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Eine Mutter hält ihren erwachsenen Sohn in den Armen. Er ist tot, wie sich bald herausstellt, sie hat ihn während der letzten Monate seiner Erkrankung gepflegt. Bevor die alte Frau den Arzt ruft, beginnt sie mit dem Sohn ein letztes Gespräch, einen Monolog, der zur Bilanz und zur Erinnerung wird: an ein Leben mit einem kriegsversehrten Mann, an das gemeinsam geführte Textilgeschäft im Nachkriegsdeutschland, an das Glück, ein Klavier anzuschaffen, »etwas von Dauer«, schwarzglänzend und für den einzigen Sohn, den sie liebte und der doch immer ein Fremder für sie geblieben ist. Denn seine Existenz verdankt sich womöglich einer traumatischen Gewalterfahrung, die sie zeitlebens bedrängt hat.

Tagesanbruch führt ins Zentrum von Hans-Ulrich Treichels Schreiben, ganz nah heran an die Schmerzpunkte von Verlust und Verlorenheit. Es ist die eindringliche, tieftraurige Erzählung einer Frau, die am Totenbett ihres Kindes endlich all das auszusprechen versucht, was sie niemals ausgesprochen hat; und am Ende doch bekennen muss, dass ihr die Worte versagen. Denn »es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten«.

Hans-Ulrich Treichel, geboren 1952 in Versmold / Westfalen, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin; seit 1995 ist er Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.

Bei Suhrkamp und Insel erschienen zuletzt die Bände:

Endlich Berliner! Erzählungen, it 4097

Mein Sardinien. Eine Liebesgeschichte, st 4496

Frühe Störung. Roman, 2014

Hans-Ulrich Treichel

TAGESANBRUCH

Erzählung

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:

Erste Auflage 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagfoto: Vasyl Helevachuk/Fotolia

eISBN 978-3-518-74526-7

www.suhrkamp.de

I.

DER AUGUST WAR IMMER unser liebster Monat. Du wurdest im August geboren, du warst ein Sommerkind, ein Hitzekind. Im August fühltest du dich am wohlsten. Wenn ich es recht bedenke, war der Sommer die einzige Zeit, in der du nicht gefröstelt hast. Ansonsten war dir meistens kalt. Im Herbst, im Winter, im Frühjahr, immer war dir zu kalt, immer hast du gefröstelt, und immer wolltest du, dass ich noch mehr heize, als ich es eh schon tat. Was mit einer Zentralheizung kein Problem ist. Ich drehe am Regler, stelle von eins auf zwei oder von zwei auf drei, und schon wird es wärmer. So wie es ja auch in den letzten Monaten kein Problem war, da habe ich durchgeheizt, dir zuliebe, dem Kranken zuliebe, und fast immer auf drei, den ganzen Sommer hindurch und bis heute Nacht, bis ich dich hochgehoben und auf meinen Schoß gezogen habe, wo du immer noch liegst. Es machte mir keine Mühe, so leicht wie du bist. Federleicht. Ein Fliegengewicht. Nur dein Kopf ist schwer. So schwer, dass ich ihn halten muss, so wie ich es früher auch getan habe, um dir zu trinken zu geben. Und wie du getrunken hast! Du warst ein durstiges Kind, konntest manchmal gar nicht genug bekommen. Und ich war eine gute Mutter. So gut eine Mutter eben sein kann.

Ich habe immer geheizt, auch zu den Zeiten, als es noch keine Zentralheizung und auch keinen Regler gab, den ich einfach von eins auf zwei oder von zwei auf drei hätte stellen können. Ich habe an keinem Regler gedreht, sondern eine Schaufel Kohle in den Ofen geworfen und manchmal auch ein Brikett, je nachdem, ob ich den Küchenherd geheizt habe oder den Kachelofen im Wohnzimmer. Der Küchenherd wurde mit Kohlen geheizt, am besten mit Eierkohlen. Der Kachelofen mit Briketts. Der Küchenherd war immer warm, er diente zum Kochen und zum Heizen, wogegen der Kachelofen meistens kalt blieb. Die Briketts haben wir uns gespart. Wer hat schon Zeit gehabt damals, im Wohnzimmer herumzusitzen. Wir jedenfalls nicht. Ich nicht und dein Vater auch nicht. Wir mussten uns um das Geschäft kümmern.

Als das Geschäft florierte, habe ich abends und oft auch am Wochenende im Wohnzimmer die Buchführung gemacht. Aber ohne zu heizen, wenn irgend möglich. Am runden Tisch habe ich gearbeitet. Am Kaffeetisch, an dem wir nur sonntags Kaffee getrunken haben und nur, wenn Besuch kam. Ansonsten war es der Tisch für die Buchführung. Ich habe die schöne gestickte Tischdecke heruntergenommen, die Geschäftsunterlagen vor mir ausgebreitet und die Buchführung gemacht. Dein Vater mit seiner Prothese konnte sie ja nicht machen. Zumal es der rechte Arm war, der ihm fehlte. Und damit seine Schreibhand. Gelegentlich schrieb er mit links, aber zumeist nur Unterschriften, die ungelenk und kindlich aussahen. Wie Schönschrift. Aber wie unschöne Schönschrift. Das war alles kein Vergnügen, deinen Vater so zu sehen.

Vom An- und Auskleiden will ich gar nicht sprechen. Habe ich auch nie gesprochen. Man muss nicht alles mit seinen Kindern bereden. Obwohl es ganz normal ist, dass eine Frau ihrem versehrten Mann beim An- und Auskleiden hilft. Wie sollte er sich mit einer Hand die Hose zuknöpfen? Oder die Gürtelschnalle schließen? Die Schnürsenkel knoten? Nahezu unmöglich. Oder das Korsett. Irgendwann musste dein Vater ein Korsett tragen. Der Rücken, der Bauch, alles musste mit Hilfe des Korsetts gestützt und gehalten werden. Als ob der fehlende Arm auch den Rücken und den Bauch aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Was ja durchaus möglich ist, dass sich Balanceprobleme einstellen, wenn einem der rechte Arm fehlt. Dann kippt der Körper nach links, und dieses Kippen versucht man auszugleichen. Mit dem Rücken oder auch dem Bauch. Oder mit einer Prothese. An die sich dein Vater erst gewöhnen musste.

An das Korsett musste er sich nicht gewöhnen, damit fühlte er sich schon vom ersten Tag an wohl. Obwohl es wahrlich kein schönes Kleidungsstück ist, so ein Korsett. So ein Männerkorsett. Bei Frauen ist das etwas anderes, da gibt es die schönsten Korsetts, die man sich denken kann. Schwarze Korsetts, weiße, Korsetts in Bleu und in Rosé, seidig schimmernde. Die Männerkorsetts sind dagegen allesamt fleischfarben. Gelblich. Bräunlich. Mit diesen beinahe fingerdicken Korsettstangen aus Fischgräten. Bereits im fabrikneuen Zustand sehen sie schmuddelig aus. Als würden die Schweißflecken gleich mitgeliefert.

Aber hilfreich ist so ein Korsett trotzdem, es hat deinem Vater Haltung verliehen und ein sicheres Auftreten. Trotz seiner Gewichtsprobleme. Der junge schlanke Mann, der er vor dem Krieg gewesen war, war er nach dem Krieg nicht mehr. Allenfalls noch in der ersten Zeit. Es gab ja nichts zu essen. Aber später, als das Geschäft florierte, da wurde er übergewichtig. Einarmig und übergewichtig. Kein schöner Zustand. Aber trotzdem stattlich. Ein stattlicher Mann, der sich zu kleiden verstand. Der niemals ohne Krawatte und Hut aus dem Haus ging. Dann war ich stolz auf deinen Vater, so mit Krawatte und Hut und den schweren, schwarzen und doch auch eleganten Lederschuhen. Mehr als stolz. Aber davon weißt du nichts. Nichts vom Stolz und nichts von der Liebe. Dass dein Vater einarmig war, übergewichtig und ein Korsett trug, hat meiner Liebe zu ihm keinen Abbruch getan. Auch der körperlichen Liebe nicht. Jetzt kann ich es dir ja sagen. Wir waren allerdings nicht immer fähig dazu. Aus verschiedenen Gründen, worüber ich aber nicht reden möchte. Man muss nicht alles bereden. Schon gar nicht mit dem eigenen Kind, dessen Kopf auf meiner Brust liegt und dessen Stirn ich spüre. Es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten.

*

Das kalte Wohnzimmer war mein Revier und mein Refugium. Hier hatte ich Ruhe. Hier breitete ich die Geschäftspapiere aus und machte die Buchführung. Hier ließen sich allerdings auch alle paar Jahre die beiden Steuerprüfer vom Finanzamt nieder. Die saßen dann tagelang in unserem Wohnzimmer am runden Tisch und prüften, ob meine Buchführung korrekt war. Wenn die Steuerprüfer kamen, dann heizte ich das Wohnzimmer. Im Sommer wäre es auch ohne Heizen gegangen. Aber die Steuerprüfer kamen entweder im Frühjahr oder im Herbst. Beides kalte Jahreszeiten. Zumindest in unserem Wohnzimmer, das ohnehin immer ein wenig zu kühl war. Nordseite. Die Steuerprüfer sollten es warm haben und sich wohl fühlen. Ich servierte ihnen auch Kaffee, den sie immer mit abwehrenden Gesten und einem »Aber das ist doch nicht nötig« akzeptierten. Gern auch eine zweite Kanne. Kuchen bot ich ihnen keinen an. Das hätte wie Bestechung ausgesehen. Ich kann mir aber vorstellen, dass sie auch den Kuchen mit einem abwehrenden »Aber das ist doch nicht nötig« angenommen hätten. Um sich dann bestochen zu fühlen und eine umso strengere Prüfung vorzunehmen, mit der sie ihre Unbestechlichkeit demonstrierten. Also lieber keinen Kuchen.

Was ja auch funktionierte. Nur ein einziges Mal hatten sie Fehler in der Buchführung gefunden, und wir wurden zu einer Nachzahlung aufgefordert. Einer sehr hohen allerdings. Viele tausend Mark. Sehr viele tausend Mark. Deinen Vater hat diese Nachzahlung fast umgebracht. Sein Herz. Seit der Nachzahlung war er herzkrank. Wahrscheinlich war er es schon vorher gewesen. Aber bis dahin hatte er es nicht gemerkt. Schließlich war sein Übergewicht ebenfalls nicht gut für sein Herz. Und auch der Diabetes nicht. Dein Vater hatte schon früh Diabetes. Alles in allem muss ich sagen, dass sein ganzes Leben nicht gut für sein Herz gewesen ist. Nicht der Krieg, nicht die Vertreibung, nicht das Übergewicht, nicht der Diabetes, nicht das Geschäft, nicht die Steuernachzahlung, gar nichts. Und alles andere, von dem ich dir nie etwas erzählt habe, ebenfalls nicht. Was das war? Man muss nicht alles mit seinen Kindern bereden. Man muss auch schweigen können. Aber es hätte ihn fast umgebracht. Ihn und mich. Jetzt kann ich es dir ja sagen. Jetzt, wo du hier, an diesem heraufdämmernden Spätsommertag, bei mir ruhst und deine Stirn meine Brust kühlt.