Ralf Rothmann

Junges Licht

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 5. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 3754.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004

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Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-75012-4

www.suhrkamp.de

Here is the night,

The night has begun;

And here is your death

In the heart of your son.

L. Cohen

Unter Tage ist es still um diese Zeit, in der sich noch niemand im Schacht oder auf der letzten Sohle befindet, und der Mann schob das Gitter zu und legte den Riegel um, trat einen Schritt zurück. Stiller als über den Wolken. Er öffnete den Telefonkasten, nahm den Hörer heraus und gab seine Markennummer durch, die Strecke und den Schichtbeginn. Nach der Bestätigung hängte er ein, und momentlang bewegten sich die Stahlseile lautlos; dann ruckte der Korb an, die Gitter klirrten, und die Lampe unter dem Blechdach zitterte derart, daß die toten Fliegen in der Milchglasschale hüpften. Nach der Schrägführung, einer Strecke von einigen Metern, verstummten die Geräusche, und der Aufzug schwebte fast lautlos bis unter das Gewölbe aus Brandschiefer und Mergel und war im nächsten Augenblick verschwunden. Nur noch ein hoher, nach und nach leiser werdender Ton kam aus dem Schacht.

Die Streckenbeleuchtung wurde erst mit dem Beginn der Frühschicht eingeschaltet, in etwa zwanzig Minuten, und der Mann nestelte an seinem Gürtel, rückte das Bergleder zurecht, betastete seine Hosentaschen. Zollstock, Bleistift, Fahrbuch. Dann knöpfte er sich die Jacke aus dickem Drillich zu und drehte sein Helmlicht an. Eine Weile horchte er. Entfernt war so etwas wie Wind zu hören, die frische Luft im Wetterschacht. Er zog die Flasche aus der Gezähekiste, trank einen Schluck kalten Tee und ging dann die leicht abfallende Sohle hinunter. Das Gestein war naß, er trat fest auf in seinen Nagelschuhen, und die Blindschächte in der Nähe schienen den Hall der Schritte und das Klickern angestoßener Steine oder Gleisschellen um ihn herumzuleiten. Manchmal klang es, als käme er sich entgegen.

Hinter einer Kehre, wo ein ausrangierter Schrapper stand, fiel die Sohle steiler ab, gut fünfundzwanzig Grad. Hier waren die Schienen einbetoniert, und er setzte sich auf sein Arschleder und rutschte die Strecke ein Stück weit bergab, wobei er die Geschwindigkeit mit den Absatzeisen bremste. Unten stand das Wasser knöchelhoch und lief ihm schon nach wenigen Schritten in die Schuhe. Er schlurchte zu den ersten Stempeln des Strebs, zog den kleinen Hammer aus der Zollstocktasche und klopfte die Stahlkappen ab – bis zu dem Kreidezeichen vom Vortag. Alle hatten genug Spannung, und er schlug sein Fahrbuch auf, machte einen Vermerk und begann die Stempel zu zählen, die Arbeit der letzten Schicht. Zu wenig, das sah er gleich und erkannte auch den Grund, noch ehe er etwas notiert hatte.

Über ihm, zwischen handbreiten Klüften, hing eine vier Meter lange Sandsteinplatte durch, und aus einem Riß tröpfelte Wasser in dünnen Fäden herab. Wie Perlschnüre glitzerten sie im Schein seiner Lampe, und als der Mann näher trat, stieß er mit dem Schuh gegen etwas, das ganz offensichtlich nicht hierher gehörte, einen Drahtknäuel vielleicht. Er bückte sich, um ihn aus dem Weg zu werfen. Es war einer jener kleinen, von manchen Bergleuten trotz des Verbots immer wieder mitgebrachten Käfige, zerdrückt, verrostet und natürlich leer. Eine Rattenfalle. Er warf sie in den Stoß, und dann hörte er es, leise nur, doch so deutlich, daß es keinen Zweifel gab. Langsam drehte er sich um. Im Schein seiner Lampe blitzten die blanken Kratzstellen an den Stempeln auf. Staub wirbelte durch den Strahl. Die Sandsteindecke über ihm, schräg wie ein Dach, bewegte sich nicht, der Riß war unverändert. Doch das Wasser setzte plötzlich aus, das Rieseln verstummte – wenn auch kaum länger als ein, zwei Herzschläge lang. Und ging dann unverändert weiter.

Es war der erste Tag der Ferien, das leichte, etwas ungläubige Erwachen in der Sonne, die schräg durch die Topfblumen auf mein Bett fiel. Ich gähnte, kniete mich aufs Kopfkissen und schob den Vorhang ein Stück weiter auf, langsam, um kein Geräusch zu machen. Sophie schlief noch. Sie hatte sich den Daumen in den Mund gesteckt, und am kleinen Finger, leicht abgespreizt, glänzte etwas von dem Nagellack meiner Mutter.

Unter den Obstbäumen im Garten lag Spielzeug, ein Plüschhund, Förmchen aus Weißblech, Möbel aus der Puppenküche. Am Zaun lehnte die Axt. Hinter dem Rhabarber und den Johannisbeerbüschen schlängelte sich der lehmgelbe Weg mit der Grasnarbe an den Feldern vorbei, Hafer und Weizen. Die Grannen glänzten silbern, wenn Wind darüberfuhr, und auch der Mohn am Feldrand bewegte sich leicht, Blütenblätter flappten hin und her. Ein paar Vögel flogen wie aufgeschreckt über die Fernewaldstraße, frisch mit Rollsplit belegt, und verschwanden hinter den Silos und Förderbändern, die aus der Kiesgrube ragten. Auf der Spitze des Baggerarms saß ein Falke.

Auch im Nachbargarten war noch niemand, der Sandkasten des kleinen Schulz lag da wie am Abend: Ein Labyrinth aus Straßen, die über Berge und durch Tunnels führten und auf denen die Matchbox-Autos standen, die ich ihm geschenkt hatte, einen Schuhkarton voll. Nur den kleinen Oldtimer hatte ich behalten, einen Mercedes Silberpfeil. Im Garten der Breuers hing Wäsche, und das Wasser, das manchmal noch von den Handtüchern, Büstenhaltern oder kopfunter hängenden Hemden ins Gras fiel, glänzte fast weiß, wie Tropfen frischen Lichts. Ich schlüpfte in meine Khakihose und ging barfuß aus dem Raum.

Das Schlafzimmer der Eltern stand offen, die Betten waren gemacht. Im Bad, das kein Fenster hatte, nur eine schmale Lüftungsluke, war niemand, jedenfalls brannte kein Licht hinter dem Wellglas im oberen Teil der Tür. Doch als ich auf die Klinke drückte, spürte ich einen jähen Widerstand, und meine Mutter räusperte sich. Sie stellte irgendwelche Fläschchen oder Sticks auf die Ablage unter dem Spiegel, und ich ging ins Wohnzimmer. Das Radio war eingeschaltet, die Skala mit den Städtenamen leuchtete in dem schattigen Raum; doch die Musik war kaum zu hören. Neben dem Sofa, der wulstigen Lehne, auf die mein Vater den Kopf legte, wenn er fernsah, stand eine leere Bierflasche.

Die Dielen, rotbraun gestrichen, knarrten leise. Unsere Küche lag wie das Kinderzimmer auf der Gartenseite, das Fenster war offen. In einer Schale auf der Anrichte glimmte eine Zigarette; der weiße Rauchfaden stieg fast senkrecht auf und zerfiel dann plötzlich in ein graues Gewirr. Auf dem kalten Kohleherd leuchtete die rot und violett geblümte Kaffeekanne in der Sonne. Der Deckel, seit langem schon zerbrochen, war durch eine Untertasse ersetzt.

Auch die Glastür, durch die man aus der Küche auf die Loggia kam, die wir allerdings Balkon nannten, war geöffnet, und ich lehnte mich über die gemauerte Brüstung und blickte hinunter, auf den Hof der Gornys. Große Tassen standen auf dem Tisch, an einer fehlte der Henkel, und Wolfgang stellte ein Tablett voller Brot, Honig und Margarine dazwischen. Er war in meinem Alter und ging bisher in dieselbe Klasse wie ich. Doch nach den Ferien kam er aufs Gymnasium, und ich schwang mich auf die Brüstung und preßte etwas Speichel durch die Zahnritzen. Das Geräusch ließ ihn aufhorchen; er blickte in den Garten und bog dann den Kopf in den Nacken, sah zu mir hoch.

»Wehe!« Er hob eine Faust. »Ich sags deiner Mutter!«

»Scheiß dich nicht ein, Mann. Kommst du nachher mit in den Tierclub?«

Er schüttelte den Kopf, verteilte die Frühstücksbretter, die voller Kerben waren an den Rändern.

»Ich spiel nicht mehr mit. Ihr habt mich betrogen. Wenn ich Beitrag zahle, will ich auch bei allem mitmachen.«

»Wieso? Kannst du doch.«

»Von wegen. Und was war vorige Woche? Ihr habt die Taube gebraten, und für mich gabs nichtmal ’n Knochen.«

»Wenn du zu spät kommst …«

»Ich war pünktlich! Der Dicke hatte versprochen, daß ich sie schlachten kann. Ich habs bezahlt.«

»Ach, vergiß es.« Ich ließ ein Bein pendeln. »Das Vieh schmeckte wie ’n verschmorter Autoreifen. Wir habens dem Hund gegeben.«

»Trotzdem. ’s war meine Beute. Ihr seid Gauner.« Wieder blickte er hoch. Er hatte einen schnurgeraden Scheitel im Haar, und das blasse Gesicht war spitz wie ein Keil. »He! Hoffentlich bist du bald von der Brüstung runter!«

»Wer? Ich? Hast du ’n Knall?«

Er ging um den Tisch herum und legte Messer zwischen die Bretter, eins nach dem anderen, wie Ziffern auf ein rundes Blatt. »Das ist unser Haus.«

»Na und? Ich piß dir gleich auf den Kopf, du Pfeife.« »Das möchte ich sehen.« Er verschwand in der Küche. »Traust du dich doch nie!«

Ich neigte mich zur Seite, so weit es ging, peilte seinen Stuhl an und ließ einen langen Speicheltropfen fallen; doch er klatschte auf den Estrich, der grau war wie das Brot. Bei Gornys gab es niemals Brötchen.

An der Rückseite der schmalen Loggia, knapp über dem Tisch mit den beiden Stühlen, befand sich ein Fenster, und ich stieg von der Brüstung und drückte die Nase gegen das Glas, versuchte durch den Vorhangspalt zu sehen. Konnte jedoch nichts erkennen. Das Zimmer gehörte eigentlich zu unserer Wohnung, hatte einen separaten Eingang und ein Waschbecken, und eines Tages sollte ich es kriegen. Noch aber war es untervermietet, und ich ging in die Küche, öffnete eine Packung Cornflakes und schüttete sie auf den Teller. Einige Flocken fielen zu Boden, und rasch wischte ich sie mit dem Fuß unter den Herd und nahm mir eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank. Dann setzte ich mich an den Balkontisch, und während ich mein Frühstück löffelte, blickte ich über den Garten und die Felder bis zur Dorstener Straße, schon voller Lastwagen. Jenseits der Halden umflogen Krähen den Förderturm, dessen Räder sich gegenläufig bewegten, wie die Kutschenräder in Bonanza.

Meine Mutter kam in die Küche und bemerkte mich wohl nicht gleich; der Balkon war schmal und schattig überdacht. Sie trat vor die Anrichte und löschte die Zigarette, den Stummel. Dann zog sie eine neue aus der Schachtel und steckte sie an. Sie rauchte damals Chester, und ich mochte das Gelb der Packung überhaupt nicht. Doch Gold-Dollar wollte sie nicht mehr; sie fand es häßlich, wenn Tabakkrümel an ihren geschminkten Lippen klebenblieben, und das stimmte. Außerdem verfärbten sie die Finger. Sie trug eine weiße Bluse, den grauen Kostümrock und hellgraue Stöckelschuhe und träumte zum Fenster hinaus, während ihr der Rauch aus der Nase strömte.

Hinter dem Weizenfeld konnte man ein Stück der ungepflasterten Straße erkennen, die zum Kleekamp führte. Sie war fast immer leer, kaum jemand hatte ein Auto, und manchmal sah man Bewohner des Ledigenheims, die dort Fahrradfahren übten. Es waren Portugiesen und Sizilianer, ehemalige Fischer und Landarbeiter, jetzt unter Tage, und die meisten von ihnen hatten noch nie auf einem Rad gesessen. Wenn sie es dann übten, wackelig und immer wieder stürzend, amüsierte man sich auf den Balkonen der Siedlung, und auch mein Vater, der kaum je lächelte, hatte eines Abends so laut gelacht über einen besonders Unbeholfenen, daß Sophie die Tränen gekommen waren.

Meine Mutter betastete sich die Haare, vorsichtig, als überprüfte sie ihre Silhouette. Sie hatte sich am Wochenende eine neue Dauerwelle machen lassen, die Nägel waren frisch lackiert.

»Ich bin hier.« Ich hatte sehr leise gesprochen, um niemanden zu wecken hinter dem Fenster, und sie nickte, starrte aber weiter über das Feld. Sie trug ihre Korallenkette.

»Ich weiß. Hast du gefrühstückt?« Und ohne meine Antwort abzuwarten: »Dann zieh gleich die Hose aus, damit ich sie waschen kann. Im Schrank ist eine frische. Und heute vormittag bleibst du bei deiner Schwester, hörst du. Ich fahr in die Stadt.«

»Aber ich wollte in den Tierclub!«

»Das kannst du später auch noch. Ich bin gegen eins wieder da.«

»So lange …? Ich hab mich verabredet. Es sind doch Ferien.«

»Eben. Da hast du Zeit, auch mal was für mich zu tun. Ich muß zur Untersuchung. Und Schluß.« Ihre Wangenknochen zuckten. Da waren eine Menge dieser zarten Adern, die man Besenreiser nennt, und sie drehte den Wasserhahn auf, hielt die kaum angerauchte Chester unter den Strahl und warf sie in den Kohlenkasten. Dann ging sie aus dem Raum.

Ich verpflasterte meine Hand neu; sie tat nicht mehr weh. Vor zwei Tagen hatte ich keine Hausaufgaben gemacht, was gewöhnlich streng bestraft wurde: Man mußte die Finger vorstrecken, und Dey, der Lehrer, hob den Arm und ließ sein Lineal daraufklatschen. Es war aus Holz, mit einer Metallkante, und die Zahl der Schläge wurde vorher angekündigt; für jedes Zurückzucken gab es einen zusätzlichen. Die Schmerzen waren so unglaublich, daß den Hartgesottensten die Tränen kamen.

Dey, der krumme Dey, wie wir ihn nannten, hatte mich zur Tafel gerufen, um mir Aufgaben zu diktieren. Zwar hatten sich vorher andere gemeldet, doch meistens schüttelte er den Kopf. »Erst die mit der Rechenschwäche.« Und während ich auf die Zahlen starrte und Papier von der Kreide pulte, hörte ich hinter mir das Schnippen der Eifrigen, für die das alles überhaupt kein Problem war; je länger meine Ratlosigkeit dauerte, desto lauter wurde es. Ich zog die Schultern hoch, schloß die Augen, nagte an der Lippe, doch Dey erlöste mich nicht. Er wartete. Mit kreidigen Fingern wischte ich mir den Schweiß von der Schläfe, und endlich seufzte er sein übliches »Hoffnungslos …« und zog mich am Ohr durch den Raum. Er klappte mein Buch auf und zeigte mir, welche Aufgaben ich für die nächste Stunde zu lösen hatte.

Lange saß ich dann am Wohnzimmertisch. »Bestimme den Mittelpunktswinkel …« Ich zeichnete Girlanden an den Heftrand. »Dividiere die Quersumme durch den Quotienten von …« Ich ritzte mit dem Daumen Muster in den Stift. Das Holz roch so, wie ich mir den Libanon vorstellte, und ich ritt auf meinem weißen Araber durch die Zedernwälder. »Wenn in einem Steinbruch täglich sieben Kubikmeter Granit abgebaut werden und sich das spezifische Gewicht des Steins zu seinem Tonnenpreis derart verhält, daß in sechs Arbeitstagen …« Ich beugte mich über den Tisch, legte den Kopf auf die gekreuzten Arme und schlief ein.

Doch meine Mutter weckte mich. »Was gibt das denn? Bist du fertig?«

Ich nickte, schlug mein Heft zu, brachte die Tasche ins Kinderzimmer. Dann blätterte ich in alten Prinz-Eisenherz-Heften, die auf meinem Bett lagen, suchte die Stelle mit dem Riesen Oron. Ich mochte ihn sehr. Er sah gruselig aus, voller Wülste und Beulen. Dabei war er gutmütig, und er konnte es nicht ertragen, daß die Menschen Angst vor ihm hatten. Also zog er sich dahin zurück, wo niemand leben wollte, in Sümpfe, ins Schilf, und wurde mit der Zeit so zottelig und grau wie die verdorrten Halme. Er hatte überall Höhlen und Unterstände, kannte alle begehbaren Pfade im tödlichen Moor, lebte von Fischen und Pilzen und brauchte keinen Menschen. Nur manchmal, alle zehn bis fünfzehn Jahre etwa, wenn sein Messer abgeschliffen war, kam Prinz Eisenherz vorbei und brachte ihm ein neues.

Meine Mutter war mit Sophie im Garten, Wäsche aufhängen, und ich ging ins Bad, schloß ab und pinkelte. Dann öffnete ich den Spiegelschrank, die Seite, auf der die Sachen meines Vaters standen: ein Plastikbecher, eine Zahnbürste mit Holzgriff und zerdrückten Borsten, eine Flasche Irish Moos. Der Rasierapparat war leicht angerostet, das Päckchen Klingen aber neu. Ich zog eine heraus, wickelte sie vorsichtig aus dem Wachspapier und setzte mich auf den Rand der Wanne.

Unten hörte ich Sophie, ihr vergnügtes Lachen, fast ein Quietschen, dann die Mundharmonika des kleinen Schulz, und mit einer Ecke der Klinge ritzte ich mir den Handballen an, ganz leicht nur, doch schon das tat weh. Auch Oron, die Pfeilspitze eines Schergen im Bein, hatte sich einmal selbst operiert und dabei kaum mit der Wimper gezuckt. Ich atmete mit weit geöffnetem Mund in schnellen Stößen und fuhr wieder und wieder über die Haut, bis der Anschliff der Klinge im Fleisch verschwand. Nun rötete sich der Strich. Er war gut vier Zentimeter lang, aber das Blut lief noch nicht mal über den Rand, und ich biß die Zähne zusammen und drückte fester auf, millimeterweise. Doch zitterte ich bereits am ganzen Körper, begann zu furzen, und der Schweiß brach mir aus. Schließlich verkrampften sich meine Finger so, daß ich aufhören mußte.

Ich spülte die Hand unterm Wasserhahn ab und betrachtete den Ballen. Ein übler Kratzer, aber keine Wunde, und ich ging in die Küche, nahm ein Streichholz aus der Schachtel und rieb so lange mit dem Schwefelkopf darin herum, bis mir das Wasser in die Augen schoß. Dann verpflasterte ich die Hand, wischte den Boden im Bad mit Klopapier auf und sagte meiner Mutter, daß ich gestürzt war. Nachts, vor dem Einschlafen, fühlte ich ein leises Pochen unter dem Verband.

Doch Fieber hatte ich am nächsten Morgen nicht … In der Schule zog der krumme Dey die Vorhänge zu, die grelle Sonne tauchte das Zimmer in ein orangefarbenes Licht, und er ging von Tisch zu Tisch, überprüfte die Hausarbeiten und machte hier und da eine Notiz. Ich war der einzige, der sein Heft nicht aufgeschlagen hatte, und Godtschewski, mein Nachbar, stieß mich an. Doch ich hielt es geschlossen.

Dey hatte gerade Tszimanek auf dem Kieker, kramte das Lineal aus der Tasche, drückte es ihm vor die Brust. »Mathematik ist gar nicht so schlimm. Sie kann sogar Spaß machen. Denn sie ist nicht nur da, um Gewinne und Verluste zu berechnen, sie schärft auch unser logisches Empfinden.« Er drehte an seinen Schläfenhaaren. »Glaubst du das?«

Tszimanek fletschte die Zähne, und wieder stieß mein Nachbar mich an, wies auf das Heft. »Was ist?« flüsterte er, und ich hielt die Hand so, daß er das Pflaster sah.

»Konnte nicht schreiben.« Ich knibbelte eine Ecke los. »Hab mich verletzt.«

Vorsichtig zog ich es ab. Der Ballen war rot angeschwollen, und die Wunde hatte eine Kruste aus geronnenem Blut, die sie breiter erscheinen ließ, als sie war. An den Rändern quoll etwas Eiter hervor, und ich hielt die Finger leicht gekrümmt, als wären auch die Sehnen schon entzündet.

Godtschewski machte große Augen, blies die Backen auf. Schüttelte den Kopf. »Aber du bist doch Rechtshänder.«

Er grinste, und auch ich verzog den Mund; doch stockte mir der Atem. Ich fühlte eine jähe Hitzewelle im Gesicht, und dann wurde mir flau, und ich nahm nichts mehr wahr von dem Zischen und Flüstern ringsum, dem Blättern in Büchern. Ich starrte meine Hände an, als gehörten sie nicht zu mir. Die Klinge mit links zu fassen, um mir damit in die Schreibhand zu schneiden – daran hatte ich überhaupt nicht gedacht, nicht eine Sekunde lang, und ich klebte das Pflaster unter die Bank und sah mich um. Dey stand zwei Reihen hinter mir.

Ich reckte den Arm hoch, schnippte mit den Fingern. Er hob den Kopf. An seinem Schlips war Kreide; er hatte graue Haare in der Nase. »Und?«

»Darf ich austreten?« Meine Stimme klang zittrig. »Mir ist schlecht.«

Er griff in die Brusttasche seines Sakkos, zog eine randlose Brille hervor. Jetzt schienen seine Augen zu funkeln, und nachdem er mich gemustert hatte, blickte er rasch einmal auf mein Heft. »Dann geh aufs Klo. Aber in zwei Minuten bist du wieder hier.«

Die Flure waren menschenleer, und im Treppenhaus hallte das Klatschen meiner Sohlen auf dem Boden wie hoch über mir. Das glatte Holz des Geländers war angenehm kühl. Ich wollte nicht über den Schulhof gehen, wo die ganze Klasse mich sehen konnte, und rannte unter dem Vordach der Turnhalle zum Tor, vorbei an einer langen Wand aus Glasbausteinen. Stimmen dahinter, das Rufen und Kreischen von Mädchen, die Völkerball spielten, und manchmal sah ich ein schwarzes Sporthemd oder einen Arm, ein Bein, verzerrt wie hinter klarem Eis.

Ich lief in das Wäldchen am Siedlungsrand, einer jungen, auf Schutt- und Schotterhalden angelegten Pflanzung, und auch hier war niemand um die Zeit. In der Senke zwischen den Holunderbüschen gluckerte der Bach, ein rostfarbenes Rinnsal, das durch ein Betonbett flitzte, und ich sprang mal an das linke, mal ans rechte Ufer und hielt nach Fröschen Ausschau. Insekten tanzten in den Sonnenstrahlen, die schräg durchs Laub brachen, und weiter oben hatte jemand aus einem dicken Korken und Teilen einer Zigarrenkiste ein Wasserrad gebaut. Es drehte sich so schnell in der Strömung, daß sich eine kleine weiße Gischtwolke bildete, vom Hauch eines Regenbogens überwölbt.

Als ich an das Baumhaus der Kleekamp-Bande kam, blieb ich einen Moment lang ruhig stehen. Kein Laut, keine Stimmen, und vorsichtshalber warf ich einen Stein auf das Dach, die Pappe; doch niemand reagierte. Das Haus stand auf zwei nicht sehr hohen, krumm ineinander verwachsenen Eichen, und wenn man sich an dem untersten Ast hinaufgezogen hatte, konnte man die anderen wie eine Treppe benutzen. Vor dem Eingang befand sich eine kleine Plattform, darauf ein Kasten voll verdorrter Wicken, und an dem Vorhang, einer löcherigen Wolldecke, hing ein Pappschild mit der Aufschrift: »Wer hier reinget ist Tod.«

Sie hatten sogar eine Kochstelle in dem Haus, einen ausgehackten Hohlblockstein, und auf den Bänken ringsum standen Plastikteller, ausgespülte Senfgläser und eine Radkappe, der Aschenbecher. In der Ecke hing ein Eimer, in dem eine Bratpfanne ohne Griff, ein Feuerhaken und ein paar Löffel steckten, und auf den abgesägten Ästen klebten Kerzen, meistens Stummel, über denen die Decke schwarz verrußt war. Ich kramte in der Kiste unter dem Fensterloch, fand aber nur ein paar leere Bierflaschen und eine Nummer der St.-Pauli-Nachrichten, die ich schon kannte. Trotzdem blätterte ich sie durch. Fast alle Frauen hatten Brüste wie Frau Latif, unsere Kunstlehrerin, die einen manchmal damit berührte, wenn sie sich herunterbeugte, um etwas zu verbessern. Das Papier färbte mir die Fingerspitzen.

Ich rieb sie an der Hose ab, als ich plötzlich etwas hörte unter mir, ein Knacken und Rascheln. Durch den Boden zu blicken, durch die Ritzen und Löcher, war zwar möglich. Doch sah ich niemanden, kroch zum Eingang und schob den Vorhang, nur den unteren Zipfel, ein wenig zur Seite. Büsche und Bäume, ein Schmetterling im Farn. Silberne Spinnenfäden. Und doch mußte jemand dort unten sein; wie Knöchelchen knackten kleine Äste unter Schuhen, die sicher keinem Kind gehörten; schon gar nicht einem, das Indianer spielte. Ein Vogel flog aus dem Gras in die Erlen und ließ ein wütendes Zetern hören.

Dann war es plötzlich still, und ich, immer noch auf allen vieren, rührte mich nicht. Mein Puls hämmerte in den Ohren. Schließlich hörte ich ein Plätschern und Pläddern, immer wieder verschieden in der Tönung, als würde Wasser auf altes Laub, weiches Moos oder harten Sandboden fallen, und schon wehte der Geruch frischer Pisse zu mir hoch. Gleich darauf sah ich einen hellblonden Haarschopf und hörte das Geräusch eines Reißverschlusses, die feinen Zähnchen.

Der Mann kratzte sich die kahle Stelle am Hinterkopf und blickte über das Gelände vor den Eichen, über Haufen Bauschutt, zwischen denen ein verbranntes Isetta-Wrack stand. Die Ledertasche, die er trug, war alt und zerschrammt, und als er sich bückte, sah ich die Schuppen auf den Schultern seiner Jacke. Er hob ein blaues Kachelstück auf und warf es auf einen Gurkeneimer in der Mitte der Lichtung. Der war so rostig, daß die Scherbe das Blech glatt durchschlug.

Vielleicht stand er nicht lange unter dem Baum, aber mir kam es endlos vor. Das lautlose Atmen machte Mühe, die Nase war vom Weinen noch verstopft. Meine Hand, die Wunde, pochte, und obwohl die Knie auf den harten Brettern schmerzten, blieb ich reglos, um mich nicht zu verraten. Es knackte aber trotzdem, ein Windstoß hatte die Dachpappe bewegt, und der Mann schien zu stutzen, blickte sich um. Und dann, als wäre ihm erst jetzt eingefallen, daß auch über ihm jemand sein könnte, hob er langsam, fast vorsichtig, den Kopf. Die Stirn lag in Falten, die Brauen waren gewölbt, und aus meiner Sicht schien es, als wüchsen seine Schuhspitzen unter dem Kinn hervor. Der Kragen seines Nylonhemds hatte einen Rand.

Ich wußte, daß er mich nicht sehen konnte in meiner dunklen Höhle; ich hatte selbst oft geglaubt, das Baumhaus wäre leer gewesen, und dann, kaum war der Vorhang gelüftet, stand man im Hagel der Geschosse, die aus Rohren, Fletschen oder Erbsenpistolen auf einen abgefeuert wurden. Und es lag wohl daran, daß ich das Gesicht des Mannes, den dünnen Mund, die schmale Nase und die hellen Augen verkehrt herum sah – jedenfalls erkannte ich erst an der Stimme, dem zwar gedämpften, aber doch barschen »Komm da runter!«, daß es Herr Gorny war, unser Hausbesitzer.

Ich sagte nichts, atmete kaum. Er konnte mich nicht sehen. Und daß er sich an den unteren Ästen der Eiche emporhangeln würde, war unwahrscheinlich. Sie waren zu dünn für einen Erwachsenen. Also verhielt ich mich still und bewegte den Kopf keinen Millimeter, um ihn nicht aus dem Blick zu verlieren in dem Bretterspalt. Warum er um diese Zeit in der Heide war statt unter Tage – der Gedanke kam mir nicht vor Angst, gefragt zu werden, weshalb ich nicht in der Schule saß. Er zog etwas Rotz hoch, machte einen Schritt zur Seite, und auch ich bewegte den Kopf, blickte durch die nächste Lücke.

Seine Nase war etwas nach links gebogen, und die Augen standen eng beieinander – was meine Mutter nicht leiden mochte. Solche Augen sind ein Zeichen von Dummheit, sagte sie immer, wenn es Ärger mit ihm gab, wie vor kurzem, als er meinem Vater verboten hatte, einen Taubenschlag auf dem Dach einzurichten. Außerdem machte er immer einen Mund, als wollte er die Innenhaut der Lippen durch die Zahnritzen ziehen, auch jetzt, während er jedes Astloch und jeden Spalt im Boden zu mustern schien. Dabei hielt er eine Hand in der Hosentasche und kramte darin herum, als suchte er etwas. Ich hörte Münzen oder Schlüssel.

Schließlich spuckte er aus, einen winzigen Tropfen, und ging über die Lichtung davon. Er schien keine Eile zu haben, und als sein Kopf hinter den Hügeln, dem Schutt voller Unkraut, verschwunden war, zählte ich leise bis zwanzig. Erst dann stieg ich vom Baum. Der Urinfleck an der Rinde sah aus wie der Schatten eines Grabsteins, und ich öffnete meine Shorts und pißte über seinen Rand hinaus.

Hinter der Heide gab es einen Kinderspielplatz, und ich setzte mich auf eine der Schaukeln. Doch meine Beine waren zu lang geworden, um wirklich hoch hinauszukommen; sobald ich sie anwinkelte, bremste ich mich ab. Ich ging zum Kiosk und sammelte die Kippen vor den Stufen ein. Dasselbe machte ich an der Bushaltestelle und bog dann auf den schmalen Pfad zwischen Siedlung und Feld. Das Gras strich mir über die Waden, die Blätter des Klatschmohns waren kühl. Ich setzte mich auf den verrosteten Garbenbinder, der dort stand, und bröselte den Tabak auf ein Stück Zeitungspapier, was eine dicke, viel zu luftig gedrehte Zigarette ergab; ich sog mir die Flamme in den Mund.

Es schlug zwölf, als ich mich auf den Heimweg machte, immer an den Gärten entlang. Aus den offenen Küchenfenstern kam das Klappern von Geschirr und Besteck, bei den Kaldes roch es nach Maggi-Sauce, bei Urbans nach Zwiebeln, und ich schaffte es, unsere Haustür zu erreichen, ohne jemandem aus der Klasse zu begegnen. Aus irgendeinem Grund erschienen mir die Treppenstufen höher als sonst. Die Wohnungstür war offen. Meine Mutter stand vor der Anrichte, schichtete gekochte Nudeln in eine Kasserolle und antwortete nicht auf mein leises, fast nur gehauchtes »Hallo«. Jedenfalls nicht mit einem Gruß.

»Wasch dir die Hände!«

Sie sah kaum auf von ihrer Arbeit, und ich nickte, rührte mich aber nicht. Mein Speichel schmeckte seltsam, fast faulig, und ich kratzte an dem Schorf der Wunde herum, die plötzlich juckte. Die Gläser im Schrank zitterten leicht, als ein Auto am Haus vorbeifuhr, ein Lastwagen wohl. Auf dem Sofa stand meine Tasche, und in der Obstschale lag das Rechenheft. Meine Mutter blickte sich um. Eine dunkle Strähne baumelte vor ihren Augen, und sie strich sie mit dem Handrücken zur Seite. »Wirds bald?!«

Im Bad drückte ich die Tür zu und wollte den Schlüssel umdrehen, doch sie hatte ihn abgezogen. Ich trank einen Schluck Wasser aus der Leitung und setzte mich auf die Toilette, weil ich plötzlich Durchfall bekam, wenig nur. Es war auch nicht so laut, wie ich es mir gewünscht hätte. Dann zog ich an der Kette und seifte mir die Finger ein, was etwas länger dauerte, weil das alte, schon etwas rissige Stück nicht richtig schäumte. Ich spülte sie ab, wusch sie erneut, und während ich nach dem Handtuch griff, betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel. Es war blaß, fast so blaß wie das meiner kleinen Schwester voriges Jahr, nach der Operation. Ich öffnete den Schrank und nahm die Feile heraus, reinigte mir die Nägel. Doch war ich noch beim ersten Daumen, als meine Mutter auf die Klinke drückte – so abrupt, als hätte sie mit der Faust darauf geschlagen.

Sie neigte den Kopf ein wenig, und ihre Brauen, die angemalten Bögen, stießen fast zusammen über der Nasenwurzel. Ich ging an ihr vorbei in den Flur und hörte noch, wie sie den Schlüssel, wohl in der Schürze verborgen, wieder ins Schloß steckte. Im Wohnzimmer stellte ich das Radio lauter, und einen Moment lang kam es mir vor, als ob sich die Schritte meiner Mutter entfernten. Doch dann war sie plötzlich hinter mir und stieß mich über die Schwelle in die Küche, wo es nach süßer Tomatensauce und frisch gehackter Petersilie roch. »Wieso bist du aus der Schule fortgelaufen?«

Sie kramte in der Lade, zog einen Holzlöffel hervor. Um meinen Mund herum war alles so weich, daß ich kaum ein Wort formen konnte. Trotzdem hatte sie mich verstanden. »Na und? Warum sollte er dich nicht schlagen. Wenn du keine Hausaufgaben machst, geschieht dir das recht. Bei uns wars auch nicht anders.« Sie drehte sich um und drückte die Zigarette aus, die im Aschenbecher qualmte. Ihr Blick kriegte etwas Starres, Stieres, als sähe sie mich gar nicht, und dann griff sie mir auch schon in den Nacken, legte mir die Hand wie eine Zwinge ums Genick.

Obwohl ich gerade gepinkelt hatte, verlor ich beim ersten Schlag etwas Urin und ließ mich auf den Boden fallen. Gewöhnlich prügelte sie so lange, bis sie nicht mehr konnte, und auch jetzt war sie nicht zu erweichen durch mein Schreien, das mit jedem Schlag mehr einem Kreischen glich. »Bitte nicht! Mutti nicht!« Sie wurde immer schneller, wie beim Teppichklopfen, traf auch schon mal den nackten Oberschenkel, und als der Kochlöffel zerbrach, machte sie mit der Hand weiter. Erst als es klingelte, ganz kurz nur, und Frau Gorny nach ihr rief und sie durch den Spalt der offenen Wohnungstür um eine Tasse Mehl bat, ließ sie ab von mir, stieß die Splitter mit der Schuhspitze unter den Herd und drehte sich um. »Aber sicher, Trudchen, einen Moment. Komm doch rein!« Sie kühlte ihren Arm unter fließendem Wasser, und ich stand auf und ging in die Stube, stellte das Radio aus.

Wespen hatten sich auf den Teller gesetzt, tranken von einem Tropfen Milch, und ich drückte die Füße gegen die Balkonbrüstung und blickte in den Himmel. Ein Flugzeug zog ein Transparent durch das wolkenlose Blau. Männer wie wir: Wicküler Bier! Auf der Terrasse hörte ich die Gorny-Kinder streiten. Es ging um Fleischwurst oder Honig, wie immer. Bei den Gornys gab es nie etwas anderes. Dazu graues Brot und Muckefuck, jeden Morgen, jeden Abend, und Frau Gorny, die aus Österreich kam und sehr dick war, nahm ihren Kindern die Wurst weg, den ganzen Ring, zerriß ihn in mehrere Teile und legte sie auf die Frühstücksbretter. Dann war Ruhe.

Obwohl ihnen das Haus gehörte, lebten die Gornys beengter als wir. In dem gleichen kleinen Zimmer, das Sophie und ich uns teilten, schliefen alle vier Kinder, zwei Mädchen, zwei Jungen, und sie hatten auch kein Wohnzimmer wie wir, also keine Sessel oder Sofas, keine Schrankwand, sondern nur zwei Tische und ein paar Eckbänke, wie sie sonst in Küchen stehen. Man konnte die Sitzflächen hochklappen, und darunter waren Wolldecken und Spiele verstaut, Mensch ärgere dich nicht, Mikado, Monopoli. Hinter dem Fernseher in der Ecke stand Herr Gornys Akkordeon, auf dem er sonntagnachmittags oder an Geburtstagen spielte. Dann mußten alle Kinder mitsingen, und anschließend gab es dicke Kuchenstücke, Buttercremetorte, in die Frau Gorny manchmal Blutwurst rührte, wegen der Schokoladenfarbe.

Zwar arbeitete Herr Gorny auch auf der Zeche, aber er kam selten müde von der Schicht. Jedenfalls nicht so müde wie mein Vater, der sich nach dem Essen immer gleich hinlegte, und Onkel Harald, der Schwager meiner Mutter, der im Betriebsrat war, schüttelte nur den Kopf, wenn von ihm gesprochen wurde. »Die faule Sau! Drückt sich hinter den Loren rum und läßt die anderen schuften. Unter Tage gibt es schon einen Witz: Was macht der Gorny kurz vor Feierabend? Er zieht die Hände aus den Taschen.«