Zum Buch:

Was kann man in zwei Monaten mit einer tollen Frau alles machen? Da fällt Lincoln West eine ganze Menge ein. Aber dann muss Schluss sein. Keine Ausnahme. Niemals! Selbst, wenn er das wilde Ex-Partygirl begehrt wie keine Frau je zuvor. Am liebsten würde er ihr freches Mundwerk mit Küssen zum Verstummen bringen … Denn wenn sie die Geschichten aus seiner Vergangenheit erfährt, bringt er sich in höchste Gefahr …

 

Millionär trifft Party-Girl fürs Leben

 

 

Zur Autorin:

New York Times-Bestsellerautorin Gena Showalter glaubt, dass Liebe alles überwindet. Früher selbst passionierte Liebesromanleserin, weiß sie ihre Fans mit eigenen Pageturnern voller Humor, Gefahr und heißer Sinnlichkeit zu begeistern. Mit ihrer Paranormal-Serie der „Herren der Unterwelt“ feierte sie ihren internationalen Durchbruch, mit ihrer „Broken Hearts“-Serie bringt sie ihre Leser zum Schwärmen. Showalter lebt mit ihrer Familie und einigen Hunden in Oklahoma.

 

 

 

 

Lieferbare Titel:

Broken Hearts – Gefährliche Nähe

Broken Hearts – Brennende Sehnsucht

Die Herren der Unterwelt – Schwarze Berührung

Gena Showalter

Broken Hearts –
Flammendes Begehren

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Christiane Meyer

 

 

 

 

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MIRA® TASCHENBUCH

 

 

 

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Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Harder You Fall
Copyright © 2015 by Gena Showalter
erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Umschlaggestaltung: any.way, Barbara Hanke / Cordula Schmidt
Umschlagabbildung: Shutterstock
Redaktion: Eva Wallbaum

ISBN eBook 978-3-95649-976-0

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit
lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

Für Allison Carroll – danke für dein unschätzbares Feedback. Und danke dafür, dass du dich trotz meiner Warnungen bezüglich „des Prozesses“ mit mir darauf eingelassen hast.

Für Craig Swinwood, Margaret Marbury, Loriana Sacilotto, Dianne Moggy, Susan Swinwood, Michelle Renaud, Stacy Widdrington und Fritz Servatius – und so viele andere bei Harlequin. Danke für alles, was ihr für mich tut.

Und für Lisa Wray, weil sie sich vor der Veröffentlichung eines neuen Buches jedes Mal selbst übertrifft und Außerordentliches leistet.

Und für eine der tollsten Frauen, die ich kenne – Liz Berry. Ich umarme dich!

Ihr rockt!

Für Kresley Cole und Beth Kendrick, die Chef Boyardee-

Gang!

1. Kapitel

Liebe Schwester,

Meine liebe Brook Lynn,

Yo!

Akzeptiere es. Ich bin in dein altes Zimmer gezogen, um in den Garten gucken und sehen zu können, wie der Schnee fällt. (Füge noch ein paar Minuten – oder auch eine Stunde! – lauten Jammerns ein, weil deine Fensternische viel besser ist als meine.) ABER: Trotz dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit grinse ich so breit, dass mir schon das Gesicht wehtut. Ich erinnere mich daran, wie wir zusammen unseren ersten Schneemann gebaut haben. Ich glaube ja nach wie vor, dass er wie ein Kugelfisch aussah. Wie auch immer. Du hast geschrien: „Er stirbt!“, als die Sonne herauskam, und ich habe das Schneemann-Blut (Wasser) in einem Marmeladenglas aufgefangen, um ihm wenigstens eine anständige Beerdigung im Badezimmer bieten zu können. Wir waren ziemlich coole Kids, oder? Jetzt sind wir allerdings erwachsen (theoretisch). Pah! Du bist meine beste Freundin – Yeah! Glückwunsch! –, aber du bist mit Jase verlobt. Du bist Teil seiner Familie, wirst von seinen Freunden geliebt, und das bedeutet, dass ich dich teilen muss. Ich habe riesige Angst, dich zu verlieren.

Andererseits habe ich es nicht anders verdient. Jahrelang hast du dich um mich gekümmert, wie eine Mutter sich um ihr Kind kümmert. Du hast Opfer für mich gebracht. Du hast mich geliebt, wenn ich unausstehlich war, und mir geholfen, obwohl ich undankbar war und dich schlecht behandelt habe. Dir tausendmal Danke zu sagen, würde niemals ausreichen. Dir zu sagen, dass es mir leidtut, wäre zumindest schon mal ein Anfang. Du, meine liebe Schwester, bist ein Schatz. Ein Geschenk. Und ich werde es beweisen. Aber nicht, indem ich dir diesen Brief gebe.

Nein, dieser Brief wird sich selbst zerstören, nachdem ich ihn beendet habe. Denn ich will dir nicht sagen, wie viel du mir bedeutest – ich will es dir zeigen. Und das werde ich auch.

In Liebe

Jessie Kay

An einem eiskalten Dezembermorgen forderte das größte Schneechaos, das Strawberry Valley, Oklahoma, je erlebt hatte, sein erstes Opfer. Jessica Kay Dillons Stolz. Stöhnend hob die ehemalige Schönheitskönigin ihren schmerzenden Hintern vom eisglatten Gehweg und kam auf die Beine. Sie richtete den Korb, den sie dabeihatte, und blickte, während eine bitterkalte Brise an ihren Haaren zerrte, in die Schaufenster, die sich in der Nähe befanden. Keine neugierigen Blicke. Gott sei Dank!

Wenn niemand ihren unglaublichen Sturz bezeugen konnte, hatte er dann wirklich stattgefunden?

Jessie Kay schlich weiter. Stück für Stück. Vorsichtig. Langsam. Doch als sie um die Ecke bog, rutschte sie wieder aus und riss die Arme hoch, um Halt zu finden. Vergeblich. Sie fiel und landete erneut auf dem Boden. Verflucht noch mal! Sie schlug mit der Faust auf den mit einer dünnen Eisschicht bedeckten Beton. Sie würde hier draußen sterben, und es war allein seine Schuld. Lincoln West. Einer der drei Besitzer von WOH Industries.

Der blöde West und seine blöde Sandwich-Bestellung!

Sie würde nicht sagen, dass sie ihn hasste, doch im Augenblick würde sie, ohne zu zögern, den Stecker seiner lebenserhaltenden Geräte ziehen, um an der Steckdose ihr Handy zu laden. In nur sechs Monaten hatte er sich zu ihrem persönlichen Fluch gemausert.

Sie hätte auf ihre Schwester hören und die heutigen Auslieferungen absagen sollen. Brook Lynn, die Besitzerin des Cateringservice „Sie haben es sich verdient“ (Haben Sie einen stressigen Alltag? Wir speisen Sie!), glaubte daran, dass Sicherheit über finanziellen Gewinn ging. Aber nein, oh nein. Jessie Kay hatte darauf bestanden, dass sie es schaffte, auch wenn ein Sprung ohne Fallschirm aus einem Flugzeug wahrscheinlich klüger gewesen wäre als dieser Liefertrip. Und ja, gut, es gab eine Entschädigung für den Mut, sich hinauszuwagen: die atemberaubende Winterlandschaft. Das Sammelsurium unterschiedlich gestalteter Geschäfte – Gebäude im Landhausstil, Lagerhallen aus Metall, weiß getünchte Bungalows – sah aus, als wäre es mit Diamantenstaub gepudert. Aber ehrlich? „Atemberaubend“ war ihr im Moment scheißegal.

Mit den Zähnen klappernd kam sie wieder auf die Beine und stakste weiter wie ein halb erfrorener Soldat. Mittlerweile würden ein Rückzieher ihrerseits und die Rückkehr zu ihrem Wagen dem makellosen Ruf von Sie haben es sich verdient schaden. Toller Start, erbärmliches Ende. Nein danke. Und aufwärmen würde sie sich auch nicht. Die Heizung in ihrem Wagen funktionierte schon seit Jahren nicht mehr, und der Eiskratzer war ein unerlässliches Überlebensutensil. Nach Hause zu fahren, brachte auch nicht viel. Die Heizung dort gab nur Qualm von sich, und es erforderte Stoßgebete, sie in Gang zu setzen.

In einer perfekten Welt würde sie diese beiden Mängel noch heute beheben. Doch dies war alles andere als eine perfekte Welt. Und die üblichen Tränen, das Gejammer und Gefluche brachten sie auch nicht weiter. Sie brauchte Kohle. Cash. Ein weiterer Grund, weshalb sie beschlossen hatte, dem Wetter zu trotzen.

Brook Lynn, die gute Seele, bezahlte ihr einhundert Dollar die Woche, damit sie ihr half, die Bestellungen vorzubereiten und auszuliefern. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, das Geld anzunehmen. Ich schulde ihr etwas und nicht umgekehrt. Doch sie nahm es trotzdem. Es ging nicht anders. Mit Stolz ließen sich keine Rechnungen bezahlen.

Die Mittel reichten gerade aus, um die Nebenkosten und die Rückzahlung der Hypothek zu decken, die sie kurz nach dem Tod ihrer Mom auf das Haus aufgenommen hatte. Mit dem Trinkgeld konnte sie lebensnotwendige Dinge wie drei anständige Mahlzeiten pro Tag bezahlen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie erwartet, dass die Leute angesichts ihrer Anstrengungen heute mehr als nur die üblichen ein oder zwei Dollar geben würden. Aber taten sie das? Nein! Sie bekam nur das normale Trinkgeld – und eindeutige Angebote von ein paar schmierigen Männern.

Möchtest du eine kleine Pause machen, Jessie Kay? Meine Frau ist gerade bei ihrer Schwester, und meine Couch ist echt bequem …

Komm doch rein und trink ein Bier mit mir, Jessie Kay. Ich heize dich ein bisschen auf …

Einmal böses Mädchen, immer böses Mädchen.

Würden ihre Eltern noch leben – Gott sei ihrer Seele gnädig –, hätten sie bestimmt dicke Tränen der Enttäuschung wegen ihres einschlägigen Rufs vergossen. Sie hatten sie geliebt und nur das Beste für sie gewollt, auch wenn sie beide vor ihrem Tod guten Grund gehabt hatten, sie zu hassen.

Sie wäre die Erste, die zugab, dass sie manchmal auf nicht ganz so gesunde Art und Weise versuchte, diese Gründe zu vergessen.

Na ja, zumindest hatte sie bisher auf nicht ganz gesunde Art und Weise versucht, zu vergessen.

Vor ein paar Monaten wäre Brook Lynn – die Allerbeste – beinahe gestorben, und sie, Jessie Kay – die Allerschlechteste –, war zu beschäftigt damit gewesen, das Leben eines Rockstars zu führen und zu feiern, statt ihr beizustehen. Das nannte man wohl einen Weckruf. Von dem Tag an hatte sie geschworen, den Pfad der Tugend zu beschreiten. Falls ihre Schwester sie wieder einmal brauchen sollte, wäre sie da. Ohne Wenn und Aber. Amen.

Ihre Momma hatte einmal gesagt: Jeder Sturm beginnt mit einem einzelnen Regentropfen. Man sollte auch einen noch so bescheidenen Anfang wertschätzen.

Die Sache mit dem Bravsein … Garantiert hatte niemand nirgendwo jemals einen so bescheidenen Anfang erlebt.

Langsam ging sie um die nächste Ecke und war erleichtert, dass sie sich auf den Beinen hielt. Endlich erreichte sie das Bürogebäude von WOH Industries. Trotz der Kälte blieb sie vor der Tür stehen, um sich innerlich auf den zu erwartenden Kampf vorzubereiten. Er war unvermeidlich. Das war er immer.

Im Foyer wachte die ehemalige Grundschullehrerin und jetzige Empfangsdame Cora Higal mit militärischer Präzision über den Empfangstresen. Von West war nichts zu sehen. Vom umwerfenden, erfolgreichen, viel zu klugen West.

Er hatte Charme und Witz und ein freundliches Lächeln. Jedenfalls hatte er das für alle anderen übrig außer für sie.

Im Juli hatten er und seine beiden Freunde und Geschäftspartner die große böse Stadt verlassen, um in ihre Heimatstadt zu ziehen. Jessie Kay hatte vom ersten Moment an ein Auge auf den anziehenden West geworfen. Aber als er kein Interesse an ihr zeigte, hatte sie sich dem charmanten Beck Ockley zugewandt, der weitaus zugänglicher war.

Was sie zu dem Zeitpunkt noch nicht geahnt hatte? Beck war der König des One-Night-Stands. Tja, zumindest war er das gewesen, bis er Harlow Glass kennenlernte. Inzwischen war er der König der festen Beziehung. Egal. Die „Beziehung“ des Königs mit ihr, Jessie Kay, war nach einer einzigen gemeinsamen Nacht zu Ende gewesen.

Es war schön, Süße. Wir sehen uns.

Die Zurückweisung hatte geschmerzt, und sie hatte eine gute alte Selbstmitleidsorgie gefeiert, sich hoffnungslos betrunken und mit Jase geschlafen. Jase war der Hulk des Trios. Die „Beziehung“ zwischen Jase und ihr hatte jedoch auch zu nichts geführt. Genau genommen hatte Jase nicht einmal bis zum nächsten Morgen gewartet, um sie wieder loszuwerden. Er hatte eine Stunde danach quasi das sinkende Schiff verlassen.

Später hatte er sich dann mit Brook Lynn verlobt. Anscheinend musste ein Mann nur mit ihr schlafen, um seine Seelenverwandte zu finden.

West hielt sie vermutlich für eine Schlampe. Einen männermordenden Vamp. Eine Partymaus. Eine Frucht vom verbotenen Baum.

Tja, er konnte sie mal! Hatte sie immer die klügsten Entscheidungen getroffen? Nein. Sie war ständig einer Idee von Glück hinterhergejagt, das sie bei Männern zu finden hoffte und nicht in sich selbst. Wie zum Teufel sollte sie denn auch mit sich selbst glücklich und zufrieden sein? Sie hatte so furchtbare Fehler begangen, dass sie damit eigentlich im Guinnessbuch der Rekorde stehen sollte. Man musste ja nur ihre toten Eltern fragen! Doch welches Recht hatte West, sie zu verurteilen?

Laut Brook Lynn, die es aus erster Hand wissen musste, hatte West es mit Selbstmedikation versucht, hatte getrunken und Drogen konsumiert. Und seine Erfolgsbilanz bei Frauen? Jämmerlich. Er datete einmal im Jahr für zwei Monate – nicht mehr und nicht weniger – eine Frau, um sie aus irgendeinem fadenscheinigen Grund wieder abzuservieren, sobald die Zeit abgelaufen war …

Verdammt, es war zu kalt hier, um es noch länger hinauszuzögern.

Ein Glöckchen bimmelte, als sie das Gebäude betrat. Die ersehnte Wärme umhüllte sie.

Cora blickte von den Papieren auf, die sie gerade stapelte. Ihr schulterlanges schwarzes Haar wackelte hin und her. „Miss Dillon.“

„Miss Higal.“ Jessie Kay stampfte auf, um die Schneeklumpen von ihren Stiefeln zu lösen, während sie sich in der Lobby umsah und die Mischung aus „langweilig“ und „spektakulär“ in sich aufnahm. Die beigefarbenen Wände waren mit erstaunlich detaillierten Bildern von Figuren aus diversen Videospielen dekoriert, die West programmiert hatte. Auf Tischen, die sie auf jedem Garagenflohmarkt für weniger als fünf Dollar bekommen hätte, lagen glänzende Computerteile und Dinge, die aussahen, als gehörten sie zu einem Roboter.

Wie cool war das denn? Ihr inneres Kind, wahrscheinlich der reifste Teil von ihr, wollte mit einem Mal spielen.

Cora räusperte sich. „Mr. West ist …“

„… nicht überrascht, dass du zu spät kommst.“ Die Männerstimme kam aus dem hinteren Teil der Lobby, wo West am Türrahmen zu seinem Büro lehnte. „Sagen Sie mir, Miss Dillon, macht es Ihnen Spaß, andere Menschen in Sorge zu versetzen?“

Ihre Blicke trafen sich, und ein verhasstes Kribbeln erfasste Jessie Kays Körper. Für einen Moment, einen einzigen Herzschlag lang, herrschte eine solche Spannung zwischen ihnen, dass sie das Gefühl hatte, nicht richtig atmen zu können. Er war die Sonne, um die sie kreiste, ein Strudel, dem sie nicht entkommen konnte. Dann drehte er sich um, wandte ihr den Rücken zu, und sie konnte endlich wieder Luft holen. Sein Anblick war ihr jedoch ins Gedächtnis gebrannt.

Er war weit über eins achtzig groß und hatte die schlanke, durchtrainierte Figur eines Mannes, der gern Zeit im Fitnessstudio verbrachte. Einen Gegensatz dazu bildete der Nadelstreifenanzug, den er trug. Er hatte dunkles Haar und noch dunklere Augen, deren Tiefen unergründlich, mysteriös und so sinnlich wirkten, dass sie manchmal ihren Vorsatz vergaß, sich von ABBs fernzuhalten – von attraktiven Bad Boys.

Sie wünschte sich das, was ihre Eltern gehabt hatten. Das, was Brook Lynn und Jase, Harlow und Beck hatten. Sie wollte mehr. Und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie bereit, darauf zu warten. Sie gab sich nicht länger mit Resten zufrieden.

Manchmal vergessen die Leute, dass es nicht reicht, sich nur zu verlieben. Momma, die immer so weise gewesen war. Du musst den anderen auch mögen. Dein Dad … Er findet mich absolut wundervoll.

Jessie Kay hatte keinen Zweifel daran. Als sie ihrer Schwester geholfen hatte, ihre Sachen zu packen, weil sie mit Jase zusammenzog, hatten sie im Schrank ein Geheimfach gefunden. Darin waren Briefe gewesen, die ihr Vater ihrer Mutter schrieb, als sie sich kennengelernt hatten.

Wenn du lächelst, meine süße Anna Grace, sehe ich meine Zukunft in deinen Augen.

Niemand hatte bei ihrem Lächeln je so etwas erlebt, und auf keinen Fall würde West als Erster so reagieren. Was einer der vielen Gründe war, nicht mit ihm auszugehen, auch wenn sie für ihn schwärmte. Na ja, nicht für ihn, sondern vielmehr für sein Äußeres. Ja, da gab es einen gewaltigen Unterschied. Während sie liebend gern einmal mit der Zunge sein Gesicht und seinen Körper erkundet hätte, wollte sie seinem Verstand nur den Mittelfinger zeigen.

„Nun stehen Sie doch nicht einfach da und starren, Miss Dillon. Gehen Sie“, sagte Cora und riss sie damit unsanft aus ihrer Grübelei.

„Danke.“ Für nichts. Sie umklammerte den Weidenkorb ein bisschen fester und ging los.

In dem Moment, als sie die Türschwelle zu Wests Büro überschritt, schien die Temperatur um einige Grad zu steigen. In der Luft lag der Duft von Karamell. Wieder kribbelte ihre Haut, diesmal sogar noch stärker.

Er hatte das Jackett ausgezogen, saß an seinem Schreibtisch und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. Jessie Kays Blick fiel auf seine starken Unterarme mit den dunklen Härchen.

„Tun Sie nicht so, als hätten Sie sich Sorgen um mich gemacht, Mr. West.

Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, faltete die Hände vor dem Bauch und sah sie an wie eine Schlange eine Maus anstarren musste – entschlossen, angriffslustig, gierig.

Jessie Kay spürte einen Kloß im Hals und schluckte. Womöglich steckte ja etwas Sexuelles hinter diesem Blick. Ab und zu hatte sie sich gefragt, ob sie ihm rein äußerlich genauso gut gefiel wie er ihr. Vielleicht war er auch gerade gekommen und total befriedigt, weil er einen Konkurrenten ausgeschaltet hatte.

Ja. Das muss es sein.

„Bist du hier, um mir mein Essen zu bringen oder um mich anzuglotzen?“ Sein Tonfall klang belustigt.

Idiot. „Ich bin hier, um dich zu korrigieren. Du hast gesagt, ich wäre zu spät, aber da irrst du dich. Die Frühstücksbestellungen werden zwischen sieben und neun geliefert.“

„Es ist zehn Uhr sechsunddreißig.“

Ups. War es tatsächlich schon so spät? „Du hast mich nicht aussprechen lassen. Die Frühstücksbestellungen werden zwischen sieben und neun geliefert – außer an Tagen, an denen Schnee liegt. Mir steht ein zeitlicher Spielraum von einer Stunde oder so zu.“

„Noch einmal: Es ist zehn Uhr sechsunddreißig.“

„Und ich sagte: oder so.“ Als sie in seine undurchdringliche Miene blickte, fügte sie hinzu: „Hätte ich mich beeilen können, um schneller hier zu sein? Ja, bestimmt. Allerdings ist es deine Wunschvorstellung und nicht meine, dass ich hinfalle und mir das Genick breche.“

Er zeigte keine Gnade. „Da sich die Nachrichten der vergangenen Woche ständig um diesen Wintersturm gedreht haben, wusste ich, dass er über uns hereinbrechen würde, und habe etwas Revolutionäres getan: Ich habe vorausgeplant.“

Sie warf ihm ein schwaches Lächeln zu. Der Kunde hat immer recht, sagte Brook Lynn dauernd. Und sie stimmte ihr zu … Außer, der Kunde war ein Idiot. „Hätte ich vorausgeplant, dann hätte ich deine Bestellung storniert.“

„Hast du aber nicht. Also. Ich nehme an, deine Unpünktlichkeit bedeutet, dass ich das Essen umsonst bekomme.“

Sie atmete tief durch und erinnerte sich an einen weiteren weisen Rat, den ihre Mutter ihr gegeben hatte: Du kannst nicht kontrollieren, ob ein Vogel über deinen Kopf fliegt, aber du kannst sehr wohl kontrollieren, ob er in deinem Haar ein Nest baut.

Mit anderen Worten: Sie konnte nicht verhindern, dass sich bestimmte Gefühle bei ihr breitmachten. Sie konnte sich jedoch zurückhalten und nicht darauf reagieren.

Und sie musste sich auf jeden Fall zusammenreißen. Brook Lynn hatte erst kürzlich eine Wette mit ihr abgeschlossen: Die Erste von ihnen, die bei einem Wutanfall zu schreien anfing oder Dinge durch die Gegend warf, musste eine Woche lang die Kleider anziehen, die ihre Schwester ihr rauslegte.

Wie sie Brook Lynn kannte, würde sie vermutlich eine Nonnentracht tragen müssen. Furchtbar! Viel lieber würde sie ihre Schwester in einem Bikini sehen, den sie aus zwei Brustwarzen-Pasties und Schleifenband gebastelt hatte.

Im Laufe der Jahre war es zu einem Spielchen zwischen ihnen geworden, sich gegenseitig zu quälen.

„Du täuschst dich. Wie immer“, sagte sie mit einem zuckersüßen Lächeln zu West. „Außerdem ist deine Art zu denken äußerst beschränkt. Zeit ist nicht linear, sondern zirkulär.“

Das erregte seine Aufmerksamkeit. Neugierde lag in seinem Blick, als er sich aufsetzte, die Ellbogen auf dem Schreibtisch abstützte und die Finger unter seinem Kinn verschränkte.

„Erklär das bitte genauer.“

Mit Vergnügen. „Zeit hat keinen Anfang und kein Ende. Sie war immer da, wird immer da sein und niemals aufhören. Das heißt, dass Zeit ein immerwährender Kreis neuer Anfänge und neuer Enden ist.“

Seine Neugierde nahm zu und mischte sich mit … Bewunderung?

„Du willst damit sagen, dass das Konzept des Zuspätkommens …“

„… Quatsch ist.“

„… falsch ist, weil das, was jetzt ist, bald vergangen sein wird, und weil das, was vergangen ist, die Zukunft wird. Deshalb bist du – egal, was die Uhr sagt – eigentlich immer pünktlich.“

„Mir gefällt meine Erklärung zwar besser, aber ja. Und bei diesem Wetter pünktlich zu sein bedeutet, dass ich mir einen Bonus verdient habe. Heute kostet dein Sandwich fünfzig Dollar mehr als sonst.“

Schweigend betrachtete er sie. „Das ist so ziemlich die beste Ausrede, die ich je gehört habe. Ich werde dir die fünfzig Dollar geben.“

Sie verspürte Stolz, drängte diese Empfindung jedoch zurück. „Sollen wir daraus vielleicht hundert machen?“

„Warum? Hast du in dem Sandwich Crack gebunkert?“

„Nein. Aber ich habe meine seelischen Qualen dazugerechnet.“

Seine Mundwinkel zuckten verdächtig, als würde er gleich – nein, auf keinen Fall – lächeln. Doch natürlich wurde sein Blick nur noch finsterer, und er wandte seine Aufmerksamkeit der Computertastatur zu.

„Lass das Sandwich hier. Hol dir dein Geld von Cora und geh. Ich habe zu tun.“

Heiß und kalt. Süß und sauer.

Er hatte wirklich, wirklich Glück, dass sie der dunklen Seite den Rücken gekehrt hatte, sonst hätte er auf seiner nächsten Bestellung ein paar ganz spezielle Garnierungen vorgefunden.

„Ich hoffe …“ Würg! „… es schmeckt dir.“ Jessie Kay legte das mit Bacon und Marshmallows belegte Sandwich auf die Ecke des Schreibtisches, ohne ihm zu sagen, dass es dort gefährlich wackelig lag. Es war zwar in Papier eingeschlagen und geschützt, aber der Boden war der Boden, und für einen Menschen, der so pingelig war wie West, wäre das Brot in dem Moment, in dem es mit dem Boden in Kontakt käme, auf jeden Fall verdorben.

Möglicherweise reckte sie hier und da doch einmal einen Zeh hinüber auf die dunkle Seite.

„Es gibt übrigens noch ein Leben neben dem Computer“, sagte sie brummig, nur um irgendetwas Unfreundliches von sich zu geben. Er wollte, dass sie ging, also würde sie ein bisschen bleiben. „Du solltest es dir beizeiten mal ansehen.“

Er sah nicht in ihre Richtung. „Schick mir einen Link, dann schaue ich es mir an.“

Haha.

Während sie zusah, wie er auf der Tastatur herumhämmerte, dachte sie, dass es … wow, es war schwer, es zuzugeben … dass es vielleicht schön wäre, seine Freundin zu sein. Bis auf seinen merkwürdigen Spleen, die Dates zeitlich zu begrenzen, schien er sein Leben ganz gut auf die Reihe zu bekommen. Etwas, von dem sie nur träumen konnte. Er hätte ihr zum Beispiel sein Erfolgsgeheimnis verraten können.

„Du solltest etwas netter zu mir sein. Ich bin Brook Lynns Trauzeugin, und du bist Jases Trauzeuge. Ich kann es dir ganz leicht machen, den Mittelgang entlangzuschreiten, oder ich kann dafür sorgen, dass du dir wünschst, du wärst tot.“

„Das Risiko gehe ich ein.“

Dieser Kerl! Warum hasste er sie nur so?

Sie erinnerte sich noch genau an ihre erste Begegnung beim Grillfest, das die Gemeinde in jedem Jahr anlässlich des 4. Juli veranstaltete. Ihr waren die drei heißen Typen, die neben dem Stand mit dem Erdbeereis gestanden hatten, natürlich sofort aufgefallen. West hatte ihr Interesse zuerst geweckt, und als er zu ihr geblickt hatte, hatte sie gleich dieses Kribbeln am ganzen Körper verspürt. Dann hatte er sie mit seinen dunklen Augen von Kopf bis Fuß gemustert und angewidert die Lippen verzogen. Voller Verachtung! Eine Empfindung, die sie nur allzu gut kannte, weil sie sie jeden Morgen spürte, wenn sie in den Spiegel blickte.

Weil sie erwachsen war, hatte sie versucht, mit ihm darüber zu reden. Es gibt ein Problem? Lass uns eine Lösung finden. Doch er hatte sich zu Beck gewandt und gemurmelt: „Ich halt’s hier nicht länger aus.“ Als hätte ihre Anwesenheit ihm die Petersilie verhagelt und ihn runtergezogen.

Ihr sowieso schon zerbrechliches Selbstbewusstsein hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst, und sie hatte Becks Angebot, sie ein bisschen zu trösten, nur zu gern angenommen. Er hatte sie behandelt, als wäre sie der Mittelpunkt seiner Welt.

Bis am nächsten Morgen die Sonne aufgegangen war.

Toll. Jetzt wünschte sie sich nichts mehr, als aus diesem Büro zu verschwinden. Augenblicklich. „In der Lotterie geht es um einhundertdreiundachtzig Millionen Dollar. Ich muss mir ein Los kaufen.“ Sie bemühte sich, locker zu klingen, aber es kam eher verzweifelt rüber. „Wir sehen uns, West.“

„Die Lotterie ist eine Steuer für Leute, die scheiße in Mathe sind. Das ist dir klar, oder?“

„Irgendjemand muss ja gewinnen, und ich bin gut darin, die Glückliche zu sein.“

Ein Muskel zuckte unter seinem Auge. Ein Zeichen für seine zunehmende Wut. Wieso war er wütend?

„Hinter welchem Kerl bist du jetzt her?“

Wollte er damit sagen, dass sie eine Schlampe war? „Ich sage dir, hinter welchem Kerl ich her bin“, zischte sie – bis ihr wieder die Wette mit Brook Lynn einfiel.

Ach ja. Zeig ihm nicht, dass er dich getroffen hat.

Ben und Jerry. Ich hoffe, dir schmeckt dein Sandwich“, wiederholte sie. „Oder auch nicht. Ja. Oder auch nicht.“ Ohne zu lächeln, stieß sie mit der Hüfte gegen seinen Schreibtisch. Die Computerteile und die Papiere, die darauf verstreut lagen, verrutschten, und als sie zur Tür ging, hörte sie das verräterische Geräusch, das das Sandwich verursachte, als es auf den Boden fiel.

Ein Fluch hallte von den Wänden wider.

Ohne sich umzudrehen, hob sie eine Hand und winkte West noch einmal zu.

„Ich erwarte ein neues Sandwich, Jessie Kay.“

„Mal sehen, was dir deine Erwartung bringt …“

Sie musste der Gastronomie dringend den Rücken kehren. Doch vorher musste sie herausfinden, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen wollte. Abgesehen davon, West irgendwann einmal in den Magen zu boxen.

Es gab nur ein klitzekleines Problem. So klitzeklein, dass es vermutlich nicht einmal erwähnenswert war. Sie hatte die Highschool nur mit Ach und Krach abgeschlossen, war zu beschäftigt damit gewesen, Spaß zu haben, um zu studieren, und hatte keine nennenswerten Fähigkeiten, außer mit der Zunge einen Knoten in einen Kirschstängel zu machen. Wow! Als angehende Millionärin kam sie mit diesem Mangel an Talent wohl nicht sehr weit.

Cora schnalzte mit der Zunge, als sie ihr einen Zwanziger und einen Fünfziger gab. Zehn für das Sandwich, fünf für die Lieferung und weitere fünf Dollar als Trinkgeld. Außerdem die zusätzlichen fünfzig Dollar für die heutigen erschwerten Umstände.

„Sie haben uns über die Gegensprechanlage belauscht, oder?“, stellte Jessie Kay trocken fest.

„Eine gute Assistentin muss die Wünsche des Chefs vorausahnen können. Da wir gerade davon sprechen, Miss Dillon – Sie sollten etwas nachsichtiger mit ihm sein. Er hatte es in letzter Zeit nicht leicht.“

„Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie gesagt, dass er es in letzter Zeit nicht leicht hatte?“ Ach, bitte! „Ich bin eine Vollwaise, die einem undankbaren Millionär im tiefsten Schneesturm ein Sandwich bringt. Er sollte etwas nachsichtiger mit mir sein.“

Die alte Dame rollte mit den Augen. „Seine beiden Freunde sind jetzt verlobt.“

„Und? Meine Schwester und meine beste Freundin sind verlobt. Das ist ein Grund zu feiern.“ Auch wenn sie manchmal wie ein Baby weinen wollte. Sie liebte Brook Lynn und Harlow von ganzem Herzen, aber früher oder später änderte sich alles. Die Mädchen würden sich ihren Familien widmen – zu Recht natürlich –, während sie, der einzige Single, völlig in den Hintergrund trat.

Ein Teil von ihr wollte sich jetzt schon von ihnen lösen und sich zurückziehen, damit es später nicht so wehtat, doch tatsächlich wollte sie die gemeinsame Zeit bis zur letzten Sekunde auskosten. Um endlich ihre Liebe zu beweisen. „Wissen Sie …“ Kümmern Sie sich doch einfach um Ihre eigenen Angelegenheiten. „Haben Sie noch einen schönen Tag, Miss Higal.“

Sie stürmte zur Tür hinaus. Die eiskalte Luft wirkte wie eine Ohrfeige. Wie sie sich nach der nächsten Jahreszeit sehnte – der Tornadosaison –, nach der ihre Lieblingsjahreszeit kam, in der es heißer ist als in der Hölle.

Vielleicht würde sie ihrer Freundin Sunny Day eine Nachricht schreiben und irgendwo mit ihr hingehen, um etwas Dampf abzulassen … Augenblick mal. Was zur Hölle machte sie da? Wollte sie in alte Muster zurückfallen? Nein, nein und tausendmal nein.

Daniel Porter tauchte wie aus dem Nichts auf und zwang sie dazu, stehen zu bleiben.

„Jessie Kay.“

„Verschwinde. Sofort.“ Sie würde keine Beleidigungen von einem weiteren Mann erdulden. Und dieser Mann würde sie ganz sicher beleidigen. Sie waren einmal kurz zusammen gewesen, und die Trennung war nicht gerade freundschaftlich verlaufen.

„Tut mir leid, aber ich bin genau dort, wo ich sein will.“

Er war ein echter Sturkopf. Allerdings war er ein Army Ranger, also musste er das wohl auch sein.

Vor ein paar Monaten war er aus dem Ausland zurückgekehrt und hatte sie ziemlich schnell um ein Date gebeten. Sie hatte sofort Ja gesagt. Er war ein gutaussehender Mann mit dunklen Haaren und smaragdgrünen Augen. Er hatte den Körper eines Kämpfers und die distanzierte Haltung, bei der eine (verrückte) Frau sich wünschte, diejenige zu sein, die ihn zähmte.

Recht bald hatte sie erkannt, dass er direkt mit ihr ins Bett wollte – kein Dinner, kein Kino, nichts dergleichen. Und sie hatte den Eindruck gehabt, dass er so schnell wie möglich verschwunden sein würde, wenn sie miteinander geschlafen hätten. Also hatte sie Abend für Abend auf einem gemeinsamen Essen oder einem Kinobesuch bestanden und ihn zum Abschied nur geküsst. Irgendwann hatte er die Sache beendet. Doch statt ehrlich zu seinen Gründen für die Trennung zu stehen, hatte er ihr die Schuld gegeben, weil sie noch immer Zeit mit Jase und Beck verbrachte, mit denen sie einmal geschlafen hatte. Als würde sie darauf warten, dass Brook Lynn und Harlow sich von ihnen trennten, damit sie einen weiteren Versuch bei den Männern starten konnte.

„Gut. Dann gehe ich eben aus dem Weg.“ Sie machte einen Schritt zur Seite, aber er war es gewohnt, sich mit Feinden auseinanderzusetzen, und machte den Schritt einfach mit.

„Ich möchte mich dafür entschuldigen, wie ich dich behandelt habe“, sagte er.

Sie blieb erschrocken stehen.

„Dafür, wie die Sache zwischen uns geendet hat.“

War das etwa tatsächlich eine Entschuldigung? Das hatte es noch nie gegeben. Nach ihrer kleinen Begegnung mit West war das Balsam für ihre geschundene Seele. Außer …

„Ist das ein Trick, um mich ins Bett zu locken?“

„Nur zum Teil.“

Sie verzog den Mund zu einem Grinsen, und etwas von ihrer Starre löste sich. „Deine Ehrlichkeit verdient eine Belohnung. Ich verzeihe dir. Zum Teil.“

„Gut. Willst du mit mir essen gehen?“

„Was?“

„Dinner. Mit mir. Danach bringe ich dich nach Hause, wo wir uns mit einem Handschlag voneinander verabschieden.“

Hatte er sie gerade … um ein Date gebeten? Ein richtiges Date? Und er wollte tatsächlich nur essen gehen? „Ich will nicht … Ich kann nicht …“

„Ich vermisse dich. Ich hatte viel Spaß mit dir, und Spaß ist etwas, das ich schon sehr lange nicht mehr hatte. Mich von dir zu trennen, war ein dummer Fehler.“

Das waren Worte, die wohl jedes Mädchen gern gehört hätte. Und ein Teil von ihr wollte seine Einladung sofort annehmen. Jedes Zusammentreffen mit West verletzte ihren Stolz. Sie fühlte sich danach immer angeschlagen und glaubte, kein Happy End zu verdienen. Mit diesem Gefühl kämpfte sie schon seit dem Tod ihres Vaters. Und es war noch schlimmer geworden, seit ihre Mutter gestorben war … und sie Fehler um Fehler begangen hatte. Inzwischen waren es so viele Verwerfungen, dass sie dem San Andreas-Graben Konkurrenz machen konnte.

„Ich werde ganz ehrlich sein, Daniel. Ich habe kein Interesse an dir als Mann.“ Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie zu jedem Mann, der mit ihr ausgehen wollte, Ja gesagt hatte. Er will mich, also muss ich ihm etwas bedeuten. In seinen Augen bin ich wertvoll. Es war ein Hochgefühl gewesen. Doch dieses Hochgefühl war nie von Dauer, und es hatte immer damit geendet, dass sie sich auf die Jagd nach einem neuen Hochgefühl begeben hatte.

Bessere Entscheidungen, besseres Leben.

„Aber“, fügte sie hinzu, „ich könnte mir vorstellen, einfach mit dir befreundet zu sein.“

„Ich hatte noch nie einen weiblichen Kumpel. Vor allem keinen, der so heiß war wie du.“

„Tja, ich hatte auch noch nie einen Kumpel, der so heiß war wie du. Wir könnten uns gemeinsam an diese Vorstellung gewöhnen.“

Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Also gut. Für dich, Jessie Kay Dillon, bin ich bereit, es auszuprobieren.“

Für sie. Als wäre sie etwas Besonderes.

Mann. Vorhin hatte sie noch mit dem Gedanken gespielt, auszugehen und alles zu vergessen, und jetzt schwebte sie einen Meter über dem Boden, weil ein Typ ihr ein Kompliment gemacht hatte. Nein, mein Selbstwertgefühl ist überhaupt nicht abhängig von anderen Menschen.

Sie hob ihr Kinn. „Großartig. Aber tu uns beiden einen Gefallen und vergiss nicht, dass wir das hier nur zur Probe machen. Wenn du es vermasselst, bist du raus. Und zwar endgültig.“

2. Kapitel

Lincoln West hätte beinahe mit der Faust durch die Wand geschlagen. Als er aus dem Fenster im Foyer sah und beobachtete, wie Jessie Kay sich mit Daniel Porter unterhielt, war der Zorn in ihm wie ein feuerspeiender Drache, der ihn rastlos umtrieb. Jessie Kay und Daniel Porter hatten schon einmal etwas miteinander gehabt. Der Mann war jünger als er und sogar jünger als Jessie Kay. Was zur Hölle hatten die zwei nur zu besprechen? Mussten bei Daniel die Windeln gewechselt werden? Oder diskutierten sie die neueste Entwicklung in der Schnuller-Technologie?

Trafen die beiden sich wieder? So, wie Daniel sie angrinste …

Ein Laut wie von einem Tier kam West über die Lippen und überraschte ihn. Es war ihm doch eigentlich vollkommen egal, mit wem Jessie Kay sich traf. Ja, sie war die fleischgewordene Versuchung, eine Südstaatenschönheit mit der Zunge einer Schlange, einem messerscharfen Verstand und einem Mut, der seinem glatt Konkurrenz machte. Ja, mit ihrem brillanten Konzept der Zeit hatte sie ihn umgehauen. Aber es spielte keine Rolle. Sie war tabu – und das machte sein Verhalten nur noch unlogischer.

Er hatte gewusst, dass sie sich vom Wetter nicht davon abhalten lassen würde, die Sandwich-Bestellungen auszuliefern. Also war er am Morgen mit seinem Wagen zu ihrem Haus gefahren und hatte dort, versteckt hinter einer Schneewehe, auf sie gewartet. Dann war er ihr in die Stadt gefolgt, um sicherzugehen, dass sie in einem Stück ankam, und während sie die Leckereien in ihrem Korb verteilte, hatte er in seinem schönen warmen Büro gesessen, auf die Uhr gestarrt und beinahe eine Panikattacke bekommen, als sie nicht zu einer vernünftigen Zeit aufgetaucht war.

Er hatte eigentlich geplant, ihr nach Hause zu folgen, sobald sie das Büro verlassen würde. Jetzt hatte Daniel die Ehre.

„Ich kenne das Mädchen, seit es die dritte Klasse aufgemischt hat.“ Cora stapelte einige Papiere. „Jessie Kay hatte immer Schwierigkeiten, weil sie im Unterricht geredet hat, war immer unpünktlich, aber sie war auch immer gutherzig. Wenn irgendjemand einen schlechten Tag hatte, war sie die Erste, die ihren Trost anbot und die Süßigkeiten, die ihre Mutter ihr in die Lunchbox gepackt hatte.“

Er wünschte, er hätte Jessie Kay schon damals gekannt, er wäre das Kind gewesen, das sie getröstet hätte, das Kind, das die Süßigkeiten von ihr bekommen hätte. Vielleicht wären sie Freunde geworden. Im Laufe der Jahre hatte er nur wenige Freunde gehabt. Verdammt, abgesehen von Jase und Beck, die er in der Pflege kennengelernt hatte, war er allein gewesen.

Buhu. Armes Baby.

„Kein Wort mehr über sie“, knurrte er und kehrte zurück in sein Büro.

Er konnte es sich nicht leisten, Jessie Kay zu mögen. Er … es ging nicht. Es waren zu viele Gefühle im Spiel. Einige von ihnen gut – zu gut – und viele von ihnen schlecht.

An dem Tag, als er sie kennengelernt hatte, hatte er an Tessa gedacht. Tessa war die einzige Frau gewesen, die er je geliebt hatte. Die Frau, die er verloren hatte. Er hatte ihr versprochen, eine Abschlussparty für sie zu organisieren, eine „Herzlichen Glückwunsch zum Abschluss!“-Party. Doch er hatte es vergessen. Statt ihre Freunde im mit Ballons geschmückten Haus zu treffen und Blumen zu bekommen, hatte sie ihn vorgefunden, zugedröhnt, schales Dosenbier, Reste einer kalten Pizza.

Sie war in Tränen ausgebrochen und mit dem Auto geflüchtet. Ein paar Stunden später hatte er erfahren, dass sie einen Unfall gehabt hatte und sofort tot gewesen war.

Der Flashback hatte ihn durcheinandergebracht. Es hatte keinen Grund gegeben, an die tragische Geschichte zu denken.

Jessie Kay hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Tessa. Die beiden waren genau genommen so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Tessa war klein und schlank gewesen und hatte dunkle Haare und dunkle, mandelförmige Augen gehabt, die ein Hinweis auf ihren multikulturellen Hintergrund gewesen waren. Jessie Kay dagegen war großgewachsen und kurvig, hatte blondes Haar und blaue Augen, in denen immer ein so hitziger Ausdruck lag, dass man das Gefühl hatte, jeden Moment in Flammen aufzugehen.

Jessie Kay war Tessa nur in einem Punkt ähnlich: Sie war sehr hübsch. Und, ehrlich gesagt, war sie die einzige Frau auf der Welt, die es mit einem einzigen Blick schaffte, seinen Blutdruck in die Höhe zu treiben, so wie es Tessa immer gelungen war.

Wenn er nüchtern gewesen war, hatte er Tessa wie eine Königin behandelt. Inzwischen war er immer nüchtern, Jessie Kay behandelte er jedoch so, als wäre sie der Zugang zur Hölle. Nicht absichtlich. Oder vielleicht doch absichtlich. Als er sie zum ersten Mal sah, wollte er sie mit einer Intensität, dass es ihm Angst gemacht hatte, aber sie hatte mit Beck und dann auch noch mit Jase geschlafen.

Jetzt bin ich dran.

Dieser Gedanke – ein Gedanke, den er schon oft gehabt hatte – machte ihn wütend. Es gab keinen Grund, der so überzeugend gewesen wäre, dass er böses Blut zwischen sich und seinen Freunden riskiert hätte. Nicht, dass es einen seiner Freunde interessieren würde, ob er etwas mit Jessie Kay anfinge oder nicht. Eigentlich ermunterten sie ihn sogar täglich, endlich einmal die Initiative zu ergreifen. Sie mochten Jessie Kay. Das Problem war er. Wenn er sie bekommen würde – diese Frau, die ihn manchmal in seinen Träumen verfolgte –, würde er es seinen Freunden dann übelnehmen, dass sie ihm zuvorgekommen waren?

Allein diese Möglichkeit hielt ihn schon davon ab, etwas zu unternehmen. Es machte ihn noch wütender als der Gedanke, dass nun er „dran war“. Er würde nicht zulassen, dass irgendetwas zwischen ihn und seine Jungs trat.

West warf das kontaminierte Sandwich in den Mülleimer, ließ sich mit einem Knurren in seinen Schreibtischsessel fallen und lockerte die Krawatte, die ihm die Luft zum Atmen abschnürte. Wenn ein Nahrungsmittel auf dem Boden gelegen hatte, konnte er es nicht mehr essen. In einer der Pflegefamilien, in denen er gelebt hatte, hatte der Vater es urkomisch gefunden, die Kinder, die er in Pflege genommen hatte, mit auf dem Rücken gefesselten Händen vom dreckigen Linoleumfußboden essen zu lassen.

Gewöhn dich daran, Junge. Einige Menschen haben nichts Besseres verdient.

Nicht alle Pflegefamilien waren schlimm gewesen. Die meisten Familien waren ziemlich anständig gewesen und hatten ihm ein besseres Leben geboten, als er es bei seiner Mom gehabt hätte. Della hatte ihn nie schlecht behandelt und hatte ihn vielleicht sogar geliebt, doch ihr Heroin hatte sie noch mehr geliebt.

Es klopfte. Er blickte auf und sah Beck in der offenen Tür stehen.

Der über einen Meter achtzig große selbst ernannte Sexgott kam ins Büro und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Er hatte Schneeflocken im Haar. Das Weiß der Flocken verlieh seinen goldblonden und braunen Strähnen zusätzliche Tiefe.

Beck nahm seinen Kaschmirschal ab und schlüpfte aus seinem Mantel. „Ich habe auf dem Weg ins Büro Jessie Kay und Daniel Porter gesehen. Geht es dir gut?“

Er wünschte, seine Freunde wüssten nichts über seinen innerlichen Kampf – dass er Jessie Kay zwar wollte, aber nicht wollte, dass es so war. „Mir geht es gut.“

„Tja, könntest du mir einen Gefallen tun und das auch deinem Gesicht mitteilen? Du siehst aus, als hättest du eine schlimme Verstopfung.“

„Hast du es noch nicht gehört? Verstopfung ist das neue Schwarz. Alle coolen Kids machen das heutzutage – oder machen es eben nicht.“

Beck prustete los. Seine braunen Augen funkelten. Leider hielt die Belustigung nicht lange an.

„Ernsthaft, Mann. Geht es dir gut?“

Der Typ machte sich wirklich Sorgen um ihn. Das war nichts Neues. Wenn er ehrlich war, musste West einräumen, dass er sich selbst Sorgen um sich machte.

Als Kind hatte er geschworen, nicht so zu werden wie seine Mutter. Und den Großteil seiner Jugend über war ihm das auch gelungen. Er hatte Drogen und Alkohol wie seine schlimmsten Feinde behandelt. Dann war Jase für ein Verbrechen ins Gefängnis gesteckt worden, das er und Beck mit ihm zusammen begangen hatten, und er hatte der Realität entfliehen wollen. Nur für eine Weile. Kokain ist kein Heroin. Das hatte er sich zumindest eingeredet. Immer und immer wieder …

Nach Tessas Tod hatte der Höhepunkt seines Tages darin bestanden, von jeder glatten Oberfläche, die er finden konnte, eine Line zu ziehen – um dann am nächsten Morgen in seiner eigenen Kotze aufzuwachen.

Irgendwann hatte er auch sein Stipendium am Massachusetts Institute of Technology verloren. Noch ein Grund, high zu werden. Er hatte sich selbst enttäuscht. Doch was viel schlimmer war: Er hatte seine Freunde enttäuscht. Jase hatte die Verantwortung für das Verbrechen übernommen, sodass er zur Schule gehen, einen Abschluss schaffen und etwas aus seinem Leben machen konnte. Beck hatte Jahre damit zugebracht, ihn dazu zu bringen, die Finger von den Drogen zu lassen und clean zu werden.

Selbst jetzt waren die Schuldgefühle zu groß, um sie abzuschütteln.

Am schlimmsten hatte er Tessa im Stich gelassen und enttäuscht. Und er hatte sogar seine Mom enttäuscht. Als er endlich clean und in der Lage gewesen war, ihr bei ihren Schwierigkeiten helfen zu können, war es zu spät. Sie war schon tot gewesen. Eine Überdosis zu viel.

„Keine Sorge. Ich werde keinen Rückfall bekommen. Ich fühle mich zu Jessie Kay hingezogen, aber ich bin nicht verliebt in sie.“ Er würde sich nie wieder erlauben, so viel für jemanden zu empfinden.

„Warum nicht? Sie hat alles, ist eine Dame in der Küche und eine Wildkatze …“

„Halt den Mund“, presste West zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„… in allen anderen Bereichen.“

Beck hatte in angespannten Situationen schon immer auf zwei Arten reagiert: Entweder hatte er gestichelt oder er hatte gespöttelt.

„Warum? Was, dachtest du, würde ich sagen?“

Nimm es ihm nicht übel. „Wenn sie so supertoll ist, wieso hast du dich dann nicht in sie verliebt?“

„Das ist eine Gefahr dabei, zu früh mit jemandem ins Bett zu gehen.“ Beck zuckte die Achseln. „Man findet später heraus, dass es besser ist, nur befreundet zu sein. Ansonsten ist sie nicht Harlow.“

Sie war auch nicht Tessa. Und diese Unterhaltung war jetzt beendet. „Also gut. Falls ich den heutigen Alkoholtest bestanden habe, würde ich dann jetzt weiterarbeiten.“

„Es freut mich, dir verkünden zu können, dass du den Alkoholtest bestanden hast. Beim Arschlochtest bist du allerdings durchgefallen.“

„Nicht das. Alles, nur das nicht!“ West hob mit übertrieben verzweifelter Miene eine Faust gen Decke. „Warum? Warum ich?“

„Und jetzt bist du auch noch durch den Idiotentest gerasselt. Wo ist mein Dankeschön dafür, dass ich trotz des Wetters hier aufgetaucht bin, weil ich weiß, dass mein bester Freund ein Workaholic ist und ausgerastet wäre, wenn ich vorgeschlagen hätte, heute wegen Eis und Schnee einen freien Tag einzuschieben?“

„Hier.“ West zeigte ihm den Mittelfinger. „Hier ist dein Dankeschön.“

Grinsend erhob Beck sich und sammelte seine Sachen ein. „Herzerwärmend. Ich bin dann in meinem Büro, falls du mich brauchst.“

Wieder allein musste West sich eingestehen, dass er trotz seiner scheinbaren Unbeschwertheit in keiner guten Verfassung war. Könnte er einen echten Drogentest bestehen? Könnte er der Versuchung widerstehen?

Mal sehen.

Er schloss die unterste Schublade seines Schreibtisches auf und zog sie auf. Sein Blick fiel auf die Flasche Whiskey. Er strich mit einer Fingerspitze über das kühle Glas.

Trink mich. Der Whiskey schien mit ihm zu sprechen. Nur einen Schluck. Ich werde dir helfen, dich zu entspannen.

Wie wahr diese Worte doch waren. Aber West wusste, dass die Entspannung nur für einen kleinen Moment anhalten würde. Danach würde er wieder in seine schlechte Laune zurückfallen und noch einen Drink brauchen … Und später würde er sich dem Kokain zuwenden. Das war sein Fluch. Der Dämon in ihm.

In den Zeiten seiner Abhängigkeit hatte es viele Morgen gegeben, an denen er auf der Suche nach Geld durch die Wohnung getigert war. Er hatte in den Ritzen zwischen den Couchkissen, in der Waschmaschine oder im Trockner nach Geldscheinen gesucht. Wenn er nichts gefunden hatte, war er in Becks Zimmer geschlichen, um dort die Schubladen der Kommode zu durchwühlen. Seine Verzweiflung war stärker gewesen als seine Scham.

Er hatte Stoff gebraucht, und zwar dringend, aber ohne Geld hätte er von seinem Dealer nur ein müdes Lächeln bekommen. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, das zu tun, was seine Mutter getan hatte, um sich ihre Drogen zu finanzieren …

Er strich sich übers Gesicht und versuchte zu vergessen … Das werde ich niemals vergessen. Seine Mutter hatte ihren ebenfalls drogenabhängigen Freunden damals erlaubt, alles mit ihrem Körper anzustellen, was sie wollten, solange sie dafür ihre Drogen mit ihr teilten. Manchmal hatte sie ihren Körper sogar an Fremde verkauft. An jeden, der ein paar Dollar übrig gehabt hatte.

Ein Kerl …

Du kannst mich Onkel Sam nennen.

West erschauderte. Wenn Sam mit Della fertig gewesen war, hatte er nach ihm gesucht. West hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als sich in Schränken, unter seinem Bett oder sogar im Mülleimer zu verstecken. Manchmal war es ihm gelungen, nicht entdeckt zu werden. Doch hin und wieder war er gefunden worden.

Die Tatsache, dass er je mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, seinen Körper zu verkaufen …

Er schüttelte den Kopf, um die quälenden Erinnerungen zu vertreiben. Seine Selbstverachtung blieb.

„Trinken steht nicht auf meinem Terminplan.“ Mit Nachdruck machte er die Schublade zu, schloss sie ab und atmete bewusst ein paar Mal tief durch. Er hielt sich immer an seinen Zeitplan. Eine Angewohnheit, die er in der Entzugsklinik angenommen hatte. Eine feste Struktur hielt das Chaos – einen Auslöser – in Schach. Jede Aufgabe auf dem Plan war ein winziger Schritt, der Zeit und Aufmerksamkeit erforderte und der ihm dadurch Stück für Stück half, einen weiteren Tag als nüchterner, cleaner Mann zu überstehen.

Zu viele dunkle Flecken auf meiner Seele.

Da er gerade an seinen Terminplan dachte … fünf kleine Worte starrten ihn vom Display seines Handys aus an: Jessie Kay nach Hause folgen.

Warum hatte er eine so undankbare Aufgabe eingetragen?

Weil es ihm gefiel, wie zartes Rot ihre sonnengebräunte Haut überzog, wenn sie wütend wurde? Weil es ihm gefiel, was für bissige Worte ihr über die Lippen kamen? Lippen, die er gern einmal schmecken würde. Weil es ihm gefiel, wie sein Herz jedes Mal schneller schlug, wenn sie einen Raum betrat? Weil ihm jeder Schlagabtausch mit ihr gefiel?

Weil er nicht wollte, dass dieser Wahnsinn aufhörte?

Idiot! Trottel! Ein Mann konnte süchtig nach einer Frau wie ihr werden. Vor allem ein Mann wie er. Dennoch nahm er das Telefon in die Hand und drückte die Kurzwahltaste, die ihn mit Beck verband.

„Ich bin mal kurz unterwegs.“

Am Samstagmorgen zog West seine Laufshorts und ein T-Shirt an, auf dem Goal Scouts stand. Während der Fußballsaison – von März bis Oktober – trainierte er ein Team von unterprivilegierten Kids. In der Nebensaison spielte er mit den großen Jungs in der Halle. Eine großartige Form der Therapie.