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Esther Vilar

Die sieben Feuer von Mademoiselle

Roman

hockebooks

Ich glaube, die Wochen nach dem Besuch bei der esoterischen Luisita waren die schwierigsten. Wir steckten in einer Sackgasse, denn sosehr wir auch nachdachten, es fand sich nirgends eine Lösung. Außer jener, für die Mademoiselle nicht zu haben war:

»Und wenn wir einfach noch mal zur Feuerwache gehen? Wir könnten noch ein paar Fragen für meinen Aufsatz erfinden. Er hat gesagt, dass ich jederzeit zu ihm kommen kann.«

»Du. Nicht ich.«

»Es ist doch selbstverständlich, dass Sie dabei sind. Dafür werden Sie von meinen Eltern bezahlt.«

»Carlitos, als du ihn damals befragt hast, hast du ihm da gesagt, dass ich in dem Café an der Ecke auf dich warte? Schau mir in die Augen: Ja oder nein?«

»Ja.«

»Siehst du? Er ist einfach nicht an mir interessiert.«

»Das ist unmöglich.«

»Und warum?«

»Weil jeder an Ihnen interessiert ist. Warum sollte ausgerechnet dieser hässliche Feuerwehrmann …«

»Carlitos!«

»Okay, okay.«

Doch schon am nächsten Tag ging es weiter. »Vielleicht hast du recht«, sagte Mademoiselle, als wir beim Essen saßen.

»Womit?«

»Nick Kowalski. Vielleicht sieht er tatsächlich nicht so wahnsinnig gut aus.«

Ich ließ das Besteck fallen: »Endlich!«

»Ich sage nicht, dass es so ist. Aber selbst wenn es so wäre, es wäre kein Argument. Ich bin nämlich der Ansicht, dass sich gerade schöne Menschen für weniger schöne entscheiden sollten. Angeblich geht es doch um Liebe, nicht wahr? Aber gerade da suchen sie sich ihre Partner mit dem Rechenschieber. Und darum versucht es zum Beispiel jeder Mann zunächst einmal bei mir: Zuerst die Schönste, sagt er sich, und erst, wenn die nein sagt, versuch’ ich’s eine Stufe tiefer. Und so verknallt er sich dann wieder und wieder, schraubt seine Bedingungen mehr und mehr zurück und bricht sich bei dieser Talfahrt ein Dutzend Mal das Herz. Bis er endlich eine findet, die seine Gefühle erwidert. Und warum tut sie das?

Weil sie aussehensmäßig auf demselben Niveau ist wie er selbst. Schau sie dir doch an, die Paare! Keiner attraktiver als der andere: Sie passen so genau zusammen, als hätte man sie in einem Katalog füreinander ausgesucht. Wenn der Mann ein Mondgesicht ist, hat seine Frau dafür eine riesige Nase. Wenn sie kurze Beine hat, hat er zum Ausgleich einen schmächtigen Brustkorb. Dieses Gesetz wird nur durchbrochen, wenn einer reich oder berühmt wird. Dann kriegt er endlich die hübsche, junge Blondine, die er eigentlich von Anfang an wollte. Und darum versuchen sie alle, reich oder berühmt zu werden, verstehst du?«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Bordeaux: »Carlitos, verstehst du, was ich meine? Ich habe mir schon in deinem Alter geschworen, dass ich gerade in diese Falle nicht tappen werde. Kein reicher Mann, kein berühmter und keiner von denen, die sie gutaussehend nennen. Ich finde, dass ein schöner Mensch die moralische Pflicht hat, sich für einen weniger schönen zu entscheiden. Schönheit ist heute so viel wert wie Reichtum, weil du dir damit jeden kaufen kannst. Und so, wie ein Dollarmillionär verpflichtet wäre, sein Geld mit den Armen zu teilen, hätte ein Millionär in Schönheit die Pflicht, sich zunächst einmal einem weniger Schönen anzubieten. Eine gutaussehende Frau, die einen gutaussehenden Mann heiratet, ist eine reaktionäre Kuh.«

»Dann hätte eine wie Jackie Kennedy einen wie Richard Nixon nehmen sollen?«

»Absolument!«

So viel zu Mademoiselles Liebesmathematik. Sie hatte sich richtiggehend in Begeisterung geredet – ein Karl Marx des Heiratsmarkts. Übrigens sprach sie von ihrer Schönheit ohne jede Koketterie. So wie einer einen Börsenkurs kommentiert oder eine unheilbare Krankheit. Und sie zitierte auch keinen der verlogenen Sätze, mit denen sich die übrigen Schönen so gern bei den anderen entschuldigen: dass die Schönheit im Auge des Betrachters liege, jeder Mensch eine eigene Art Schönheit besitze und wahre Schönheit ohnehin von innen komme. Für Anziehungskraft, die »von innen« kommt, haben wir ja schon Namen: Charme, Güte, Humor, Intelligenz. Aber gerade die »wahre Schönheit« ist immer äußerlich, und das macht sie ja so himmelschreiend ungerecht: weil es keinen Menschen gibt, der ihr widerstehen kann, und kein Rezept, um sie zu erwerben.

Ich machte einen letzten Anlauf: »Aber er ist auch noch älter!«

»Na und? Sollen immer nur die reichen Greise die schönen jungen Frauen kriegen?«

»Wenn er auch nur zwölf Jahre älter ist, sind Sie nachher zwanzig Jahre lang seine Witwe.«

»Wieso zwanzig?«, fragte sie.

»Wir hatten das in Biologie: In den USA haben die Männer eine acht Jahre kürzere Lebenserwartung als die Frauen.«

»Falls er vor mir stirbt, bringe ich mich sowieso um.«

»Dürfen Sie nicht. Sie sind Katholikin.«

»Na schön, dann werde ich an ihn denken.«

»Zwanzig Jahre lang?«

»An einen wie Nick Kowalski könnte man hundert Jahre lang denken, ohne dass einem langweilig wird!«

Sie war mit dem Essen fertig und zündete sich eine Gauloise an. Nach ein paar Zügen ergriff sie noch einmal das Wort: »Zum Thema Liebe, Carlitos: Eine Bedingung sollte bei alldem natürlich erfüllt sein.«

»Dass er ein Mann ist«, seufzte ich.

»Voilà.«

Aber warum war sie dann so eifersüchtig auf diese Friseuse? Sagte ihr Instinkt ihr, dass gerade Nick Kowalski diesen Mechanismus durchschaut hatte? Dass er weniger blind war als die anderen Männer, die sie umschwärmten, und es darum gar nicht erst bei einer versuchte, die so weit über seinem eigenen Aussehensniveau angesiedelt war? War er bei dieser Luisita, weil er das Gefühl hatte, dass dies die Frau war, die ihm »vom Katalog her« zustand?

Andererseits konnte ich mir ebenso wenig vorstellen, wie ein Mann von einiger Intelligenz ihr esoterisches Geschwätz ertrug. Vielleicht war er ja so beschränkt wie sie, und vielleicht fiel es nur darum weniger auf, weil er nicht so gesprächig war? Denn Nick Kowalski war eindeutig ein wortkarger Mann, und die Wortkargen imponieren uns immer: Wir können uns einfach nicht vorstellen, dass sie eigentlich nichts zu verschweigen haben.

»Vielleicht ist er einfach ein bisschen beschränkt?«

»Wer?«

»Nick Kowalski. Könnte er sonst jedes Wochenende diese alberne Tarotfriseuse ertragen?«

»Männer sind anders. Für ihn ist das wahrscheinlich wie ein Besuch im Bordell.«

Arme Luisita. Wie konnte eine wie Mademoiselle nur dermaßen eifersüchtig auf eine wie sie sein? In unserer Zeit in Rom, ich war vielleicht vier Jahre alt gewesen, hatte man für mich eine herrliche Dogge angeschafft. Und ein paar Monate später hatte ich noch einen Straßenköter dazubekommen. Meine Mutter hatte ihn mit ihrem Alfa angefahren und einfach mit nach Hause gebracht. Von dem Tag an, an dem dieser Köter ins Haus kam, hatte die Dogge Tag und Nacht leise vor sich hin gestöhnt. Das sei die Eifersucht, hatte meine Mutter gesagt, dagegen könne man nichts tun.

Ich erzählte diese Geschichte Mademoiselle.

»Et oui«, sagte sie ergeben.

Geholfen hat es nichts.

Dann sprachen wir wochenlang gar nicht mehr über Nick Kowalski, und ich dachte schon, sie habe ihn vergessen. Andere Dinge drängten sich in den Vordergrund. So las ich in jenen Tagen endlich die drei Bände Winnetou, die mir meine Großeltern, auf Deutsch, aus Wien geschickt hatten.

Und als Folge davon jedes erreichbare Buch über Indianer, in welcher Sprache es auch immer geschrieben war. Die Schulferien hatten begonnen, und bald kam der 11. Juni, an dem John F. Kennedy seine später berühmt gewordene Rede gegen die Rassisten hielt. Er hatte sich nicht einschüchtern lassen und verteidigte die Rechte der Schwarzen noch couragierter als während seiner Wahlkampagne. So stand es jedenfalls in der Zeitung. Meine Eltern bestanden schon damals darauf, dass ich jeden Tag eine las, einschließlich des politischen Teils.

Doch natürlich hatte Mademoiselle Nick Kowalski nicht vergessen. Das wurde mir klar, als meine Mutter auf einem der weißen Korbmöbel, die jetzt im Sommer auf der weitläufigen Terrasse standen, eine Zeitschrift über Esoterik fand. Sie kam wutentbrannt in die Bibliothek, wo mir Mademoiselle gerade ein französisches Gedicht diktierte.

»Wer liest hier diesen Schund?«

»Die habe ich gekauft«, sagte Mademoiselle und griff schuldbewusst nach der Zeitschrift.

»Sie glauben doch nicht etwa an diesen Schwachsinn?«

Es war das erste Mal, dass ich erlebte, dass sie zu Mademoiselle unhöflich war. Was diese natürlich sofort in die Defensive brachte: »Madame, es gibt fast keinen mehr, der nicht an Horoskope glaubt. Zumindest keine Frau!«

»Hören Sie, Mademoiselle«, sagte meine Mutter. »In meiner Heimat Österreich und in Deutschland haben damals so gut wie alle Frauen an Adolf Hitler geglaubt. Das waren so an die dreißig, vierzig Millionen. Ist das vielleicht ein Beweis für die Richtigkeit dessen, was dieser Mann gepredigt hat?« Sie schleuderte Mademoiselle ihre Zeitschrift hin: »Ich möchte so etwas in meinem Haus nie wieder sehen. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Madame.«

»Was kürzlich ohne meine Zustimmung mit Carlotas Haar geschehen ist, habe ich Ihnen verziehen. Doch wenn ich merke, dass Sie ihren Kahlkopf auch noch mit solchem Müll vollstopfen, sitzen Sie noch am selben Tag in der ersten Maschine nach Frankreich.«

»Ja, Madame.«

Ich versuchte es Mademoiselle zu erklären. Es gab drei Themen, die meine Mutter von null auf hundert brachten: alte Nazis, synchronisierte Filme und eben Esoteriker. Sie wäre niemals in einen synchronisierten Film gegangen, und wenn sie einer nach ihrem Sternzeichen fragte, ließ sie ihn auf der Stelle stehen. »Was ist denn Ihr Sternzeichen, meine Liebe? Welcher Aszendent?« Ich schwör’s, zumindest damals wäre sie augenblicklich aufgestanden, wer immer der Frager gewesen sein mochte.

Ob sie auch John F. Kennedy hätte stehen lassen, habe ich sie später einmal gefragt. Doch sie sagte nur, das sei ja das Unwiderstehliche an Kennedy gewesen: der hätte eine Frau vielleicht nach ihrer Telefonnummer gefragt, aber niemals nach ihrem Aszendenten. Aber natürlich war auch das wieder eine Glaubensfrage. Meine Mutter hatte nie neben Kennedy gesessen. Das einzige Mal, dass sie ihn aus der Nähe erlebte, war an dem Tag gewesen, an dem er das vom Spielen mit Caroline gesagt hatte.

Bei Horoskopen kannte sie kein Pardon. Sie war in erster Ehe mit einem prominenten deutschen Physiker verheiratet gewesen, der im Fernsehen einmal ein Experiment durchgeführt hatte, das danach in aller Munde war: Zwölf Versuchspersonen, eine pro Sternzeichen, bekamen in einem verschlossenen Umschlag ein Horoskop ausgehändigt, von dem man ihnen versicherte, es sei aufgrund ihrer persönlichen, vorher bei dem Sender eingereichten Daten errechnet worden. Danach führte man jede Person in eine schalldichte Kabine, in der sie es lesen sollte, und zeigte unterdessen den Fernsehzuschauern den Text auf dem Bildschirm: Es handelte sich um eine ausführliche, komplexe Charakteranalyse, die nur einen Haken hatte: Der Text war bei allen Versuchspersonen identisch. Schließlich ließ man all die heraustreten, die meinten, dass das soeben gelesene Horoskop auf sie zutraf: Von zwölf Teilnehmern hatten sich elf in dem vervielfältigten Horoskop wiedererkannt, und zwar mit vollkommener Sicherheit.

Ich habe dieses Experiment oft erzählt bekommen, und selbstverständlich hat man mir auch erklärt, warum gleich elf Personen glaubten, ihr spezifisches Horoskop zu lesen. Doch mich hat an dieser Geschichte immer nur jener zwölfte Teilnehmer interessiert, der nicht aus seiner Kabine kam. So wie der wollte ich später einmal werden.

Aber natürlich hatte Mademoiselle diese esoterische Zeitschrift nur gekauft, um die Schwachstellen ihrer Rivalin aufzuspüren. Und das bedeutete, dass sie Kowalski noch nicht aufgegeben hatte. Darum fragte ich sie jetzt noch einmal: Was, wenn auch er glaubte, dass man mit den Toten in Verbindung treten kann? Wenn er seine Brieftauben für Boten seiner polnischen Vorfahren hielt?

Damit brachte ich sie endlich einmal wieder zum Lachen: »Das ist völlig unmöglich.«

»Aber Sie kennen ihn doch kaum.«

»Meine Schwester Danielle ist einmal eine Zeit lang zu so einem Verein gegangen. Eigentlich mehr, um einen Mann kennenzulernen, denn sie hatte gerade eine unglückliche Affäre hinter sich. Aber es gebe dort keine Männer, sagt sie. Die paar, die sich bei diesen Zusammenkünften zeigen, seien mehr oder weniger verkappte Schwule oder echt Verwirrte: solche, die Stimmen hören und Visionen haben. Und dann natürlich all die Gauner, die dort ihre Geschäfte treiben: Tarotleser, Wahrsager, Rückführer, Astrologen.«

Ich hatte eine Eingebung: »Vielleicht ist er schwul? Vielleicht interessiert er sich deswegen nicht für Sie?«

Wieder musste sie lachen: »Nick Kowalski ein Schwuler!«

»Sie haben doch noch gar nicht mit ihm geschlafen? Vielleicht ist er impotent?«

»Wo hast du denn dieses Wort wieder aufgeschnappt?«

»Welches sind eigentlich die anderen Regeln Ihres Vaters? Sie haben gesagt, dass es noch fünf mehr sind.«

»Die sag’ ich dir ein andermal.«

»Hat es was mit Sex zu tun?«

Sie hatte ihre esoterische Zeitschrift zusammengerollt und schlug sie mir auf den Kopf: »Schluss jetzt. Au travail!«

Aber nach ein paar Minuten war sie es, die unterbrach: »Er interessiert sich nicht für mich, weil ich zu schön bin. Er denkt, dass er sich zum Narren machen würde, weil er mich ja sowieso nicht kriegt.«

Dieser Gedanke war mir, wie gesagt, auch schon gekommen. Doch in dem Fall war dann ja tatsächlich nichts zu machen: »Vielleicht sollten Sie sich ein paar Narben zufügen? Wie die Idioten von den schlagenden Verbindungen, von denen mein österreichischer Großvater immer erzählt?«

»Du hast vielleicht Ideen!«

»Vielleicht sollten Sie sich einfach nicht mehr waschen? Oder nur noch zerfetzte Kleider tragen?«

»Allons, Charlotte. Au travail!«

Am nächsten Morgen jedoch, als ich mit meinem Vater beim Frühstück saß – meine Mutter war ein sogenannter Nachtmensch und pflegte lange zu schlafen –, kam sie mit einer riesigen Beule an. Mein Vater war über die Verunstaltung so entsetzt, dass er aufsprang und ihr einen Stuhl hinschob: »Du lieber Himmel, was ist denn mit Ihnen passiert?«

Sie sei unter der Dusche ausgeglitten und dabei mit der Stirn auf den Wasserhahn geprallt, erklärte Mademoiselle. Ich hielt die Augen gesenkt, damit sie mein Mitleid nicht entdeckte. Was hatte sie vor mit dieser Beule? Ihrem Angebeteten die Angst vor ihrer Schönheit zu nehmen? Und wenn ja, wie wollte sie das anstellen? Wollte sie so lange an der Feuerwache vorbeispazieren, bis sie ihn zufällig traf?

Wie sehr musste sie ihn lieben, dass sie nach einem solchen Strohhalm griff. Es war Zeit zu handeln.

Bevor ich von diesem Handeln berichte – es betrifft eine nach dem Gesetzbuch eindeutig als kriminell zu bezeichnende Tat –, muss ich nun doch von der Religion erzählen, die ich ein Jahr zuvor erfunden hatte – einer Religion ohne Glauben. Das war noch in Lima gewesen, in der Zeit vor Mademoiselle. In einem der Häuser unserer damaligen Nachbarschaft war eingebrochen worden. Die alte Haushälterin, die Stanislav und ich gut kannten, hatte die Räuber überrascht und dafür mit dem Leben bezahlt.

»Das ist, weil die Leute nicht mehr an die Hölle glauben«, sagte Stanislav. »Wovor sollen sie sich noch fürchten?«

»Vor der Polizei.«

»Die klärt doch nicht mal jeden zwanzigsten Raub auf.«

»Man müsste eine neue Religion erfinden«, sagte ich.

»Noch eine?« Meine Freundin gähnte.

»Eine, die das Glauben überflüssig macht. Die Menschen müssen wissen, dass sie bestraft werden.«

»Aha«, sagte Stanislav mit der ganzen Überlegenheit ihres einjährigen Vorsprungs an Lebenserfahrung.

»Einstein. Die Relativitätstheorie. Hättest du je gedacht, dass die Zeit stillsteht, wenn du dich von der Erde wegbewegst?«

»Nicht stillsteht, du Kretin. Sie wird relativ.«

»Gut, aber hätte man sich vor ein paar Jahren überhaupt vorstellen können, dass die Zeit eine so sonderbare Sache ist? Und ich glaube, je länger man in dieser Richtung weiterforscht, desto größer werden die Überraschungen, die auf uns warten. Und nichts ist Humbug. Alles total wissenschaftlich. Ich könnte mir vorstellen, dass die künftigen Physiker eine Möglichkeit finden, alles, was wir heute machen und wovon wir glauben, dass man es uns nicht nachweisen kann, weil es keiner gesehen hat, jederzeit – hör genau zu: zu jeder Zeit – abzurufen. Das Jetzt geht einfach nicht mehr weg, weil das mit der Zeit ganz anders ist, als wir heute denken. Du willst zum Beispiel wissen, was ein gewisser Ricky Morales am 10. Oktober 1962 um sechs Uhr morgens auf der Toilette seines Hotelzimmers gemacht hat …«

»Kann man sich denken.«

»Genau. Aber wenn es etwas ganz anderes gewesen ist? Vielleicht hat er den Kadaver eines Neugeborenen runtergespült?«

»Durch den Abfluss seiner Hoteltoilette, ja.«

»Nur als Beispiel. Doch falls er es getan hätte, wüsste das nur er.«

»Und der liebe Gott«, witzelte Stanislav.

»Eben. Und an den glaubt er nicht mehr.«

»Also braucht er einen neuen.«

»Das ist es ja: Er braucht gar keinen. Die heutigen Religionen sind allesamt veraltet, weil sich immer mehr herausstellt, dass das, womit sie ihren Anhängern früher gedroht haben – ewige Höllenqualen, ewige Seelenwanderung –, vom wissenschaftlichen Standpunkt unhaltbar ist. Aber sobald du annehmen musst, dass eine Tat später von jedermann jederzeit rückwirkend beobachtet werden kann, wirst du dich automatisch anständig benehmen. Man müsste sich da mal mit einem Physiker unterhalten. Und wenn das Besichtigen der eigenen Vergangenheit irgendwann irgendwie möglich sein sollte, dann müsste man das Bewusstsein davon schon heute unter die Leute bringen, damit sie endlich anfangen, sich wieder vor der Strafe oder wenigstens vor der Blamage zu fürchten. Das würde nicht nur die Verbrechensrate, sondern auch die aller übrigen Gemeinheiten senken, verstehst du? Welche Mutter würde ihr Kind verhauen, wenn sie wüsste, das kommt auf ihr persönliches Filmband?«

So oder ähnlich habe ich mich seinerzeit ausgedrückt – ich gebe das natürlich mit meinem Wortschatz von heute wieder. Doch Stanislav war ohnehin nicht besonders beeindruckt, und darum haben wir meine Religion ohne Gott nicht weiter diskutiert. Bei mir hat sich die Furcht vor dieser physikalischen Möglichkeit zumindest als Aberglaube eingenistet. Nicht, dass ich mich von da an hochmoralisch benommen hätte, doch ich war sozusagen auf der Hut. Heute denke ich, dass wir uns der Sache in rasantem Tempo nähern, und ich verfolge darum mit Leidenschaft die Fortschritte der modernen Physik. Die Physiker beschäftigen sich ja schon längst mit dem elfdimensionalen Kosmos, mit Teilchen ohne Masse, mit Wahrscheinlichkeitswellen und sogar mit Reisen jenseits der Lichtgeschwindigkeit. Und darum wird es auch immer weniger akzeptabel, dass das Universum endlich sein soll. Physiker wie Steven Weinberg sind der Meinung, dass man demnächst vielleicht nicht einmal mehr von Raum und Zeit sprechen kann.

Doch schon damals in Lima hatte ich mir angewöhnt, mich vor jeder dubiosen Strategie – und sei es nur das Krankspielen vor der verhassten Turnstunde – in alle vier Himmelsrichtungen zu verneigen. »Sorry everyone«, sagte ich dabei, und zwar stets auf Englisch. Wenn man mich später in den heutigen Tag zurückholte, sollte man wissen, dass ich mir wenigstens bewusst war, dass das, was ich plante, nicht ganz einwandfrei war. Und Englisch würde dann ohnehin Weltsprache sein.

»Sorry everyone«, sagte ich auch, bevor ich mich am 21.6.1963 mit Mademoiselle auf den Weg zu Mr. Pilgrim machte. Es war in den letzten Tagen ziemlich heiß geworden, und darum ging ich auf die Terrasse, um mich nach Norden, Osten, Süden und Westen zu verneigen. Im Freien würde das Registrieren meines vorauseilenden Schuldbekenntnisses vielleicht noch sicherer auf meinem Lebensfilm landen. Denn mein Plan stand fest.

Auf dem Weg zu Mr. Pilgrim erzählte ich Mademoiselle in allen Details, was dieser seit Monaten in meinen Klavierstunden mit mir anstellte. Ich tat alles, um meine Stimme gequält, traurig und verängstigt klingen zu lassen. Und natürlich verfehlte das auch auf mich selbst nicht die Wirkung: Ich war ein zwölfjähriges Mädchen, das nun schon seit einer Ewigkeit den sexuellen Übergriffen eines geilen Lehrers ausgeliefert war. Es war mehr als verständlich, dass ich mich endlich meinem Kinderfräulein anvertraute.

Mademoiselle war längst stehen geblieben: »Und das erzählst du mir erst heute?«

»Ich wusste ja nicht …«

Sie war außer sich: »Quel cochon! Chien! Animal! Komm! Wir müssen das sofort deinen Eltern sagen!«

»Und dann?«

»Und dann? Man muss diesen Kerl vor Gericht bringen. Der macht das bestimmt noch mit anderen Kindern!«

»Und wie soll man das beweisen?«

»Man wird ihn verhören.«

»Er wird sagen, das sei alles meine kindliche Fantasie.«

»Man wird seine anderen Schülerinnen befragen.«

»Sie werden Dutzende von Kinderpsychologen auf uns hetzen. Die Amerikaner lesen über nichts lieber als über solche Sachen, sagt Franca. Wir werden also jeden Tag in der Zeitung sein.«

»Aber irgendetwas muss man doch unternehmen! Auch wenn du jetzt nicht mehr hingehst, wird er es mit den anderen treiben. Vielleicht noch viel schlimmer!«

»Um das zu verhindern, gibt es nur einen Weg.«

»Da bin ich aber neugierig.«

»Sein Handwerkszeug muss verschwinden.«

»Welches Handwerkszeug?« Manchmal war sie wirklich schwer von Begriff.

»Was ist das Handwerkszeug eines Klavierlehrers?«

»Das Klavier«, sagte sie brav.

»Ein alter Flügel in diesem Fall. Und der steht in einem Pavillon.«

»Soll man den vielleicht in die Luft …« Es hatte ihr mitten im Satz die Sprache verschlagen: »Carlitos!«

»Kommen Sie«, sagte ich. »Wir tun, als wäre überhaupt nichts passiert. Sie erklären, Sie möchten mich wenigstens einmal Klavier spielen hören, da unser eigener Flügel noch immer nicht eingetroffen ist. Dann lässt er mich heute in Ruhe, und Sie können gemütlich den Tatort inspizieren.«

»Carlitos!« Sie umarmte mich auf offener Straße. »Und es wäre auch noch eine hochmoralische Sache!«

Ich bin im späteren Leben selten wieder so stolz auf mich gewesen: »Eben.«

Mr. Pilgrim war reizend zu Mademoiselle. Er fegte seinen mit allerlei Papieren belegten Sessel für sie frei und hieß sie, es sich bequem zu machen. Wie schön, dass mir endlich einmal jemand beim Spielen zuhören wolle, meinte er, »und sei es nur das Kinderfräulein«. Dass unser Flügel nach so vielen Monaten noch immer nicht in Washington eingetroffen war, nannte er einen Skandal. Ich müsse jetzt nämlich ernsthaft an eine Pianistenkarriere denken, ich sei ja dermaßen talentiert. Er wies mich an, Mademoiselle die mir bereits geläufigen Teile der Goldberg-Variationen vorzuspielen – das werde ihr bestimmt gefallen: Es gebe niemanden, der den Goldberg-Variationen widerstehen könne. Dann setzte er sich neben mich auf die Klavierbank, genau wie sonst. Nur dass seine linke Hand diesmal auf dem eigenen Schenkel lag. Nach Mademoiselle sah er sich kein einziges Mal um: Kein Wunder, er stand ja auf kleine Mädchen. Oder lag es an der violett angelaufenen Beule auf ihrer schönen Stirn? »Sehr gut«, murmelte er wieder und wieder. »Sehr gut, mein Kind!« Sonst lobte er mich nie. Auch nahm er immer wieder seine Lupe zur Hand, um bestimmte Stellen der Partitur zu entziffern. Ein engagierter Pädagoge, kein Zweifel.

Auf einmal tat er mir leid. Ich schaute auf seine von braunen Flecken übersäte Hand mit den langen, dürren Pianistenfingern, bemerkte das leise Zittern, das mir früher nie aufgefallen war. Sicher wollte er in seiner Jugend ein gefeierter Pianist werden – und was war aus ihm geworden? Ein Klavierlehrer für die Kinder der Bourgeoisie, der schon dankbar sein musste, wenn eine unmusikalische Angestellte zum Zuhören kam. Denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass Mademoiselle in der Lage war, zwischen Bach und Beethoven zu unterscheiden.

Und was war schon dabei, wenn er seine Hand auf meinen Schenkel legte? Offenbar sehnte er sich nach dieser Berührung so sehr, dass er dafür sogar einen Skandal riskierte. War ich, das sogenannte Opfer, im Grunde vielleicht nicht mehr als ein spießiger, kleiner Geizkragen? War nicht eher mein Verhalten pervers? Denn vielleicht war ein Flittchen ja das Gegenteil dessen, wofür man es gemeinhin erklärte: eine Frau, die einem Mann das so verzweifelt Ersehnte nicht gestattet. War denn die Unberührtheit des Oberschenkels einer verwöhnten Diplomatentochter so viel wichtiger als das Verlangen eines einsamen, alten Mannes? Was sonst war wohl dieser Sex, von dem sie so viel Aufhebens machten – was sonst als die Sehnsucht nach der größtmöglichen Nähe zu einem anderen Menschen?

Das mit der Moral war ja dermaßen kompliziert! Etwa bis zur Zeit meiner Einschulung hatte mir jede neue Kinderfrau, sobald sie zum ersten Mal mit mir allein war, die gleiche Frage gestellt: »Und wen hast du lieber, Carlotita, den Papi oder die Mami?« Ich weiß, dass ich jedes Mal lange überlegte und dann, wenn ich endlich einen der beiden nannte, sofort dachte, dass ich eigentlich den anderen lieber hatte. Und so ergeht es mir auch mit Entscheidungen über moralische Probleme bis zum heutigen Tag. Sobald die Menschen alle in dieselbe Richtung marschieren – und sie marschieren immer alle in dieselbe Richtung –, muss ich einfach nachsehen, ob sie in der Gegenrichtung nicht irgendetwas vergessen haben. Und sie haben immer etwas vergessen.

Freunde macht man sich damit nicht. Wie oft musste ich mir anhören: »Carlota Linares – immer muss sie sich interessant machen!« Aber ich glaube, ich bin einfach immer nur auf der Suche nach der größten Gerechtigkeit gewesen. Und je länger ich nach einer Antwort suchte, desto mehr kamen zum Vorschein. Heute wüsste ich nicht einmal mehr zu sagen, wie sich der Begriff Gerechtigkeit definiert.

Und dies war ein weiterer Grund, aus dem ich Mademoiselle bewunderte: Wenn sie ein Urteil gefällt hatte, zog sie es nie wieder in Zweifel. Ob es nun um Kowalski, die Weinkenner oder den lieben Gott ging – immer wusste sie, was falsch und richtig war. Immer konnte sie sich entscheiden, und zwar sofort.

Auch im Fall von Mr. Pilgrim hatte sie längst entschieden. Als ich einmal hinter seinem Rücken zu ihr hinsah, machte sie mir ein Zeichen. Was denn, die Büste von Johann Sebastian Bach? Sie nickte.

Die Büste von Johann Sebastian Bach. Sie war nicht aus Gips, sondern aus weiß bemaltem, sehr festem Pappmaché. Sie stand auf dem Notenregal, das sich direkt unter dem zu dieser Jahreszeit stets weit geöffneten Fenster befand. Mademoiselle meinte, dass das Feuer von hier ausgehen solle. Aus symbolischen Gründen sozusagen. Hatte dieses alte Schwein das Genie aus Deutschland nicht dazu missbraucht, kleine Mädchen zu begrapschen?

Ihr Plan war, gleich in der kommenden Nacht in den Pavillon einzubrechen, die vorhandenen Notenblätter über den Flügel zu verteilen, darauf die Büste zu platzieren, alles mit Benzin zu übergießen und mit einer aus der Ferne geschleuderten Pechfackel in Brand zu setzen. Ich war dagegen.

»Und warum?«

»Es ist nicht elegant.«

»Seit wann muss ein Feuer elegant sein?«

»Nicht das Feuer. Die Art, wie man es herstellt. Dies wird unser viertes und letztes Feuer sein. Da sollte man sich schon was Besonderes einfallen lassen.«

»Und was wäre was Besonderes?«

»Jedenfalls nichts mit einer Fackel, denn das hatten wir schon bei der Georgetown Queen. Und kein Feuer bei Nacht. Wir haben es jetzt bereits zweimal bei Dunkelheit brennen lassen – bei der Sache mit dem Müll und bei dem Schiff. Ich möchte wissen, wie so was am Tag aussieht.«

Mademoiselle sah mich aufmerksam an: »Charlotte, du wirst mir doch keine Pyromanin?«

»Was ist das?«

»Das ist eine, die’s zum Spaß macht. Une pyromane …«

»Was heißt hier ›zum Spaß‹? Es bleibt uns doch gar nichts anderes übrig!«

Und natürlich war Mademoiselle diese Antwort hochwillkommen: »Nicht dass ich wüsste«, seufzte sie.

Noch auf dem Heimweg entwickelte ich meinen Plan für ein Feuer am helllichten Tag. Zufällig hatte ich am Morgen mit Mr. Fudimoto gesprochen, der im Radio regelmäßig die Wettervorhersage hörte. Die Hitze werde noch bis zum kommenden Wochenende unvermindert anhalten, sagte er, darum wolle er das Wasser im Schwimmbassin erst in der nächsten Woche erneuern, denn er sei dann ja einen ganzen Tag lang nicht benutzbar, der Pool.

»Weiter«, sagte Mademoiselle.

Wir standen vor dem Haus der Harrimans, das weiß ich noch genau. Vor den Häusern wichtiger Leute fühlte man sich in Georgetown immer ein wenig beobachtet, und darum bat ich Mademoiselle, ein paar Schritte weiterzugehen.

»Erstens, die Büste«, sagte ich dann. »Die muss bleiben, wo sie ist.«

»Die steht jetzt aber am Fenster. Und wir wollen ihm doch sein Klavier anzünden.«

»Tun wir auch.«

»Aber nicht mit der Büste?«

»Gerade mit der Büste.«

»Mach’s nicht so spannend, chérie.«

»Haben Sie sich auch den unteren Teil dieser Büste angesehen?«

»Ich habe den scheußlichen Kupferteller gesehen, auf dem sie steht.«

»Und was liegt auf dem Rand dieses Kupfertellers?«

»Sein Tabak und seine Pfeifen«, sagte sie brav.

»Sehr gut.« Die Rolle begann mir zu gefallen.

»Und weiter?«

»Die Lupe. Die, mit der er die Noten liest.«

»Hielt er in der Hand«, sagte sie.

»Und am Schluss der Stunde? Wohin hat er sie da gelegt?«

»Zu den Pfeifen.«

»Also ebenfalls auf den Kupferteller.«

»Weiter.«

»Das Unternehmen startet nicht in der heutigen Nacht, sondern erst in der kommenden. Und zwar früh um vier, weil da kein Mensch auf der Straße ist.«

»Ich dachte, du wolltest ein Feuer am Tag?«

»Abwarten! Nachts um vier gehen wir hin, doch brennen wird es am Tag. Wir müssen dabei nicht einmal durchs Fenster steigen, weil er die Tür nie verschließt. Wer klaut schon einen alten Flügel? Aber auch das Fenster steht zu dieser Jahreszeit wahrscheinlich offen, weil er immer versucht, den Tabakgestank loszuwerden. Wir gehen hin, füllen den Kupferteller, auf dem die Büste des Herrn Bach steht, mit Benzin. Mit dem Rest übergießen wir die Büste selbst und das Stück Vorhang, das wir dem Mr. Bach über den Kopf hängen werden. Und dann nehmen wir die Lupe des Herrn Pädagogen und stellen sie hochkant in den kleinen Benzinsee, und zwar so, dass sich, wenn übermorgen die Sonne darauf brennt, zuerst das Benzin im Teller, dann die Büste, dann der Vorhang und dann der ganze Raum und der ganze Pavillon wie von Geisterhand entzünden. Und so wird der alte Pilgrim bestraft, und kein Mensch schöpft Verdacht.«

»Und wenn er in den Pavillon kommt, bevor es heiß wird? Dann riecht er’s doch? Oder wenn er drin wäre, wenn’s zu brennen beginnt? Wir wollen ihn ja nicht umbringen!«

»Er kommt immer erst um drei Uhr nachmittags«, sagte ich.

»Das weißt du genau?«

»Beim letzten Mal habe ich ihn gefragt, ob ich jetzt während der Sommerferien nicht am Vormittag kommen kann. Er hat mir gesagt, dass er immer erst ab drei Privatstunden gibt. Morgens ist er an irgendeinem Konservatorium.«

»Warum machen wir’s dann nicht schon heute Nacht?«

»Weil ich einen Tag brauche, um den richtigen Winkel für die Lupe zu berechnen.«

Wir waren an unserer Haustür. »Kinderwagen?«, fragte Mademoiselle.