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Die junge Elephantina hat einen Schwur geleistet: sich niemals zu verlieben. Doch sie bricht ihn auf der Stelle. Von der Sehnsucht nach Freiheit gepackt, folgt sie ihrem Idol in die endlose Metropole Moskau. Der angebetete Dichter, ein Guru der Avantgarde, hat sie die »neue Achmatowa« genannt. Vergessen das provinzielle Kiew, die öde Kunstschule. Durch Bahnhöfe, Theatergarderoben und Museen von einer Schlafstatt zur nächsten irrend, findet die nonnenhaft gekleidete Nomadin eine Wohnung, die sie schon bald in eine Künstlerkolonie verwandelt. Dichterabende in überfüllten Studentenklubs mit Spitzeln in den hinteren Reihen, verbotene Kunstaktionen, die Begegnung mit Allen Ginsberg, der geheimnisvolle Mord an einem französischen Kunstsammler, eine Vorladung beim KGB – all das ist nur die Kulisse, vor der sich die Geschichte einer ersten Liebe entfaltet.

Julia Kissina hat einen Schlüsselroman geschrieben, dessen Irrwitz seine Wirkung nicht verfehlt – selbst wenn man keine der Figuren erkennt. Eine éducation sentimentale in grellen, bösen Farben – episodenreich und voller Übermut erzählt.

 

Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den achtziger, neunziger Jahren zum Kreis der neuen russischen Avantgarde um Vladimir Sorokin und Pawel Pepperstein. 1990 kam sie nach Deutschland, reiste durch die Welt und machte sich mit spektakulären Kunstaktionen einen Namen: Sie gründete die Dead Artist's Society und führte eine Schafherde durch das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt. 2005 erschienen Vergiss Tarantino und Milin und der Zauberstift, 2013 folgte der Roman Frühling auf dem Mond. Elephantinas Moskauer Jahre wurde 2015 mit dem Preis für die beste Prosa ausgezeichnet, den die russische Zeitschrift Znamja vergibt. Julia Kissina lebt in New York und Berlin.

 

 

Julia Kissina

Elephantinas
Moskauer Jahre

Roman

Aus dem Russischen
von Ingolf Hoppmann und
Olga Kouvchinnikova

Suhrkamp Verlag

 

 

Die Originalausgabe erschien 2015 u. ‌d. ‌T. Elefantina ili Korablekrušencija Dostoevceva in der Zeitschrift Zvesda 2015/3. Für die deutsche Ausgabe hat die Autorin den Text stark überarbeitet.

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlagfoto: Julia Kissina

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

 

eISBN 978-3-518-74465-9

www.suhrkamp.de

Elephantinas Moskauer Jahre

 

Abscheu vor dem Theater

Alles begann in Venedig. Im Jahre 1519, als er gerade die Arbeit an seiner »Assunta« beendet hatte, erhielt Tizian einen neuen Auftrag: Die Familie Pesaro bestellte ein großes Gemälde für eine Seitenkapelle der Basilica dei Frari. »Die Madonna der Familie Pesaro« sollte das Andenken des Admirals Jacopo Pesaro bewahren, welcher im Jahre 1502 mit der Flotte Papst Alexanders IV. einen bedeutenden Sieg über die Türken errungen hatte.

Nun denn, die Madonna sitzt auf einem hohen Thron (eine Reminiszenz an die »Treppenmadonna« – dieses Motiv griff viele Jahre später auch Marcel Duchamp auf). Zu Füßen der Jungfrau lehnt der Apostel Petrus, auf der rechten Seite des Bildes stehen die Schutzheiligen Franziskus und Antonius von Padua. Links, neben dem heiligen Georg, kniet Jacopo Pesaro. Georg schaut zu einem Türken, der sich im Schatten verbirgt. Das Gemälde ist voller Pathos. Schwupps sind da auch ein paar ganz reizende, erfrischend lebendige Motive eingeflochten: Der kleine Jesus versucht, tapsig und übermütig, Maria das weiße Tuch vom Kopf zu ziehen. Neben den älteren Mitgliedern der Familie Pesaro sehen wir mein durchgeistigtes Gesicht im Alter von zwölf Jahren, das uns nachdenklich anschaut.

Ja, das bin ich, so erkenne ich mich immer wieder!

Weitere enigmatische Beschreibungen dieses Bildes in Büchern oder im Internet. Zum Beispiel:

Die Komposition des Altarbildes der Pesaro-Madonna lässt eine klare, tiefe Durchgeistigung spüren. Die ausdrucksvolle Charakterisierung der dargestellten Personen schlägt den Betrachter in Bann. Besonders entzückend ist der Kopf des kleinen Jungen!

Tatsächlich, damals sah ich noch wie ein Junge aus. An der Malschule wurde ich »Madonna Pesaro« genannt. Später nicht mehr. Später sah ich ganz anders aus, aber das war schon im 20. Jahrhundert, und auch nicht mehr in Italien, sondern in der ruhmreichen Stadt Kiew.

Hier, in einer von Sonnenstaub durchschwirrten Wohnung in einem alten, windschiefen Betongebäude, ertönte jeden Morgen das fabrikmäßige Rattern einer Schreibmaschine. Das war mein Papandrelo. Er schrieb Stücke für ein schmutziges Theater in der Bolschaja Wassilkowskaja. Bei den Premieren applaudierte das Publikum wie auf dem Broadway. Samstags machten sich die Damen der Stadt festlich herausgeputzt auf den Weg ins Theater, überquerten ein großes Stück Brachland, staksten über Hundeleichen und Konservendosen, um nach der Aufführung mit Plastikfächern zu wedeln und zu sagen:

»Es war einfach umwerfend!«

In der Stadt gab es noch ein anderes Theater – einen erhabenen Monolithen aus grauem Stein, der sich an einer laubgelockten Straße befand. Um das graue Theater herum herrschte fieberhafter Betrieb, vor allem damals im September, als man »Richard III.« aus Tiflis brachte. Shakespeare, der große georgische Dramatiker! Das wurde nur noch von den »Saisons russes« in Paris übertroffen! Zuchthausfilz und Pappkronen beherrschten die Bühne! Shakespeare wurde zu Brecht!

Stunden vor Öffnung der Theaterkasse begann die Schlacht. Das Publikum prügelte und würgte sich, trat und schubste, fluchte und spuckte. Ingenieure in verwaschenen Socken und hungerleidende Ärzte trieben Schwarzhandel mit Eintrittskarten.

Und die jungen Leute? Wie kamen die in die Vorstellungen? Sie krochen durch die Keller- und Toilettenfenster, sickerten in die Ziegelmauern ein und rieselten als Goldregen auf die düstere Galerie herab. Ach, goldene Zeit der großen Taten! Manchmal kletterten sie sogar mit Bergstock und Karabiner an den Steilwänden des Theaters empor und drangen durch das Dach ins Innere. Das war wie im fernen Colorado, wo verwegene Hitzköpfe vereiste Wasserfälle hinaufkraxeln. Manch einer stürzt dabei ab. Im Frühling findet man sie dann – jung und nackt: Wer nicht zerschmettert wurde, ist erfroren. Es kommt auch vor, dass solche Alpinisten erst dreißig Jahre später von ihren erwachsenen Kindern und gealterten Ehefrauen entdeckt werden. Mit dem Theater ist es wie mit den Bergen: Wer einmal hinter die Kulissen fällt, der liegt dort bis in alle Ewigkeit.

Die Vorstellung hatte immer schon begonnen, wenn wir endlich in den Tempel eingedrungen waren. Aber dort oben auf dem Schnürboden zu stehen, auf dem Olymp, wo die Götter weilen, und in den Abgrund hinabzublicken, zu den winzigen Schauspielerfigürchen auf der beleuchteten Bühne – das war atemberaubend!

Eines Tages im Herbst war es aus damit. Ein Dichter stürzte von der Brandmauer, ein Dichter, wie es ihn bis heute nicht wieder gegeben hat! Er war siebzehn Jahre alt.

Da sagte ich mir:

Von nun an gehört mein Leben nicht mehr der Malerei und auch nicht dem Theater, sondern der Poesie!

Und was ist mit der Malschule? Mit den Landschaftsstudien, den neuen Barbizons, der Madonna Pesaro? Wir waren weder Mädchen noch Jungen, unser Geschlecht hatten wir einer wichtigen Sache zuliebe abgelegt und waren eine Armee von Buckligen geworden, verzauberte Käfer, die Holzkästen auf dem Rücken schleppten. Das Ritual, mit Malkästen auf die Hügel zu wandern, war wichtiger als die Sache selbst, für die wir es taten. Dort, auf den Steilhängen des Dnepr, auf dem Gipfel der Glückseligkeit, auf dem Gletscher der Träume, stellten wir unsere Staffeleien auf, Insekten mit Aluminiumbeinen, und schmierten bunten Ölfarbenkot auf unsere Leinwände. Das Ganze nannte sich dann »plein air«.

Aber die Wirklichkeit war um einiges feierlicher als unsere jämmerlichen Versuche, sie im Bild festzuhalten.

Zu Ehren jenes siebzehnjährigen Toten, der mir nie vor die Augen gekommen war, schrieb ich ein Poem.

»Wenn du mit der Literatur ernst machst, werden dich Selbstzweifel und Geldmangel quälen. Bist du dazu bereit?«, fragte Papandrelo mich eines Tages.

Um großer Ziele willen war ich sogar bereit, mich in das tiefste sibirische Schlammloch zu stürzen.

Jahre später erst fiel mir auf: In der Familie meiner Mitschülerin Scherwinskaja waren alle Historiker gewesen, das heißt Inhaber nutzloser Berufe, Gipfelstürmer der Exzellenz, geistige Avantgarde!

Scherwinskaja selbst war eine raffinierte Klugscheißerin, die ihre kastanienbraunen Augen gekonnt aufblitzen ließ.

»Die Zunge ist ein Säbel. Das Blut des Feindes muss von ihm herabtropfen!«, orakelte sie.

Ich betrachtete ihre reifenden Brüste und dachte an Entscheidungsschlachten.

An Energie mangelte es uns nicht. Wir wollten den Alltag in die Luft sprengen, der Welt den Kampf ansagen: Zu diesem Zweck simulierten wir Ohnmachtsanfälle im öffentlichen Nahverkehr! Wir geschlechtsreifen Komsomolzinnen nannten uns damals ganz altmodisch Fräulein. Besonders lieb ist mir die Geschichte von dem Korsett, das in einem morschen, der Revolution durch ein Wunder entgangenen Großmutterschrank der Scherwinskis gefunden wurde. Ein solcher, jeden Bezug zur Gegenwart entbehrender Gegenstand wie ein Korsett musste bei halbwüchsigen Mädchen zwangsläufig zu geistiger Umnachtung führen. Wie trugen das Korsett abwechselnd, unter der trostlosen Schuluniform, bis es eines Tages, als die Dickste und Gefräßigste von uns es anhatte, mit einem martialischen Geräusch platzte, mitten im Unterricht, als wir gerade die Geschichte der Kommunistischen Partei durchnahmen.

Scherwinskaja brachte Pausenbrote mit in die Schule. Der Belag glich einem säuberlich aufgebügelten, schwarzen Filz mit blassen Milchglasstückchen aus angetautem Speck.

»Mit dieser Salami ist der Boden in der Basilica San Marco ausgelegt. Sag bloß, du weißt das nicht? Logisch, woher auch. Ihr seid ja keine Adligen oder Weißgardisten, nicht einmal Kosaken. Die haben die Wurst mit ihren Säbeln – zack – in der Luft zerschnitten, dass es nur so pfiff, als die osmanischen Kanonen damit auf sie feuerten im Russisch-Türkischen Krieg! Und den gleichen Belag findest du in der Basilius-Kathedrale!«

Ich ging weiterhin zu den Scherwinskis, um teilzuhaben am Allerhöchsten. Ihre Maman war das Inbild gezügelter Leidenschaft und guten Geschmacks. Ihr Großvater fragte uns ab:

»Also was ist, Mädels, seid ihr bereit zum Musendienst? Ihr wisst ja, der Kampf ist unvermeidlich: Mann gegen Mann, der Künstler gegen die Menge!«

Er hatte eine schnittige Kopfform und glatt geöltes Haar, wie ein pomadisiertes Stachelschwein. Immer wieder zog er seine Parade vor uns ab.

»Das Leben des Künstlers ist sagenhaft schwer. Und es soll auch schwer sein, er ist schlechterdings dazu verpflichtet! Man muss die Zähne zusammenbeißen und durchhalten. Denn justamente wir, das sowjetische Volk, sind die Aristokraten des Geistes! In dieser Situation, da alles Materielle in den Staub getreten und geschändet ist, bleibt uns keine Wahl. Und wenn wir uns schon vom Geist ernähren, sind wir auch echte Engel mit Flügeln. Vor allem ihr, Mädels!«

Unter dem Einfluss dieser grausigen Großväter und Janitscharen verfassten wir ein Künstlermanifest, das folgendermaßen lautete:

Niemals auf die Meinung anderer hören.

Sich dem Werk opfern.

Keine Lehrer akzeptieren, immer den eigenen Weg gehen.

Die allgemeine Ordnung in Frage stellen.

Allen Einflüssen und Autoritäten Widerstand leisten.

Sich niemals verlieben!

Das letzte Gebot war das wichtigste.

Diesen Schwur legten wir eines schönen Herbsttags auf dem Steilhang im Park des Ruhmes ab, in der Nikolajewskaja-Einsiedelei, im ugrischen Hain, auf Askolds Grab, direkt an der Rotunde, auf totem, blindem Laub, und besiegelten ihn mit Blut, indem wir unsere verschorften Wunden aufeinanderpressten. Und als wir unseren Schwur taten, dort oben über dem mächtigen Flusse, schlug uns der Wind ins Gesicht, die Vögel verschwanden unter der Erde, und die Sonne wurde zu Blei. Es war wie im Film.

Sehr bald schon brachen wir unseren Eid, vor allem das letzte Gebot.

Dann trat ein sehr wichtiges Ereignis in unser Leben. Wir beschlossen, uns im Dienste der Kunst Pseudonyme zuzulegen. Scherwinskaja dachte sie sich aus, einen ganzen Sack voll. Brontosauria Stepanowna L'amourmour, zum Beispiel, oder Slonowia Sachs. Mir dagegen fiel überhaupt nichts ein, und deshalb signierte ich fürs Erste mit Havaria Dostojewzewa. Aber Scherwinskaja zog mein Pseudonym kurzerhand aus dem Verkehr und sagte, ich solle mich Slonowia nennen, genau wie sie, nur auf Englisch. Seitdem heiße ich Elephantina.  

Das war totaler Schwachsinn!

Die Weisheit der Bisamratte

Das ganze Jahr 1981 hindurch liefen endlose Verhandlungen über die Begrenzung der strategischen Rüstung. Ronald Reagan wurde Präsident der Vereinigten Staaten. Die Kommunistische Partei Chinas verurteilte die Ehefrau Mao Zedongs zum Tode. Die Amerikaner warfen der UdSSR Unterstützung des internationalen Terrorismus vor. In Chile kam Pinochet an die Macht. Ein mongolischer Kosmonaut flog in den Weltraum. Die UdSSR erklärte die polnische Solidarność für illegal. In Libyen herrschte Bürgerkrieg. Die Kommunistische Partei Bulgariens wählte Todor Schiwkow zum Vorsitzenden. Die UdSSR gewann die Eishockey-Weltmeisterschaft. Prinz Charles und Prinzessin Diana feierten Hochzeit. Es gab eine totale Sonnenfinsternis. Die USA starteten das Weltraumprogramm »Space Shuttle«. Die ersten Fälle von Aids wurden registriert. IBM brachte den ersten PC auf den Markt. Islamisten ermordeten den ägyptischen Präsidenten Sadat. Mauretanien verbot die Sklaverei. Elias Canetti erhielt den Nobelpreis »für sein schriftstellerisches Werk, geprägt von Weitblick, Ideenreichtum und künstlerischer Kraft«.

Zur selben Zeit diagnostizierte man bei mir Verdacht auf Poesie. Ich musste zu allen möglichen windigen Spezialisten rennen und mein Geschreibsel vorzeigen. In der Regel lief das so, dass Papa einen Kumpel anrief und dann so nebenher die Frage einflocht, ob er nicht mal einen Blick auf meine Gedichte werfen wolle: »Sie hat's nämlich jetzt mit dem Dichten.« Es war ihm furchtbar peinlich. Jeder dieser Spezialisten durfte eine Diagnose stellen wie ein Arzt. Wobei diese Diagnosen jedes Mal komplett unterschiedlich ausfielen. Dieses Mal vereinbarten meine Eltern, mich zu einem alten und verdienten Poeten zu schicken.

Meine Gedichte gefielen ihm, aber das machte mich erst recht wütend.

Damals sahen die Schriftstellerhäuser überall im Land gleich aus: sattbraune Blöcke, wie große Schokoladentafeln. Die Erdgeschosse der Schokohäuser waren mit Gedenktafeln verziert, die in der Nachkriegszeit ein eigenes Genre bildeten. Aus ihnen hat sich später der erhabene Friedhofsstil entwickelt. Vermutlich, weil sie aus echtem Grabmarmor hergestellt wurden.

Ich stieg die Treppe hinauf. Mein Herz begann heftig zu schlagen. Auf dem Gipfel des Kenotaphs erwartete mich eine Bisamratte. Dieser Archetypus kommt allein im Schriftstellerverband vor: große, rauhpelzige Greise, im Ring ergraute Kämpfer, erfolgreiche Karrieristen. Sie wussten, wie man sich in Szene setzt. Die komplette Bewohnerschaft der Schokohäuser schien nur aus solchen Greisen zu bestehen.

Der Sekretär des Schriftstellers nahm mich in Empfang – ein gebückter Leisetreter im bestickten Bauernkittel. Die ganze Wohnung war mit hohen gotischen Stühlen vollgestellt. An einer frisch tapezierten Wand hing ein Kupferprägedruck: Maxim Gorki mit Nietzsche-Schnurrbart. Es roch schwer nach Staub und Bohnerwachs. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was die noble Bisamratte zu meinen Gedichten sagte. Die meiste Zeit ritt er darauf herum, dass er in seiner Jugend einmal Boris Pasternak begegnet sei und genauso vor ihm gestanden habe. Der Vergleich kränkte mich tief. In meiner Phantasie stand ich auf einmal splitternackt vor ihm, und er peitschte mich mit einer Reitgerte. Aber in Wirklichkeit bemerkte er meine jugendliche Nacktheit gar nicht, weil er sich immer noch an seinem schmirgelnden, haltlosen Greisengeschwätz labte. Er geriet dermaßen in Wallung, dass ihm der Speichel von den lila Lippen sprühte. Schließlich schleppte er mich zum Fenster und zeigte nach unten auf die Straße, damit ich mich davon überzeugte, dass jeder einzelne Fußgänger seine eigene Gangart hatte:

»Siehst du, so muss auch jeder Dichter seine eigene Gangart haben!«

Sein Gefasel war mir auf einmal unerträglich. Pasternak verdrückte sich unter ein Regal und gab mir Zeichen, »zu tinten und zu weinen«. Meine Angst verwandelte sich in den Wunsch, zu gähnen oder zu pupsen, und ich presste Mund und Pobacken fester zusammen. Aber der Literat fing plötzlich an, mit seinen Schaufelpfoten zu wedeln, als wollte er einen Adler darstellen, und ich ließ vor Wut einen fahren.

Damals kam ich zu der Einsicht, dass es nichts Widerwärtigeres auf der Welt gibt als einen Schriftsteller.

Die Literatur hingegen war etwas völlig anderes, sie existierte losgelöst von ihrer Produktion und dem literarischen Prozess. Eine Metapher konnte mich tief erschüttern, und ich begann die Wörter scharf anzuschauen, die Buchstaben, das Papier, ich hielt mir das Buch dicht unter die Nase, um ihrem magischen Mechanismus auf die Schliche zu kommen. In solchen Momenten glich ich jenen Piloten, die Gott hinter den Wolken suchen. Aber weder in den Buchstaben noch in den Papierfasern fand ich Sinn oder Geheimnis. Doch dann loderte in meinem Inneren etwas auf, das man mit Worten nicht beschreiben kann, und das Verstehen kam. Etwas winzig Kleines und Hilfloses wurde dort drinnen geboren, wuchs heran und füllte mich schließlich vollkommen aus. Das war sie, die Literatur.