The Cover Image
 

 

Venedig – für Rainer Maria Rilke »das schöne Gegengewicht der Welt«. Mit Gondel und Vaporetto, meist jedoch zu Fuß erkundete er die Lagunenstadt, seinen Sehnsuchtsort. Markusplatz und Lido inspirierten ihn ebenso wie eine verlassene Großwerft, das Arsenal, er wohnte in einfachen Pensionen und in prächtigen Palazzi venezianischer Mäzene. Rilke ging eigene Wege unabhängig von den »rechthaberischen Sternchen« im Baedeker, und er »nahm alles anders auf als gewöhnliche Menschen«, so Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, seine Gastgeberin am Canal Grande.

 Birgit Haustedt hat die Neuausgabe ihres Erfolgsbuchs grundlegend aktualisiert und erweitert. Auf elf Spaziergängen führt sie durch Rilkes Venedig und gibt Tipps und Hinweise für heutige Besucher.

 

»So kann man in diesem liebevoll und sachkundig gemachten Büchlein über beide viel erfahren: über die Stadt und über den Dichter!« DIE ZEIT

 

Birgit Haustedt lebt als freie Autorin in Hamburg und hat im insel taschenbuch u. ‌a. Lieblingsorte Hamburg und einen Literarischen Reisebegleiter Florenz veröffentlicht.

Image

 

 

DAS SCHÖNE
GEGENGEWICHT DER WELT

Mit Rilke durch Venedig
Von Birgit Haustedt
Mit zahlreichen Abbildungen
Insel Verlag

 

 

Die vorliegende Ausgabe basiert auf dem insel taschenbuch 3174 (Insel Verlag Frankfurt am Main 2006), Mit Rilke durch Venedig. Sie wurde überarbeitet und aktualisiert.

 

 

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4448.

© Insel Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagfoto: Harald Braun/plainpicture

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

 

eISBN 978-3-458-74503-7

www.insel-verlag.de

Inhalt

 

Einleitung

Erster Spaziergang

Wohnen, lieben, dichten auf den Zattere und im Palazzo Valmarana

Zweiter Spaziergang

Durch Venedigs Bilderflut: Die Gallerie dell'Accademia

Dritter Spaziergang

Piazza, San Marco, Dogenpalast und ein Bild von Carpaccio im Museo Correr

Vierter Spaziergang

Arsenal, Scuola Dalmata di San Giorgio degli Schiavoni, Campo Santa Maria Formosa und Pinacoteca Querini-Stampalia

Fünfter Spaziergang

Das Ghetto

Sechster Spaziergang

Ein Tintoretto in der Kirche Madonna dell'Orto und ein Rilke-Gedicht

Siebter Spaziergang

Hinter den Kulissen – Paläste am Canal Grande

Achter Spaziergang

Der Garten Eden auf der Giudecca

Neunter Spaziergang

Der Lido

Zehnter Spaziergang

Sestiere San Polo, Frari-Kirche und Ca' Rezzonico

Elfter Spaziergang

Abschied: San Giorgio Maggiore

 

Zitatnachweise

Sehenswürdigkeiten

Literatur

Bildnachweise

Das schöne Gegengewicht der Welt
Mit Rilke durch Venedig

 



»Er hatte kein Haus, keine Adresse, wo man ihn suchen konnte, kein Heim, keine ständige Wohnung, kein Amt. Immer war er am Wege durch die Welt, und niemand, nicht einmal er selbst, wußte im voraus, wohin er sich wenden würde. (…) So ergab es sich immer nur durch Zufall, wenn man ihm begegnete. Man stand in einer italienischen Galerie und spürte, ohne recht gewahr zu werden, von wem es kam, ein leises, freundliches Lächeln einem entgegen.«1

Kreuz und quer reiste Rilke durch Europa, er besuchte Russland und fuhr auf dem Nil, er lebte ebenso selbstverständlich in der Worpsweder Provinz wie in der Weltstadt Paris oder auf einem abgelegenen Adelssitz im Böhmischen. Und immer wieder in Venedig: Markusplatz und Lido, Dogenpalast und Canal Grande waren ihm bestens vertraut. Zehnmal besuchte er die Stadt, zuerst an einem Wochenende im März 1897, zum letzten Mal am 13. Juli 1920. Venedig zog der Dichter allen anderen Orten in Italien vor. Florenz ließ er nach seiner Jugend links liegen, auch dichterisch, Capri inspirierte ihn immerhin zu einigen seiner schönsten Naturgedichte. Rom lehnte er gänzlich ab. Überall nur »unlebendige und trübe Museumsstimmung«,2 klagte er und las in Rom lieber Kierkegaard auf Dänisch. Venedig dagegen blieb ihm Sehnsuchtsort und immerwährende Herausforderung: »Ich kann keine Zeitung, kein Buch im Vorübergehen mit dem Blicke streifen seit einer Zeit, ohne das Wort Venise zu lesen; es bildet sich im letzten Augenblick unter meinen Augen, wohin ich auch sehe.«3

Reisen war für Rilke nicht einfach Erholung, Hobby oder Ablenkung vom Alltag. Reisen war seine Passion, seine Lebenshaltung – und war Arbeit, Teil seiner Profession als Dichter. Rilkes Reisen dienten nur dem einen Ziel: Immer suchte er Impulse, Anregungen, Ideen für sein Schreiben. Dabei machte er es sich nie leicht. Auf dem Markusplatz sitzen, die Stimmung spüren und aufschreiben – so entstanden Rilkes Gedichte nicht. »Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge (…). Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten Gegenden, (…) an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die hoch dahinrauschten …«4 Unter den vielen Reisezielen Rilkes stellte Venedig eine besondere Herausforderung dar, denn keine andere europäische Stadt besitzt eine solch reiche künstlerische Tradition, so viele Kunstwerke auf engstem Raum – die ganze Stadt ist ein europäisches Gesamtkunstwerk, »beladen von Literatur«, besungen, bemalt, bedichtet, beschrieben. Eine eigene Haltung zu Venedig zu finden war für den Dichter eine lebenslange Aufgabe. Mit keiner Stadt – außer Paris – hat Rilke sich so intensiv auseinandergesetzt: »Denn wir werden nicht fertig miteinander von einem zum anderen Mal, und es wär gut zu wissen, was wir uns wollen, eines vom andern.«5 Eine Herausforderung war Venedig umso mehr, als Rilke sich weder auf Traditionen berufen wollte noch konnte. Rilke ging eigene Wege, in der Stadt und literarisch. »Umzulernen ist es von Anfang an.« Seine Texte liefern keine bekannten Stimmungsbilder der Serenissima als einer dekadenten Stadt. Zuerst näherte auch er sich ihr zwar ganz konventionell. Er las Goethes »Italienische Reise«. Die legte er aber gleich zur Seite, zu nüchtern, wie er fand. Auch den »Baedeker«, seit Mitte des 19. Jahrhunderts beliebtester Reiseführer der Bildungsbürger, kritisierte er wegen seiner »rechthaberischen Sternchen«. Das hielt den jungen Dichter damals allerdings nicht davon ab, das Handbuch literarisch zu verwerten: Seine ersten Gedichte klingen wie Baedeker in Versen. Und obwohl er sich stets über seine Mittouristen und den Massentourismus beklagte, dessen erste Auswüchse er in Venedig mitbekam, profitierte er doch, wenn es nötig war, von touristischen Einrichtungen. Fahrkarten und Zugverbindungen bestellte er in Cooks Reisebüro – das war bequem und am billigsten. Auf seine erste längere Venedigreise 1907 nahm er einen ganzen Stapel sehr wertvoller alter Bücher mit, die ihm der Wiener Richard Beer-Hofmann geliehen hatte. Rilke revanchierte sich später, indem er dem Freund das Gedicht »Venezianischer Morgen« widmete. Auf Schloss Duino, nicht weit von Venedig an der gegenüberliegenden Adria-Küste gelegen, las er monatelang in der Schlossbibliothek alles, was er über Venedig finden konnte, auf Italienisch, Französisch, Deutsch. In Venedig besuchte er Archive und Bibliotheken. Selbstverständlich las Rilke auch Literarisches. Die Sonette von Gaspara Stampa, Venedigs bedeutendster Dichterin, wollte er sogar übersetzen. Dazu kam es zwar nicht, sie ging aber auf andere Weise in seine Dichtung ein. In der ersten »Duineser Elegie« erinnert er an ihren Namen.

Auch das Allerneueste las Rilke. Thomas Manns Novelle »Tod in Venedig« besorgte er sich 1912, gleich nach Erscheinen. »Von meisterhafter Fraktur« der erste Teil, »nur peinlich« der zweite Teil, lautete sein Urteil (Der genaue Wortlaut findet sich beim Spaziergang 9).

Rilke war erstaunlich belesen für jemanden, der von sich selbst sagte, er sei »fast ohne Kultur«. Er las viel, aber unsystematisch. »Rilkes Bildung war (…) die eines Liebhabers, wählerisch, sprunghaft, den Gegenstand aber sehr rein in sich aufnehmend und wiedergebend.«6 Und wie ein Liebhaber vermittelt uns Rainer Maria Rilke sein Wissen auch. Das Gedicht »Ein Doge« (1907) z. ‌B. beschreibt venezianische Regierungskunst in nuce – aber nicht in dürren akademischen Worten, nicht gleich auf den ersten Blick zu erobern und zu verstehen, sondern poetisch verdichtet.

 

Mehr noch als das Lesen liebte Rilke das Spazierengehen. Rilke war ein leidenschaftlicher Spaziergänger. Stefan Zweig, der ihn in Paris dabei oft begleitete, meinte sogar, eine Stadt »bis in ihre letzten Winkel und Tiefen zu kennen, war für ihn Leidenschaft, fast die einzige, die ich je an ihm wahrgenommen«.7 Das galt auch für Venedig. Rilke durchstreifte tagelang die Stadt, manchmal mit der Gondel, meist aber zu Fuß. »Meine Lektüren kamen bei diesem letzten Aufenthalt gar nicht zur Verwendung <–> höchstens, daß ich unter dem Einfluß der neuen topographischen Ausbildung die Stadt nun erst recht mir aneignete von S. Alvise bis S. Pietro di Castello in ihrer ganzen Ausbreitung.«8 In diesem untouristischen nordöstlichen Gebiet Venedigs fand der Dichter 1920 nach langen Jahren der Abwesenheit noch immer jede Straße, die er suchte. Ohne sich zu verirren, wie er stolz vermeldete. Stolz war er auch darauf, »ein so inkommensurables Wesen wie Venedig« so gut zu kennen, dass ihn Fremde »in der Vielwendigkeit der ›Calli‹ mit Erfolg nach jedem Ziele fragen konnten, das ihnen erwünscht war«.9

Häufig spazierte er allein. Oft begleitete ihn Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, seine Gastgeberin in Venedig. Sie hatten sich 1909 in Paris kennengelernt, vermittelt hatte ein gemeinsamer Freund, der Philosoph und Essayist Rudolf Kassner (übrigens einer der wenigen männlichen Freunde Rilkes). Die Fürstin mochte Rilke sofort, auch wenn sie ihn sich anders vorgestellt hatte, »nicht diesen ganz jungen Menschen, der fast wie ein Kind aussah; er erschien mir im ersten Augenblick sehr häßlich, zugleich aber sehr sympathisch«.10 Sie erfand einen neuen Namen für ihn: »Dottore Serafico«, er nannte sie stets respektvoll »liebe Fürstin«. Mehr als zehn Jahre lang war sie der wichtigste Mensch in seinem Leben, mütterliche Freundin, großzügige Mäzenin und herzliche Gastgeberin in Duino und in Venedig. Dort wohnte er die meiste Zeit in ihrem »echtvenezianischen Mezzanin« am Canal Grande. Sie war gebürtige Venezianerin, aus ältestem Adel und eine der reichsten Frauen Österreichs. Außerdem immens interessiert an Musik, Malerei, Literatur, sie übersetzte sogar Dante mit Rilke zusammen. Die Fürstin liebte es, Künstler und Gelehrte in geselligen Runden zu versammeln. Ihr Schloss Duino war Zentrum der kulturellen Elite Europas. Vom italienischen Weltstar Eleonora Duse bis zum Berliner Museumsdirektor Bode konnte man dort vor dem Ersten Weltkrieg alle treffen, auch den gesamten europäischen Hochadel, einschließlich den Ehemann der Fürstin. Marie von Thurn und Taxis war eine wirkliche Dame, gebildet, großzügig und lebensklug. Sie half dem Dichter, wo sie konnte. Wenn der Dichter zum Beispiel Probleme mit Frauen hatte (was ziemlich oft vorkam), fand sie die passenden, meist deutlichen Worte.

Image

 

Gemeinsam besuchten Fürstin und Dichter Kirchen, Kunstausstellungen und Cafés. Ein solcher Venedig-Tag verlief so: Nach einem »kleinen Frühstück in echtvenezianischem Milieu, im ›Fenice‹«, ging es in die Frari-Kirche, in die Gemäldesammlung Querini-Stampalia oder zum verwunschenen Giardino Eden auf der Giudecca. Von dort dann ein Abstecher »zu einem Antiquar, der uns Stoffe zeigte; ebenso unwahrscheinlich prachtvoll wie die Blumen; Rilke hatte für schöne Stoffe eine große Vorliebe«.11

Image

3. Ballsaal der Ca' Rezzonico. Mit Ehefrau Clara besuchte Rilke 1903 den Palast.

Wenn er irgendwo hineingelangen wollte, in die damals private Ca' Rezzonico zum Beispiel, scheute der Dichter keine Mühen, mobilisierte Beziehungen, schrieb Briefe, wartete ausdauernd.

Beim Spazieren achtete Rilke auf alles, auch das Unscheinbarste entging ihm nicht. An keiner Grabinschrift konnte er vorbeigehen, gern las er sie laut vor. Manchmal sprach er auch eigene Verse – nur an »würdigen Stätten«, versteht sich. Auf allen seinen Wegen trug er immer ein Notizbuch bei sich, »in der Tasche seiner bis an den Hals geschlossenen schwarzen Satinweste – übrigens der einzigen Absonderlichkeit, die er sich eine Zeitlang gestattete«.12

 

Eine besondere Vorliebe hatte der Dichter für die zarten Madonnenbildnisse der venezianischen Maler. Mit Rilke durch Venedig zu gehen heißt auch, Bilder anzuschauen, immer und überall. »Denn wenn Venedig in jedem Dinge, in jedem Prospekt, in jeder Spiegelung ist, in den Bildern ist es tausendmal: seine Essenzen sind in den Bildern.«13 Rilke kannte in Venedig alle Museen, Galerien, auch private Sammlungen, die zeitgenössische Biennale besuchte er regelmäßig. Bewunderung von Meisterwerken, Stilgeschichte, Periodisierungen – klassische kunstgeschichtliche Fragen also – waren seine Sache nicht. Alles musste ihn persönlich angehen. Zum Beispiel zu einem Gedicht anregen. Wie ein Gemälde Carpaccios im Museo Correr. Oder ein Tintoretto-Bild in der abgelegenen Kirche Madonna dell'Orto, »Die Darstellung Mariae im Tempel«, das Rilke zu seinem gleichnamigen Gedicht inspirierte. Ein doppelter Glücksfall. Mit Rilkes Gedicht verstehen wir Tintorettos Gemälde, seine Farbigkeit, den Bildaufbau, die gesamte Komposition, wir lernen sehen. Und wir erhalten einen selten klaren Einblick in Rilkes Dichterwerkstatt.

 

Für die Fürstin waren die gemeinsamen Unternehmungen, Reisen und Spaziergänge mit Rilke herausragende Erlebnisse: »Ich habe nie eine Reise mehr genossen, als wenn ich das Glück hatte, mit Rilke unterwegs zu sein. Nicht nur, daß er alles sah und bemerkte, er nahm alles anders auf, anders als gewöhnliche Menschen. Das nahm einem fast den Atem, man wußte nicht, was man an ihm mehr bewundern sollte, die Schau der Dinge oder die ins Innere dringende ›a glass that shows us many more‹.«14 Auch der Dichter erinnerte sich gern an die gemeinsamen Wege. Auf seine Art. In der ersten »Duineser Elegie« heißt es: »Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf, wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa.« »Neulich« war der 3. April 1911.

Ein schöner Morgen, wie die Fürstin in ihr Tagebuch schrieb. Sie vermerkte auch viele andere Erlebnisse, die in der Dichtung nicht auftauchen. Wie Rilke zum Beispiel gern Frauen hinterher sah: »Rilke begeisterte sich an ihrem Anblick, obschon man in der Friauler Landschaft oft genug solchen edlen Physiognomien begegnet. ›Um Himmels willen, Serafico, setzten Sie sich's nur nicht in den Kopf, auch diese Frau zu retten‹, sagte ich ihm. Er mußte sehr lachen.«15

Wenn er in Venedig weilte, wohnte Rilke die meiste Zeit in der komfortablen Wohnung der Fürstin direkt am Canal Grande. Wie Rilke hier lebte, wie er sich in dem noblen Haushalt einrichtete, wie er mit der Dienerin Gigia zurechtkam, erfahren wir aus dem Briefwechsel Rilkes mit der Fürstin. Vom Badeausflug auf den Lido bis zum Abend in Venedigs glamourösestem literarischen Salon bei Gräfin Mocenigo, von Schreibkrisen, Scirocco und seinem schwierigen Verhältnis zu Eleonora Duse berichtete Rilke der Fürstin. Durch sie hatte er erst Zutritt erhalten zu Venedigs höchsten Adelskreisen.

Auch wenn er nicht bei der Fürstin wohnte, liebte Rilke es standesgemäß und teuer. Er logierte dann meist in einem der Luxushotels am Canal Grande, obwohl es seinen Geldbeutel strapazierte. Übrigens hatte er bereits bei seinem ersten Venedigaufenthalt 1897, noch als Student, eine edle Unterkunft. Die Reise hatte ihm ein Amerikaner finanziert, Nathan Sulzberger, den Rilke in München kennengelernt hatte. Die jungen Männer wohnten im Hotel Britannia, damals einem der drei besten Häuser am Ort mit Aufzug, Zentralheizung und Blick auf den Canal Grande. Wenn Rilke nicht eingeladen wurde und selbst kein Geld hatte, war der Dichter überraschend praktisch. Herbst 1907 war so eine Situation: Er wollte unbedingt nach Venedig, hatte jedoch keinen Pfennig. Da fragte er alle Bekannten in Paris nach günstigen Zimmern. Der venezianische Kunsthändler Pietro Romanelli wusste schließlich Rat. Seine beiden Schwestern vermieteten Zimmer in ihrer Wohnung auf den Zattere, für den armen Poeten sogar zum Sonderpreis. Ein Glück für Rilke, auch in anderer Hinsicht. Hier lernte er die Frau kennen, die die Forschung lange als »unbekannte venezianische Geliebte« beschäftigt hat: Mimi Romanelli. Ein Glück auch für die Dichtung. Rilkes bedeutendste Venedig-Gedichte entstanden nach diesem Aufenthalt im November 1907. Er schrieb sie allerdings erst Monate später, einsam in Paris. Denn eine liebende Frau störte nur beim Dichten.

Image

 

Rilke gilt als Dichter des Weltinnenraums, keiner schuf wie er innere Räume nur mit Worten, schwer zu entschlüsseln wie in den »Duineser Elegien«. In der Forschung heißt es, Rilke sei Meister darin, innere Landschaften zu entwerfen ohne äußere Äquivalente. Alles Äußere werde in das Innere der Sprache überführt. Doch nicht ohne Bezüge zur Wirklichkeit. Zumindest nicht in seinen Venedig-Gedichten. An Ort und Stelle gelesen, merkt man, wie viel Wirklichkeit, wie viel Orts- und Geschichtskenntnisse in seine Lyrik eingeflossen sind. Rilke war kein Träumer, der nur in eigenen Gefühlen schwelgte. Er war ein äußerst präziser Spracharbeiter, der die Sprachlandschaft seiner Gedichte – wie man in Venedig merken kann – immer auch »erdete«, der Bezugspunkte aus der Wirklichkeit brauchte und aufnahm: »Sie können sich wohl denken, wie viel Einfluß Umgebungen auf mich gehabt haben, mehrere Länder, in denen ich durch wiederholte Geduld und Langmut meines Schicksals, nicht nur als Reisender mich habe aufhalten, sondern wo ich wirklich habe wohnen dürfen, unter den lebhaftesten Anschlüssen an die Gegenwart und Vergangenheit dieser Länder.«16 Ihn interessierte nie nur die eigene Befindlichkeit, immer wollte Rilke auch das Wesentliche einer Stadt wie Venedig ergründen, hinter den Fassaden. Sein bekanntestes Gedicht »Spätherbst in Venedig« handelt nicht allein von der Dekadenz verfallender Paläste (das auch), sondern stellt ein verlassenes Industriegebiet in den Mittelpunkt: das Arsenal, Venedigs große Staatswerft, einst ökonomisches Herz der Stadt. Ohne das Arsenal, ohne Wirtschaft, Arbeit, Handwerk, so Rilke, keine Paläste, keine Kunst in Venedig. Rilke fragt nach den Grundlagen der Kunst und landet bei der Ökonomie, fast eine brechtsche Herangehensweise. Aber in Rilkes Sprachfunkelkunst verpackt.

Rilkes Venedig-Gedichte führen auch in das historische und künstlerische Zentrum der Macht: zu Venedigs großartiger Staatskirche San Marco im gleichnamigen Gedicht oder zum Dogenpalast (»Ein Doge«). Doch Rilke interessierte nicht nur die Haupt- und Staatsgeschichte, im Gegenteil. Er ging gerne Nebenwege, auch in Venedig. Als Erster beschreibt er 1900 in Venedig einen Ort, der jahrhundertelang im Bewusstsein der Stadt nicht vorkam: das Ghetto. Mit Rilkes kleiner Erzählung »Eine Szene aus dem Ghetto in Venedig« in der Hand kann man diesen Stadtteil, das Besondere seiner Architektur und Geschichte entdecken.

Wenn von »Wirklichkeit« die Rede ist, dann nicht im Sinne von fotografischen Abbildern oder eines irgendwie gearteten Realismus. Rilke war Dichter, er verdichtete Erkenntnisse, Geschichte, Mythen, Erfahrungen, Gelesenes, Gesehenes, Gehörtes in seiner äußerst präzisen Sprache. Das war seine Kunst. Selbst in Briefen wie dem folgenden an Ehefrau Clara kam es ihm auf sprachliche Genauigkeit an: »Venise: dieser wunderbare verblichene Name, durch den ein Sprung zu gehen scheint und der sich nur wie durch ein Wunder noch hält – dem heutigen Dasein jenes Reiches ebenso seltsam entsprechend wie einst Venezia dem starken Staate entsprach, seiner Aktion, seiner Pracht. (…) Während ›Venedig‹ umständlich und pedantisch schien und nur gültig für die kurze unselige Zeit österreichischer Herrschaft, ein Aktenname, von Bürokraten boshaft auf unzählige Konvoluts geschrieben, trist und tinten.«17 Ein Kunststück, wie Rilke hier ohne Jahreszahlen und ohne langweilige Historikersprache die wechselvolle Geschichte Venedigs expliziert – einzig an den Veränderungen seines Namens.

Briefe sind wichtige Quellen für Rilke in Venedig. Briefe waren für den Dichter immer auch »Arbeitsmittel«, in Briefen probte er Gedanken und Formulierungen, die er später in seinen Gedichten benutzte. »Werk und Brief sind hier wie Rock und Futter«, schrieb Rudolf Kassner einmal, »doch ist letzteres aus so kostbarem Material, daß wohl einer einmal auf den Gedanken verfallen könnte, den Rock mit dem Futter nach außen zu tragen.«18 Für Rilkes Venedig-Briefe gilt das doppelt, sie enthalten viele seiner schönsten und klarsten Passagen, auch sehr poetische.

Die ersten Venedig-Dokumente Rilkes überhaupt finden sich in Briefen. Er schrieb sie Ende März 1897 an die Münchner Freundin Nora Goudstikker: »Ich soll Venedig sehen – oder und darauf freue ich mich noch mehr –: ich soll Ihnen von Venedig erzählen dürfen.«19 Auf vielen Seiten nimmt er die junge Frau mit auf seine ersten aufgeregten Exkursionen durch Venedig – selten hat Rilke so wirr, selten aber auch so lebendig und unmittelbar geschrieben. Nora Goudstikker war übrigens eine der ersten emanzipierten Frauen in München, zusammen mit ihrer Schwester betrieb sie das renommierte Fotostudio Elvira.

Spätere Briefe sind kleine Kunstwerke, wie z. ‌B. die an Ehefrau Clara aus dem Herbst 1907, für die Venedig-Literatur ganz ungewöhnliche Schilderungen, wie von Cézanne gemalt. Viele Formulierungen erprobte der Dichter auch mehrfach an die verschiedenen Adressatinnen. Mancher Brief erhellt seine Gedichte, wie ein in der Forschung gern benutztes Schreiben an Baronin Sidonie Nádhernı von Borutin, das sich wie die Prosafassung von »Spätherbst in Venedig« liest.

Selbst Rilkes »Pflichtbriefe« über Venedig sind brauchbar. Als Gisela von der Heydt Rilkes Rat für ihre Hochzeitsreise nach Venedig erbat, hatte der Dichter erst keine Lust, immer wieder verschob er den Brief. Doch Giselas Vater Karl von der Heydt war zu der Zeit Rilkes wichtigster Finanzier. Also setzte er sich schließlich hin und verfasste einen sechzehnseitigen Brief (mit Anmerkungen!), freilich nicht ohne einen Seitenhieb auf den Bräutigam: »Ich muß mich wirklich auf ein paar bescheidene ›Winke‹ zurückziehen (wie ich sehe) und Sie im Übrigen dem Baedeker, nein: viel lieber Ihrer eigenen Stimmung und inneren Fügung überlassen, die Sie auf dieser freudigen Reise zu allem führen wird; (es sei denn, daß Ihr Herr Gemahl sich die Führung nirgends wird nehmen lassen mögen: worunter Sie nicht leiden werden).«20 Wir wissen nicht, wem Fräulein Gisela sich anvertraute, mit Rilke als Reiseführer hätte sie jedenfalls viel von Venedig gesehen und verstanden. Viele seiner Tipps gelten auch heute noch – von welchem Ort man zum Beispiel den schönsten Abschiedsblick auf Venedig hat.

 

Rilke hat weder einen neuen Venedig-Mythos geschaffen noch am alten Mythos der Dekadenz fortgeschrieben. Er hat keine kompakte einheitliche Venedig-Dichtung hinterlassen, dafür eine moderne. In seinen verstreuten Gedichten, Briefen, Erzählungen und kryptischen Verweisen der »Duineser Elegien« ordnet sich Venedig neu und wird persönlicher. Er rückt Markuskirche und Carpaccio neben das Ghetto, Venedigs Aufstieg zur Seemacht ist ihm ebenso wichtig wie die Zeit des Untergangs, Staatsaktionen stehen neben unscheinbaren Begebenheiten, Marienbilder neben Alltagserlebnissen.

Rilke hat Venedig neu und auf seine eigene Weise kartographiert, nicht systematisch, eher wie ein Liebhaber. Man muss seine Vorliebe für Madonnen und seine Abneigung gegen volkstümliche Trattorien nicht teilen. Aber man kann von Rilke und seiner Haltung beim Reisen lernen. Er hat das selbst einmal so formuliert: »Das ist das Entsetzliche: in anderen Ländern reisen die meisten Menschen vernünftig. Sie lassen sich oft vom Zufall leiten, entdecken schöne und überraschende Dinge, und eine Fülle von Freuden fallen ihnen reich und reif in den Schoß. In Italien laufen sie blind an tausend leisen Schönheiten vorbei zu jenen offiziellen Sehenswürdigkeiten hin, die sie doch meistens nur enttäuschen, weil sie, statt irgendein Verhältnis zu den Dingen zu gewinnen, nur den Abstand merken zwischen ihrer verdrießlichen Hast und dem feierlich-pedantischen Urteil des Kunstgeschichtsprofessors, welches der Baedeker ehrfurchtsvoll gedruckt verzeichnet. Fast würde ich denen den Vorzug geben, welche von Venedig als erste, weit überragende Erinnerung mitbringen: das gute Kotelett, welches sie bei Grünwald und Bauer gegessen haben; denn sie bringen doch wenigstens eine aufrichtige Freude mit, etwas Lebendiges, Eigenes, Intimes.«21

Erster Spaziergang:
Wohnen, lieben, dichten auf den Zattere und im Palazzo Valmarana

Image

[1] Pension Romanelli [2] Geburtshaus Luigi Nonos [3] Campo San Trovaso [4] Werft »Squero di San Trovaso« [5] Kirche I Gesuati (Santa Maria del Rosario) [6] Pension »La Calcina« [7] Palazzo Valmarana (heute: Cini-Loredan) [8] Campo San Vio [9] Palazzo Corner (Ca' Grande) [10] Locanda Montin