Barth-Grözinger, Inge Stachelbeerjahre

PIPER

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Meinem Mann Hans-Ulrich gewidmet

* Das Gedicht von Ingeborg Bachmann stammt aus:

Ingeborg Bachmann: Werke, Bd. 1. Gedichte, Piper Verlag GmbH, München 1978

ISBN 978-3-492-95038-1

Mai 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Roger Charity/Getty Images (Mädchen), Schwarzwälder Freilichtmuseum Vogtsbauernhof, Gutach (Landschaft mit Schwarzwaldhaus)

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Wart meinen Tod ab und dann hör mich wieder,

es kippt der Schneekorb, und das Wasser singt,

in die Toledo münden alle Töne, es taut,

ein Wohlklang schmilzt das Eis.

O großes Tauen!

Erwart dir viel!

Silben im Oleander,

Wort im Akaziengrün

Kaskaden an der Wand.

Die Becken füllt,

hell und bewegt,

Musik.

Ingeborg Bachmann*

27. Oktober 1962

Kurz vor Mitternacht

Langsam hob sie die Lider, sie waren so unendlich schwer, fast schien es ihr, als habe man schwere Steine auf sie gelegt. Aber dann gelang ihr unter unendlichen Mühen, die Lider einen Spaltweit zu öffnen, und sie bemerkte sofort, dass etwas falsch war. Blitzschnell schloss sie die Augen wieder – welche Wohltat, der Last nachgeben zu können! Und dann bemerkte sie den Geruch und auch der war falsch. Es roch nach diesem billigen Veilchenzeug, das ihre Mutter immer benutzte und das sie nicht ausstehen konnte. Vorsichtig hob sie noch einmal die Augenlider, die Steine schienen leichter geworden zu sein, denn sie konnte die Augen offen halten.

Das war es! Der langfingrige Mondstrahl traf ihr Gesicht nicht von vorne, wie sie es gewohnt war, sondern von der Seite. Konturen schälten sich heraus, vor ihr stand die Kommode mit dem Waschkrug und daneben dieser unglaublich hässliche runde Stuhl mit dem rosafarbenen Plüschbezug – »den Stuhl mit Ausschlag« hatte sie ihn immer genannt – und plötzlich drang die Erkenntnis unter die bleiernen Lider, dass sie im Zimmer ihrer Mutter war. In ihrem Bett lag.

Diese Erkenntnis war so verblüffend, dass sie mit einer ruckartigen Bewegung aufstehen wollte, aber sofort schoss ein heißer Schmerz in ihren Kopf und sie ließ sich mit einem leisen Stöhnen zurück in die Kissen fallen. Kein einziges Mal, seit sie denken konnte, hatte sie im Bett ihrer Mutter schlafen dürfen, nicht einmal, als sie damals – mit fünf oder sechs Jahren – diese Lungenentzündung hatte, von der ihr noch die grässlichen Senfpflaster in Erinnerung geblieben waren, die man auf den Rücken geklebt bekam und die höllisch schmerzten.

Von unten hörte sie Stimmen, murmelnde, unterdrückte Stimmen, dazwischen die schrille und viel zu laute Stimme ihrer Halbschwester, aufgeregt, sich fast überschlagend und immer wieder von der Alten zur Ruhe ermahnt. »Großmutter« oder »Oma Hedwig« hatte sie die Alte nie genannt, nur wenn andere Leute dabei waren, ansonsten war sie »die Alte« und damit Schluss.

Was war denn los? Und warum lag sie mitten in der Nacht in Mutters Bett? Wie war sie überhaupt hierhergekommen? Sie lag bewegungslos da, aber trotz aller Schmerzen war jetzt jede Sehne ihres Körpers gespannt.

Und plötzlich schoben sich Bilder vor das silberne Mondlicht, das in das Fenster floss, doch auf einmal war es nicht mehr silbern, sondern rot vor Blut.

Und jetzt waren auch andere Stimmen da, laute Stimmen, ganz laute, und dazwischen ein Schrei und dann noch ein Schrei … Nein, nicht diese Bilder und nicht diese Stimmen! Es musste ein Albtraum gewesen sein, ganz bestimmt war es ein Albtraum. Hatte sie nicht den ganzen Tag Fieber gehabt? Sie wollte jetzt nach unten gehen, zu den anderen, und das würde alle diese Bilder verscheuchen.

Vorsichtig stand sie auf und tappte hinüber zur Kommode, wo neben dem »Ausschlagsessel« der Bademantel der Mutter lag. Sie versuchte hineinzuschlüpfen, ganz vorsichtig, mit zusammengebissenen Zähnen, denn jede Bewegung entfachte eine neue Flamme des Schmerzes in ihrem Kopf. Schließlich hatte sie es geschafft und sie ließ sich erschöpft auf den Hocker sinken. Aus dem Spiegel, der über der Kommode befestigt war, starrte sie ein fremdes Gesicht an. Für einen Augenblick wusste sie nicht, wem dieses Gesicht gehörte. Die Augen lagen so tief in den Höhlen, als habe man sie ausgekratzt und mit Kohlestücken gefüllt. Aber alles andere, das gehörte noch zu ihr, die dunklen, halblangen Locken – Haare wie Draht, sagte die Alte immer –, das schmale Oval des Gesichts und der kleine Leberfleck unter dem rechten Auge. Und der Mund, der war das Schönste an ihr, das Schönste in diesem doch eher durchschnittlichen Gesicht.

Enzo hatte das auch gesagt.

»Ein Kussmund, mia bella«, hatte er immer gesagt.

Aber sie durfte jetzt nicht an Enzo denken, denn sonst kamen die Bilder wieder, die Stimmen und die Schreie.

Sie musste nach unten gehen, zu den anderen, musste reden, den Albtraum verscheuchen. Aber sie blieb sitzen, starrte ihr Spiegelbild an und auch die Gesichter, die dahinter auftauchten; ein Reigen schemenhafter Gestalten tanzte an ihr vorbei und auf einmal wusste sie ganz sicher, dass es kein Albtraum gewesen war!

Seltsamerweise waren es nicht Enzos Gesicht oder das ihrer Schwester Sieglinde oder ihrer Mutter oder die Gesichter der beiden Alten, die dieses blitzartige Aufscheinen einer Erkenntnis bewirkten.

Es waren die Kaninchen, die Großvater Gottfried in der großen Hütte hinter dem Haus hielt, in Käfigen hockend, aneinandergereiht, stumpfsinnig stierende, mümmelnde Kaninchen, schwarze, weiße oder auch grau gescheckte. Diese Kaninchen hatte sie gesehen, hatte sie angeschaut, als sie dann den Blick abgewandt hatte und meinte, in den Augen der Tiere furchtsame Verwirrung und blankes Entsetzen lesen zu müssen. Aber da war nichts gewesen, nur das stumpfe Stieren. Ja, die Kaninchen hatte sie gesehen, hatte in ihre Gesichter und ihre Augen gestarrt, als seien sie Spiegel des Entsetzlichen, aber nichts wurde zurückgeworfen von dem, was geschehen war. Und sie hatte das Grün, das bleiche Grün des Heus auf dem Boden gesehen, das sich mit dem Rot des Blutes vermischte.

Das Grauen packte sie jetzt und schien ihr die Kehle zuzudrücken. Was sollte sie bei denen da unten? Sie gehörten nicht zu ihr, hatten niemals zu ihr gehört!

1946 bis 1953

Eine der frühesten Erinnerungen, die Marianne an ihre Kindheit hatte, waren die vier Tischbeine des Küchentisches und eine an allen vier Seiten herabhängende Wachstuchtischdecke, hinter der sie sich verstecken konnte. Sie bildete sich fest ein, unter dem Küchentisch wäre sie quasi unsichtbar, aber das war natürlich Unsinn, und wenn jemand fragte: »Wo steckt sie denn wieder?«, kam als stereotype und gelangweilte Antwort: »Hockt wieder unter dem Tisch.« Trotzdem blieb der Küchentisch ihr Zufluchtsort. Meist kauerte sie an eins der Tischbeine gelehnt, das Gesicht gegen die Tischdecke gepresst, und atmete den süßlich pappigen Geruch ein, bis ihr übel wurde. Die Tischdecken waren blau kariert, meist mit braunen oder olivgrünen Streifen, manchmal waren auch gelbe oder rote Blümchen verstreut, was Marianne damals als ungewohnter Luxus erschien.

Das Versteck bildete allerdings keinen Schutz gegen die Stimmen. Und manchmal, wenn die Stimmen, besonders die der Alten, zu laut wurden, presste sie die Hände gegen die Ohren und der Lärm verebbte zu einem undefinierbaren Summen.

Bald aber entdeckte sie noch etwas anderes! Sie bemerkte früh, dass man sich an ihr Versteck gewöhnte und sie gewähren ließ, und keiner mühte sich mehr, sie hervorzulocken. So wurde die Höhle des Tisches auch ein wunderbarer Ort der Beobachtung. Man konnte dort unten nur die Füße und Beine sehen, und die Menschen, die so groß und bedrohlich erschienen, verloren ihre Schrecken. Mehr noch, die Art, wie sie standen oder gingen, welche Schuhe sie trugen, gaben einigen Aufschluss. Wenn die Mama beispielsweise die alten, schief getretenen Pantoffeln trug, schlurfte sie meistens und das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie müde war und man sie in Ruhe lassen musste. Sie kam dann meistens von der Arbeit beim Tournier, einer großen Fabrik, wo man geheimnisvolle Geräte herstellte, unter denen sich Marianne nichts vorstellen konnte. Dort musste sie den ganzen Tag irgendwelche Rädchen hineinschrauben, und wenn sie heimkam, war sie oft auch sehr gereizt. Dann gab es Streit mit der Alten.

»Könntest noch die Stachelbeeren pflücken«, keifte die dann, »von dem bisschen Rumstehen in der Fabrik kann man doch nicht so müde sein.« Und die Mama schrie zurück: »Du hast doch keine Ahnung.« Und: »Wer verdient denn hier das Geld?« Das ging noch eine ganze Weile so hin und her und irgendwann fiel auch ihr Name im gleichen Atemzug mit dem Wort »Kuckuck«. Das hatte sie lange nicht verstanden. Sie war doch schließlich kein Vogel. Aber irgendwann dämmerte die Erkenntnis. Die Mama zog nämlich manchmal abends die »vornehmen Schuhe« an, wie Marianne sie insgeheim nannte. Sie waren schwarz und glänzend und hatten vorne eine Schleife und sehr hohe Absätze. Dann ging sie ganz anders, sie trippelte, machte kleine Schritte und schien richtig zu schweben, so kam es Marianne jedenfalls vor.

»Aha, es geht mal wieder zum Hoppsassa!«, rief die Alte. »Aber merk dir eines, noch einen Kuckuck bringst du mir nicht ins Haus!«

Doch schon war die Tür zu und man hörte Mama lachen. An solchen Abenden kam sie erst sehr spät nach Hause. Marianne wachte dann nämlich regelmäßig auf, weil es unten an der Treppe ein unterdrücktes, aber doch deutlich hörbares Gezänk gab. Ob die Alte extra darauf wartete, bis die Mutter nach Hause kam?

Überhaupt, die Alte! Eigentlich durfte sie sie nicht so nennen, dachte sie manchmal reumütig. Sie hatte die Bezeichnung von Großvater Gottfried übernommen, der heimlich so von ihr sprach.

Den Großvater konnte sie gut leiden. Im Haus trug er Schuhe aus braunem Wollstoff. Er ging fast unhörbar, es war faszinierend zu sehen, wie behutsam er auftrat, so als wolle er jede Aufmerksamkeit vermeiden. Marianne konnte das gut verstehen, denn jeder im Haus war froh, wenn er den schrillen Befehlen der Alten entkommen konnte. Jeder, außer ihrer Schwester Sieglinde, dem Schätzchen, dem Augenstern, wie die Alte sie nannte. Und das gab Marianne jedes Mal einen Stich ins Herz, denn sie war doch auch ihre Großmutter, aber sie, Marianne, war stets nur der Kuckuck. Und deshalb nannte sie sie nur die Alte. Das war ihre Rache. Sie trug übrigens graue Hausschuhe aus Filz, die vorne an den Zehen ganz abgestoßen waren. Sie ging merkwürdig, der rechte Fuß war leicht nach außen gedreht, sodass es aussah, als ob sie watschelte. »Dumme Gans, dumme Gans«, flüsterte Marianne immer wieder und hielt die Hand vor den Mund, um nicht laut zu lachen. Auch das war eine schöne Rache. Am Sonntag trug die Alte ihre guten Schuhe, schwarze, hochgeschnürte Stiefel, mit denen sie zur Kirche ging, und Marianne kam es so vor, als seien nicht nur die Füße, sondern als sei auch der ganze Mensch eingeschnürt in diese Unfreundlichkeit und Bosheit.

Warum sie nur der Kuckuck war und die Alte sie nicht leiden konnte, das sollte sie ganz genau im Alter von sieben Jahren erfahren: Sie war in der zweiten Klasse und an irgendeinem Frühsommertag mussten sie eine besondere Hausaufgabe machen. Die Namen der Großeltern, Eltern und Geschwister sollte man aufschreiben, um dann in der Schule einen Stammbaum anzufertigen, was immer das auch sein sollte. So hatte es ihnen jedenfalls Fräulein Schwarz, die Klassenlehrerin, erklärt.

Marianne hatte Großvater Gottfried gefragt und der hatte ihr das Familienstammbuch gegeben. Aber die Schrift hatte Marianne nicht lesen können und so diktierte er ihr die Namen. Er buchstabierte ihr sogar alles genau vor und wieder musste sie daran denken, wie gern sie Großvater doch hatte, auch wenn die Leute behaupteten, er sei wunderlich. Marianne fand, er sei normal, jedenfalls normaler als die meisten Leute, die Alte mit eingeschlossen, die ihn immerzu anschrie, denn er war auf einem Ohr taub. Das habe er sich in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs geholt, hatte er Marianne erzählt, eine Granate, direkt neben ihm – alle Kameraden zerrissen …

Bei solchen Gelegenheiten fing er an zu zittern, sodass Marianne beruhigend ihre dünnen Ärmchen um ihn schlang. Richtig verstehen konnte sie nicht, was so schlimm für ihn gewesen war. Der Erste Weltkrieg war ganz weit weg und was war überhaupt ein Schützengraben? Etwas ganz Fürchterliches jedenfalls, das stand fest.

Großvater Gottfried diktierte ihr also den Stammbaum, und als er einen Namen aussprach, füllten sich seine Augen mit Tränen und auch Marianne wurde ganz feierlich zumute: »Gefreiter Walter Holzer, gefallen am 15. April 1945 in Berlin.«

Er war der einzige Sohn von Gottfried und der Alten gewesen. Mamas Mann und damit Sieglindes und ihr Vater. Viel erzählte man sich nicht von ihm. Eigentlich wurde gar nicht über die Umstände seines Todes geredet. Die Alte fing jedes Mal gleich zu heulen an, wenn zufällig die Rede einmal auf den letzten Krieg kam, und schluchzte dann immer nur: »Walter, mein Einziger«, und Mama sprach auch ganz selten über ihn. Ihre Füße schlugen nur immer einen nervösen Takt gegen die Beine des Küchentisches, wenn die Alte mit ihrer Klagerei anfing.

»Ist der Papa eigentlich auch im Schützengraben gestorben?«, fragte Marianne.

»Nein, nein. Im letzten Krieg gab es keine Schützengräben.« Großvater Gottfried zögerte. »Genau weiß man es nicht. Nur dass es in Berlin war, in den letzten Tagen des Kriegs. Kurze Zeit später war alles aus. So sinnlos, so sinnlos … und die Sieglinde war doch gerade auf die Welt gekommen!« Großvater Gottfried unterbrach sich und fuhr sich noch einmal über die Augen.

»Aber was schwätze ich da. Jedenfalls ist unser Junge in Berlin gefallen, an dem Ort, wo auch der Führer, dieser Verbrecher, umgekommen ist.«

Gefallen – das war ein komisches Wort, wie Marianne fand. Man fiel, wenn man stolperte oder ein Hindernis übersah, einen Stein beispielsweise, aber dann stand man doch auch wieder auf. Warum sagte man denn gefallen, wenn man gestorben war und unwiderruflich nie mehr stehen konnte?

Sie seufzte und fügte hinter dem Namen des Vaters ein sehr ausdrucksvolles schwarzes Kreuz hinzu. Dann holte sie das Foto, das auf dem schweren dunklen Eichenbüfett stand, und betrachtete es lange. Dieser schmale, groß gewachsene Mann mit den dunkelblonden, kurz geschnittenen Haaren war ihr Vater. Er lächelte ein bisschen verlegen, vielleicht weil er jetzt ein junger Ehemann war und nicht so recht wusste, wie man sich verhalten musste. An seinem Arm hing unverkennbar die Mama. Ihre Haare waren länger gewesen, damals. Mit einem Kamm zurückgesteckt, fielen die blonden Locken auf die Schultern. Sie trug kein weißes Kleid, was Marianne immer schade gefunden hatte. Aber als sie einmal eine entsprechende Bemerkung gemacht hatte, war ihr die Alte grob über den Mund gefahren, bevor die Mutter antworten konnte.

»Wär ja noch schöner gewesen, wo sie doch die Sieglinde schon im Bauch hatte.«

Überhaupt ließ die Alte bei jeder Gelegenheit durchblicken, ihr einziger Sohn, ihr »guter Junge«, sei eingefangen worden von »so einer« und er habe überhaupt ganz andere haben können.

Sorgfältig stellte Marianne das Bild wieder zurück. Nein, sie konnten sich nicht leiden, Großmutter und Mama. Trotzdem lebten sie hier zusammen. Sie verstand es einfach nicht.

An diesem Nachmittag ging sie hinauf in Mutters Zimmer und musterte sich eingehend in ihrem Spiegel. Wenn man ehrlich war, passte sie gar nicht so richtig in diese Familie. Mama war zierlich, rosig und blond. Sie erinnerte an eine dieser Puppen, die man mit weit ausgestelltem Röckchen auf Sofas setzte. Sieglinde, die Schwester, ähnelte ihr, sie war nur größer und nicht ganz so schlank. Die Alte, die übrigens Hedwig hieß, war ebenfalls groß und starkknochig. Das straff zurückgekämmte Haar ließ noch einige blonde Strähnen erkennen. Nur Großvater Gottfrieds schmächtige Statur ließ auf eine gewisse verwandtschaftliche Beziehung hoffen, aber ob der kümmerliche graue Haarkranz einst eine wilde schwarze Lockenpracht gewesen war, das war doch fraglich. Bekümmert betrachtete sie sich. Klein und dünn und dann die schwarze Mähne, die die Mutter in zwei geflochtenen Zöpfen zu bändigen versuchte – sie passte wirklich nicht in diese Familie! Wahrscheinlich mag mich deshalb die Alte nicht, überlegte sie.

Plötzlich überfiel sie eine Ahnung, die sich unten festsetzte, dort wo man Bauchschmerzen bekam, und es tat weh, doch sie beschloss, nicht darauf zu achten.

Aber dann am nächsten Tag war ihr die Wahrheit bewusst geworden, nein, sie war ihr schonungslos entgegengeschleudert worden, wie ein nasser Lappen, der einem ins Gesicht geschlagen wird, immer und immer wieder, bis der Schmerz alle anderen Gefühle verbannte und so der Erkenntnis den Weg bahnte.

Von Fräulein Schwarz aufgerufen hatte sie die Namen ihrer Familie vorgelesen, laut und deutlich, und hatte plötzlich gespürt, dass eine seltsame Stimmung in der Luft lag, eine lauernde Spannung, die sich ab und zu in unterdrücktem Prusten entlud. Das Prusten steigerte sich, noch mühsam gebändigt von einem mahnenden »Sch… Sch…« von Fräulein Schwarz. Als Marianne dann aber mit feierlichem Ernst den Namen ihres Vaters vorlas, gab es kein Halten mehr! Gekicher, Gekreische, schenkelklatschende Schadenfreude und Lachen, immer wieder Lachen, das sich um sie legte wie gleißende Hitze. Einige aus der Klasse schauten verblüfft und konsterniert wie auch Fräulein Schwarz.

»Dein Vater!«, schrie der sommersprossige Kurt, der Stärkste in der Klasse. »Dein Vater … dass ich nicht lache! Der war doch schon fast zwei Jahre tot, bevor du geboren wurdest. Bist doch ein Franzosenkind, ein uneheliches! Kein Mensch kennt deinen Vater …«

»Ruhe!«, schrie Fräulein Schwarz dazwischen und klopfte mit dem Rohrstock auf das Pult. »Ich bitte mir Ruhe aus.«

Dein Vater … kein Mensch kennt deinen Vater … ein Franzosenkind … hallten die Wortfetzen in Marianne nach.

»Und jetzt behauptet die einfach frech, der Holzer Walter sei ihr Vater!«, dröhnte Manfreds Stimme dazwischen.

»Jetzt ist aber endgültig Ruhe, sonst gibt es eine Strafarbeit.« Fräulein Schwarz hatte langsam die Situation wieder im Griff.

»Marianne, danke, dass du uns vorgelesen hast. Als Nächster kommt Manfred dran.«

Das Gelächter schwoll erneut schadenfroh an und verebbte nur allmählich. Marianne saß da und wagte nicht mehr aufzuschauen. Ihr Blick blieb an dem Namen mit dem schwarzen Kreuz haften. Alles war Lüge! Der junge Mann mit dem blonden Haar … Walter, der Einzige, ihr Vater, alles Lüge. Sie war ein Kuckuck, jetzt wusste sie genau, was die Alte gemeint hatte. Aber warum hatte man ihr nie etwas gesagt? Und der Name – Marianne Holzer – auch eine Lüge. Aber welcher Name musste da stehen? Wer war sie denn?

Sie wartete das Ende der Stunde ungeduldig ab. Wagte fast nicht zu atmen, um die anderen nicht auf sich aufmerksam zu machen, packte heimlich schon vor dem Läuten Buch und Heft in den Ranzen und rannte dann als Erste zur Tür, schubste den langen Manfred beiseite und noch ein paar andere, die ihr erstaunt nachsahen und einige spöttische Worte hinterherriefen. Worte, die sie nicht hörte, nicht hören wollte.

Sie rannte, rannte über den großen gepflasterten Hof der Volksschule, die Rathausgasse hinunter zur Brücke. Links standen einige Häuser, die in den letzten Tagen des Kriegs von Bomben beschädigt worden waren. Man hatte die Schuttberge längst abgetragen und seit einigen Tagen damit begonnen, bei zweien der Häuser ein neues Betonfundament zu gießen, um die jeweils fehlende Hälfte zu ergänzen. Glücklicherweise waren das die einzigen Schäden geblieben, die der Krieg im Dorf angerichtet hatte. Die einzigen Schäden – wenn man von den Menschen absah, die nie mehr in das Dorf zurückkehren würden. Aber was kümmerte jetzt Marianne der letzte Krieg, von dem man kaum etwas erzählte und wenn, dann nur flüsternd, als handle es sich um ein großes Geheimnis. So wie man auch nie über den Tod ihres Vaters redete. Ihres Vaters?

Sie rannte über die Brücke, wäre beinahe von einem Auto erfasst worden, einem großen, schönen, schwarzen Auto. Es gab auch solche wieder, allerdings nur wenige, und bestimmt fuhr das Auto nach Wildbad, wo manche Leute auch wieder zur Kur gingen. Einige ältere Frauen, die mit ihren Einkaufstaschen auf der Brücke standen, schimpften laut: »Kannst du nicht aufpassen! Hast du keine Augen im Kopf, was rennst du denn so, tu langsam … Wem gehört denn die überhaupt?«

Die Stimmen wurden leiser und im Weiterrennen dachte Marianne trotzig: Jetzt erzählen sie sich, dass ich ein Franzosenkind bin, ein uneheliches, ein Kuckuck. Nein, ich gehöre niemandem …

Dann ging es an der Enz entlang, an den beiden großen Sägewerken, in denen fleißig gearbeitet wurde, meterhoch stapelte sich das Holz zu beiden Seiten der Straße – und endlich war sie da. Der steile Hang stieg vor ihr auf, eine schmale Straße führte bergan bis zum Waldrand, und mit einer letzten Anstrengung lief sie hinauf, nach oben, ganz nach oben, zum letzten Häuschen, wo sie zu Hause war. Zu Hause war? An der kleinen Gartentür hielt sie inne, um Luft zu schöpfen. Das Brennen in Kehle und Lunge war beinahe unerträglich. Warum war sie so gerannt? Um den anderen zu entkommen?

Vor allem musste sie jetzt eine Frage stellen. Aber die Mama war noch gar nicht da. Sie aß mittags immer in der Fabrik, in der Kantine, wie man das nannte. Und die Alte konnte sie doch nicht fragen. Wenigstens wusste sie jetzt, warum sie sie nicht leiden konnte. Vielleicht Großvater Gottfried … Durfte sie den überhaupt noch Großvater nennen? Verstohlen glitt ihr Blick über das kleine Häuschen mit den Schindeln, die einmal weiß gewesen, aber nun mit einer grünlich-grauen Schmutzschicht bedeckt waren. Vorne waren die Gemüsebeete akkurat angeordnet und mit abgebrochenen Dachziegeln voneinander abgetrennt. Den Garten hielt die Alte tadellos in Schuss und davon lebten sie ja auch zu einem erheblichen Teil, das musste man anerkennen. Genauso wie von den Apfel- und Zwetschgenbäumen, die sich links am Wald entlangzogen, und den weiter unten liegenden Johannis- und Stachelbeerbüschen.

Hinter dem Haus, fast ganz oben am Hang, stand die rostrot gestrichene Hütte, sie war praktisch in den Berg hineingebaut worden. Vorne stand sie auf einem Betonfundament. In der Hütte hatte Gottfried allerlei Gerätschaft aufbewahrt. Und drinnen waren auch die Kaninchenställe und das Heu wurde dort aufbewahrt. Gottfried mähte im Sommer mit der Sense, das war ein mühseliges Geschäft, weil der Hang so steil war. Marianne hatte ihm oft geholfen, mit dem Rechen das Gras zu wenden, obwohl der viel zu groß für sie war. Aber es war schön, den Duft des Grases zu riechen, diesen wunderbaren süßen Duft, der Sommer und Wärme und Farben versprach. Gottfried erzählte ihr dann auch Geschichten, die Geschichte vom Holländer Michl und vom kalten Herz. Der Kaninchenstall war ihr gemeinsamer Rückzugsort, denn die Alte betrat ihn selten. Gottfried sprach mit seinen Ka-ninchen! Vielleicht nannten ihn die Leute deshalb wunderlich. Manchmal allerdings schimpfte er mit ihnen und gab ihnen Schläge.

»Sie verstehen viel mehr, als wir denken«, hatte er Marianne einmal auf ihre Frage hin anvertraut. »Und es gibt Böses in ihnen, das muss man bekämpfen! Man muss verhindern, dass sie werden wie die Menschen.«

Darüber hatte sie lange nachgedacht. War Großvater Gottfried doch ein Spinner, wie die Alte immer wieder behauptete? Und wie passte das alles zusammen, dass er die Kaninchen schlachten und aufessen konnte? Sie hatte sich nie getraut, ihn danach zu fragen. Jedenfalls hatte sie noch keinen Bissen Kaninchenfleisch gegessen. Ja, es war ihr immer schlecht geworden, wenn an manchen Sonntagen der dampfende Topf mit dem Braten auf dem Tisch stand und die Hinterbeine der Kaninchen spitz aus der dünnlichen braunen Soße ragten.

Jetzt umklammerte sie mit beiden Händen die Holzpfosten des Gartentürchens. Eigentlich habe ich hier gar nichts mehr zu suchen, dachte sie bitter, das ist das Haus von Großvater Gottfried und der Alten. Und die Mama lebt bloß hier, weil sie mit deren Sohn verheiratet war. Und Sieglinde – ja, die hatte alles Recht der Welt, hier zu sein. War ja die Enkeltochter, der Augenstern. Plötzlich wurde ihr die merkwürdige Beziehung zwischen den Menschen, die in dem Häuschen da wohnten, klar. Es ging um Sieglinde! Die Alte wollte unbedingt, dass Sieglinde bei ihr aufwuchs. Deshalb durfte die Mama hier wohnen, obwohl die Alte sie nicht ausstehen konnte. Und deshalb durfte auch sie hierbleiben, wegen der Sieglinde. Es war ein Geschäft! Jeder hatte etwas davon. Die Alte wollte Sieglinde und deshalb wurden Mama und sie nur geduldet.

Aber sie wollte es nicht. Sie, Marianne, wollte es nicht. Sie drückte die Gartentür auf und ging langsam auf die gemauerten Treppenstufen zu, die zur Haustür führten. Dann drehte sie sich abrupt um und ging hoch zum Stall. Die Tür war nicht verschlossen, aber Großvater Gottfried war nicht da. Sie stellte ihren Ranzen in die Ecke und betrachtete die Kaninchen, die lautlos mümmelnd frisches, grünes Gras und Küchenabfälle fraßen. Orangefarbene Karottenschalen und blassgrüne Kohlrabiblätter, alles wurde beharrlich und stetig hineingezogen in die weichen Mäuler. Marianne kam es so vor, als blickten die Kaninchen sie an, doch das war wohl nur Täuschung, denn sie schienen ganz dem Geschäft des Fressens hingegeben zu sein. Ob sie wirklich etwas verstehen?, fragte sie sich. Auf einmal spürte sie eine tiefe Erschöpfung. Sie legte sich in das Heu mit dem Duft nach Sommer, Wärme und Farbe und schlief ein.

Plötzlich fuhr ein kreischendes Geräusch in einen wirren Traum. Sie schreckte auf. Gelaufen war sie, immer wieder gelaufen und eigenartigerweise hatten ihre Füße den Boden gar nicht berührt, trotzdem waren sie bleischwer gewesen. Aber jetzt war sie in der Hütte, lag da im Heu und musste niesen. Vor ihr stand Großvater Gottfried und starrte sie bekümmert an. Das Kreischen der Tür war es gewesen, das sie geweckt hatte.

»Ja, wo steckst du denn? Solltest doch schon lange zum Essen da sein. Die Großmutter wollte schon die Sieglinde fortschicken, um den Schulweg nach dir abzusuchen.«

Marianne presste die Lippen zusammen. Die Alte und sich Sorgen machen … Sie wäre doch froh, wenn der Kuckuck weg wäre!

»Wie viel Uhr ist es denn?«

»Es ist schon eins. Fehlst schon eine ganze Stunde.«

Eine Stunde nur. Der Traum war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen. Sie stand langsam auf und klopfte sich den Staub aus dem Kleid. Es war ihr Lieblingskleid, hellblau mit weißen Pünktchen. Die Alte hatte es vor zwei Jahren für Sieglinde gekauft, aber die war längst herausgewachsen und so hatte sie es bekommen. An einem der kurzen Ärmel hatte es einen Riss, der aber sorgsam geflickt war. Sieglinde war einmal an einem Nagel hängen geblieben. Mir wird es auch bald zu klein, dachte sie bekümmert. Die Mama hat schon vor einiger Zeit das letzte Stückchen Saum herausgelassen. »Mehr geht nicht mehr«, hatte sie gemeint. Marianne starrte traurig auf den kleinen Streifen in dem etwas dunkleren Blau und zog und zerrte an dem Stoff, als könnte sie das Kleid so durch magische Kräfte verlängern. Sie wusste nicht so richtig, was sie jetzt tun sollte.

Gottfried hatte in der Zwischenzeit jeden einzelnen der Ställe in der üblichen Reihenfolge geöffnet und noch eine Handvoll Heu hineingeworfen. Zuerst kam die große Braune dran, dann die beiden kleineren Schwarz-Weißen, der graue Hengst und die kleinen Schwarzen, die Marianne besonders gern hatte. Dabei nuschelte er vor sich hin, das übliche Zeug eben, man verstand es kaum und schließlich schloss er die letzte Tür.

Die Kaninchen hatten keinen Namen, nur die Farben wurden genannt, wenn man von ihnen sprach.

»Warum keine Namen?«, hatte sie einmal gefragt.

»Was Namen hat, kann man nicht essen«, hatte er geantwortet.

Nein, sie konnte sie auch ohne Namen nicht essen.

»Heute ist alles gut«, flüsterte er Marianne zu, »nichts Böses ist da, alles ist gut. Und jetzt kommst du mit.«

Sie schüttelte heftig den Kopf.

Gottfried ließ sich auf dem Spaltklotz nieder und kratzte sich hinter dem Ohr.

»Die Sieglinde hat da was erzählt. Sie haben dich ausgelacht, heute in der Schule. Ist es deswegen?«

Sie nickte. »Weil ich gesagt habe … wegen … wegen meinem Vater.« Plötzlich musste sie weinen. Das Schluchzen kam in heftigen Stößen, so wild und unkontrollierbar, dass es sie förmlich schüttelte.

»Nun, nun«, murmelte er begütigend, stand auf und strich ihr unbeholfen übers Haar. »Man hätt’s dir halt schon lange sagen sollen. Aber die Weiber wollten ja nicht hören.«

»Wer …. ist … es … denn?« Sie stieß die Wörter zwischen den Schluchzern hervor, presste sie sich förmlich ab.

Er hob die Schultern. »Was weiß ich. Viel hat sie nie erzählt. Stand eines Tages plötzlich da, den Bauch konnte man schon ein bisschen sehen, und hat’s gesagt. Die Alte hat getobt. Drei Häuser weiter konnte man es hören. Aber schließlich hat sie nachgegeben.«

Marianne blickte ihn fragend an.

»Euch hierbleiben zu lassen, dich und deine Mutter. Denn sonst hätte sie auch die Sieglinde mitgenommen.«

Er starrte für einen Moment hinaus, durch eines der staubblinden Stallfenster. »War wohl ein Franzose, dein Vater meine ich. Deine Mutter hat damals bei den Franzosen gearbeitet. In Baden-Baden.« Er wandte den Blick wieder ab. Vielleicht hatte er dort in seiner Fantasie nach weiteren Einzelheiten gesucht.

»Aber frag sie am besten selber, wenn sie heute Abend heimkommt. Und jetzt gehst du mit. Die Dinge sind, wie sie sind, man kann nichts mehr ändern.«

Er nahm ihren Schulranzen und führte sie an der Hand. Das Weinen hatte fast aufgehört, nur noch ab und zu fuhr ein Schluchzen durch sie hindurch. Aber sie fühlte sich seltsam getröstet, vielleicht auch dadurch, dass Großvater Gottfried einfach ihre Hand genommen hatte.

In der Küche saß Sieglinde am Tisch und machte ihre Schulaufgaben. Die Alte stand am Spülstein und wusch ab. Beim Eintreten der beiden fuhren die Hände aus der Seifenlauge und sie wischte sie an der blauen Schürze ab, die sie vor die geblümte Kittelschürze gebunden hatte.

»Was sind denn das für neue Moden? Wo steckst du überhaupt? Uns solche Angst zu machen!«

»Jetzt lass das Kind in Ruhe. Siehst doch, dass es ihr nicht gut geht.«

Ein Widerspruch Gottfrieds war eigentlich etwas Unerhörtes, aber merkwürdigerweise fügte sie sich und schöpfte leise schimpfend eine Kelle Suppe in den Teller, der noch allein und verwaist auf dem Tisch stand. Gehorsam setzte sich Marianne, tunkte den Löffel ein und begann langsam zu essen, ohne richtig zu wissen, was sie tat. Hoffentlich ist kein Kaninchenfleisch drin, dachte sie und starrte angestrengt auf den Teller. Sie wollte auch gar nicht aufsehen, wollte nicht die Gesichter sehen, nicht die altvertrauten Möbel. Nur den Teller ansehen und das Wachstuch, diesmal mit blauen Karos und seltsam geformten roten Blüten, die aussahen wie kleine Blutlachen. Nur kein Kaninchenfleisch, dachte sie, und es war Gott sei Dank keines drin, nur Kartoffeln und Möhren und Kohlrabi. Am liebsten hätte sie sich nachher unter den Tisch gesetzt wie früher, aber kurz bevor sie in die Schule gekommen war, hatte die Mama gemeint, dass sie jetzt mit den Kindereien aufhören solle, sie sei doch nun ein großes Mädchen.

Irgendwann war der Teller leer, sie schüttelte den Kopf und eine Hand zog den Teller weg. Marianne holte ihre Lesefibel und die Tafel und begann zu schreiben:

Das Tor geht auf. Es regnet Gold.

Das Mädchen ist ganz voll Gold.

Es war die Geschichte von der Frau Holle, die sie abschreiben musste. Sie kannte das Märchen schon, denn Großvater Gottfried hatte es ihr oft erzählt.

Das Tor geht wieder auf. Es regnet Pech.

Das Mädchen ist ganz voll Pech.

Marianne schrieb den Text tränenblind ab und immer wieder fuhr die Hand ruckartig über die vorgezeichnete Linie. Das passierte ihr sonst nie, sie schrieb besonders schön, wie Fräulein Schwarz immer wieder sagte. Aber jetzt purzelten die Buchstaben durcheinander und drängten über die Linien hinaus. Sie nahm den Schwamm und wischte alles wieder aus. Noch einmal von vorne und nicht nachdenken!

Es regnet Pech.

Das Mädchen ist ganz voll Pech.

Das passte genau auf sie! Sie war auch eine Pechmarie, eine Pechmarianne.

»Der Großvater und ich gehen in den Garten und hacken«, drang die Stimme der Alten mürrisch an ihr Ohr. »Ihr macht eure Hausaufgaben ordentlich, und wenn ihr fertig seid, kommt ihr nach hinten auf die Wiese. Ihr könnt beim Heuwenden helfen!« Dann fiel die Tür zu. Es herrschte Stille. Nur noch das Ticken der Kuckucksuhr war zu hören und das Scharren von Mariannes Griffel und das Kratzen von Sieglindes Tintenfeder. Nach einer Weile merkte Marianne, dass etwas anders geworden war. Sie kämpfte immer noch mit dem Tanzen der Buchstaben, aber auf einmal bemerkte sie, dass das Kratzen der Feder aufgehört hatte. Ihre Schwester starrte sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an und kaute auf dem Federhalter.

»Hast du’s gewusst?«, flüsterte Marianne.

Sieglinde nickte. »Ich hab’s irgendwann mal aufgeschnappt.«

»Warum hast du mir nichts gesagt?«

Sieglinde zuckte mit den Schultern. »Du warst noch so klein. Außerdem hab ich gedacht, du kommst schon noch von selber drauf.«

»Wieso?«

Ihre Schwester schnaubte verächtlich. »Bist ja wirklich noch ein Säugling. Wie kann der Walter dein Vater sein, wenn er fast zwei Jahre vor deiner Geburt umgekommen ist?«

Marianne runzelte die Stirn. Diese Dinge waren so kompliziert und sie verstand viel zu wenig davon. Aber etwas anderes war wichtig.

»Weißt du’s?«

»Was?«

»Wer mein Vater ist.«

»Keine Ahnung. Mama hat nie etwas gesagt.« Sieglinde hielt für einen Moment inne und starrte Löcher in die Luft. Dann legte sie kurz ihre Hand auf Mariannes Rechte und drückte sie. »War schlimm für dich heute Morgen. Hab’s gehört, wie sie dir nachgeschrien haben. Die Karin hat mir alles auf dem Nachhauseweg erzählt. Dem Kurt, dem Blödmann, haue ich nächstens eine runter, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Wenn ich das mitgekriegt hätte, das mit dem Stammbaum meine ich …«

»Hättest du’s mir dann gesagt?« Marianne sah ihre Schwester fragend an.

Sie sieht aus wie Mama, fiel ihr plötzlich auf. Ist viel hübscher als ich, mit den blonden Locken, nur die Nase war etwas zu groß. Die Nase kam von den Holzers, die Alte hatte genau die gleiche, eine Hexennase. Aber ich hab die Sieglinde lieb … sie ist immer gut zu mir, gibt mir auch immer etwas ab. Wir sind zwar nur halbe Schwestern, aber das ist besser als nichts. Ich hab die Sieglinde wirklich lieb.

»Ob ich dir’s gesagt hätte? Ich weiß nicht. Wie denn … einfach so? Also ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich gesagt, du sollst die Hausaufgabe einfach vergessen, oder so.«

»Das hätte ich nie gemacht.«

»Ist doch jetzt auch ganz egal.« Sieglinde tunkte energisch die Feder ins Tintenfass.

»Komm, lass uns weitermachen, sonst gibt’s wieder Gemecker von der Oma.«

Drei Stunden später kam die Mutter nach Hause. Die Schritte hallten schwer auf den Dielenbrettern im Flur, eine Tür quietschte – die Tür zum Klo, einem kleinen engen Raum mit Plumpsklo, dessen Inhalt sich in die Abortgrube hinterm Haus ergoss. Großvater Gottfried musste sie alle Vierteljahre mit einer an einer langen Stange befestigten Kelle leeren. Der Inhalt wurde auf die Gemüsebeete verteilt, als Dünger, und es stank dann immer tagelang fürchterlich. Aber das war nicht das Schlimmste, das Schlimmste waren die langen rosigen Würmer, die man davon in den Bauch bekam und die manchmal sogar hinten herauskrochen. Der Doktor knurrte dann und schimpfte: »Lasst endlich diesen Quatsch …« Aber man hatte es immer so gemacht und deshalb schluckten die Erwachsenen und die Kinder den eklig riechenden Saft, den man verschrieben bekam, und damit war die Sache für eine Weile behoben.

Endlich ging die Tür zur Küche auf und die Mama kam herein. Sie sah müde aus, wie meistens. Marianne wusste nicht genau, was sie dort machte, in der großen Fabrik am Ende des Dorfes. Viele kleine Schrauben und Räder musste sie zusammenmontieren und dabei brauchte sie Augen wie ein Luchs – so hatte sie einmal erzählt. »Augen wie ein Luchs und schon nach einer halben Stunde bekommst du Kopfschmerzen und irgendwann kann man alles nicht mehr sehen und man hat die Nase gestrichen voll … immer das Gleiche.«

»Jammer nicht«, hatte die Alte gesagt. »Sei froh, dass du Arbeit hast! Schließlich hast du zwei Kinder zu versorgen.« Das »zwei« hatte sie so merkwürdig betont und Marianne wusste jetzt, warum.

»Was war denn heute Morgen in der Schule los?«

Marianne erschrak. Woher wusste die Mama davon? Sie starrte auf ihren Teller, blaue Vergissmeinnicht am Rand und eine kleine Ecke fehlte. Das Abendbrot stand in der Mitte des Tisches, die Teekanne, Margarine und ein Topf mit Stachelbeermarmelade und dann noch der große Laib Kommissbrot, wie jeden Abend. Und doch war jetzt alles anders! Mamas Stimme klang wütend, aber sie, Marianne, konnte doch nichts dafür. Sieglinde kam jetzt auch an den Tisch und setzte sich, die Alte stand am Spülstein und tat so, als ginge sie das Ganze nichts an. Großvater Gottfried schlich dann leise nach draußen, wahrscheinlich zu seinen Kaninchen.

»Woher weißt du’s?«, fragte Sieglinde und biss herzhaft in ihr Brot.

»Von der Neumann.«

Also von Karins Mutter!

»Sie kam heute Nachmittag zur Spätschicht und hat mir alles brühwarm erzählt. Die anderen Kinder seien hinter dir hergerannt und hätten dir Schimpfworte nachgerufen, Worte, die ich jetzt nicht wiederholen möchte.«

Marianne nickte.

»Durchs ganze Dorf seien sie gerannt, immer wieder diese Worte brüllend.«

»Aber ich war schneller.«

»Was macht das? Wir sind jetzt das Gespött im ganzen Dorf.«

Die Alte fuhr herum. »Und wundert dich das …?«

»Ach was«, fiel Sieglinde ein. »Bei uns im Dorf gibt es viele, die keine Väter haben. Und bei einigen weiß man nicht einmal, wer es gewesen sein soll, wie bei Metzgers Richard beispielsweise, der ist sogar ganz dunkel, da sieht man sofort, dass er ein Franzosenkind ist!«

»Sei du still«, fuhr die Mama sie an. »Was verstehst du denn davon? Bist noch viel zu jung für so was. Also …« Sie setzte sich jetzt ebenfalls an den Tisch, Marianne genau gegenüber. Ihre Stimme wurde etwas weicher.

»Marianne, schau mich an.« Sie hob mit ihrem Zeigefinger Mariannes Kinn hoch. »Ich bin doch nicht böse mit dir.«

Marianne sah der Mutter ins Gesicht. Um deren Augen, diesen schönen dunklen grauen Augen, zog sich schon ein Kranz feiner Fältchen. Manchmal betrachtete sie sich sorgenvoll im kleinen Spiegel, der über dem Spülstein hing, wo sich die ganze Familie waschen musste, und klopfte mit den Fingern sanft auf die Haut rings um die Augen. Dann murrte sie: »Nur Kernseife und ein bisschen Nivea, richtige Pflege sollte man haben, ich werde ja auch nicht jünger …« Und dass sie wieder einmal zu einem richtigen Friseur gehen wollte, aber niemand hörte ihr zu und es war wohl auch für niemanden bestimmt. Nur wenn die Alte etwas davon mitbekam, keifte sie los und immer waren die gleichen Worte zu hören, wie »Spinnerei« und »Leichtsinn« und »wieder ins Unglück stürzen«, was Marianne nicht verstehen konnte.

Die Mama sah wirklich gut aus, besser als die meisten der anderen Mütter. Frau Neumann beispielsweise war viel zu dünn und hatte auch kein schönes Gesicht und außerdem hatte sie mausbraune Haare, die ganz glatt herabhingen. Da waren Mutters blonde Locken schon etwas anderes. Sie hatte sie meist nach hinten gekämmt und steckte sie mit zwei Kämmen fest. Wenn sie aber abends ins Café Wiesler ging, band sie manchmal eine Schleife um die Locken, und das sah dann wirklich schön aus.

In diesem Moment aber verspürte Marianne einen tief sitzenden Groll gegen sie. Warum sollte die Mama ihr denn böse sein? Sie hatte ja nichts Schlimmes getan. Im Gegenteil! Sie, die Mama, und alle anderen hatten sie belogen. Lügen durfte man nicht, das sagte Pfarrer Hägele immer wieder im Religionsunterricht. Sie starrte der Mutter finster in die Augen und hielt ihrem Blick stand. Kurze Zeit herrschte Stille, auch Sieglinde und die Alte schwiegen, als spürten sie, dass etwas in der Luft lag. Marianne merkte, wie der Blick der Mutter unruhig wurde, an ihr vorbeiglitt, über das verschlissene Polster des Sofas hinauf zur Wand, wo ein Bild des Obergefreiten Walter Holzer in Uniform hing, der so allgegenwärtig am Alltagsleben der Familie teilnahm. Dann glitt der Blick wieder nach unten, streifte Sieglinde und die Alte und blieb dann an Marianne hängen. Schließlich erhob sie sich mit einem Ruck und sagte mit nicht ganz fester Stimme: »Komm mal herauf zu mir. Aber lass mir erst noch eine halbe Stunde Zeit, ich muss mich ausruhen.«

Kaum hatte sich die Tür geschlossen, fing prompt die Quengelei von drüben, vom Spülstein her, an: »Jeder rennt davon und da steht das Abendessen … und oben wird wieder gequalmt und sinnlos das Geld zum Fenster hinausgepafft!« Die Alte schlurfte zur Tür und schlug sie krachend hinter sich zu.

»Gott sei Dank«, flüsterte Sieglinde. Sie bestrich ein Brot dick mit Marmelade und schob es zu Marianne hinüber, aber die schüttelte den Kopf. »Kann jetzt nichts essen.«

Hastig nahm Sieglinde das Brot und biss selber kräftig hinein.

»Sagst du mir, wenn die halbe Stunde zu Ende ist?«, flüsterte Marianne.

Sieglinde nickte. »Habt ihr die Uhr noch nicht durchgenommen?«

Marianne schüttelte den Kopf und starrte die Kuckucksuhr über der Kommode an. Eintönig tickte der Zeiger, schob sich vorwärts und vorwärts.

»Ich wette, sie sagt’s dir jetzt«, meinte Sieglinde kauend. »Bin selber ganz gespannt. Erzähl mir aber alles, hörst du!«

Marianne nickte.

»Es sei denn«, Sieglinde betrachtete die Reste ihres Marmeladenbrotes, »sie weiß es selber nicht.«

Marianne fuhr hoch. »Warum soll sie das nicht wissen?«

»Einige Frauen im Dorf wissen es nicht. Gleich nach dem Krieg, als die Soldaten kamen, die fremden Soldaten meine ich, da wurden manche Frauen gezwungen … du weißt schon.«

Marianne starrte die Schwester mit großen Augen an. Nein, sie wusste nichts, oder zumindest nicht viel. In der Schule machten manche rätselhafte und, wie sie fand, auch sehr hässliche Bemerkungen und sie glaubte auch nicht mehr an den Klapperstorch. Großvater Gottfried tat auch eine Häsin mit einem Rammler zusammen, wenn er kleine Kaninchen haben wollte. Aber der Vorgang selber war ihr unklar und was Sieglinde da sagte …

Ihre Schwester wurde ungeduldig. »Bist noch ein richtiges Schaf. Also ich glaub’s eigentlich nicht. Sie wird’s schon wissen. Bist ja auch nicht dunkel, die meisten von denen sind dunkel, weil das die Marokkaner waren, die die Frauen überfallen haben, meine ich.«