Cover

Über dieses Buch:

Über ein Jahr lang hat sie den Brief nicht geöffnet – doch nun kann die 19-jährige Gara nicht mehr vor dem davonlaufen, was ihre verstorbene Mutter für sie aufgeschrieben hat. »Du hast nie nach deinem Vater gefragt«, liest sie. Und: »Er lebt auf Gomera.« Und: »Er weiß nichts von dir.« Was soll sie tun? Vielleicht wäre es vernünftig, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Doch Gara beschließt, zum ersten Mal in ihrem Leben ins kalte Wasser zu springen. Noch ahnt sie nicht, dass diese Reise ihr ganzes Leben verändern wird …

»Katrin Jägers Jugendroman lockte mich auf eine entspannte Lesereise. Eine Brise Sommer, ein Hauch Abenteuer, etwas Dramatik und ganz viel Romantik – absolut empfehlenswert.« www.buecherkaffee.de

Über die Autorin:

Katrin Jäger, geboren 1970 in Münster, studierte Publizistik, volontierte an der Berliner Journalisten-Schule und arbeitete danach als Reporterin, Redakteurin und stellvertretende Ressortleiterin bei Berlins größter Zeitung. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Münster.

Mehr Informationen über Katrin Jäger finden sich auf ihrer Website: www.katrinjaeger.net

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eBook-Ausgabe Mai 2016

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Thienemann (Thienemann Verlag GmbH), Stuttgart/Wien

Copyright © der eBook-Ausgabe 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Captblack76

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-111-1

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Katrin Jäger

Inselmelodie

Roman

jumpbooks

Für Karin

Kapitel 1

Ja, es ist alles okay. Gara widersteht dem Drang, noch einen Wohnungsrundgang zu machen. Die Steckdosen hat sie zweimal kontrolliert, dreimal an den Fenstergriffen geruckelt und mindestens fünfmal in den Kühlschrank geschaut. Das muss reichen. Sie ist ja schließlich nicht zwangsgestört, sie verreist nur. Aber sie will sichergehen, dass der Fernseher nicht durch einen Blitzeinschlag explodiert, dass es nicht reinregnet und dass sich im Kühlschrank keine lebende Bioversuchsstation entwickelt, in der die Schimmelpilze am Ende Krieg gegen fiese Faulbakterien führen.

Der rote Alurollkoffer steht schon im Flur. Auf der Kiefernholzkommode liegt die Bauchtasche mit den Flug- und Fährtickets, dem Reisepass, der ausgedruckten Adresse, die sie schon längst auswendig kann, und dem Brief ihrer Mutter. Sie blickt kurz in den Spiegel. Ein dunkelblondes neunzehnjähriges Mädchen mit einem Zopf, braunen Augen und einem ernsten Gesicht schaut ihr entgegen. Gara streckt sich selbst die Zunge raus und greift dann nach dem Koffer. In drei Stunden geht ihr Flieger nach Teneriffa, danach muss sie die Fähre nach La Gomera erreichen. Das entscheidende Wort ist MUSS. Denn WOLLEN will sie ganz und gar nicht.

Mit dem Bus ist sie in fünf Minuten am Dortmunder Hauptbahnhof, von dort fährt der Flughafen-Express-Zug. Sie wohnt zentral. Die nächste Eisdiele liegt ums Eck, H&M ist in Rufweite und die Pizzeria nur einhundertneunundsechzig Schritte entfernt. Andere Mädchen würden sich darüber freuen, doch Garas Leben spielte sich bisher hauptsächlich zwischen Schule und Schreibtisch ab. Denn sie ist zwar schlau, aber nicht hochintelligent. Und für ihren 1,5er-Abischnitt musste sie lernen. Viel lernen. Da blieb keine Zeit für Mädels-Shopping, Milchshaketrinken oder Pizza Margarita. Sie weiß, dass viele sie für eine Streberin halten. Damit muss sie leben. Wie mit so vielen anderen Dingen auch.

Gara sitzt im Expresszug zum Flughafen und schwitzt. Sie zieht ihre Jacke aus und wickelt sie um ihre Hüfte. Trotzdem hat sie das Gefühl zu zerfließen. Hoffentlich hält das Deo, denkt sie. Sie hasst es, etwas nicht unter Kontrolle zu haben. Am liebsten würde sie jetzt duschen.

Erst am klimatisierten Flughafen Dortmund wird es besser. Gara atmet durch, steuert auf den Zeitungsladen zu und lässt ihren Blick über die Magazinauswahl schweifen. Sie schielt auf die Titelzeilen der Klatschzeitungen, greift aber nach dem Spiegel und fühlt sich dabei irgendwie gut. Dann nimmt sie sich noch einen Gomera-Reiseführer aus dem Regal – und fühlt dabei nichts.

Das Einchecken, der Flug, die Landung, alles läuft problemlos. Als Gara vor drei oder vier Jahren mit ihrer Mutter zu einem Wochenendtrip nach Berlin flog, lief gar nichts glatt. Andrea Jasper hatte mal wieder verschlafen. Dann musste sie noch packen. Doch weil sie schon immer lieber um- statt aufgeräumt hat, fand sie ihren Lieblingsrock nicht. Gara entdeckte ihn schließlich im Wäschekorb und schmiss ihn ungewaschen in ihre Tasche. Der Taxifahrer, den sie schon am Abend vorher bestellt hatte, wartete genervt vor der Tür. Am Flughafen wollte Andrea unbedingt noch einen Coffee-to-go trinken, um wach zu werden. Gara lernte derweil schon mal Gate und Flugnummer auswendig. Als die beiden endlich auf den letzten Drücker im Flieger saßen, strahlte Andrea ihre Tochter an. »Na, meine kleine Streberin, freust du dich auch so?«

Gara konnte sich nicht freuen. Sie war sauer.

Auch jetzt kann sie sich nicht freuen.

Sie ist traurig.

Am Kofferband im Flughafen von Teneriffa drängeln sich die Passagiere. Marc aus Garas Spanisch-Leistungskurs würde »Weißkopfadler-Alarm« dazu sagen. Der Sprücheklopfer hätte sogar recht: achtzig Prozent der Leute sind mindestens siebzig.

Die typische Teneriffa-Kundschaft ist ziemlich alt. Gebückte Damen und Herren mit Krückstock füllen die Ankunftshalle. Gerade als Gara das denkt, knallt ihr etwas Knallrotes auf die Netzhaut. Eine Frau mit leuchtenden Wuschelhaaren huscht Richtung Kofferband. Sie trägt ein schwarzes Leinenkleid, das fröhliche Falten wirft, und an ihrem linken Handgelenk klappern orange Holzarmreifen.

Gara überlegt, welches Gepäckstück der bunten Frau gehören könnte. Insgeheim setzt sie hundert Euro auf den schmutzig-gelben Backpacker-Rucksack. Bingo! Es ist ihrer. Die Frau zerrt an dem Ding und mit einem lauten Klatsch landet es auf den glänzenden Flughafenfliesen. Sie schleift den armen Rucksack ein wenig zur Seite und kniet sich davor, um ihn irgendwie auf ihren Rücken zu hieven. Es sieht grotesk aus. Dann merkt sie, dass Gara sie beobachtet, und lächelt. Ernst schaut Gara wieder auf das Gepäckband. Kein roter Alukoffer in Sicht.

»Hi«, sagt die Frau und steht plötzlich schwer atmend neben ihr. »Willst du auch nach Gomera?«

Gara nickt und hofft, dass sie es bei dieser Frage belässt.

»Früher waren es immer mehr«, sagt die Frau, und Gara denkt an ihre Oma, die ihre Sätze auch immer mit »Früher war ...« beginnt.

»Aber das kannst du Hühnchen ja nicht wissen«, erklärt die Frau und lacht.

Gara lacht nicht mit. Sie schaut starr auf das Gepäckband und entdeckt endlich ihren Koffer. Sie geht einen Schritt näher zum Band, doch die rote Frau hat das Gespräch noch nicht beendet.

»Also, früher ...«

Gara zerrt an ihrem Koffer und hofft, dass die aufdringliche Person verschwindet.

»... haben wir uns immer ein Taxi zum Hafen geteilt. Das ist billiger und macht doch auch viel mehr Spaß. Falls du willst, ich stehe am Ausgang. Wenn wir uns treffen, ist es okay, wenn nicht, auch. Nur kein Stress.«

Bloß nicht, denkt Gara, nickt und fummelt so lange an ihrem Adressanhänger herum, bis die unbekannte Nervensäge verschwunden ist.

Gara trödelt extra langsam Richtung Ausgang, vielleicht ist die Frau ja schon weg. Nein, Pech gehabt. Draußen, in der Nähe des Taxistandes, steht sie. Sie hat ihre Augen geschlossen und cremt sich das Gesicht mit Sonnenmilch ein. Das ist Garas Chance! Sie steigt in das erste Taxi in der Reihe, lässt sich auf den zerschlissenen Lederrücksitz fallen und atmet erleichtert aus. Doch wo steckt der Fahrer? Der sitzt nicht hinter seinem Lenkrad, sondern hockt mit seinem Kollegen auf dessen Taxikühlerhaube.

Gara steigt aus und ruft in astreinem Schulspanisch: »¡Hola!«

Der Mann erwidert nichts, erhebt sich aber ganz langsam. Er hat sie verstanden.

»¡Hola!«, ruft plötzlich eine knarzige Stimme und die dazugehörige Frau kommt angerauscht. Red Lady hat sie also auch verstanden. Sie winkt Gara freudig zu. Die versucht ein schiefes Lächeln, dann teilen sich die beiden ein Taxi.

Es ist weniger schlimm, als Gara befürchtet hat. Die Frau schweigt die ganze Fahrt und lächelt vor sich hin. Der Taxifahrer schweigt auch und im Radio laufen spanische Popsongs. Gut so, denkt Gara. Drei Menschen sind still – wie angenehm.

Nach zwanzig Minuten ist die Fahrt zu Ende. Die Rothaarige bezahlt, Gara kramt die Hälfte der Summe aus ihrem Bauchportemonnaie und gibt der Frau das Geld. Die nimmt es und reicht ihr eine lilafarbene Visitenkarte.

»Hier, das bin ich«, sagt sie. Liliana – Urschreimalerei. Darunter eine E-Mail-Adresse und eine Mobilfunknummer.

Gara weiß nicht, was sie sagen soll, doch das braucht sie auch nicht. Liliana wird plötzlich ganz hektisch.

»Die Schnellfähre legt gleich ab«, ruft sie und zeigt auf die Kaimauer.

Dort liegt ein kleines schnittiges Schiff und die ersten Leute steigen ein. Liliana rennt los, und Gara folgt dem großen auf und ab hüpfenden Rucksack. Als sie die Menschenschlange erreicht, bremst sie ab und wartet, bis die Urschreimalerin im Innern des kleinen Schiffes verschwunden ist. Erst dann reiht sie sich wieder ein.

Es hat geklappt: Sie ist allein!

Sie setzt sich auf einen freien Sitz und versucht, aus den getönten Fensterscheiben zu schauen. Der Motor brummt auf, das Schiff schaukelt los und nimmt Fahrt auf. Und schaukelt immer weiter. Gara wird schlecht.

Es fühlt sich an wie bei einer Magen-Darm-Grippe. Furchtbar! Ruhig atmen, sagt sie sich. Immer schön ruhig. Aber ihr Magen hört nicht auf sie und krampft sich weiter zusammen. Gara wird kreidebleich. Such den Horizont, beschwört sie sich, das soll gegen Seekrankheit helfen. Doch die Scheiben sind nicht nur dunkel, sie sind auch dreckig. Kein Horizont in Sicht. Gara atmet hörbar aus, setzt sich aufrecht hin. Es hilft nicht, ihr Magen fährt Karussell. Sie schließt die Augen. Ihre Hände sind eiskalt. Mit steifen Fingern krallt sie sich an ihrem ledernen Bauchtäschchen fest. Da, wieder eine Welle von der Seite. Das Schiff hebt sich, schwebt in der Luft, ihr Magen schwebt mit. Sie kneift die Augen zusammen. Dann senkt sich das Schiff wieder und Gara presst ihre kalten Hände gegen die Schläfen.

Hätte sie den Brief doch nur nie, nie, nie gelesen!

Ein ganzes Jahr lag er da.

Auf der Fensterbank zwischen der Blechdose mit den Kulis und Bleistiften und den fettbespritzten Kochbüchern. Dort war immer der Platz für die Zettel. Kleine Mitteilungen, Nachrichten, Gedanken – hier lag alles, was Mutter und Tochter sich zu sagen hatten. Oder besser zu schreiben hatten. Denn das mit dem Miteinanderreden klappte nie so richtig. Kannst du noch Brot einkaufen, Süße?, stand zum Beispiel auf einem Blatt. Oder: Kannst du mir verzeihen?, wenn sie wieder Streit gehabt hatten. Einmal hatte Gara geschrieben: Warum bist du so, wie du bist, Mama? Und sie antwortete: I am what I am.

Was für eine blöde Antwort, hatte Gara damals gedacht.

Der Brief.

Ein Jahr lang lag er dort, ohne dass sie ihn gelesen hatte. Es war ein richtiger Brief. Mit einem ordentlichen, zugeklebten Umschlag. Zu Deinem achtzehnten Geburtstag stand darauf. An ihrem neunzehnten Geburtstag hat sie ihn dann schließlich geöffnet.

Meine liebe Gara!

Herzlichen Glückwunsch zum Achtzehnten. Du bist jetzt erwachsen, auch wenn ich bis heute nicht weiß, was das eigentlich bedeutet. Doch ich denke, Du wirst es herausfinden, Du bist klüger als ich.

Es gibt da etwas, das ich Dir achtzehn Jahre lang verschwiegen habe, weil ich es für besser hielt. Doch jetzt ist es an der Zeit. Du hast nie nach ihm gefragt und ich bin Dir dankbar dafür. Aber Du sollst nun wissen, wer Dein Vater ist.

Er heißt Jürgen Wüllner. Er lebt – soweit ich weiß –, auf der Insel La Gomera. Ich möchte, dass Du ihn suchst, findest und ihn kennenlernst. Bringe also das Geld, das ich beilege, nicht auf Dein Sparbuch, sondern kaufe Dir ein Flugticket und reise zu ihm.

Alles Liebe zum Geburtstag,
Deine Mama

PS: Er weiß nicht, dass es Dich gibt.

Peng. Schuss. Aus. Herzstillstand.

JÜRGEN!

Gara glaubt zuerst, ihre Mutter hätte einen ihrer unlustigen Scherze gemacht. Aber auch beim dritten Mal Lesen bleibt jeder Buchstabe so, wie er geschrieben ist.

Sie hat einen Vater.

Er heißt Jürgen Wüllner.

Und sie soll ihn besuchen.

Sie hatte immer geglaubt, ihre flatterhafte Mutter hätte einfach nicht gewusst, wer ihr diese langweilige Strebertochter beschert hat. Und jetzt gibt es IHN, und ER hat sogar einen Namen und eine Adresse. Gara googelt und findet ihn sofort: Casa de Wuellner, er vermietet Apartements auf La Gomera. Sie starrt auf den Computerbildschirm, auf die Buchstaben, auf seinen Namen – bis ihre Augen brennen.

Sie weiß, dass sie keine Ausreden hat. Das Abitur hat sie in der Tasche und das Medizinstudium, das sie in Münster beginnen will, fängt erst im Oktober an. So bekommt Gara zu ihrem neunzehnten Geburtstag von ihrer Mutter eine Reise geschenkt, die sie nicht haben will.

Kapitel 2

Geschafft! Als das Boot nach drei Stunden im kleinen Hafen von Valle Gran Rey auf Gomera anlegt, öffnet Gara die Augen. Mit wackeligen Beinen wankt sie über die Gangway. Endlich! Sie hat wieder festen Boden unter den Füßen und ein sanfter Wind pustet die Übelkeit aus dem Leib. Gara blinzelt und schaut sich um. An dem kleinen Sandstrand liegen blaurote Fischerboote, ein paar Kinder matschen im schwarzen Lavasand, im Hintergrund ragen Felsen in den Himmel. Die Sonne wird von keiner einzigen Wolke daran gehindert, ihre heißen Strahlen auf die Erde zu schicken, doch die Brise ist angenehm frisch. Die Wegbeschreibung zur Casa de Wuellner flattert in ihrer Hand.

Gara schließt sich der Karawane von Rucksäcke tragenden Menschen in Wanderschuhen oder Flip-flops an. Sie ist die Einzige, die Segelschuhe an den Füßen hat und einen Rollkoffer hinter sich herzieht; die Jacke hat sie sich um die Hüfte gebunden. Sie lässt den kleinen Strand rechts liegen und wendet sich der Straße zu, links von ihr brechen sich die Wellen auf dem steinigen Uferstreifen. Gara lauscht dem gleichmäßigen Rauschen des Meeres.

»Calera oder Playa?«

Gara zuckt zusammen. Die rauchige Stimme kennt sie doch. Liliana, die rothaarige Urschreimalerin, geht neben ihr. Kleine Schweißperlen haben sich auf ihrer Oberlippe gebildet, freundlich sieht sie Gara an.

Diese schaut geradeaus und nuschelt: »Calera.«

»Gute Wahl«, sagt Liliana und wird ein bisschen schneller, um mit dem Mädchen Schritt zu halten.

»Findest du nicht, dass es hier anders riecht?«

Gara schaut sie verständnislos an. »Wie anders?«

»Na, anders als zu Hause. Hier riecht es nach Meer und ...«

»Das Meer ist ja auch nur dreißig Meter links von uns«, versucht Gara, Lilianas Euphorie zu bremsen. Doch Liliana lässt sich nicht bremsen.

»... und es riecht spirituell.«

Hoffentlich sind wir gleich da, denkt Gara.

Lilianas Energie ist nicht zu stoppen: »Ich muss ja noch ganz nach oben, zu Jürgen in die Casa, und die letzten Meter sind immer am anstrengendsten.«

Gara kann es nicht glauben. »Zu Jürgen?«

»Ja, zu Jürgen in die Casa de Wuellner. Ich muss mal runterkommen von dem ganzen Stress, und der Jürgen ist da genau der Richtige.«

»Jürgen ist da genau der Richtige?« Gara klingt wie ein Echo. Ihr fällt nichts Besseres ein.

»Ja klar. Sein Haus hat eine total gute Ausstrahlung. Aber was es wirklich bringt, ist seine Energie. Seine Yoga- und Meditationskurse erden einen richtig ...«

Gara kann es nicht fassen. Auf der Homepage ihres Vaters hatte sie zwar einen Link zu diversen Kursen gesehen, doch dass er selbst der Yoga-Meditations-Meister ist, stand dort nicht. Und jetzt ist sie also gerade auf dem Weg zu einem energiebringenden Guru – mit einer Urschreimalerin, die so aussieht wie die rote Zora.

***

Die beiden Frauen erreichen Playa, den Ortsteil unterhalb von Calera, der direkt am Meer liegt. »Die Casa María«, sagt Liliana und deutet auf ein unscheinbares weiß-blaues Haus am Straßenrand. »Ist ganz nett dort. Nur der Wein ist viel zu teuer geworden.«

Ein paar Touristen sitzen in der Bar vor Wasser und Bier, aus den Boxen ertönt Manu Chao. Gegenüber ist ein kleiner Platz. Zwei Kinder fahren Fahrrad im Kreis, ein paar andere spielen Fußball. Im Schatten eines Baumes hockt ein junger Mann mit nacktem Oberkörper und trommelt. Um seinen Hals baumeln ein paar Ketten, halblange Haare fallen ihm ins Gesicht. Seine Hände fliegen wie Kolibris über das Instrument. Bongbongbong! Gara geht plötzlich schneller. Bongbongbong! Ihre Füße bewegen sich im Takt der Musik vorwärts, hoch nach Calera.

Liliana folgt schwer atmend, aber lächelnd.

Der Weg führt immer weiter bergauf, vorbei an Bananenplantagen und kleinen weißen Häusern.

»Da! Da ist es schon!« Aufgeregt zeigt Liliana zum Hang. »Ganz oben. Das türkise.«

Gara versucht, in dem Gewirr aus Häusern, Dächern und Strommasten etwas zu entdecken. Und dann entdeckt sie es auch. Ihr ist ganz flau im Magen.

Das Haus von Jürgen Wüllner.

Das Haus ihres Vaters.

Mühsam stapfen die beiden Frauen über unzählige Treppen nach oben. Ein paar Katzen schleichen durch die schmalen Gassen. Ein kleiner Junge mit einer weißen Plastiktüte in den Händen nickt ihnen zu, Wellensittiche zwitschern aus einer riesigen Voliere, die auf einer Mauer an dem schmalen Weg zusammengezimmert wurde. Vor den Hauseingängen stehen mit bunten Blumen bepflanzte Blechdosen und Eimer. Ein letzter steiler Anstieg noch, dann sind sie da.

Liliana quietscht vor Freude und hämmert an die Holztür.

Gara steht hinter ihr und konzentriert sich auf die rote Haarmähne. Als Erstes nimmt sie seine Stimme wahr. Sie ist tief.

»Liliana, willkommen.«

Dann vermischen sich zwei Arten von Lachen. Liliana stürmt in den Eingang und umarmt Jürgen. Ihre Haare fliegen hin und her. Gara sieht nur seine Hände, seine Arme. Dann blickt er sie an. Er löst sich von Liliana und kommt langsam auf sie zu. Steif streckt sie ihm ihre Hand entgegen.

»Du musst die Gara sein«, sagt er.

Gara nickt stumm und registriert: ein großer Mann, vielleicht Ende vierzig, braun gebrannt, beiges, halb offenes Leinenhemd, schlabberige Dreiviertelhose in einer ähnlichen Farbe. Er ist barfuß. Sein Händedruck ist fest, seine Augen: braun, und Haare hat er keine. Sein Gesichtsausdruck verrät nichts. Er sagt etwas, aber sie kann einfach nicht zuhören. Sie kann ihn nur anschauen.

»Gara, hallo? Hallo?!«

Gara entschuldigt sich, murmelt etwas von einer anstrengenden Reise und Seekrankheit. Jürgen nickt und schaut ihr sehr lange in die Augen.

»Komm«, sagt er und bittet sie, ihm nach draußen zu folgen. »Du bekommst unser Himmelsapartamento.«

Er zeigt nach oben. Links vom Haupteingang führt eine kleine, weiß getünchte Treppe tatsächlich Richtung Himmel. Doch so schön der auch ist, Gara will nicht in einer Hängematte unter freiem Himmel schlafen, falls Jürgen das mit Himmelsapartamento meint. Noch ehe sie ihre Bedenken äußern kann, öffnet er das Holztürchen zu einer großen Terrasse, und Gara ist sofort erleichtert: Mitten auf der Terrasse steht ein klitzekleines Häuschen. Das heißt, eigentlich ist es nur ein weißer Steinkasten, der ein Zimmer und ein Bad beherbergt. Die Wände sind orange gestrichen, auf dem Bett liegt eine kunterbunte Patchworkdecke.

Ganz schön klein, denkt Gara. Ganz schön bunt und ganz schön schön.

»Gara, warum bist du hier?«

Jürgens Frage lässt sie zusammenzucken. Sie fühlt sich ertappt. Vielleicht weiß er ja doch, wer sie ist. Bei der E-Mail-Anmeldung hat sie auch ihren Nachnamen angegeben und den Namen Jasper gibt es ja nicht so häufig wie Müller oder Schmidt. Sie zögert mit ihrer Antwort und überlegt, ob sie ihm sagen soll, weshalb sie wirklich hier ist.

»Ich, äh, ja, warum bin ich hier?« Sie lächelt unsicher.

Jürgen findet ihr Gestammel offensichtlich ganz normal. »Finde es heraus«, rät er ihr, »dann geht es dir besser.«

Sie nickt lahm und kommt sich unter seinem Blick vor wie unter einem Röntgengerät für Gedanken.

Ich muss es ihm sagen!

Doch sie schweigt.

»Heute Abend meditieren wir ein bisschen, wir würden uns freuen, wenn du uns deine Energie schenkst«, sagt Jürgen.

Oh nein, bloß nicht so was, denkt Gara, doch dann nickt sie. »Klar, gerne.«

»Okay. Toll. Bis später. Entspann dich erst mal, wir rufen dich dann.«

Gara lässt sich auf ihr Bett fallen. Was soll ich bloß machen? Gäbe es ein Schulfach in Erste Begegnung mit dem Vater, ich würde eine glatte Sechs bekommen.

Kapitel 3

Gara liegt auf einer Isomatte, die nach Gummi riecht, und hat Rückenschmerzen. Jürgen hockt ihr gegenüber im Schneidersitz, rechts von ihr haben es sich Liliana und eine dünne Frau mit strähnigem Haar gemütlich gemacht, links von ihr hat ein älteres Paar seine Matten ausgebreitet. Zusammen bilden sie einen Kreis, Gara würde lieber auf einem Stuhl sitzen. Es ist ihr unangenehm, zwischen all den Fremden einfach so dazuliegen. Wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken, geht es ihr durch den Kopf. Sie schließt die Augen.