The Cover Image
 

 

London, Mitte der Siebziger. Die Popkultur wird neu erfunden, in der revolutionären Ursuppe des Punk scheint alles möglich. Aber gilt das auch für Frauen? Gibt es außer Groupie, Elfe oder Rockröhre noch andere Rollen? Besteht vielleicht zum ersten Mal die Chance, mit allen Typical-Girl-Klischees aufzuräumen, statt selber eins zu werden?

 Viv Albertine wurde zum Riot Girl, lange bevor es diesen Ausdruck gab. Bei den legendären Flowers of Romance kreierte sie neben Sid Vicious (später Sex Pistols) und Keith Levene (später PIL) ihren individuellen Gitarrensound. Um dann mit den Slits, der ersten autonomen Frauen-Punk-Band, die Türen aufzustoßen, durch die später Madonna oder Lady Gaga eigene Wege gehen konnten.

 Wie die Punkszene entstand, wie sie aus weiblicher Sicht erlebt und feministisch neu erfunden wurde und welche Rückschläge es dabei gab – all das wurde noch nie so plastisch und zugleich so reflektiert, so abgeklärt und zugleich so amüsant geschildert wie von Viv Albertine in ihrem umwerfenden Memoir. Shoes off!

 

 

Viv Albertine zählt zu den Pionieren der englischen Punkbewegung, war Gitarristin in der ersten, extrem einflussreichen Frauen-Punk-Band The Slits, spielte zuvor bereits mit Sid Vicious (später Sex Pistols) und Keith Levene (später Public Image Limited) in der sagenumwobenen Ur-Punkband The Flowers of Romance und erlebte als Freundin von Mick Jones die Gründung von The Clash, aber auch die Sex Pistols sowie deren Umfeld (die »Sex«-Boutique von Vivienne Westwood und Malcolm McLaren) als zentrale Akteurin von Beginn an und aus allernächster Nähe mit. In den 1980er und 1990er Jahren arbeitete sie als Regisseurin und Produzentin für Film und Fernsehen. 2012 veröffentlichte sie ihr erstes Soloalbum: The Vermilion Border.

 

Conny Lösch lebt in Berlin und hat unter anderem Bücher von Greil Marcus, Jon Savage, Don Winslow, William Shaw und Ian Rankin übersetzt.

 

 

VIV ALBERTINE

A TYPICAL
GIRL

Ein Memoir
Aus dem Englischen von
Conny Lösch

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Clothes, clothes, clothes. Music, music, music. Boys, boys, boys: a memoir bei Faber and Faber, London.

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4675.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Viv Albertine 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: © Viv Albertine

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

 

eISBN 978-3-518-74409-3

www.suhrkamp.de

A TYPICAL
GIRL

 

Für Arla

Einleitung

 

Willst du nicht morgen auf die Schnauze fliegen, musst du heute die Wahrheit sagen.

Bruce Lee

Wer seine Autobiografie schreibt, ist entweder bescheuert oder pleite. Bei mir ist es ein bisschen was von beidem. Als ich anfing, musste ich ein paarmal lachen, später habe ich auch einiges gelernt, weil sich Muster abzeichneten, die ich vorher nicht gesehen hatte. Hoffentlich müsst ihr auch ein bisschen lachen und könnt hier und da was lernen.

Der Titel stammt von meiner Mutter, die immer gesagt hat: »Jungs, Klamotten und Musik, was anderes hast du nicht im Kopf!« Das bekam ich täglich zu hören, wenn ich nach der Schule keine Ahnung mehr vom Unterricht hatte, aber in allen Einzelheiten beschreiben konnte, was meine Lehrerin anhatte, von bestimmten Jungs schwärmte und immer schon vorher ganz genau wusste, welche Platten Hits werden würden.

Dieses Buch ist extrem subjektiv, ein selbstgebasteltes Album der Erinnerungen. Die Erfahrungen, von denen ich hier berichte, haben mich unwiderruflich emotional geprägt und zu der gemacht, die ich bin. Sollen die anderen, die mit dabei waren, doch ihre eigenen Versionen erzählen, wenn sie wollen. Diese hier ist meine.

Ein paar Namen wurden geändert, um die Schuldigen zu schützen.

Und für die Ungeduldigen ...

Um Sex geht es auf den Seiten 11, 42, 48, 131-3, 426-9, 438

Um Drogen auf den Seiten 65-7, 170-2, 264/5, 433/4

Um Punkrock auf den Seiten 99-101, 105/6, 156-160, 164-6, 177-9

A-SEITE

1 Masturbieren

2 Arcadia

3 Pet Sounds

4 Schlimme Jungs

5 Der Gürtel

6 You Can't Do That

7 Schick

8 John und Yoko

9 Fort

10 The Kinks

11 Blut und Scheiße

12 Zu cool für die Schule

13 Woodcraft Folk

14 Musik Musik Musik

15 Hello, I love You

16 Amsterdam

17 Art School

18 Dingwalls

19 22 Davis Road

20 Pfau

21 Horses

22 Erste Liebe

23 Der Sprung

24 Viv und Mick

25 The Clash

26 Erste Gitarre

27 The Roxy

28 Mick und Viv

29 Etwas liegt in der Luft

30 Winkelzug des Schicksals

31 Schock

32 Blowjob

33 Aneinandergekettet

34 Der Laden

35 The Flowers of Romance

36 Der 100 Club

37 Weihnachten 76

38 Ich und Johnny T

39 Heroin

40 Umschalten

41 Sidneys Traum

42 The Coliseum

43 Daventry Street

44 The Slits

45 Ari Up

46 White Riot

47 Jubilee

48 Peel Session

49 Abtreibung

50 Sid und Nancy

51 Identitätskrise

52 Songwriting

53 Grapevine

54 Cut

55 Simply What's Happening

56 Space is the Place

57 Return of the Giant Slits

58 Überdosis

59 Das Ende

1 MASTURBIEREN

 

 

 

 

Ich hab's nie gemacht. Nie machen wollen. Dafür gibt es keinen Grund, ich verdränge oder unterdrücke nichts, niemand hat mir eingebläut, dass es sich nicht gehört, und das denke ich auch nicht. Ich bin bloß nie auf die Idee gekommen. Von allein hatte ich nie das Bedürfnis danach, deshalb wusste ich lange nicht, dass man das überhaupt macht. Als ich dreizehn Jahre alt war und sich die Hormone bemerkbar machten, habe ich mit Jungs gefummelt, das hat mir genügt. Die Experimente gingen schrittweise immer weiter, bis ich mit fünfzehn Jahren zum ersten Mal Sex mit meinem festen Freund hatte. Wir blieben drei Jahre zusammen und sind heute noch befreundet, was ich schön finde. In der ganzen Zeit seit meiner ersten sexuellen Erfahrung habe ich mich nie selbst befriedigt, nur einmal habe ich es versucht, weil meine Freundinnen nicht lockerlassen wollten, nachdem ich mich über das Alleinsein beklagt hatte. Für mich ist Masturbieren aufgrund von Einsamkeit genauso wie Trinken, wenn man traurig ist: Es macht alles nur schlimmer. Dabei berühre ich durchaus meine Brüste (sie sind jetzt viel schöner, seitdem ich wieder ein bisschen zugenommen habe) oder fasse mir zwischen die Beine und rieche an meinen Fingern, und ich mach's sogar gerne, wenn ich nachts schön warm und gemütlich eingekuschelt im Bett liege. Aber es geht nie so weit, dass ich masturbiere. Ich habe einfach keine Lust dazu. Auch habe ich praktisch keine Phantasien – außer einmal, als ich schwanger war und randvoll mit Hormonen. Ich war sehr erregt und stellte mir vor, von einem Rudel tollwütiger wilder Hunde im Vorgarten gefickt zu werden. Wenig später hatte ich eine Fehlgeburt – sollte mir wohl eine Lehre sein. Aber auch diese Phantasie weckte nicht den Wunsch in mir, zu masturbieren. Ich ging das Szenario ein paarmal in Gedanken durch, schrieb es auf und habe mir nie wieder etwas Ähnliches vorgestellt. Ehrlich.

(Bitte lieber Gott, mach, dass der alte Computer, auf dem ich das geschrieben habe, in eine Million Teile zertrümmert wurde und nicht mehr irgendwo auf einer Müllhalde liegt, wo er in ferner Zukunft ausgegraben und analysiert werden kann, so wie die fossile Lucy.)

Also los, ungeschminkt und (genital) unfrisiert ...

2 ARCADIA

1958

 

 

 

Als ich vier Jahre alt bin, zieht meine Familie aus dem australischen Sydney nach England. Meine Schwester und ich haben jede drei Spielsachen: eine chinesische Stoffpuppe, einen Teddybären und einen Koalabären. Wir sind nicht zimperlich. Die Puppen werden so oft im Garten vergraben, bis wir schließlich vergessen, wo sie sind, und sie unter der Erde vermodern. Die Teddys packen wir an den Füßen und schlagen wild kämpfend damit aufeinander ein, bis sie völlig zerfetzt und kaputt sind, ihnen Augen und Ohren fehlen. Die Koalas fassen wir gar nicht an, weil sie aus echtem Fell sind und sich das unheimlich anfühlt.

Laut dem kleinen rot-weißen Rettungsring an einem Nagel im Badezimmer fahren wir auf einem Schiff namens Arcadia von Australien nach England. Die Reise dauert sechs Wochen. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört, wie meine Mutter und mein Vater meine Schwester und mich in den Stockbetten unserer Kabine zudecken. Sie erklären uns, dass sie zum Essen gehen, aber nicht lange bleiben. Falls wir Angst bekommen, sollen wir den Knopf am Bett drücken, dann kommt jemand und sagt ihnen Bescheid. Klingt absolut vernünftig, wir kuscheln uns ein und sie gehen.

Zirka dreißig Sekunden später packt uns die nackte Angst. Ich bin vier, meine Schwester zwei. Kaum ist die Tür zu und meine Eltern sind weg, finden wir es unerträglich, nachts allein an diesem fremden Ort! Wir weinen. Ich drücke auf den Knopf. Nach einer gefühlten Ewigkeit und sehr häufig wiederholtem Drücken taucht ein Steward auf, der behauptet, alles sei gut und wir sollen wieder schlafen. Er geht. Noch immer völlig verängstigt drücke ich erneut auf den Knopf. Lange kommt niemand, also drücke ich weiter. Schließlich taucht der Steward wieder auf und schreit: »Wenn noch mal jemand auf den Knopf drückt, geht das Schiff unter und eure Mama und euer Papa ertrinken.« Ich höre trotzdem nicht auf zu drücken. Mum und Dad ertrinken nicht, sie kommen nach dem Essen zurück und finden uns heulend im Bett.

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Mum and Dad (1)

Mit vier Jahren habe ich eine wichtige Lektion gelernt: Erwachsene lügen.

3 PET SOUNDS

 

Ich wünschte, ich wäre wieder ein Mädchen, halb wild und verwegen und frei.

Emily Brontë, Die Sturmhöhe

Meine Schwester und ich sind wilde kleine Mädchen. Ein paar Jahre lang benehmen wir uns gar nicht wie Mädchen, eher emotionslos, fast grausam. Wir haben einen Hund namens Candy. Ein weißer Yorkshireterrier, der seine eigene Scheiße frisst. Candys Atem riecht schlecht. Nach einer Operation (damit sie keine Jungen mehr bekommen kann) liegt sie in ihrem Korb und beißt sich den Schorf von der Wunde. So wie wir das alle machen.

Meine Schwester und ich bringen Candy bei, auf dem Rücken zu schlafen, wir packen sie unter eine Decke, so dass nur die Vorderpfoten oben rausschauen. Am Guy-Fawkes-Day ziehen wir ihr eine Haube und ein langes weißes Kleid an (eines unserer Taufkleider), setzen sie in einen Puppenwagen, schieben sie den Muswell Hill Broadway rauf und runter und betteln um »einen Penny für den Guy«. Viel bekommen wir nicht, aber darum geht's auch nicht.

Candy wird uns ziemlich schnell langweilig und wir stellen das Gassigehen ein. Wir rufen nur noch »Gassi!« und rasseln mit der Leine, wenn wir sie nachts nicht mehr aus dem Garten ins Haus bekommen. Irgendwann setzt sie sich durch und bleibt dort.

Eines Tages wird ein anonymer Brief unter der Tür durchgeschoben. »Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Ihren armen kleinen Hund ...« Der Briefschreiber schimpft, weil wir so gemein zu Candy sind. Wir geben sie weg.

Eine Katze haben wir auch, Tippy. Wir stellen ihr Fallen im Garten. Wir heben Gruben aus, decken Blätter und Zweige darüber und warten darauf, dass sie hineinfällt – was sie natürlich niemals tut. Also versuchen wir, sie hineinzustoßen. Irgendwann läuft Tippy davon.

Schließlich haben wir drei Goldfische, Flamingo, Flipper und Ringo, alle vom Jahrmarkt. Flamingo stirbt nach wenigen Tagen. Flipper zwei Wochen später. Ringo frisst seine Leiche. Danach erleidet Ringo einen Nervenzusammenbruch (zweifellos überwältigt von Schuldgefühlen), stundenlang steht er am Boden des Aquariums Kopf. Schließlich kann ich es nicht länger mitansehen und spüle ihn ins Klo. Als sich das Wasser in der Schüssel wieder setzt, ist er immer noch da. Ich muss viele Male spülen, um ihn loszuwerden. Das Bild von Ringo, der auf dem Grund der Kloschüssel Kopfstand macht, verfolgt mich bis heute.

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Mit meiner kleinen Schwester (2)

4 SCHLIMME JUNGS

1962

 

 

 

Die Tür des Klassenzimmers geht auf und unser Direktor kommt herein, flankiert von zwei identisch aussehenden, verwahrlosten Jungs. Mr Mitchell verkündet der Klasse, dass es sich um Colin und Raymond handelt, die wegen schlechten Benehmens von ihrer letzten Schule geflogen sind. Er schaut auf die Zwillinge herunter und sagt:

»St. James ist eine christliche Schule. Wir glauben an die Erlösung und geben euch eine zweite Chance.«

Colin und Raymond blicken ihn finster an; sie freuen sich nicht, hier zu sein, und anscheinend sind sie auch nicht dankbar für ihre zweite Chance. Verächtlich betrachten sie uns gewaschene, wohlerzogene Kinder in unseren dunkelbraunen Blazern, den gestärkten weißen Hemden und den gestreiften Krawatten. Ihre löchrigen grauen Socken hängen ihnen an den Knöcheln, sie tragen keine albernen superkurzen Hosen wie die anderen Jungs in meiner Klasse – ihre kurzen Hosen sind lang, reichen bis zu den aufgeschürften Knien. Schmierige braune Strähnen hängen ihnen in die Augen. Einer hat eine Narbe auf der Sommersprossenwange. Ich denke: Gott sei Dank, endlich mal zwei gutaussehende Jungs in der Schule. Vor Freude möchte ich in die Hände klatschen. Keine Ahnung, woher dieser Gedanke kommt. Ich kenne ihn nicht. Bislang waren Jungs mir egal, sie waren unsichtbar gewesen, bedeutungslos in meiner Welt. Niemand hat mir je etwas über schlimme Jungs erzählt, dass sie sexy sind und faszinierend oder dass ich mich vor ihnen hüten soll. Darauf komme ich heute ganz alleine – mit acht Jahren in der dritten Klasse.

Während unsere Klasse in Zweierreihen durch die grünen Straßen von Muswell Hill zum Speisesaal spaziert, kann ich den Blick kaum von den beiden Übeltätern wenden. Am liebsten möchte ich sie einsaugen. Ich verrenke mir den Hals und gehe schließlich rückwärts, um die beiden anzustarren. Beim Essen sitzen wir nicht am selben Tisch. Ich bin enttäuscht, aber wenigstens befinde ich mich direkt hinter Colin am Nachbartisch, kehre ihm den Rücken zu. Ich bin aufgeregt, eine neue Art von Aufgeregtheit, ein blubberndes, die Kehle zuschnürendes, gurgelndes Gefühl steigt aus meinem vorschriftsgemäß marineblauen Schulschlüpfer hinauf bis in meine Brust. Der Versuch, diese Energie im Zaum zu halten, bringt mich nur noch mehr auf Touren. Mir fällt nur eine Möglichkeit ein, die Spannung abzubauen und Colin auf mich aufmerksam zu machen: Ich stupse ihn von hinten an. Er merkt nichts, also pieke ich ihn erneut. Dieses Mal wirbelt er herum und faucht mich an, bleckt die Zähne wie ein in Bedrängnis geratenes Tier, aber dieses neue Gefühl treibt mich an, und kaum hat er sich wieder umgedreht, stupse ich ihn.

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Auf der Junior School, 1963 (3)

»Wenn du das noch mal machst, polier ich dir die Fresse.«

Noch nie hat mir ein Junge gedroht, und es gefällt mir nicht, ich glaube, ich fang gleich an zu heulen. Ich habe so eine Ahnung, dass es eigentlich anders laufen sollte, wenn man jemanden mag, aber das Adrenalin in meinem Blutkreislauf blockiert mein Denkvermögen. Ich kann kaum glauben, was ich da mache, ich muss den Verstand verloren haben, ich riskiere alles, verdränge jeglichen Gedanken an Angst, Stolz und Selbstschutz – ich stupse ihn erneut.

Colin dreht sich um. Die anderen verstummen und starren uns an. Ich schaue mich nach einem Lehrer um, der mich retten könnte, aber es ist keiner in der Nähe. Also halte ich mich an der Bank fest und starre Colin an, warte darauf, dass er zuschlägt. Sein Mund verzieht sich zu einem durchtriebenen Grinsen.

»Ich glaub, die steht auf mich.«

Von diesem Augenblick an sind wir unzertrennlich.

5 DER GÜRTEL

1963

But the child's sob in the silence curses deeper

Than the strong man in his wrath.

Elizabeth Barrett Browning, The Cry of the Children

Ich wohne mit meiner Mutter, meinem Vater und meiner kleinen Schwester im Haus meiner Großmutter in Muswell Hill, im Norden von London, in einer Erdgeschosswohnung. Im Haus riecht es nach Mottenkugeln, und wegen des angeschlagenen Nervenkostüms von Miss Cole, der Mieterin im obersten Stock, müssen wir ständig leise sein, sogar im Garten – ich identifiziere mich allen Ernstes mit Anne Frank, die auch auf Zehenspitzen gehen musste. Wir haben kein Wohnzimmer und teilen uns ein Bad mit meiner Großmutter. Auch Teppichboden gibt es nicht, nur blanke Dielen und einen abgenutzten persischen Läufer in der Küche. An Möbeln besitzen wir nur drei Betten, einen gesprenkelten grünen Resopaltisch mit runden Edelstahlbeinen und vier Essstühle mit kaputten gelben Plastikbezügen, aus denen die haarige schwarze Füllung quillt. Die Esszimmergarnitur wurde eigens für uns aus Australien verschifft.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein glückliches Zuhause aussieht: schmusende und lachende Eltern, es wird Musik gespielt, Bücher stehen in den Regalen und am Esstisch wird lebhaft diskutiert. Bei uns gibt es nichts dergleichen, aber solange Mum glücklich ist, bin ich es auch. Das Problem ist, dass sie es oft nicht ist, denn mein Vater ist eigenartig und schwierig und geistig lange nicht so beweglich wie sie – außerdem sind wir arm. Jeden Abend liege ich im Bett und höre durch die Wand, wie Mum die Küche aufräumt. Sie öffnet und schließt Schranktüren, klappert mit Töpfen und Pfannen, ich versuche, die Geräusche zu deuten, anhand der Lautstärke des Türeknallens und Tellerklapperns einzuschätzen, ob sie gute oder schlechte Laune hat. Meistens hat sie schlechte. Manchmal denke ich: Die Tür wurde sanft geschlossen, der Topf leise weggestellt, es geht ihr gut, und dann schlafe ich zufrieden ein.

Heute sind meine Augen vom Weinen verquollen und ich habe rote Striemen hinten an den Beinen; es tut so weh, dass ich mich auf die Seite legen muss. Mum hat mich und meine Schwester ins Bett gebracht, uns jeder ein Küsschen gegeben und das Licht ausgemacht, aber ich liege wach, lausche angestrengt durch die Schlafzimmerwand. Ich schließe die Augen, konzentriere mich auf die Geräusche, um festzustellen, ob sie den Streit von vorhin bereits verwunden hat. Ich höre Dad mit ihr sprechen. Was macht dieses große haarige Ungeheuer bei uns zu Hause? Viele Väter kommen mir so vor: Sie sind unangenehm, ungeschickt, ständig im Weg, deplatziert, nehmen viel zu viel Raum ein. Nach der Geburt der Kinder hätten sie zum Büffeljagen in die Wildnis ziehen und nie wieder zurückkehren sollen; ursprünglich war das mal so gedacht. Aber mein Dad ist nicht so wie die anderen, er ist schlimmer; überall hat er Haare, dazu ein von Rasierwunden übersätes Stoppelkinn. Er klebt sich kleine Stücke Klopapier drauf, um die Blutung zu stoppen. Meist hängen überall auf seinem Hals und Kinn verteilt winzige weiße, rotgesprenkelte Fitzelchen. Im Lauf des Tages werden kleine rote Pünktchen auf seinem Kinn sichtbar, dann geht er wieder ans Waschbecken, um sich erneut zu rasieren. Seine tiefe Stimme, die durch seinen französischen Akzent noch fremder wirkt, dröhnt und donnert durch die Wände, andauernd räuspert er sich, löst riesige Schleimklumpen aus seiner Kehle. Er ist so ... maskulin, so ... fremdländisch – eine Kreuzung aus Fred Feuerstein und einem französischen Stanley Kowalski aus Endstation Sehnsucht.

Heute sind zwei Sachen passiert, einmal etwas, das es noch nie gegeben hat, und etwas anderes, das ständig vorkommt. Wir hatten Besuch, keine Freunde – ich glaube nicht, dass Mum und Dad überhaupt Freunde haben –, aber ein paar Tanten und Onkel. Ich bin so aufgeregt, dass ich freiwillig alle Flusen von dem abgewetzten Teppichläufer unter dem Tisch abpflücke, da wir keinen Staubsauger besitzen – oh, nein, der ist so abgewetzt, man kann die Webfäden sehen –, ich rücke die Stühle gerade und mache die Betten. Zum ersten Mal betrachte ich unsere Wohnung mit den Augen anderer und merke, dass wir in einem Loch hausen.

Ungefähr um drei Uhr sind alle da. In der Küche packe ich selbstgebackene Haferkekse auf einen Teller und höre, wie Dad erzählt, was alles schiefgegangen ist, als er und Mum noch in Kanada lebten und einen Fish-'n'-Chips-Laden führten. Sie ließen die Pommes verbrennen, benutzten das falsche Mehl für die Panade, konnten die Passagiere eines Reisebusses nicht verpflegen und mussten sie bitten, am nächsten Tag noch einmal vorbeizukommen. Mum und Dad werfen sich weg. So was hat es noch nie gegeben: Mum und Dad lachen zusammen.

Ich lasse die Kekse stehen und gehe nachsehen. Von der Küchentür aus starre ich sie mit offenem Mund an. Tränen laufen mir über das Gesicht und in den Mund, ich sauge diesen außergewöhnlichen Anblick in mich auf. Ich bin so glücklich und habe so große Angst, dass ich etwas so Wunderbares vielleicht nie wieder sehen werde.

Und ich sah es wirklich nie wieder.

Vier Stunden später liege ich im Dunkeln und lausche. Anhand der Geräusche aus der Küche stelle ich fest, dass Mum noch wütender ist als sonst, und ich weiß auch, warum. Als alle gegangen waren, habe ich oder meine Schwester, ich weiß nicht mehr, etwas gesagt, über das Dad sich geärgert hat, irgendetwas Blödes, aber er ist ausgeflippt.

»Geh und hol den Gürtel.«

Das passiert häufig. Ich gehe in den Keller, mache die Tür auf – das Licht muss ich nicht anmachen, ich kenne dieses Ritual in- und auswendig – und nehme den braunen Ledergürtel von dem Haken im unverputzten Mauerwerk. Ich atme Backstein- und Kohlenstaub ein, meine Kehle schnürt sich zusammen. Dann gehe ich zurück zu Dad, lasse die Schnalle hinter mir über den Boden schleifen, sie schlägt gegen die Möbel. Mein trotziges Verhalten macht ihn nur noch wütender. Ich übergebe ihm den Gürtel. Er befiehlt mir, mich umzudrehen, ihm den Rücken zuzukehren, dann schlägt er mir drei Mal auf die nackten Beine. Meine Schester ist als nächste dran. Wir heulen wegen der Ungerechtigkeit und der Schmerzen. Wir weinen, so laut wir können, hoffen, dass Mum ihn besänftigen wird oder die Nachbarn uns hören, rüberkommen und mit ihm schimpfen oder ihn ins Gefängnis sperren lassen. Aber wenn die Haustür erst mal ins Schloss gefallen ist, mischt sich niemand ein. Das Haus nebenan hätte sich genauso gut im Ausland befinden können.

Als zusätzliche Bestrafung befiehlt Dad uns, sofort in unser Zimmer zu gehen. Dort ist es eiskalt. Kaum ist er weg, kramen wir in der Nachttischschublade, finden einen alten Kugelschreiber und malen uns gegenseitig Linien um die roten Striemen herum, damit die krakligen blauen Umrisse auch dann noch Zeugnis seiner Schandtaten ablegen, wenn die Schwellung abgeklungen ist. Wir versprechen einander: Niemals werden wir den Kugelschreiber abwaschen, wir werden die Linien täglich nachziehen. Unsere selbstgemachten Tätowierungen werden – ihn und uns – dauerhaft daran gemahnen, was für ein Tyrann er ist. Jawohl, dem werden wir's zeigen.

Ein bisschen später kommt Dad rein, will nach uns sehen. Wir sitzen auf unseren Betten und zeichnen, über die schlimmsten Schmerzen und Tränen sind wir hinweg. Er weint und umarmt uns, sagt, es täte ihm leid, und bittet uns, ihm zu verzeihen.

»Ja, wir verzeihen dir, Daddy!«, singen wir im Chor.

Wir müssen ihm verzeihen, wir haben täglich mit ihm zu tun. Wenn wir ihm nicht verzeihen, wird unser Alltag noch viel unangenehmer; das ist eine Frage des Überlebens. Wir wollen einfach nur, dass alles wieder gut ist, oder jedenfalls so aussieht. Mum ruft zum Essen. Dad sagt, wir sollen den blöden Kugelschreiber abwaschen und kommen.

Wir lassen absichtlich ein paar blaue Spuren auf unserer roten Haut zurück, nicht so viel, dass er wieder wütend wird, aber genug, um unseren Stolz zu retten. Dann marschieren wir in die winzige Küche mit den beschlagenen Scheiben und essen Eintopf: Fleischklumpen auf dem Teller, Kloß im Hals, rote Augen und Beine. Dad macht einen Witz und wir lachen, damit er zufrieden ist, schweigend kauen wir. Als keiner guckt, spucke ich das Fleisch in meine Hand und spüle es später ins Klo. Das Radio läuft, die Titelmelodie von Sing Something Simple mit den Swingle Singers sickert in den Raum, die Gesangsharmonien – widerlich schmalzig – durchdringen die Atmosphäre und verdrängen die Stille.

Bis heute kann ich diese Fünfziger-Jahre-Harmonien nicht ausstehen – das ist wie mit alkoholischen Getränken, von denen man als Teenager zu viel getrunken hat; allein vom Geruch wird einem ein Leben lang schlecht.

6 YOU CAN'T DO THAT

1964

 

 

 

Ich bin bei meiner Babysitterin Kristina, zum ersten Mal im Zimmer eines großen Mädchens. Nirgendwo Puppen oder Teddybären. Auf ihrem Bett thront ein ›Gonk‹, im Prinzip ein rundes rotes Kissen mit langen schwarzen Fransen, kein Mund, aber große Füße. Die Überdecke ist lila und auch die Möbel sind lila gestrichen. Mitten auf dem Boden steht ein Plattenspieler, eine kleine, mit weißem Kunstleder überzogene Kiste, die ein bisschen wie ein Schminkköfferchen aussieht. Überall fliegen quadratische Zettel herum, in deren Mitte jeweils ein Kreis ausgeschnitten ist. Kristina klappt den Deckel des Plattenspielers hoch und nimmt eine glänzende lakritzschwarze Platte aus der Hülle, legt sie auf den Dorn in der Mitte und lässt den Plastikarm vorsichtig auf die Rillen herunter. Ein kratzendes Geräusch. Ich habe keine Ahnung, was gleich passieren wird.

Aus den kleinen Lautsprechern springen die Stimmen von Jungs – »Can't Buy Me Love!«.

Ohne Vorwarnung. Ohne einleitende Worte. Direkt ins Zimmer. Es sind die Beatles.

Solange das Lied läuft, rühre ich mich nicht. Ich will keine Sekunde davon verpassen, nehme mit jeder Faser meines Wesens auf. Die Stimmen sind so lebendig. Ich find's toll, wie sie »love« nicht zu Ende singen – sie brechen einfach auf halber Strecke ab und verwandeln das Wort in ein Stöhnen. Das Lied schlittert dahin, wird nur einmal von einem Schrei unterbrochen. Ich weiß, was er bedeutet: Aufwachen! Wir sind da! Wir verändern die Welt! Ich fühle mich, als hätte ich den Finger in die Steckdose gesteckt. Von Kopf bis Fuß stehe ich unter Strom.

Als der Song zu Ende ist, dreht Kristina die Platte um – Was soll das denn? – und legt die B-Seite auf: »You Can't Do That«.

Dieser Song bohrt sich mir ins Herz, und ich glaube kaum, dass es je wieder heilen wird. John Lennon ist so nah, so wahr, als wäre er selbst im Raum. Er singt mit der Stimme eines ganz normalen Jungen, kein hochfliegendes Geträller und keine schnulzigen Harmonien, wie Mum und Dad sie im Radio hören. Er sagt mir, seiner Freundin, mit ganz alltäglichen Worten, dass ich aufhören soll mit anderen rumzumachen. Ich kann seine Verletztheit spüren, ich höre es seiner heiseren Stimme an; er kann es nicht verbergen. Er schwankt zwischen draufgängerisch und verletzlich, will auf cool machen, aber es gelingt ihm nicht. Und das ist meine Schuld. Ich fühle mich so mächtig, weil ich einen solchen Einfluss auf einen Jungen habe – es ist berauschend. Ich muss es ihm unbedingt sagen: Tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe, John, ich tu's nie wieder. Ich habe ein komisches Gefühl zwischen den Beinen, es fühlt sich gut an. Immer und immer wieder lasse ich den Song laufen, eine Stunde lang, bis Kristina es nicht mehr aushält und mich nach Hause bringt.

»You Can't Do That« kenne ich schon auswendig und singe es vor mich hin. Ich fahre mit der Hand durch die Ligusterhecke, reiße Blätter ab, und wenn der Refrain kommt, bohre ich den Daumennagel in deren gummiartiges grünes Fleisch: »Oooh, you can't do that!« John Lennons Stimme ist immer noch in meinem Kopf. Kein angsteinflössendes Grollen wie die meines Dads, sondern vertraut und zugänglich, ein bisschen nasal, wie meine eigene. Das ist es! Er ist wie ich, nur eben ein Junge. Ich treibe durch die von Bäumen gesäumten Straßen, vorbei an Reihenhäusern, kleinen Backsteinkästen, werfe kurze Blicke in die beleuchteten, rechteckigen Öffnungen, sehe andere, glücklichere Familien. Aber heute bin ich nicht neidisch, ich schaue nicht trostsuchend in die Fenster. Ich gleite unter Straßenlaternen und Kirschbäumen hinweg, trete mit meinen Clarks-Sandalen auf rosa Blüten und die Spalten zwischen den Pflastersteinen – jetzt habe ich keine Zeit mehr für so ein kindisches Zeug. Bis heute dachte ich, das Leben besteht aus traurigen, wütenden Erwachsenen, langweiliger Musik, zähem Fleisch, verkochtem Gemüse, Kirche und Schule. Jetzt ist alles anders: Ich habe den Sinn des Lebens entdeckt, verborgen zwischen den Rillen einer flachen schwarzen Plastikscheibe. Ich verspreche mir selbst, dass ich Eingang finden will in diese neue Welt; aber ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Was oder wer kann mir helfen, mich diesem Paralleluniversum anzunähern? Ich blicke die Straße auf und ab, als könnte jemand aus einem Türeingang treten und mich mitnehmen, aber ich sehe nichts außer endlosen Häuserreihen, so weit das Auge reicht. Mir ist schlecht. Ich hasse sie.

7 SCHICK

1965

 

 

 

Es ist Sonntagnachmittag. Ich habe lange, glatte hellbraune Haare und einen Pony, der an meinen Wimpern kitzelt. Ich trage einen lila Minirock aus Cord, meinen grauen Schulpulli, weiße Kniestrümpfe und schwarze Schuhe. Ich bin elf Jahre alt und gehe mit meinem Dad über den Muswell Hill Broadway an Wimpy's vorbei, wo ich immer stehen bleibe und sehnsüchtig die grünlich verblichenen Fotos von Wimpy-Burgern mit Fritten im Fenster betrachte. Ich bin nur einmal dort gewesen. Und habe alles daran geliebt: die roten Plastikstühle, die alle aneinander befestigt sind, die schlichten weißgekachelten Wände, die verglichen mit meinem Zuhause so modern und sauber wirken. Die Fritten, so dünn, dass gar keine Kartoffeln drin sein können, knusprige goldene Stängel. An dem gummiartigen Fleisch der Burger gefällt mir, dass es nicht wie echtes Fleisch ist, nicht aussieht wie von einem Tier. Meine Zähne schneiden auf sehr befriedigende Weise in diese braune Scheibe. Als würde man Spielzeug essen, etwas Erfundenes, nur so zum Spaß. Phantasieessen. Perfekt für eine mäkelige Esserin wie mich, fade, geschmacklos, ohne Überraschungen.

Als Nächstes kommen wir an dem Spielzeugladen vorbei, in dem ich mir jedes Jahr mein Weihnachtsgeschenk aussuchen darf; dann an dem Geschäft mit den Schuluniformen, wo wir immer im September einen braunen Rock, eine gelbe Bluse und einen grauen Pullover kaufen. Muswell Hill ist mein Universum. Heute waren wir in den Cherry Tree Woods, ich habe geschaukelt, und Dad hat mir eine Ausgabe der Zeitschrift Jackie gekauft. Zum ersten Mal seit langem bin ich in seiner Gegenwart entspannt, hake mich bei ihm unter und sage:

»Daddy, wenn ich groß bin, will ich Popsängerin werden.«

Jetzt ist es raus, ich habe es gewagt, meinen Traum auszusprechen, laut zu formulieren. Dad ist der einzige Erwachsene in meinem Umfeld, der sich überhaupt irgendwie für Musik interessiert, auch wenn es Petula Clark ist, und jetzt habe ich's gesagt, habe den ersten Schritt zur Verwirklichung meines Traums gewagt. Dad wird wissen, was zu tun ist, wie ich es anfangen muss, er wird mir den Weg weisen.

»Du bist nicht schick genug.«

Ich weiß nicht, was schick bedeutet, aber ich weiß, was er meint. Seinem Tonfall entnehme ich, dass ich hochgestochene Ideen habe, die mir nicht zustehen und denen ich mit meinem Aussehen, meinen Fähigkeiten und weiblichen Reizen unmöglich gerecht werden kann. Und ich glaube ihm. Er muss es wissen, er ist schließlich mein Vater.

Dad und ich gehen schweigend weiter. Ich denke, er hat gar nicht gefragt, ob ich singen kann – aber anscheinend spielt das keine Rolle. Ich bin ja sowieso nicht schick genug.

8 JOHN UND YOKO

 

 

 

 

Ich wuchs mit John Lennon an meiner Seite auf, er war mein großer Bruder. Als ich ihn zum ersten Mal singen hörte, hatte ich keine Ahnung, wie er aussah, was er anhatte und dass außer ihm noch ein paar andere coole Jungs in der Band waren. Nichts. Die Musik und die Worte sagten alles.

Jahr für Jahr hat er mir ein bisschen mehr von sich offenbart und mich nie enttäuscht. Er wurde immer besser. Ständig veränderte sich seine Kleidung und seine Frisur, er experimentierte mit Drogen, spritueller Erleuchtung, Religion und Psychologie, und die Musik wurde immer komplexer, von Platte zu Platte. Dann lernte er Yoko Ono kennen. Endlich gab es ein Mädchen in meinem Leben, das mich bezauberte und inspirierte. Die englische Presse hasste Yoko, aber ich war von ihr fasziniert, und meine Freundinnen auch. Wir fanden sie phantastisch. Bei ihrer Hochzeit trug sie ein weißes Minikleid und weiße kniehohe Stiefel. Ich las ihr Buch Grapefruit, sie hatte Ideen, auf die ich nie im Leben gekommen wäre; ihre Gedanken und Vorstellungen waren für mich wie bewusstseinserweiternde Drogen. Ein Gedicht konnte aus einem einzigen Wort bestehen. Schlichte Kritzeleien waren Kunst. Ihre philosophischen Aussagen und Anweisungen veränderten meine Auffassung vom Leben. Mir gefiel, dass die Beatles – zumindest John und Paul (der damals noch mit Jane Asher liiert war) – mit Frauen zusammen waren, die Ideen hatten, interessante Gesichter und starke Persönlichkeiten (die Stones waren dagegen alle mit atemberaubenden Schönheiten zusammen). Als John und Yoko sich für das Two-Virgins-Cover auszogen, war der Anblick ihrer normalen nackten Körper schockierend, weil sie so überhaupt nicht perfekt waren. Besonders von Yoko war es mutig; die Presse nahm ihren Körper auseinander und mokierte sich darüber. Aber ich kapierte es. Endlich mal ein interessantes und mutiges Mädchen.

John fand ich witzig, schlau und klug. Er war meine Muse, was nur deshalb problematisch war, weil er so offen über seine Gefühle sprach – ständig schrieb und redete er über seine Mutter, Yoko, seine Tante und bekannte sich dazu, wie wichtig Frauen in seinem Leben waren. Ich dachte, alle Jungs seien so – und zu meiner großen Enttäuschung war oder ist es fast keiner.

9 FORT

1965

 

 

 

An einem Samstagnachmittag Ende August kommen meine Mutter, meine Schwester und ich nach einem zweiwöchigen Besuch bei meiner Tante nach Hause zurück. Mum und ich stellen unsere Plastiktüten und Rucksäcke im Flur ab, während meine Schwester nach oben rennt und Dad Hallo sagen will. Wir hören sie durch die Zimmer rennen und mit Türen knallen. Sie ist sehr aufgeregt, wir waren zum ersten Mal seit Jahren weg. Dann höre ich ihre Stimme, etwas panisch ruft sie von der Treppe herunter:

»Er ist fort!«

Ich renne nach oben, Mum hinterher, zu dritt starren wir die Tür von Vaters Arbeitszimmer an. Sonst ist sie immer verschlossen, aber heute steht sie sperrangelweit offen. Wir durften da nie rein, deshalb dauert es einen Augenblick, bis wir uns ein Herz fassen, vortreten und hineinschauen. Sein Heiligtum ist leer. Der Holztisch mit den scharfen Kanten und Ecken, den er selbst gebaut hat, die türkisfarbene Gelenklampe, die ingenieurswissenschaftlichen Bücher, die Krawatten an der Tür, alles verschwunden. Wir gehen in den Flur zurück und schauen uns um. An den Wänden fehlen Bilder, die große Kiste mit den Fotos ist weg, und allmählich merken wir, dass alles Mögliche andere auch nicht mehr da ist – wir fühlen uns beraubt. Meine Schwester und ich sehen Mum an, in der Erwartung, dass sie Sinn in diese Sache bringt. Und wir zweifeln nicht daran, dass es ihr gelingen wird, schließlich bringt sie in alles Sinn.

»Gott sei Dank, er ist weg«, sagt sie und lächelt. »Was für eine Erleichterung.«

Meine Schwester und ich lachen nervös. Wir sind noch nicht überzeugt. Wir lassen Mums Gesicht keine Sekunde aus den Augen, suchen nach einem Anflug von Zweifel darin. Als wir sicher sind, dass es ihr gut geht, entspannen wir uns und pflichten ihr bei: Ja, super, dass die große haarige Plage endlich fort ist. Alles ist vollkommen normal und richtig. Kommt, wir machen Tee!

Mum muss geschockt gewesen sein, als sie merkte, dass Dad sich aus dem Staub gemacht hatte – selbst wenn es nicht gut läuft, ist es nie schön, verlassen zu werden. Ich frage mich, wie viel Selbstbeherrschung und Schauspielkunst (Mütter sind völlig unterschätzte Schauspieler) nötig waren, so schnell ein gefasstes Gesicht aufzusetzen und mit ruhiger und zuversichtlicher Stimme zu sprechen. Oder war am Ende doch alles geplant? Vielleicht hatten sie abgesprochen, dass wir zwei Wochen verreisen und Dad in der Zeit seine Sachen packt. Wenn ich Mum danach frage, will sie nicht darüber sprechen. Ich will sie nicht ärgern, also werde ich wohl mit der Ungewissheit leben müssen.

10 THE KINKS

 

 

 

 

Die Kinks waren mir in meiner Jugend ein Leitbild. Ich besuchte dieselben Schulen wie sie, die Grundschule, die weiterführende und die Kunstschule. Mit elf Jahren kam ich auf die weiterführende Schule, als der kleine Bruder des Bassisten Pete Quaife dort gerade abging. Der Altersunterschied war groß, aber ich folgte ihrer Spur und war mir jederzeit ihrer Schritte vor mir bewusst.

In Muswell Hill schien jeder irgendwie etwas mit den Kinks zu tun zu haben, sogar meine Mum. Sie arbeitete in Crouch End in der Bibliothek und die Freundin von Dave Davies – eine wunderschöne Blondine – arbeitete ebenfalls dort. Ständig kam Mum mit Geschichten über Daves Sprunghaftigkeit nach Hause.

In der Grundschule fragte ich die Lehrer: »Haben Sie die Kinks unterrichtet? Wie waren sie? Haben Sie vielleicht noch ein paar alte Schulhefte von ihnen zu Hause?« Ich war extrem neugierig, anders als im Unterricht. Ich hatte nicht vor, Musikerin zu werden. Damals herrschte keine Gleichheit, und dass ein Mädchen sich auf so männliches Territorium begeben und einer Band angehören könnte, schien völlig unvorstellbar.

Auf der weiterführenden Schule interessierten sich noch mehr Leute für die Kinks: Die älteren Jungs zogen sich genauso an, lange Haare mit Seiten- oder Mittelscheitel, tief sitzende Hüfthosen – Bumsters nannten wir die – und Stiefel mit klobigen Absätzen. Die jüngeren Lehrer kleideten sich ebenfalls so. Für uns Jugendliche in Muswell Hill waren die Kinks Helden. Sie kamen von dort, wo auch wir herkamen, und sie hatten etwas aus sich gemacht.

11 BLUT UND SCHEIßE

 

 

 

 

Bluten und scheißen. Ich hatte immer Probleme mit Blut und Scheiße. Engländer reden wahnsinnig gerne über Scheiße, Angehörige anderer Nationalitäten dürfen dieses Kapitel gern überspringen. Ebenso potentielle Liebhaber – wer auf mich steht, bitte weiterblättern.

Ich kam schon mit vier in die Schule, ein Jahr früher als üblich, ich weiß nicht, warum. In der Klasse waren alle älter – zwei Jahre später musste ich dann eine Klasse wiederholen, um mit Gleichaltrigen zusammen zu sein. Ich trat und schrie von dem Augenblick an, in dem meine Mutter und ich das Schultor erreichten, den ganzen Weg durch die Gänge bis vor die Tür meines Klassenzimmers. Jeden Morgen. Ich hatte Angst, ich wollte nicht ohne meine Schwester und meine Mutter sein. Es war zu früh, ich war traumatisiert, konnte meine Not aber nicht anders als mit Tränen ausdrücken.

Weil ich noch so klein und schüchtern war, war ich auch zu aufgeregt, um mich während des Unterrichts zu melden und darum zu bitten, aufs Klo gehen zu dürfen. Ich hielt es so lange wie möglich ein und machte mir dann in die Hose. Die Entscheidung still einzunässen oder laut die Stimme zu erheben, während der Lehrer redete, war keine leichte, aber ich wählte die für mich erträglichere Alternative. Ich war noch so klein, dass ich mir einbildete, niemand würde es merken. Und es passierte häufig. Wenn ich nach Hause kam, zeigte Mum sich verständnisvoll, machte mich sauber und nahm mich in den Arm – bis sie eines Tages damit aufhörte. Jetzt war sie sauer, kein Mitleid mehr. Sie stürmte in den Garten, holte einen groben Stock, kratzte mir die Scheiße vom Hintern und den Beinen und erklärte, sie habe genug. Das Kratzen mit dem Stock tat wirklich weh und ich fühlte mich in meinem Stolz und meinen Gefühlen verletzt. Danach tat ich es nie wieder.

Ich war ein hypersensibles Kind, achtete ständig auf die Launen anderer – eine Kleinigkeit wie die Aussicht, morgens zur Schule zu müssen, löste bei mir Durchfall aus, bis ich sechzehn war. Zum Glück wurde ich in der Schule nicht gehänselt, aber es genügten die geringsten Anlässe, um mir Angst einzujagen, zum Beispiel, wenn jemand direkt hinter mir das Gebäude betrat – es verunsicherte mich, mein Gang wurde steif und ich kam kaum noch voran.

Am Tag vor meinem dreizehnten Geburtstag bekam ich zum ersten Mal meine Tage. Ich drehte durch. Ich heulte wie ein Wolf, ich schrie, ließ Türen knallen – ich war zornig, außer mir, wütete und tobte tagelang. Was da mit mir geschah, war vollkommen unzumutbar. Ich hasste es, ich wollte es nicht, aber ich hatte keinerlei Kontrolle darüber. Wenn ich von jetzt an jeden Monat bluten sollte, war mir das Leben unerträglich. Das war so unfair.

Vier Jahre lang machte ich noch jedes Mal eine Szene, wenn ich meine Periode bekam – bis ich sie nur noch zweimal im Jahr hatte. Keine Ahnung, ob mein Wille über meinen Körper triumphierte oder ob es sowieso so gekommen wäre. Ich hielt mich für so traumatisiert, dass es sich auf meinen Zyklus auswirkte. Und trotzdem wurde ich jedes Mal stinksauer, wenn meine Periode einsetzte, auch wenn es wirklich nur selten vorkam. Meine Periode veränderte meine Persönlichkeit. Seit dem allerersten Mal war ich innerlich gereizt und wütend, ich fühlte mich betrogen und wusste im tiefsten Inneren, dass das Leben unfair ist und Jungs es leichter haben als Mädchen. In mir wuchs ein brennender Kern aus Wut und Aufsässigkeit. Ein Großteil meiner Arbeit speist sich aus dieser Energie.

Als ich älter wurde und Sex hatte, wartete ich ängstlich darauf, dass endlich Blut kam, wünschte mir nicht mehr, es käme keins. Irgendwann nahm ich dann die Pille, war aber hoffnungslos unzuverlässig und vergaß sie ständig. Nach der Pille hatte ich eine Spirale (Copper 7 hieß sie). Ich konnte sie da oben in meinem Gebärmutterhals spüren, sie tat weh. Monatelang humpelte ich herum, nur weil ich zu faul war, mich darum zu kümmern, und weil ich dachte, dass es sich vielleicht so anfühlen musste. Ungefähr ein Jahr später ging ich in die Marie Stopes Clinic in Soho – dort konnte man eine Ärztin verlangen – und die holten sie raus. Die Ärztin erklärte, die Spirale habe sich verschoben. Kaum dass sie draußen war, durchflutete mich Erleichterung. Endlich durfte ich zurück in die Normalität, mich zum ersten Mal seit einem Jahr wieder spüren.

Blut und Scheiße (ich komme später noch mal darauf zurück) haben von Kindheit an mein Leben geprägt. Bis heute habe ich Angst vor Blut, davor, welches zu entdecken oder vergeblich drauf zu warten. »Altes oder frisches Blut?«, fragen die Ärzte immer. Gibt es darauf überhaupt eine richtige Antwort?