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Nicolas Calva. Das magische Amulett

Jennifer A. Nielsen

Jennifer A. Nielsen ist in den USA bereits eine erfolgreiche und von Kritikern gelobte Fantasy-Autorin. Sie liebt Schokolade, alte Bücher und entspannte Tage in den Bergen. Mit ihrem Mann, drei Kindern und einem sehr eigensinnigen Hund lebt sie im Bundesstaat Utah, wo sie geboren wurde und aufgewachsen ist. Besuchen kann man sie auf ihrer Homepage: www.jennielsen.com.

Impressum

Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich

(ISBN 978-3-407-74720-4)

www.beltz.de

© 2016 Beltz & Gelberg

in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Werderstraße 10, 69469 Weinheim

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Neue Rechtschreibung

Copyright © 2015 by Jennifer A. Nielsen. All rights reserved.

Published by Arrangement with SCHOLASTIC INC.,
557 Broadway, New York, NY 10012 USA

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Mark of the Thief bei
Scholastic Inc., New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Aus dem amerikanischen Englisch von Petra Knese

Umschlaggestaltung: © Isabelle Hirtz

Lektorat: Isabelle Ickrath, Carolin Eichenlaub

ISBN 978-3-407-74781-5

Für meine Grundschullehrerin Mrs Flores, bei der ich lernte, die Worte zu lieben.

EINS

In Rom zählten die Götter alles und die Sklaven nichts. Nur einem Dummkopf würde es einfallen, sich als Sklave gegen die mächtigen Götter aufzulehnen.

Ich war auf dem besten Weg, ein solcher Dummkopf zu werden.

Als Sklave im Bergwerk im Süden der Stadt leistete ich meist gute Arbeit. Ich schuftete schwer und nahm klaglos Befehle entgegen, jedenfalls solange sie nicht blödsinnig waren und mein Leben aufs Spiel setzten. Dann stellte ich mich einfach taub.

»Du machst gefälligst, was ich sage, Nic!« Sals wutentbrannte Stimme hallte in der kleinen unterirdischen Kammer. »Ich habe deinen Ungehorsam lange genug großzügig übersehen!«

»Großzügig?«, schnaubte ich. Wenn er damit karge Kost, Schläge und gefährliche Aufträge meinte, war Sal wirklich besonders großzügig gewesen.

Die Götter hatten sich einen Spaß daraus gemacht, mich an diesen Ort zu schicken, und mir zu allem Überfluss einen Herrn gegeben, der den Verstand einer verschrumpelten Karotte und das Mitgefühl einer wütenden Wespe hatte. Außerdem roch er nach Fußpilz, wobei mich das noch am wenigsten störte. Viel schlimmer war, dass Sal von all den Hunderten von Sklaven ausgerechnet mich am meisten hasste. Was nicht weiter überraschend war, denn auch ich hasste ihn aus vollem Herzen. Meine Hände waren in Ketten, und er hatte eine Peitsche, war Herrscher über Leben und Tod. Im Großen und Ganzen gehorchte ich ihm also.

Aber diesmal nicht, nichts würde mich dazu bringen, unsere jüngste Entdeckung auszukundschaften, eine Höhle, in der sich angeblich Julius Cäsars verlorener Schatz befand. Sie war nur über einen tiefen Schacht zu erreichen und hatte bereits einen Arbeiter das Leben gekostet. Als Nächsten hatten sie Fidelius geschickt, einen Freund von mir, der jetzt in der Ecke kauerte, unverständliches Zeug murmelte und auf seiner Faust herumkaute wie ein Hund auf einem Knochen. Vielleicht lag es an der schlechten Luft, vielleicht spukte es dort unten, oder die Götter wollten einfach nicht, dass wir hier gruben. Ich wusste es nicht und es war mir auch egal. Ich würde da keinen Fuß reinsetzen.

Oder hatte ich es nicht anders verdient? Heute früh hatte ich unbemerkt Sand in Sals Becher geschüttet. Noch immer hustete er Sandkörner. Doch ich hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen. Sal hatte es nicht anders verdient.

Mir tat nur meine Schwester Livia leid, die auch hier im Bergwerk arbeitete und sich ständig um mich sorgte. Livia war nur ein Jahr jünger als ich, doch seit unsere Mutter als Sklavin verkauft worden war, war ich für Livia verantwortlich. Ins Bergwerk selbst durfte sie nicht, aber die Entdeckung hatte sich seit gestern sicher überall im Lager herumgesprochen. Livia wusste, dass ich dort arbeitete, und würde sich fragen, ob ich lebend zurückkäme. Das wüsste ich selbst gerne.

»Nein, Sal. Das ist doch Verschwendung von Menschenleben.« Damit konnte ich ihn sicher nicht überzeugen. Sal interessierte sich nämlich ausschließlich für sich selbst. Wenn ich ihm mit Geldverschwendung gekommen wäre, hätte er womöglich auf mich gehört.

»In der Höhle liegt Gold«, sagte Sal. »Der Erste, der unten war, hat es gesehen.«

»Bevor er um Hilfe schrie und starb!«, entgegnete ich.

Sal zeigte auf Fidelius. »Aber der hier ist zurückgekommen!«

Fidelius hob den Kopf, die Augen immer noch riesig und blutunterlaufen wie gleich nachdem wir ihn geborgen hatten. Mit leerem Blick sah er mich an. »Cäsars Geist wacht über der Höhle. Das ist ein verfluchter Ort.«

Sal packte mich an der Tunika. »Rom weiß bereits von unserem Fund. General Radulf ist auf dem Weg, um sich die Höhle anzusehen. Wenn da unten wirklich Gold zu holen ist, will ich es als Erster haben.«

»Dann geht doch selbst!« Natürlich konnte Sal mich dafür auspeitschen lassen, was er sicher auch tun würde, aber immer noch besser, als sich seinem Befehl zu fügen.

Fidelius schüttelte sich und murmelte: »Cäsar wird euch verfluchen.«

Auch das war nichts Neues. Jeder Bergarbeiter im Süden hielt sich ohnehin für verflucht. Der Berg lag nämlich am Nemisee, nahe dem Tempel der Göttin Diana, in dem sich angeblich seltsame Dinge abspielten. Wenn ein Bergarbeiter verschwand, fragten wir uns immer, ob Diana ein weiteres Opfer gefordert hatte.

»Schluss mit den Widerworten!« Sal stieß mich in die Arme seines Wächters. »Wirf seine Leiche in den Schacht und besorg mir einen neuen Sklaven.«

Der Wächter zog ein Messer aus dem Gürtel, aber ich hatte nicht vor, mich von diesem Schwein abstechen zu lassen. Ich riss mit aller Kraft die Arme auseinander, rammte dem Wächter meine Ellenbogen in den Bauch und stürzte zum Stolleneingang. Sal und der Wächter stolperten fast übereinander, als sie mir hinterherliefen, doch ich hatte fünf Jahre lang in den Stollen gearbeitet und kannte sie so gut wie kein anderer.

Ich hastete an ein paar Bergleuten vorbei, Sal rief ihnen zu, sie sollten ihm aus dem Weg gehen. Und damit der Wächter auch sah, dass ich in einen dunklen Stollen abbog, wurde ich langsamer, um mich gleich danach in eine noch dunklere Felsspalte zu drängen. Der Wächter lief an mir vorbei, Sal folgte ihm auf den Fersen.

Doch ich war längst nicht frei. Ich musste erst durch den ganzen Stollen und dann Livia im Lager ausfindig machen. Mir war immer klar, dass wir eines Tages fliehen würden. Warum also nicht heute?

Gerade als ich mein Versteck verlassen wollte, hörte ich, wie zwei Männer, die sich im Hauptstollen leise unterhielten, näher kamen. Sie bogen in den kleineren Stollen ein und blieben etwa eine Armlänge vor mir stehen. Es waren römische Soldaten, was man an den roten Umhängen und den Ledersandalen erkennen konnte; der mit dem etwas prächtigeren Umhang musste General Radulf sein. Nur war er früher eingetroffen als erwartet.

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Auf so eine Gelegenheit hatte ich gewartet. Radulf würde Sal ablenken.

»Du wartest hier«, sagte ein Mann mit tiefer Stimme. »Lass niemanden durch, bis ich fertig bin.«

»Zu Befehl, General Radulf. Wollt Ihr das wirklich tun? Wenn Kaiser Tacitus davon erfährt, kann Euch das den Kopf kosten.«

Radulfs Lachen dröhnte durch den Stollen. »Der Kaiser fürchtet mich mehr als ich ihn. Und wenn er es erfährt, ist es ohnehin zu spät. Dann kann mich niemand mehr aufhalten. Ich werde dieses Reich zu Staub zermalmen.«

»Vorausgesetzt, in der Höhle findet sich das, wonach Ihr sucht«, fügte sein Begleiter hinzu.

Radulf trat noch näher an mein Versteck heran, und obwohl er die Stimme senkte, verstand ich jedes seiner Worte. »Ich spüre an diesem Ort eine magische Kraft, genau wie Rom spüren muss, dass es in den letzten Zügen liegt. Die Entdeckung der Höhle Cäsars wird mein Leben verändern.«

Magische Kraft? Davon hatte ich in den letzten Jahren aber nichts gemerkt. Doch obwohl ich die Augen schloss und versuchte, immer mehr in der Felsspalte zu verschwinden, wusste ich, dass sich auch mein Leben bald ändern würde.

ZWEI

Irgendjemand hatte Sal über Radulfs Ankunft in Kenntnis gesetzt, damit musste er die Suche nach mir wohl oder übel aufgeben. Atemlos kam er angehetzt und entschuldigte sich vielmals beim General, dass er ihn nicht gebührend empfangen hatte.

Als Sal sich untertänigst verbeugte, senkte er sein schweißnasses Haupt direkt vor mir. Hätte er nur kurz aufgeblickt, wäre ich aufgeflogen. »General Radulf, Euer Besuch ehrt uns.«

»Räumt den gesamten Stollen«, sagte Radulf. »Dann führt mich zur Höhle.«

»Hier ist der Mann, der die Höhle für Euch erkunden wird.« Auf Sals Handzeichen hin führte ein Wächter einen Mann vor. Ein kurzer Blick verriet mir, dass er wie ich Ketten trug, wobei er auch noch an den Beinen gefesselt war. Sal rechnete wohl mit Widerstand.

Aber der Mann wehrte sich nicht. Er sank auf die Knie und schluchzte wie ein verzweifeltes Kind. »Ich flehe Euch an, Dominus! Schickt mich nicht in die Höhle. Ich will nicht sterben.«

»Wenn’s nötig ist, schicke ich auch tausend Sklaven in den Tod«, knurrte Radulf. »Steh auf.«

»Ich … ich bin zu groß für die Öffnung«, sagte der Mann. »Und zu schwer für die Seile. Ihr braucht jemanden …«

Sal versetzte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. »Wie kannst du es wagen, dich dem General zu widersetzen?«

Der Mann fiel auf alle viere, und als er sich umdrehte, um Sal zu antworten, sah er mir direkt in die Augen. Ich schüttelte den Kopf, eine stumme Bitte, mich nicht zu verraten, doch er warf mir nur einen finsteren Blick zu und grinste breit. »Dominus, Ihr wollt jemanden wie ihn.«

Sal folgte seinem Blick und riss mich an den Ketten aus der Felsspalte. »Da bist du ja, du Ungeziefer. Mit dir rechne ich später ab.«

»Lasst ihn mal anschauen«, sagte Radulf.

Mir rutschte das Herz in die Hose. Ihm musste klar sein, dass ich sein Gespräch belauscht hatte. Also hielt ich den Kopf gesenkt, während er mich musterte. Mit ein bisschen Glück würde er mich für schwächlich halten und das Interesse verlieren. Als einer der jüngsten Bergarbeiter war ich längst nicht der Größte oder Stärkste hier, aber auch nicht der Dümmste. Im Moment blieb mir nur zu hoffen, dass der General in mir keine Bedrohung sah.

Leider klappte es nicht. Die Finger des Generals schlossen sich wie Schraubzwingen um mein Kinn und ich musste nach oben schauen. Vor mir stand ein hochgewachsener Mann mit dunklem, an den Schläfen schon leicht ergrautem Haar, olivfarbener Haut und wie aus Stein gemeißelten Gesichtszügen. Die breite, muskulöse Brust steckte in einer silbernen Rüstung, gewiss führte er das Schwert an seiner Seite mühelos.

Dagegen war mein dunkles Haar strubbelig, der dünne Stoff meiner Tunika hing mir in Fetzen vom Leib herunter. Außerdem war ich schmutzig und wie alle Bergbausklaven über und über mit Schnitten, Schrammen und blauen Flecken übersäht. Vor einem so bedeutsamen Mann wie Radulf war ich mir meiner niederen Stellung umso mehr bewusst. Aber wenigstens plante ich nicht gerade den Umsturz des Römischen Reiches.

Radulf musterte mich von allen Seiten »Du kommst mir irgendwie bekannt vor. Sind wir uns schon mal begegnet?«

Fast wäre ich vor Lachen erstickt. Wo hätte ein Bergarbeitersklave wohl einem römischen General begegnen sollen? Wir hatten nichts miteinander gemein. Und ich wollte auch nichts mit ihm gemein haben, bis auf eins: Er war frei.

»Arbeite mit mir zusammen«, sagte er, »dann vergesse ich vielleicht, dass du gelauscht hast.«

Gerade wollte ich noch sagen, dass er für einen Verräter ziemlich laut geflüstert hatte, da schüttelte Sal auch schon den Kopf. »Mit dem könnt ihr nichts anfangen, Dominus. So einer missfällt den Göttern.«

Nein, ich war der Spielball der Götter, mit mir vertrieben sie sich die ewige Langeweile. Bester Beweis war diese neuerliche Schicksalswendung. Offenbar gefiel es den Göttern, mir Sals Strafe zu ersparen, indem sie mich der verfluchten Höhle auslieferten. Denn jetzt gab es nur noch diese beiden Möglichkeiten und Sal würde so oder so gewinnen. Es war unerträglich.

Sal lächelte. »Wenn ich es mir recht überlege, verstehe ich, warum Ihr ihn wollt.« Mir war gleich klar, woher der Stimmungswandel kam, und ich funkelte ihn böse an. Sals Denkapparat bestand nur aus wenigen Rädchen, deshalb konnte man ihnen beim Arbeiten zusehen. Er hatte ohnehin vorgehabt, mich in die Höhle zu werfen.

»Wie heißt der Junge?«, fragte Radulf.

»Wir nennen ihn Nic.«

»Nicolas Calva«, antwortete ich. Den Namen eines Freigeborenen hatte ich mir vor fünf Jahren selbst gegeben. Meine Mutter hieß Calva mit Nachnamen. Hätte ich mich wie alle anderen hier nur mit einem Vornamen zufriedengegeben, hieße das, ich hätte mich mit meinem Schicksal als Bergarbeitersklave ein für alle Mal abgefunden. Und ich wollte auf keinen Fall hier sterben, als wäre ich ein Nichts.

Radulf sagte: »Nun, Nicolas Calva, du wirst für mich in die Höhle steigen. Du wirst tapfer sein und meinen Befehlen genau folgen.«

»Ihr werdet keinen tapfereren und folgsameren Sklaven finden.« An den letzten Worten wäre Sal fast erstickt, ich wünschte, er wäre es.

»Warum hat er denn versucht, zu fliehen?«

Sal sah mich nur an. »Das habt Ihr missverstanden«, antwortete ich. »Ich habe in der Felsspalte nur nach anderen abtrünnigen Sklaven gesucht. Zum Glück habe ich keine finden können.«

»Mir wird er sich schon nicht widersetzen.« Radulf lächelte mich an. »Du erinnerst mich an mich selbst, als ich noch ein Junge in Gallien war.«

»Wundert mich, dass Ihr Euch so weit zurückerinnern könnt.«

Er beugte sich zu mir herunter und sah mich durchdringend an. »Ich erinnere mich noch sehr gut. Ständig gab es irgendwo Aufstände. Und immer wieder fand Rom einen Anlass, uns niederzudrücken. Du weißt, wovon ich spreche. Das sehe ich dir an.«

Radulf hatte recht. Rom hatte meine Familie und meine Heimat in Gallien zerstört, bevor wir ins Landesinnere flohen. Alle Versuche meiner Mutter, uns vor den Sklavenhändlern zu verstecken, schlugen fehl. Vor fünf Jahren wurden wir ans Bergwerk verkauft.

Radulfs Lächeln erstarb. »Wo kommst du her, Nic?«

Sal antwortete für mich. »Er ist in Gallien geboren, seine Mutter hieß Hortensia und stammte aus Rom, der Vater ist unbekannt.«

Kurz flackerte Radulfs Blick, doch seine Augen waren weiter auf mich gerichtet. »Unbekannt? Nicht mal ein Name?«

Auch wenn es mir nichts bedeutete, wusste ich, dass mein Vater Halden hieß. Nach dem, was mir meine Mutter erzählt hatte, war er tödlich vom Blitz getroffen worden. Was für ein sinnloser Tod, ohne jede Ehre. Deshalb nahm ich seinen Namen nie in den Mund, nicht einmal vor meiner Schwester. Und vor diesem Mann schon gar nicht.

»Wo ist seine Mutter jetzt?«, fragte Radulf.

»Ein paar Wochen nach ihrer Ankunft hier habe ich sie an eine Familie in der Nähe von Rom verkauft.« Sals Blick huschte zu mir und ich sah ihn böse an. Abgesehen von allem anderen war das der Hauptgrund, warum ich Sal so hasste. »Aber die Schwester des Jungen ist noch hier. Livia.«

So, wie er ihren Namen aussprach, packte mich die Wut, und ich ballte die Fäuste. Sal hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er nur darauf wartete, bis meine Schwester alt genug war, um ihr die Heirat vorzuschlagen. Bei dem Gedanken drehte sich mir der Magen um.

Da man sich auf das Wohlwollen der Götter nicht verlassen konnte, entschloss ich mich, wenigstens meiner Schwester zu helfen, wenn ich mich schon nicht selbst retten konnte. Mit gespielter Unschuld blickte ich zu Radulf auf. »Bitte, Herr, erlaubt Sal, mitzukommen. Ohne ihn schaffe ich es nicht in die Höhle.«

Sal wurde kalkweiß und gleich darauf puterrot, weil er versuchte, seine Wut im Zaum zu halten. Hastig widersprach er, aber dafür war es schon zu spät.

»Also gut.« Radulf nickte Sal zu, damit er uns den Weg wies. Über Sals Elend konnte ich mich gar nicht so richtig freuen, denn mir erging es selbst nicht besser.

Donnergrollen begleitete unseren Weg in den finsteren Stollen und mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Für mich war es ein Zeichen, dass sich die Götter herzlich wenig um die Sklaven im Bergwerk scherten. Ich spürte die Blicke der anderen Arbeiter auf mir, als Sal alle, bis auf mich, fortschickte. Mitfühlend sahen sie mich an, ich tat ihnen leid. Doch am Ende waren sie vor allem erleichtert, dass nicht sie, sondern ich in den Tod ging.

DREI

Der Eingang zur geheimen Höhle lag tief versteckt unter der Erde. Ich wusste es, weil ich zu der kleinen Gruppe gehörte, die sie entdeckt hatte. Nachdem wir den Fels gespalten hatten, war ein langer Schacht zum Vorschein gekommen, durch den uns ein bitterkalter Wind entgegenschlug. Das hätte uns eine Warnung sein sollen. Nun lag bereits ein toter Bergarbeiter irgendwo dort unten in der Tiefe, und als Fidelius herausgetragen wurde, kaute er immer noch auf seiner Hand herum. Nicht dass es Radulf kümmerte. Wahrscheinlich hoffte er eher, dass ich ebenso enden würde, dann konnte ich wenigstens nichts ausplaudern.

»Nehmt dem Jungen die Ketten ab«, befahl Radulf. »Sonst kann er seinen Auftrag nicht erfüllen.«

Sal schüttelte den Kopf. »Ihr seht doch, wie weit er schon mit den Ketten gekommen ist. Stellt euch vor, wie es ohne gewesen wäre.«

»Es waren nicht die Ketten, die mich zurückgehalten haben«, sagte ich. Eher Livias Zögern. Der Gedanke an Flucht flößte ihr Angst ein, während ich mich danach sehnte. Aber sie war auch jünger und konnte sich an die Freiheit nicht mehr so gut erinnern.

»Kettet ihn los.«

Sal griff wie befohlen nach seinem Schlüsselbund. Dann wurde er angewiesen, mir ein langes Seil um den Bauch zu binden. Seine Aufgabe sollte es sein, mich bis zum Höhlengrund abzuseilen. Falls es überhaupt einen Grund gab.

Als ich in die schwarze Höhlenöffnung blickte, war ich überzeugt, dass Fidelius recht gehabt hatte. Es war ein verfluchter Ort. Meine Chancen standen schlecht. Was würde aus Livia werden, wenn ich nicht zurückkam? Außer mir hatte sie niemanden, der sich um sie kümmerte. Bis auf Sal, was noch schlimmer war.

Nachdem Sal das Seil verknotet hatte, schickte Radulf ihn fort, damit wir ungestört reden konnten. Er überprüfte den Knoten, zeigte sich aber über meinen möglichen Tod nicht weiter besorgt. Das hatte ich auch nicht erwartet. Radulf sagte bloß: »Wenn hier tatsächlich Cäsars Schatz liegt, wirst du nur nach einer Sache suchen, einer Bulla aus purem Gold. Weißt du, was eine Bulla ist?«

Ich verdrehte die Augen. Jeder frei geborene Junge in Rom trug das Amulett um den Hals. Dass ich keines hatte, war ein weiterer Beweis meiner Wertlosigkeit. Natürlich wusste ich, was es war.

»Gut. Ich suche ein Amulett mit einem Greif. Auf der Rückseite sind Cäsars Initialen eingraviert. Kennst du das Alphabet?«

»Die wichtigsten Buchstaben schon.« Das entlockte ihm ein Lächeln, wobei er sich hoffentlich nicht zu viel von mir versprach. Meine Mutter hatte mir die lateinischen Buchstaben beigebracht, doch lesen hatte ich nicht gelernt.

»Ich will nur diese Bulla«, sagte Radulf. »Der Rest gehört dem Reich.«

Verwundert blinzelte ich ihn an, dachte an das Gespräch zwischen ihm und dem anderen Soldaten zurück. Wenn Radulf nach einem Weg suchte, das Römische Reich zu vernichten, was wollte er da mit einer Bulla? Kleine Jungen aus wohlhabenden Familien trugen sie als Glücksbringer. Ich glaubte ja nicht so recht an ihre Wirkung. Und überhaupt, wozu brauchte jemand, der in eine reiche Familie geboren wurde, denn noch Glück? Wurde ein Junge zum Mann, legte er, neben anderen Dingen aus seiner Kindheit, auch die Bulla ab. Cäsar hatte es sicher genauso gemacht.

Radulf packte mich am Arm und kam ganz nah an mich heran. »An deiner Stelle würde ich schnell vergessen, was du vorhin gehört hast. Wenn du mir Schwierigkeiten machst, geht es für dich nicht gut aus.«

Daran zweifelte ich keinen Moment. Ich kannte ihn kaum eine Stunde und schon war es mit meinen Hoffnungen steil bergab gegangen. »Ich will es nur wieder nach oben schaffen«, sagte ich. »Alles andere ist Eure Sache, nicht meine.«

Daraufhin wurden seine Züge weicher. Doch er griff noch fester zu und meinte: »Wenn du die Bulla gefunden hast, leg sie nicht um, halt sie fern von dir. Bring sie mir einfach. Wenn du tust, was ich sage, schaffe ich dich fort von hier, nehme dich mit nach Rom. Mit deiner Schwester.«

Mir blieb der Mund offen stehen. Ich mochte Radulf nicht, doch lieber würde ich mit einem Mann nach Rom gehen, den ich nicht mochte, als auch nur eine Minute länger im Bergwerk zu bleiben. Umso schwerer fiel mir die nächste Frage. »Und wenn ich die Bulla nicht finde?«

»Dann wird Sal dich nicht wieder nach oben ziehen.«

Mir zitterten so die Hände, dass ich sie gegen die Oberschenkel pressen musste, um sie ruhigzustellen. »Vielleicht komme ich sowieso nicht zurück. Andere haben es auch schon vergeblich versucht.«

Radulf musterte mich abermals. Auf seinem ernsten Gesicht erschien ein kleines Lächeln. Sollte mir das Mut machen oder war es nur ein Zeichen seiner Grausamkeit?

Und damit rief er Sal zurück. Dann hob Radulf mich auf den Fels mit dem Schachteingang, reichte mir eine Fackel und befahl Sal, mich herunterzulassen.

So eine Dunkelheit hatte ich noch nie erlebt. Schwärzer als die Nacht, schwärzer noch als die tiefsten Stollen. Kein Licht drang an diesen Ort. Die Fackel half mir ein wenig, nur brannte sie so hell, dass sie mich fast blendete. Als Nächstes erwischte mich eine eisige Brise. Wir Bergarbeiter waren Kälte gewöhnt, doch dieser Windstoß ging mir durch Mark und Bein. Hätte mich nicht gewundert, wenn die Flamme zu Eis erstarrt wäre.

Anfangs hielt ich den Atem an. Vor allem aus Angst, aber auch, weil die Dämpfe hier unten womöglich giftig waren. Im Bergwerk kam das häufiger vor. Luft, die jahrhundertelang unterirdisch eingeschlossen war, kostete manchmal die ersten Arbeiter das Leben. Für mich stand immer fest, dass ich jung sterben würde, auf der Flucht oder bei einem Aufstand vielleicht, zumindest waren das ehrenhafte Tode. Bloß, dass es später hieß, ich sei an schlechter Luft krepiert, kam nicht infrage.

Während Sal mich abseilte, rief ich mir ins Gedächtnis, was ich über Julius Cäsar wusste. Meine Mutter hatte mir mal erzählt, wie Cäsar im Ägäischen Meer von Piraten entführt wurde. Er war beleidigt, weil die Piraten nur 20 Talente Silber für seine Freilassung forderten, und verlangte, die Summe auf 50 Talente anzuheben. Nachdem das Lösegeld bezahlt und Cäsar wieder auf freiem Fuß war, fuhr er zurück zu der Insel, auf der man ihn gefangen gehalten hatte, und richtete die Piraten eigenhändig hin. Neben 50 Talenten Silber fand er auch noch all ihre Schätze. Kein Wunder, dass er später als Feldherr nie eine Schlacht verlor.

Wenn Cäsar so mächtig war, was maßte ich mir an, in seine Höhle zu dringen?

Der Strick rieb an einem scharfen Fels. Im Licht der Fackel sah ich, dass er schon leicht durchgescheuert war. Als ich nach unten leuchtete, konnte ich noch nicht einmal den Höhlenboden ausmachen. Hoffentlich reichte das Seil bis nach unten. Und wenn nicht? Würde Sal mich wieder heraufziehen oder es einfach kappen? Wenn Radulf nicht direkt neben ihm stünde, hätte er das wahrscheinlich schon längst getan.

Irgendwann blieb mir nichts anderes übrig, als Luft zu holen. Zu meiner Erleichterung war die Luft nur abgestanden und nicht giftig. Doch meine Freude währte nicht lang, denn dieselbe Brise blies die Fackel aus, sodass ich in vollkommene Dunkelheit gehüllt war.

Ich rief Sal zu, dass ich kein Licht mehr hatte, aber entweder hörte er mich nicht, oder es war ihm egal. Wahrscheinlich Letzteres, weil er mich ja ohnehin hier loswerden wollte. Und so sank ich tiefer und tiefer. Ins Nichts. In die Unterwelt.

Nach ein paar langen Minuten stieß ich mit den Füßen auf etwas Hartes. Hoffentlich der Boden, nur so ganz traute ich dem nicht. Also tastete ich blindlings umher. Unter mir lag Felsgestein, bloß fühlte es sich anders an als der Felsen oben. Dieses Gestein war nicht so großporig, dafür scharfkantiger. Es schien mir auch ziemlich eben, doch bevor ich den Boden noch weiter abtasten konnte, hatte mich Sal schon komplett abgelassen. Nun hatte ich keine Wahl mehr.

Auf den Knien versuchte ich zu ertasten, wie eng der Raum war, dabei berührte ich etwas Fremdartiges. Erde war es nicht und für Gestein war es nicht hart genug. Es fühlte sich eher wie Holz an, rund, geschliffen und glatt wie … mir stockte der Atem. Glatt wie Knochen. Und rund … wie ein Schädel. Mit den Händen fuhr ich über den Boden und fand neben weiteren Schädeln noch mehr Knochen.

Mir schnürte sich die Kehle zu. Wer waren diese Menschen? Hatte man sie in Dianas Tempel geopfert? Oder waren es Eindringlinge, die in der Höhle ihr Grab gefunden hatten? Und blühte mir womöglich das gleiche Schicksal?

Erschrocken sprang ich auf und rannte los. Ich wusste zwar nicht genau, was sich unter meinen Füßen befand, doch mehr als einmal rollte etwas unter mir weg, also konnte ich es mir schon denken. Gerne hätte ich mich bei den Toten entschuldigt, nur die Angst, dass mir jemand antworten würde, hielt mich davon ab, also hielt ich den Mund und lief weiter.

Nach einer Weile hatte ich festen Boden unter mir und konnte wieder durchatmen. Beim Schürfen gewöhnten sich meine Augen meist irgendwann an die Lichtverhältnisse, das hoffte ich auch diesmal. Aber hier unten war nichts zu machen. Es gab einfach kein Licht, an das sie sich hätten gewöhnen können.

Also setzte ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen und hielt mit einer Hand das Seil fest, das meine einzige Verbindung nach oben war. Kein sehr beruhigender Gedanke. Ich hatte mich noch nie im Leben so allein gefühlt.

Allerdings dämmerte mir allmählich, dass ich so allein gar nicht war. Tief im Dunkeln lauerte etwas. Atmete ruhig und mit Bedacht. Was immer sich dort verbarg, es hatte mich bereits bemerkt.

VIER

Mutterseelenallein tastete ich mich durch die Höhle. Mir war klar, dass ich jetzt vor allem eine gehörige Portion Glück brauchte. Die Dunkelheit gehörte zu meinem Leben im Bergwerk dazu. Aber allein war ich noch nie so tief unten gewesen, und schon gar nicht ohne die Sicherheit, dass irgendwo in nicht allzu weiter Ferne eine Fackel leuchtete.

Wäre es hier unten nicht so still, hätte ich das Atmen wohl gar nicht mehr gehört. Und obwohl ich mir alle Mühe gab, es hinter mir zu lassen, wurde das Geräusch von den Höhlenwänden zurückgeworfen, als wäre das Wesen immer knapp vor mir. Wenn es nicht am Echo lag, dann bewegte es sich wie eine sprungbereite Katze.

Am liebsten hätte ich Radulf zugerufen, er solle mich wieder hinaufziehen, doch das tat ich nicht. Nicht nur, weil er sich ohnehin nicht darauf einlassen würde, sondern auch, weil ich meinen genauen Standort nicht preisgeben wollte. Natürlich war das kompletter Blödsinn. Egal, wie blind ich hier unten herumstolperte, das Wesen wusste ganz genau, wo ich mich befand.

Vor mir gab es irgendwo eine Lichtquelle. In dem schmalen Lichtstreifen erkannte ich die Leiche des ersten Bergarbeiters. Er lag auf dem Rücken, die Hände wie Krallen ausgefahren. Die Haut war mondbleich, als hätte er keinen Tropfen Blut mehr im Körper, wobei er nicht verletzt schien. Vielmehr sah er aus, als hätte er sich zu Tode gefürchtet.

Vorsichtig machte ich einen Bogen um ihn. Besonders hell war das Licht nicht, und die Frage, wie es in dieser Tiefe überhaupt Licht geben konnte, stellte ich mir erst gar nicht. Aber es zog mich an, rief mich zu sich. Wie die Motte zur Flamme strebte ich darauf zu.

Als ich anfing, im Bergwerk zu arbeiten, hatte ich Angst vor der Dunkelheit. Doch meine Mutter hatte mir klargemacht, dass es nichts im Dunkeln gab, was nicht auch im Hellen existierte. Seitdem hatten mir selbst die schwärzesten Schatten nichts mehr ausgemacht … bis jetzt. Denn diesmal war ich überzeugt, dass sich meine Mutter geirrt hatte. Nicht nur wegen des mysteriösen Wesens, das mir auf den Fersen war, sondern besonders wegen dieses Lichts. Je näher ich ihm kam, desto sicherer war ich, dass es von Cäsars Geist ausging. Ich spürte ihn, er trieb mich vorwärts.

In dem Moment kam mir das glaubhaft vor, aber schon im nächsten Augenblick entdeckte ich die tatsächliche Lichtquelle. Vor mir tat sich eine riesige Höhle auf, gewaltiger noch als alles andere, was ich bislang unter Tage gesehen hatte. Darin türmte sich Gold. Tausende umgestürzter Münzstapel, schwere Goldbarren, jeder einzelne größer als das, was wir in einem Jahr an Gold aus dem Berg schürften. Kelche, Ringe und Tabletts, allesamt aus Gold, lagen achtlos herum. Doch von denen kam das Licht nicht. Der Schein stammte von etwas, das ganz oben auf dem höchsten Münzstapel lag, und um es zu sehen, musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen und den Hals recken. Es war eine goldene Bulla, die in Form und Größe etwa meiner Faust entsprach, an einem braunen Lederband. Auf den ersten Blick wirkte sie nicht besonders, wenn man mal vom Leuchten absah, was natürlich schon seltsam war. Ich hatte Gold geschürft, und es hatte nie, aber auch niemals geleuchtet. Zweifellos hatte Radulf es auf dieses Schmuckstück abgesehen. Es war Cäsars Bulla.

Ich wollte die Kammer gerne betreten, bloß mein Seil reichte nicht. Wenn ich mir das Amulett holen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich loszubinden. Mein Plan war einfach und wohl ziemlich dämlich: Ich wollte mir die Bulla schnappen und zum Ausgang wetzen. Mit ein bisschen Glück passte das Wesen nicht durch den Schacht, und wenn doch, zog Sal mich sicherlich schneller hoch, als das Tier laufen konnte. Das hoffte ich zumindest. Wobei ich nicht so ganz daran glaubte.

Kaum hatte ich das Seil abgelegt, stürmte ich auf das Gold los. Der Wert dieser Schätze überstieg mein Vorstellungsvermögen. Mit einer Handvoll Gold könnte ich meine Schwester und mich freikaufen. Mit einer weiteren könnten wir ein Luxusleben führen. Die süßesten Speisen, die edelsten Tücher, sogar Sandalen würden wir uns leisten können. Radulf hatte mir eingeschärft, nur die Bulla mitzunehmen und alles andere liegen zu lassen. Und … wenn ich es nicht tat?

Das Amulett stellte ich mir viereckig vor. Wenn es wie die meisten Bullas innen noch mit Edelsteinen gefüllt war, wäre es so viel wert wie zwei Handvoll Gold. Vielleicht auch mehr.

Doch sobald ich die Goldkammer betrat, wurde ich von der Seite angegriffen und umgerissen. Mit dem Kopf schlug ich so hart auf den Boden, dass ich nur noch verschwommen etwas wegflattern sah. Ich rieb mir die Augen. Dieses Wesen hatte mächtige Flügel und einen langen, kräftigen Schwanz.

Ich rollte mich auf den Bauch und kam keuchend auf alle viere. Schon stürzte sich das Wesen von Neuem auf mich herab, vom Windzug seines Flügelschlags schepperten die Goldmünzen. Es packte mich mit seiner riesigen Klaue und presste mir alle Luft aus den Lungen. Mir war egal, was das für ein Ding war, doch ich würde mich nicht kampflos ergeben. Also trat ich ihm kräftig in den weichen Unterbauch.

Mit einem wütenden Kreischen ließ es mich fallen und ich wäre fast auf dem Münzberg gelandet. Erst da drehte ich mich auf den Rücken, um das Wesen besser sehen zu können. Es flog über mich hinweg und fixierte mich mit einem giftigen Blick. Das Tier hatte einen Adlerkopf, nur war der so groß wie bei einem Pferd. Ausgestreckt füllten seine Adlerschwingen einen Großteil der Höhle aus, und während es seine Kreise zog, ließ es mich nicht aus den Augen. Sobald das Wesen über mich hinweggeflogen war, sah ich, dass es den Körper eines Löwen hatte.

Nun wusste ich, womit ich es zu tun hatte. Der König der Lüfte und der König der Tiere vereint in einem Wesen.

Es war ein Greif.

Meine Mutter hatte mir davon erzählt, aber darauf bestanden, dass sie allein den Göttern vorbehalten waren. Wenn das stimmte, musste dies ein besonderer Greif sein, denn er bewachte Cäsars Schatz.

Ich hatte nichts dagegen. Meinetwegen konnte er den gesamten Goldschatz bewachen, außer einer Sache.

Die Bulla war meine einzige Chance, es aus der Höhle zu schaffen. Ohne sie könnte ich auch gleich aufgeben. Meine Gebeine könnten sich zu den restlichen Knochen hier unten gesellen.

Der Greif ließ sich hoch oben auf einem Felsvorsprung nieder und starrte mich an. Dann kreischte er und scharrte angriffslustig mit den Klauen. Mir blieb nicht viel Zeit.

Ich fasste die Bulla ins Auge, die nicht weit von mir entfernt auf dem Münzhaufen lag. Die Initialen konnte ich klar erkennen. G.J.C. Gaius Julius Cäsar. Genau die wollte Radulf haben. Ich rannte zu einem Stapel mit Goldbarren, die mein Gewicht besser halten würden als die Münzen, und kletterte daran hoch. Sobald ich die richtige Höhe erreicht hatte, warf ich mich im Hechtsprung auf die Bulla. Mit dem Lederband in der Hand rollte ich den Haufen hinunter.

Nun schrie der Greif noch lauter, stieß sich von der Felskante ab und stürzte direkt auf mich zu. So schnell und zielsicher hätte nicht einmal ein Pfeil sein können. Ich schleuderte ihm einen Goldkrug entgegen und wehrte seine Klauen ab. Bloß landete der schwere Krug anschließend so hart auf meiner Brust, dass ich kaum noch Luft bekam und fast ohnmächtig wurde.

Bis zum Ausgang der Kammer war es nur ein Katzensprung. Draußen müsste ich nur noch das Seil suchen und abhauen.

Also rappelte ich mich auf und lief los, aber der Greif traf mich mit dem Schwanz. Von dem mächtigen Schlag wurde ich gegen die Wand geschleudert. So heftig hatte es mich noch nie erwischt. Noch ein paar solcher Schläge und mein Leben wäre zu Ende. Ich musste der Kammer und dem Biest entkommen. Irgendwo dort draußen in der Dunkelheit lag mein Seil. Noch hatte ich die Chance, es zu finden und mich heraufziehen zu lassen.

Der Greif umkreiste mich ein paarmal, bevor er sich mir gegenüber niederließ. Dann gab er ein solch tiefes Knurren von sich, wie es nur von einem göttlichen Wesen kommen konnte. Ich saß in der Falle.

Egal, wie schlecht meine Chancen standen, wenn ich mich gegen diese Bestie verteidigen wollte, brauchte ich beide Hände, also hängte ich mir die Bulla um den Hals.

Dabei wirbelte ein Wind um mich herum. »Sie gehört dir nicht«, schien er zu säuseln. »Du lädst einen Fluch auf dich.«

Damit konnte man mir keine Angst einjagen. Sollte mich dieses verstaubte Amulett doch verfluchen, ich steckte in viel größeren Schwierigkeiten. Nur, dass der Wind mit mir sprach, machte mir zu schaffen.

Wieder drang der Wind in mich. Ich spürte die Kälte bis in die Knochen, selbst mein Herz wurde eiskalt. Das hatte dem Bergarbeiter das Leben und Fidelius den Verstand gekostet, wusste ich es doch! Und auch mich wollte der Wind auslöschen. Um mich zu schützen, griff ich instinktiv mit beiden Händen nach der Bulla, und plötzlich legte sich der Wind, als hätte ihn jemand ausgesperrt.

Nur leider hörten meine Probleme damit nicht auf, denn mir gegenüber saß immer noch der Greif und beobachtete mich. Das war nicht normal. Als der Vogel mich angriff, wusste ich wenigstens, wie ich mich verhalten sollte, bloß was tat man mit einem gefährlichen Greif, der einen nur anschaute?

Ich versuchte es mit Reden. Vielleicht könnte ich ihn mit meiner Stimme besänftigen.

»Man nennt mich Nic. Kein besonderer Namen, ich weiß, aber er bedeutet ,Sieg des Volkes‘. Eines Tages werden alle Menschen frei sein und dann werden sie mich bei meinem vollen Namen rufen: Nicolas Calva.«

Den Greif schien das nicht sonderlich zu beeindrucken. Aber zumindest machte er ein paar Schritte auf mich zu, sodass ich ihn hätte berühren können, wenn ich gewollt hätte. Was ich übrigens nicht wollte.

Ich redete immer weiter. »Du brauchst auch einen Namen.« Dem Tier war es natürlich egal, bloß mir nicht. Ganz gleich, was es als Nächstes tun würde, es war wirklich das schönste Wesen, das ich je gesehen hatte. Es verdiente einen Namen, und zwar einen besonderen. »Ich werde dich Fortis nennen, denn du kommst aus dem Götterhimmel.«

Vielleicht war es unklug, den Greif an seine Herkunft zu erinnern. Womöglich gefiel es ihm nicht, jetzt unter den Sterblichen zu leben.

Der Vogel kreischte, entblößte seinen scharfen Schnabel. Hätte ich mal lieber den Mund gehalten.

»Mehr will ich auch gar nicht von deinem Gold«, sagte ich. Das war es dann wohl mit meinem Luxusleben. Im Moment wollte ich überhaupt nur überleben. »Bloß dieses eine Amulett musst du mir überlassen. Bitte!«

Fortis flatterte ungehalten mit den Flügeln, klappte sie aber ganz schnell wieder ein, als eine weitere Böe durch die Höhle wirbelte. Die Ablenkung nutzte ich und rannte unter seinem Flügel vorbei zum Ausgang. Ich hätte es vielleicht geschafft, wenn die Bulla um meinen Hals nicht so schwer gewesen wäre und mich zu Boden gezogen hätte. Eigentlich war das unmöglich. Ich hatte schon häufig schwere Säcke mit Rohmetallen auf dem Rücken an die Oberfläche befördert. Eine einzelne Bulla sollte da kein Problem sein.

Als Fortis mich fallen sah, hieb er mit der Klaue nach mir. Wie mit einem Messer schnitt er mir in die Schulter. Ich hörte den Stoff meiner Tunika reißen, gleichzeitig hatte ich das Gefühl, meine Schulter explodierte. Mit einem Schmerzensschrei ging ich in die Knie, vor meinen Augen tanzten schwarze Punkte. Versuchsweise hob ich den Arm, überrascht, dass er nicht abfiel. Wie konnte er noch dran sein, wo es doch so wehtat?

Mit der anderen Hand tastete ich nach der Bulla, um sicherzugehen, dass sie noch da war. Diesmal war sie ganz warm. Die Wärme floss über meine Hand den Arm hoch in die pochende Schulter. Es brannte wie Feuer. Ich wollte den Schmerz wegmassieren, aber ich kam nicht ran, also blieb mir nichts anderes übrig, als das Brennen zu ertragen. Zumindest blutete ich nicht, unglaublich, denn der Fang des Greifs war bis zum Knochen durchgedrungen.

Als ich mich auf den Rücken rollte, starrte Fortis auf mich herab. Warum verpasste er mir nicht noch einen letzten Hieb? Ich wusste ja jetzt, wie tief sich diese Klauen ins Fleisch bohren konnten. Es wäre ein Kinderspiel für ihn.

Fortis kreischte, doch diesmal klang es anders. Nicht wütend, eher wie ein Warnschrei. Der Boden erzitterte – ein Erdbeben. Ich rappelte mich auf und stolperte dem Ausgang entgegen. Mit dem leuchtenden Amulett um den Hals war es leichter, den Weg zu erkennen. Gerade, als ich das Seil fand, löste sich ein Stein aus der Decke und fiel direkt darauf. Beinahe wäre er noch auf meinem Fuß gelandet.

Ich brauchte das Seil. Es war meine einzige Chance, diesem verfluchten Ort zu entkommen.

Während ich also anderen Steinschlägen auswich, schnappte ich mir den Strick und zerrte mit aller Macht daran, um ihn loszueisen.

Das hätte ich mal lieber nicht tun sollen, denn dadurch sah ich den nächsten Felsbrocken nicht kommen. Als er mir auf den Kopf schlug, dachte ich nur, wie bedeutungslos mein Leben doch gewesen war und wie schnell ich in Vergessenheit geraten würde. So hatte ich nicht sterben wollen.

FÜNF

Eigentlich hätte ich nicht wieder aufwachen dürfen. Ich hob kurz den schmerzenden Kopf, um nachzusehen, welcher der umliegenden Felsbrocken mich erwischt hatte, aber eigentlich war es egal. Bei der Größe hätte mich jeder töten können.

Meine Schulter brannte noch etwas, doch längst nicht mehr so stark. Vielleicht war es mir vorhin im Eifer des Gefechts auch nur so schlimm vorgekommen.

Und dann griff ich nach der Bulla. Sobald ich sie in der Hand hielt, atmete ich gleich freier. Mir fiel es jetzt schon schwer, mir vorzustellen, ohne sie zu sein, was natürlich Blödsinn war. Aber im Grunde sollte sie mir gehören. Ich hatte sie gegen den bitterkalten Wind verteidigt. Gegen Cäsars Geist.

Wie viel Zeit war wohl seit dem Erdbeben vergangen? Minuten, Stunden … oder Tage? Ob es oben heftiger gewesen war? Oder hatten sie es vielleicht gar nicht bemerkt?

Wieder hörte ich ein schweres Atmen und spürte den warmen Greif im Rücken. Er musste mich vom Eingang weggeschafft haben, sonst wäre ich sicher unter den Felsbrocken begraben worden. Entweder hatte er sich an mich geschmiegt oder ich hatte mich vor Kälte an ihn gekuschelt. Jedenfalls schlief der Vogel.

Einem Greif so nah zu sein, sollte mich eigentlich in Panik versetzen, mich in die Flucht treiben. Nur, so war es nicht. Ich hatte eher das Bedürfnis, diesem Tier ganz nah zu sein, denn selbst wenn es gerade eben noch mein Leben bedroht hatte, war es gleichzeitig meine einzige Chance, heil hier herauszukommen.

Wahrscheinlich war es bei Fidelius mit dem Verrücktsein auch so losgegangen. Vielleicht könnte ich mich unbemerkt davonschleichen. Aber wohin? Ein vorsichtiger Blick zeigte mir, dass der Schacht eingestürzt war. Ich saß fest. Und über uns bildeten sich neue Risse, das Knacken kannte ich nur zu gut. Instabile Schächte hatten schon viele Männer das Leben gekostet. Nach und nach würde sich die Höhle in Staub auflösen. Ganz langsam richtete ich mich auf, doch kaum stand ich, hob der Greif den Kopf. Ich machte einen Schritt zurück und hob schützend die Hände, als könnte ich so einen Angriff abwehren. Was Besseres fiel mir in dem Moment nicht ein.

Er roch an mir. Nur aus Neugier, wie ich mir einredete, nicht aus Hunger. Fressen hätte er mich ja vorhin schon können, ich hatte ja lange genug geschlafen.

»Weißt du«, sagte ich, wobei es sicher albern war, mit einem Tier zu sprechen, das nur Schreie von sich gab. »Es muss noch einen anderen Ausweg geben. Die Höhle ist nicht mehr sicher. Du musst uns hier herausfliegen, sonst werden wir von den Trümmern erschlagen.«

Fortis legte den Kopf schief, als würde er mich verstehen. In dem Fall wusste er allerdings auch, dass ich ihm nicht die ganze Wahrheit sagte. Ja, die Höhle würde womöglich einstürzen, und ja, er würde ebenfalls unter den Trümmern begraben werden. Aber ob er mich nun rettete oder nicht, war für sein Überleben vollkommen unerheblich. Wenn ich Glück hatte, kam Fortis mir nicht auf die Schliche.

Bevor ich seine Hilfe in Anspruch nahm, musste ich sein Vertrauen gewinnen. Und vor allem musste ich ihm trauen. Also lief ich um Fortis herum, strich ihm über das schwarze Gefieder im Nacken und fuhr dann durch das kurze braune Fell. Das Tier wölbte den Rücken, ein Brummen ertönte. Der Greif schnurrte und ich vergrub meine Finger noch tiefer in seinem Fell. Fortis machte sich flach, ohne sich abzulegen. Damit ich ihn besser streicheln konnte? Oder war das eine Aufforderung, auf seinen Rücken zu klettern? Ich holte tief Luft, um noch letzte Zweifel abzuschütteln. Vielleicht deutete ich Fortis’ Verhalten auch falsch und würde gleich teuer dafür bezahlen. Nur wurde das Knacken lauter. Wenn ich jetzt nichts tat, war klar, wie ich enden würde.

Ich kraulte den Greif, während ich einmal um ihn herumlief. Dann sandte ich ein Stoßgebet zu den Göttern, hielt mich am Flügel fest und schwang mich auf seinen Rücken. Würden mir die Götter helfen? Denn wenn schon einmal jemand auf diesem Greif geritten war, dann sie. Bei jeder Bewegung tat mir die Schulter weh, doch ich biss die Zähne zusammen. Von herabfallenden Steinen erschlagen zu werden, war bestimmt noch viel schmerzhafter.