augenbrauen zusammen, lachte dann aber: „Vorläufig bist du einfach ein unvorhergesehener Verwaltungsvorgang. Bevor man dich als richtigen Lehrer einstuft, wirst du dich erst mal bewähren müssen. Klar? Und noch etwas …“

„Ja?“

„Du wirst bitte nicht in dieser Verkleidung in der Schule auftauchen!“

„Ver…?“

„Komm schon! So tritt man nicht in einer Schule auf. Nicht mal ein Schulrat tut das. Also, einfach so, wie bei meinem letzten Besuch in Dresden: Jeans und weißes Hemd, meinetwegen ein Jackett. Auf dich warten immerhin ein aufreibender Job und ebensolche Teenager, mein Lieber!“

David nickte ergeben. Vielleicht sollte er ihr ganz einfach folgen.

Mit ihrem Schulleiter war Katrin offenbar schnell handelseinig geworden, denn schon am nächsten Vormittag meldete sie sich per Telefon: „David, ich habe echt einen Termin für dich. Du musst um elf Uhr im Erasmianum sein. Sei pünktlich! Abholen kann ich dich leider nicht, habe Unterricht auf dem Sportplatz. Nimm ein Taxi, wir sehen uns vielleicht am Spätnachmittag. Tschüs, und viel Erfolg!“

Das dunkelbraune Sandsteingebäude, vor dem ihn der Taxifahrer absetzte, war unschwer als Schulgebäude aus der Gründerzeit zu erkennen; die langestreckte Vorderfront war durch eine Menge hoher Fenster in gleichmäßigem Abstand untergliedert. Der Weg ins Innere führte über eine Treppe vorbei an der Hausmeisterloge im Parterre, endete aber dort für jeden, der sich nicht ausweisen konnte. „Rabe?“, wiederholte der Hausmeister und musterte den Unbekannten interessiert. „Ei, da schau her: Schlosser, mein Name. Ich glaub, mir wohne im gleiche Haus. Sie sin‘ gestern über mir eingezoge? Ich war grad unterwegs. Fräulein Schneider hat mir Bescheid gegebe. Heut wollte sie uns bekanntmache. Zu spät, jetzt kenne mir uns schon! Zum Direktor wolle Sie? Gut, da die Treppe ‘nauf und dann links immer dem Gang nach, schon stehe Sie vor dem Sekretariat. Viel Glück, sie hat mir nämlich angedeutet, worum ‘s geht!“ Schlosser zwinkerte dem neuen Hausbewohner fast schon wie ein Verbündeter zu.

David Rabe stieg die Stufen zum ersten Stock hinauf und tauchte dort in den typischen Schulmief ein; es roch nach den Putzmitteln vom Vortag und dem Belag von Pausenbroten. Hier betrat er einen jener Gänge, wie sie für Schulbauten aus der Gründerzeit typisch sind; breit genug, um im Abstand von fünfundvierzig Minuten Horden drängelnder Schüler aufzunehmen, hoch genug, um deren Lärm halbwegs zu schlucken und die Eleven von klein auf ihre bescheidene Stellung im großen Getriebe dieser Welt erfahren zu lassen. In die linke Seite, deren schmutzige Farbe noch auf ehemals graublauen Anstrich schließen ließ, waren im Abstand von etwa zehn Metern Türen eingelassen, deren Gewände einst weiß getüncht sein mochten. Nach draußen drang manchmal eine überlaute Lehrerstimme, dann wieder das Lachen einer Klasse und helles Singen von Sextanern. Mitunter schien – dem Lärmen nach zu schließen – auch eine Schülergruppe allein gelassen. Die Fenster auf der rechten Seite ließen an diesem regnerischen Tag nur trübes Licht herein. Auf den abgestoßenen Fensterbänken aus Marmorimitat standen kümmerliche Grünpflanzen, deren dunkelspeckige Blätter beinahe regelmäßig in verwelkte Spitzen ausliefen. All dies kam ihm aus längst vergangenen Schultagen vertraut vor, auch wenn er hier weniger Grau, stattdessen mehr Licht erwartet hatte. Sah so der goldene Westen aus? Am Ende des Ganges – er machte hier eine Biegung um neunzig Grad – befanden sich einige dicht nebeneinander liegende Türen ohne einladende Gewände; an einer prangte die Aufschrift Sekretariat. Rabe klopfte mezzopiano und streckte dann den Kopf durch die Tür, nachdem er sie zaghaft geöffnet hatte.

„Kommen Sie ruhig herein!“, rief ihm Frau Willms zu, die Sekretärin, die zwischen Karteischränken, abgenutzten Büromöbeln und Tischen mit Papierstapeln ein altertümliches Ungeheuer von Schreibmaschine bediente. „Was kann ich für Sie tun?“

Als er von seinem Termin bei dem Schulleiter sprach, hob sie ahnungsvoll den Kopf, stand auf, eilte ins Nebenzimmer und fragte, ob sie den Gast hereinführen dürfe. Wenige Augenblicke später stand Rabe einem verlegen wirkenden älteren Herrn gegenüber: „Herr Rabe? Schulz! Frau Schneider hat mir von Ihnen berichtet. Nehmen Sie am besten Platz! So, Sie wollen uns also verstärken? Versprechen kann und will ich einstweilen gar nichts. Aber ich habe schon mal ein vorläufig grünes Licht eingeholt, darf Sie, sobald das mit den Papieren geregelt ist, vorläufig bei uns beschäftigen. Wer weiß, vielleicht wird ja eines Tages eine ordentliche Anstellung daraus.“ Er lächelte hintersinnig. „Was können Sie denn unterrichten? Sie haben doch, wie ich gehört habe, noch in der alten DDR studiert?“

„Begonnen“, berichtete Rabe, „habe ich meine Studien am Sprachenkonvikt, das zur kirchlichen Hochschule in Berlin Zehlendorf gehörte. Die eigentlich theologische Ausbildung habe ich dann an der Humboldt-Universität erhalten. Für uns Absolventen des Sprachenkonvikts stand seit jeher die Philosophie im Vordergrund, die antike nicht anders als die neuzeitliche, von Plato und den Stoikern bis hin zu Sartre, aber selbstverständlich auch die christlichen Denker. Später, das war schon Ex-DDR, habe ich in Leipzig noch ein kulturwissenschaftliches Studium angehängt, Deutsch und Geschichte sowie eine Vertiefung in den alten Sprachen, mit denen ich von der Theologie her vertraut war. Denn auf die Kanzel wollte ich auf Dauer nicht.“

„Dann lieber aufs Katheder. Es geht da etwa legerer zu, dafür ist das Publikum weniger leicht zu bändigen! Irgendwie sind wir“, lächelte Schulz verschmitzt, „wohl Schicksalsgenossen. Ich bin kurz vor der Priesterweihe zur Philologie abgesprungen. Sie können sich vorstellen: der Zölibat! Und dann lag mir mehr am Bewahren und Weitergeben des vor Zeiten Geschriebenen. Sie sind zwar von der anderen Konfession. Aber darüber wollen wir im Zeichen der Ökumene hinwegsehen. Doch sagen Sie: Weshalb haben Sie sich so spät für die Schullaufbahn entschieden? Sie gehen auf die Vierzig zu, habe ich Ihren Papieren entnommen.“

David Rabe zählte seine Examina auf, von denen allerdings keines zu einer Festanstellung geführt hatte. Mit Lateinkursen hatte er zuletzt in Leipzig so viel verdient, dass es gerade für das Nötigste reichte, für mehr nicht: „Immer auf ein Jahr befristet! Und dann hatte ich noch an drei Tagen einen Halbtagesjob als Führer an den staatlichen Kunstsammlungen in Dresden. Nicht weniger prekär!“

„Und Frau Schneider?“, sah ihn Schulz erwartungsvoll an.

David Rabe hatte sie bei einer Lehrerfortbildung in Leipzig kennengelernt, danach hatten sie einen gemeinsamen Urlaub an der Ostsee verbracht, nochmals später hatte sie ihn in Dresden besucht. Sie bewunderte seine Kenntnisse, er ließ sich von ihrer ungezwungenen Unternehmungslust anstecken. Sie verstanden sich, und dann machte sie den Vorschlag, er solle doch an den Rhein übersiedeln. Dort werde er sicherlich eine Festanstellung an einer der besten Schulen des Landes finden. „Immer westwärts wie einst die Pioniere in Amerika!“, erlaubte sich David Rabe als Scherz.

„Dann hoffen wir mal“, kommentierte Schulz diese Vita, „dass Sie die Hürde nehmen. Damit meine ich das Plazet der Schulbehörde. Mit Ihrer Ausbildung würden Sie ganz gut zu uns passen. Wir sind nämlich eine renommierte Anstalt, wir haben die längste Tradition hier am Ort und weit darüber hinaus vorzuweisen. In wenigen Jahren feiern wir unser fünfhundertjähriges Bestehen. Die Vorbereitungen laufen schon auf vollen Touren. Da könnten auch Sie sich einbringen.“ Er machte eine Pause, senkte den Blick. „Leider haben wir seit einiger Zeit rückläufige Schülerzahlen. Noch hält die Bastion; noch haben wir etwas mehr als vierhundert Schüler. Ich hoffe, es wird uns, vor allem meinem Nachfolger, gelingen, die Tradition noch eine Weile am Leben zu halten.“

Vorsichtig, um Schulz nicht zu nahe zu treten, erkundigte sich David Rabe nach diesem Nachfolger. Schulz lächelte hintersinnig: „Ich vermute, ich verrate Ihnen da nicht zu viel: Frau Schneiders Vater ist im Gespräch.“

„Ja so! Und weshalb, sagten Sie, bleiben die Schüler aus? Eine Stadt mit weit mehr als hunderttausend Einwohnern, wenn ich recht informiert bin. Hinzu kommt das Umland. Da muss es doch ein ordentliches Potential geben. Universität in der Nähe, Bildungsbürgertum, eher konservativ – schätze ich mal – und auf Prestige bedacht. Das könnte doch, wenn ich von den Verhältnissen in Dresden ausgehe, für zehn Schulen dieser Größe reichen!“

„Genau das ist es ja“, seufzte Schulz. „Mit zehn Schulen sind Sie gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt. Doch die stehen in hartem Wettbewerb, da übertrifft ein Versprecher … Versprechen wollte ich sagen, das andere. Wir machen es unseren Schülern schon nicht allzu schwer. Doch noch etwas leichter bekommen sie es immer irgendwo. Spötter“, er hob abwehrend die Rechte, „nicht, dass Sie mich für einen solchen halten, die sprechen bereits von Pausenbrot und Spielbetrieb.“

Vorerst musste David Rabe also die Reservebank drücken: In der Schulbücherei sollte er Fräulein Bauer unterstützen, die als Aushilfsbibliothekarin mit befristeter Anstellung gerade alle Hände voll zu tun hatte. Das mündliche Abitur stand bevor. Schüler und Lehrer wollten dies oder jenes Buch für die Prüfungsvorbereitung ausleihen, auch hatte eine Kollegin aus der Kur einen Brief geschickt, in dem sie anordnete, einen Handapparat zum Thema Glück zusammenzustellen. Um welche Fee es sich dabei handle, wollte David von Fräulein Bauer wissen. Sie lächelte leicht gequält: „Fee? Na ja. Sie sollten wissen, es geht um die nervige Zick. Gehört eigentlich gar nicht hierher, ist nur für kurze Bewährung und Schnell-Beförderung an diese Schule abgeordnet. War Referentin bei einer der höheren Chargen der herrschenden religiös-konservativen Partei. Man munkelt, die schicken solche Leute gezielt hierher. Sie verlassen sich darauf, dass Schulz schon weiß, was man von ihm erwartet. Spötter nennen das Verfahren Durchlauferhitzen. Aber Vorsicht: Die Dame vereinigt äußerste Geschmeidigkeit mit Giftzahn. Sie sagt frei heraus, sie habe bisher mit Schule vor allem in der Theorie zu tun gehabt. Das bestätigen sogar die Schüler hinter vorgehaltener Hand. Jedenfalls bekommt sie hier im Eilverfahren den Stallgeruch, den sie als künftige Schulleiterin braucht. Ihr Pech: Sie ist seit einem Vierteljahr krankgeschrieben. Manche spotten, es sei der Praxisschock, der ihr ein Bein gestellt habe. Sie kommt aber demnächst aus der Kur zurück, deshalb rotiert sie schon mal aus der Ferne. Dazu der Handapparat! Ich habe aber nichts gesagt! Stellen Sie sich, wenn sie dann kommt, gut mit ihr. Ihr Arm reicht weit, im Guten wie auch ganz anders.“

Vorläufig blieb die Atmosphäre jedoch entspannt. Jedenfalls weitgehend. Das Abitur lief problemlos an und jedermann war zuversichtlich, alle Schüler würden wieder einmal die Reife erreichen, die einem das Abitur eben bescheinigt.

Nur Olaf Paulsen, ein junger Kollege, schien hilflos und schüttete, als sie in der Teeküche aufeinandertrafen, David Rabe sein Herz aus. „Wenn Sie wüssten, Rabe, was ich durchmache! Meine Schüler habe ich erst vor einem halben Jahr von Frau Zewes übernommen. Die können Sie nicht kennen. Die Schüler sagen mir, sie sei ständig auf Kommissions- und Personalratssitzungen unterwegs gewesen. Hat dem obersten, für den ganzen Bezirk zuständigen Gremium angehört und im letzten Jahr nur sporadisch unterrichtet, meist haben Referendare sie vertreten. Da war sie noch davon ausgegangen, sie werde ihre Schüler persönlich durchs Abi geleiten. Aber die anvisierte Schulleiterstelle wurde zu früh frei. Und da stehe ich nun, ich armer Tor, und soll prüfen, was die Schüler nicht gelernt haben!“

Paulsen fehlte noch das Geschick einer erfahrenen Lehrkraft, auch schwächere Schüler durchs Abitur zu lotsen. Er meinte, prüfen zu müssen, was die Schüler gelernt haben sollten. Schulz gelang es, ihn von solch wirklichkeitsfernem Vorhaben abzubringen: „Ich bitte Sie, Paulsen. Was ihre Schüler nicht gelernt haben, können Sie nicht prüfen. Ist doch klar, oder? Und gelernt haben sollten? Schon wenn ich das höre, wird mir schwindlig im Kopf. Prüfen Sie gefälligst, was Ihre Schüler gelernt haben!“ Es war für alle Seiten ein Erfolg, auch Kollege Paulsen war für sein weiteres Berufsleben klüger als zuvor.

Zeuge eines kleinen Eklats wurde David Rabe dann bei den Prüfungen von Magister Dr. Hurtig. Als engagierter Ger- und Humanist trat dieser auf beinahe allen Veranstaltungen im Landkreis auf. Er betreute die Referendare seiner Schule und war vom Kultusministerium bestellter Vorsitzende mehrerer Kommissionen, klärte nebenbei an der nahen Universität angehende Lehrer über die Pflichten eines Beamten im Schuldienst auf und engagierte sich im Verein für Auslandsdeutsche. In der verbleibenden Zeit leitet er einen Ost- und Südosteuropakreis aller Schulen des Regierungsbezirkes, organisierte Schüler- und Elternfreizeiten und stand den Konservativen im Rat seiner Heimatgemeinde vor. Kein Wunder, dass der Vielbeschäftigte um ein Haar seine mündlichen Prüfungen verpasst hätte. Schnaufend und hinter dicken Brillengläsern aufgeregt mit den Augen funkelnd, stürmte er mit einem vorwurfsvoll hingeworfenen „Sie wissen ja, mein universitärer Lehrauftrag!“ in den Prüfungsraum und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Die Prüfungsaufgaben für seine Schützlinge führte er wie stets in vielen Exemplaren mit sich, um sie auch dem Kollegium, das sich beeindruckt zeigen sollte, zur Kenntnis zu bringen. Sogar Rabe hatte er unmissverständlich angewiesen, als Zuhörer zu erscheinen: „Sie müssen schließlich lernen, wie man so eine Prüfung ordentlich durchzieht, Rabe! Haben wir uns verstanden?“

Hurtig hatte kaum Platz genommen, da hatte Franz Deutgen, ein Referendar, das für ihn bestimmte Exemplar schon überflogen. Er schüttelte den Kopf, runzelte die Stirn und erlaubte sich die Keckheit nachzufragen: „Sagen Sie, Herr Dr. Hurtig, die Schülerin soll Stellung nehmen zum Gesellschafts- und Weltbild des Diederich Heßling in Thomas Manns Roman Der Untertan? Wenn ich mich nicht täusche, ist das vom Bruder Heinrich.“ Magister Hurtig, schon unter Volldampf, erstarrte für einen kurzen Augenblick, wischte die unerhörte Belehrung aber gleich darauf mit der unwilligen Bemerkung beiseite: „Ja selbstverständlich, ist doch schön, dass Sie das so genau wissen, da wird sich halt jemand verschrieben haben. Oder? Auf den Autor kommt es hier gar nicht so sehr an, wir haben den Roman nicht im Unterricht gelesen. Die Schülerin hat sich das als Prüfungsthema ausgesucht. Zufrieden jetzt?“ Da in diesem Moment der erste Prüfling hereingeführt wurde, dämmerte es Hurtig erst allmählich, zu welch unglücklichem Auftritt er sich von Deutgen hatte verleiten lassen. Die Zornesröte, die ihm noch eine Weile im Gesicht stand, ließ wenig Gutes erahnen. Doch der junge Mann kam trotz seines leichtsinnigen Vorpreschens glimpflich davon. Auch Hurtig sollte zum Schuljahresende eine Schulleiterstelle an anderem Ort antreten. Immerhin durfte Deutgen nach erfolgreicher Referendarzeit auf Grund dieses Zwischenrufs zwei Jahre mit Mutterschaftsvertretungen zubringen, ehe er sich in einem abgelegenen Mittelgebirgsstädtchen endgültig bewähren durfte.

Gut erholt betrat unmittelbar nach den Abiturprüfungen Madame Zick die Bühne. Während des Krankenlagers und der anschließenden Kur hatten sie, wie sie alle wissen ließ, die gravierenden Probleme beschäftigt, die pubertierende Schüler „am Erasmianum und keineswegs nur da“ mit der Sinnfindung hätten. Deshalb wollte sie nun den entscheidenden pädagogischen Schritt in die richtige Richtung tun: Es gelte, dem Glück der Jugendlichen auf die Sprünge zu helfen. Kaum zurück, war schon alles geplant. Sie richtete Arbeitskreise ein: Thesenfindung, Problemfelder entdecken und abstecken, Strategien andenken. Dazu gab sie die Koordinaten Schule, Elternhaus und Leistungsanforderungen der Gesellschaft vor, womit der zu beackernde Kosmos Ertrag verheißend weit abgesteckt und zugleich eingesät war. Schon folgte ein erster Ausblick auf die vorgesehene Ernte: Der Werte- und Sinnverlust müsse auf die Tagesordnung! Schule habe ja eigentlich Sinngebung zu betreiben und dürfe sich nicht um Wahrheiten drücken. Das sei es nämlich, was den Schülern zum Glück fehle.

Ein Schülervater, vielleicht zu realistisch, warnte: „Werte muss man eher vorleben. Predigt man darüber, werden sie schnell unansehnlich. Und die Wahrheit? Die wird den Kids noch früh genug zu schaffen machen.“ So viel Unverständnis überging Zick stirnrunzelnd und kopfschüttelnd. Schließlich sollten „die wahren Werte“ ihr Projekt krönen, eine Vorzeigeernte galt als ausgemacht.

Größere Steine legte ihr Maier in den Weg, weshalb sie sich mit diesem in einer Art Dauerclinch befand. Denn diesem Maier, seines Zeichens Stundenplanmacher und einer der stellvertretenden Schulleiter, missfielen die Umtriebe der nach Höherem Strebenden. Er war Mathematiker und schon deshalb weniger anfällig für das, was er augenzwinkernd als Ideologie bezeichnete. Seine Aufgabe sah er vor allem darin, die Schüler mit geometrischen Figuren, dem Umgang mit Variablen und mathematischen Beweisgängen vertraut zu machen. Er glaubte nicht, sich dafür vor Kollegen oder Schülern rechtfertigen zu müssen, indem er über sein Tun diskutierte. Letztlich werde das, wie er meinte, allein dazu missbraucht, die Beschäftigung mit Variablen und Beweisen zu reduzieren. Da er sein Metier beherrschte, akzeptierten die Schüler das, zumal sie ihm mit Ausreden nicht beikamen. Anders Zick, die Auftritt und Aufstieg gefährdet sah, weil Maier auf seinem Matheunterricht bestand und seine Schüler von ihrer Veranstaltung fernhalten wollte. Schulz musste einschreiten und per Dienstanweisung durchsetzen, wozu Zick noch das Amt fehlte.

Andere konnten sich den „wahren Werten“ weniger leicht entziehen, schon gar nicht die Schüler. Nach anfänglich vergnügter Zustimmung, weil ja viel Fachunterricht ausfiel, stöhnten sie dann doch „Schon wieder Glück!“, wenn im Rahmen des fächerübergreifenden Projektes die Lateinlehrerin dem Thema zuliebe ihrem Text bis dahin unbekannte Aspekte entlockt hatte und nach fünf Minuten Pause der Geograph Urlaubsparadiese unter derselben Fragestellung ausleuchtete; selbstverständlich wirkten die Germanisten, Theologen aller Konfessionen, Sozialkundler und selbst manche Biologen wacker mit. Hatte eine Klasse Glück mit der Zusammensetzung ihrer Lehrer, durfte sie zwei Wochen lang ganze Vormittage selig und auf Sinnsuche sein. Maier, dem dies trotz Schulzens Anweisung missfiel, konnte es sich nicht verkneifen, das Treiben von Schülern und Kollegen zumindest aus der Ferne zu verfolgen. Als er am vorletzten Tag dieser Sinnfindung einen Klassenraum betrat, fand er eine Schülerin tief über das Waschbecken gebeugt, drei Schüler krabbelten auf allen Vieren auf dem Boden. Ihm fiel unwillkürlich ein: „Was gibt das hier? Seid ihr immer noch auf Sinnsuche?“ Ein Schüler erwiderte kopfschüttelnd: „Ach, nee, Herr Maier! Lara hat ihre Kontaktlinse verloren.“ Mit etwas Glück und dank gemeinsamer Anstrengung fand sich die Linse wenig später.

Projekte, Arbeitskreise, Gesprächszirkel und Fragebogenaktionen mündeten dann in einen Studientag für Lehrer. „Erfahrungen auswerten und für die Zukunft verfügbar machen“ war angesagt. Es gelte, die Bedürfnisse der Schüler zu erkennen und zu berücksichtigen, um sie „in die richtige Richtung“ zu lenken. Ob zu dem, was sie lernen wollten, oder zu dem, was sie lernen sollten, blieb unklar, weil man nach Selbstverständlichem nicht fragt. Schwindlig wurde denen im Kopf, die mit dem Projekt nicht unmittelbar befasst waren. Manche steuerten in falschem Elan Beobachtungen bei, die den Prozess zu verzögern drohten. Schwierigkeiten bereitete auch der Umstand, dass es mitwirkenden Schülereltern an dem für pädagogische Probleme geschärften Blick fehlte. Meinungen wie „Schüler mit Schulfrust in der Pubertät sind vor allem solche, die schulisch überfordert sind, weil ihre Lehrer ihnen nicht zum notwendigen Werkzeug verholfen haben oder weil sie grundsätzlich überfordert sind.“ waren für Zick nicht verwertbar. Sie wollte schließlich auf etwas ganz anderes hinaus. Einige Aktivisten hatten es bereits leichtfertig ausgeplaudert, andere ahnten es. Man werde sich in Zukunft mehrmals pro Jahr treffen und beraten, wie man die Schüler zu erfolgreicher Sinnsuche und damit zu mehr Schulerfolg führe. Zick wurde von Schulz auf Grund ihrer zuletzt gesammelten Erfahrung mit der Leitung dieser „ungeheuer wichtigen Aufgabe“ betraut.

Wenig später erfolgte angesichts von Zicks außergewöhnlicher pädagogischer Bewährung die Schnellbeförderung. Es wurde Zeit, denn nur so gelang es, die Hektik ihrer Aktivitäten auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Eigentlich war sie für die Schulleiterstelle in einer benachbarten Kreisstadt vorgesehen. Da sich der Abgang ihres Vorgängers verzögerte, dann eine kurzfristige Stellensperre hinzukam, kreiste sie am Erasmianum noch einige Wochen in einer Art Warteschleife. Sie arbeitete an einem Lehrbuch, hatte „furchtbar viel in Kommissionen“ zu tun, bearbeitete für die regierungseigene Druckerei die erste Auflage ihres pädagogischen Feldversuches und unterrichtete sogar hin und wieder.

Nach einiger Zeit hatte sich die Aufregung gelegt, und wer wollte, durfte auch wieder seiner Neigung oder auch nur Pflicht als Lehrer nachgehen. Dieser Frühsommer bot wenig Aufregendes, allenfalls die Erfahrung, dass Schule ursprünglich nicht nur dem Namen nach etwas mit Muße zu tun hatte. Zwar raunte Schönfärb, einer der Stellvertreter und für Pädagogik und Öffentlichkeitsarbeit zuständig, immer mal wieder, es stehe dem Erasmianum Gewaltiges bevor. Man werde es danach nicht wiedererkennen. Doch welches Beben er kommen sah, behielt er für sich. Mit Schulz konnte das nichts zu tun haben. Dass der in den verdienten Ruhestand gehe, war lange schon bekannt. Und Beben auszulösen war ohnehin nicht seine Sache. Also ging erst einmal nur ein Schuljahr zu Ende und alle brachen heiter in die Sommerferien in der Gewissheit auf, sechs Wochen später würde für sie nichts anderes beginnen als ein neues Schuljahr in einer schier endlosen Kette ebensolcher Jahre. Allein Maier und Schlosser blieben zurück. Der eine bastelte am Stundenplan für das nächste Schuljahr, der mangels rechtzeitiger Lehrerzuweisungen wie jedes Jahr lange Heraklits Maxime ‚alles im Fluss‘ gehorchte, der andere überwachte die jährliche Generalreinigung des Hauses.

Auch über David Rabe brachen die Sommerferien herein. Wenige Wochen zuvor hatte Katrin Schneider beiläufig erwähnt, sie fliege mit einer Freundin für vier Wochen nach Mallorca: „Mal die Schule vergessen, nur Sport und vor allem so richtig chillen! Wenn du dich anschließen oder später nachkommen willst, wir haben nichts dagegen.“ Selbst wenn David gewollt hätte – das Chillen gehörte nicht zu seinem bevorzugten Zeitvertreib –, es gab anderes, was eine solche Reise verhinderte. Wie stellte Katrin sich das bloß vor? Er war über den Rang einer Aushilfskraft in der Bibliothek bislang nicht hinausgekommen, weshalb er in den Ferien nicht bezahlt wurde. Wer nicht als ordentlicher Lehrer arbeitet – wusste die lebenserfahrene Obrigkeit – hat in den Ferien keine Unkosten. Wovon hätte er also eine Reise finanzieren sollen? Sein Habensaldo erlaubte es gerade, die laufenden Ausgaben während der Ferien zu bestreiten. Das Wenige, was übrigblieb, diente als eine Art Notgroschen. Keiner konnte oder durfte ihm sagen, ob er nach den Schulferien weiterbeschäftigt werde.

Wegen seiner prekären Lage hatte Katrin ihm kurz vor ihrer Abreise eindringlich ins Gewissen geredet. Es war an einem Sonntagnachmittag. Sie hatten zum ersten Mal, seit er angekommen war, eine richtige Landpartie unternommen. Bis dahin brachte sie die Wochenenden stets auf Sportveranstaltungen zu, für die David kein Interesse aufbrachte. Während einer Rast hatte sie ihn gefragt: „Nun mal im Ernst, David, wie stellst du dir eigentlich die Zukunft vor?“ Er wusste nicht, wie ihm geschah. Was meinte sie damit? Wollte sie ihm jetzt einen Heiratsantrag machen oder erwartete sie einen solchen von ihm? Eher keines von beiden, dazu war sie auf der Bank, auf der sie saßen, zu weit weggerückt. Also sprach er von der Warteschleife, in der er gefangen sei. Wie es beruflich und auch sonst mit ihm weitergehe, hätten leider andere in der Hand. Nein, hatte sie gesagt. Das sehe er völlig falsch. Überhaupt seien sie viel zu passiv. Er hakte, in dieser Hinsicht hellhörig, sofort nach, fragte, wen sie mit „sie“ meine. Ob sie etwa auf seine Herkunft aus dem Osten anspiele. Das wollte sie so nicht gemeint haben, und doch sei etwas dran an diesem Befund. Wie er sein Leben unter den gegebenen Umständen selbst in die Hand nehmen könne, wollte er wissen: „Ganz ehrlich, ich sehe mich eher vor jenem berüchtigten Schloss, na, du weißt schon. Es geht mir wie jenem Landvermesser und Schuldiener K: Die über mein weiteres Schicksal entscheiden werden, sind für mich nicht greifbar, ich kenne sie gar nicht. Aber dass nichts passiert, trifft mich umso härter! Soll ich also, nur um nicht untätig zu sein, mit dem Kopf gegen diese unsichtbare Mauer rennen?“

Katrin atmete tief durch und stellte betont sachlich fest, er sei tatsächlich noch nicht im W…, sie korrigierte sich, in der Wirklichkeit angekommen. Was meinte sie mit Wirklichkeit? Einen Stubengelehrten hatte sie ihn genannt, behauptet, mit so einen könne man in der Schule wenig Staat machen. Und überhaupt! Da müsse er sich gewaltig ändern, in seinem ganzen Auftreten, der Kleidung und allem. Als sie ihn damals kennenlernte, sei er viel cooler gewesen. Du wirst dich noch wundern, was aus dem Erasmianum demnächst wird!

Wollte sie einen ganz anderen Menschen aus ihm machen? Er überging das, beteuerte einfach, angesichts seiner prekären Lage alles ihm nur Mögliche zu tun. Hatte er nicht mit ganzem Einsatz in der Bibliothek gearbeitet?

Nein, nein, darum gehe es nicht. Es sei ja in Ordnung, dass er sich in dem Bereich, den man ihm zugewiesen hatte, engagiert habe, doch man müsse auch darüber hinaus Eigeninitiative entwickeln. An Frau Zicks Aktivitäten hätte er sich als einstiger Theologe … – „Einstiger? Einmal Theologe, immer Theologe!“, protestierte David. – Gut, umso besser, als Theologe hätte er sich da anhängen müssen. Das hätte sich „echt cool gemacht, eben ausgezahlt“. Denn diese Frau habe die entscheidenden Kontakte. Diesmal reagierte er mit erhobenem Haupt und einem schroffen „Nein! Wovon ich nicht überzeugt bin, dafür engagiere ich mich nicht.“

Und doch müsse er, darauf bestand Katrin, den anderen zeigen, dass er über Ehrgeiz verfüge. David Rabe hatte gefragt, ob man dafür alle Bedenken hintanstellen dürfe, hatte aber statt einer Antwort nur verständnisloses Kopfschütteln erhalten und dann das Gespräch schnell beendet. Katrin Schneider war ihm diesmal wie eine Fremde vorgekommen, die eher zum Frösteln als zur Umarmung einlud. Den Ausflug hatten sie in stillem Einvernehmen rasch beendet. Katrin hatte zum Abschied noch gesagt, er habe jetzt genug Zeit und solle über das, was sie ihm geraten habe, nachdenken. Es klang trotzig, nicht so, als glaube sie an den Erfolg ihrer Ermahnung. David hatte mit einem Nicken, das vieles bedeuten konnte, geantwortet, ihr eine „erholsame Auszeit“ gewünscht und sich schnell davongemacht.