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Harald Schneider

Mordsgrumbeere

Palzkis 13. Fall

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © leungchopan / Fotolia.com, © goir / Fotolia.com, © gradt / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5106-5

Gedicht

Jetzt schlägt deine schlimmste Stunde,

Du Ungleichrunde,

Du Ausgekochte, du Zeitgeschälte,

Du Vielgequälte,

Du Gipfel meines Entzückens.

Jetzt kommt der Moment des Zerdrückens

Mit der Gabel! – Sei stark!

Ich will auch Butter und Salz und Quark

Oder Kümmel, auch Leberwurst in dich stampfen.

Musst nicht so ängstlich dampfen.

Ich möchte dich doch noch einmal erfreun.

Soll ich Schnittlauch über dich streun?

Oder ist dir nach Hering zumut?

Du bist so ein rührend junges Blut.

Deshalb schmeckst du besonders gut.

Wenn das auch egoistisch klingt,

So tröste dich damit, du wundervolle

Pellka, dass du eine Edelknolle

Warst, und dass dich ein Kenner verschlingt.

Abschiedsworte an Pellka von Joachim Ringelnatz

Prolog

»Eines Tages bring ich sie um!«

Bauer Ewald fluchte mit krebsrotem Gesicht, während er in der Scheune wütend eine Kanne mit Pfefferminztee an seinen Lanz Bulldog Baujahr 1937 schleuderte. Mit einem Scheppern zerbarst diese an der hinteren Stahlfelge.

»Lange spiele ich da nicht mehr mit.« Er verpasste den Resten der Kanne einen Tritt, der sie in Richtung Holzlager fliegen ließ. Zitternd setzte sich Ewald auf einen Holzklotz, den er zum Holzspalten benutzte, und vergrub sein schweißnasses Gesicht in den schwieligen Händen.

Ewald Butzenhauer hatte ein Problem: Es hieß Dorothea und war seit mehr als 20 Jahren seine Frau. Wenige Tage vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatten sie geheiratet. Damals konnte er sein Glück nicht fassen. Er, der schon immer etwas grobschlächtige Typ, war hässlich. Alle anderen Beschreibungen wären nur Beschönigungen, wie er sich bereits im Jugendalter eingestehen musste. Dass ausgerechnet die damals bildhübsche Dorothea seinem Charme erlegen war, konnte in dem kleinen Dorf Rheingönheim, das ein Jahr vor der Hochzeit in Ludwigshafen eingemeindet wurde, niemand verstehen, selbst Ewald nicht. Er hütete sich davor, das Motiv seiner Frau zu hinterfragen, damit sie nicht im letzten Moment absprang.

Mit der Heirat kam Ewald nicht nur seiner Traumfrau Dorothea näher, sondern auch einem Bauernhof in der Rheingönheimer Hauptstraße nebst vielen Hektar Äckern westlich und nördlich von Rheingönheim. Ewald selbst brachte nur das in die Ehe ein, was er auf dem Leib trug. Als Tagelöhner, der in einem winzigen Hinterzimmer über dem Braustübel der Rheingönheimer Weizenbierbrauerei mehr hauste als wohnte, war es ihm in den fünf Jahren seines bisherigen Arbeitslebens nicht gelungen, Ersparnisse zu bilden, woran auch die Kneipe unter seinem Zimmer beitrug.

Das eine oder andere Mal hatte er als Tagelöhner seinem zukünftigen Schwiegervater bei der Ernte geholfen. Er vermutete, dass er dem alten Herrn mit seiner Arbeit dermaßen imponiert hatte, dass er seine Tochter mit ihm verkuppelte. Ob dies freiwillig oder unfreiwillig geschah, war Ewald egal. Dorothea ließ sich jedenfalls nichts anmerken.

Sogar eine kleine Hochzeitsreise in den Schwarzwald war geplant. Der Kriegsbeginn machte dem jungen Paar einen Strich durch die Rechnung. Ewald, der mit Hitler und den Nazis nichts am Hut hatte, rechnete täglich mit seiner Einberufung. Wenige Wochen nach der Hochzeit kam ihm der Zufall zu Hilfe: Sein Schwiegervater, mit dem er sich sehr gut verstand, erlitt während eines abendlichen Zechgelages einen Schlaganfall. Halbseitig gelähmt wurde er zum Pflegefall. Ewalds Schwiegermutter, die ihn noch nie leiden konnte, gab ihm die Schuld an dem Schlaganfall, da beide an dem Abend gemeinsam in der Weezebeez, wie das Braustübel genannt wurde, gezecht hatten.

Während Dorothea das Schicksal gefasst aufnahm und mithalf, den Vater zu pflegen, war Ewald von einem Tag auf den anderen auf sich alleine gestellt: Der landwirtschaftliche Betrieb musste weiterlaufen. Vorarbeiter gab es keine, alles hatte sein Schwiegervater mithilfe von Tagelöhnern und einer knappen Handvoll festangestellten Arbeitern selbst organisiert.

Anfangs klappte dies überraschend gut. Das Federvieh behielt er, während die Schweinezucht aufgegeben wurde. Die Feldarbeit war für dieses Jahr im Großen und Ganzen erledigt. Nun konnte er sich zum ersten Mal näher mit der Immobilie, die, wie er zu diesem Zeitpunkt dachte, früher oder später seiner Frau und ihm gehören würde, beschäftigen. Das Anwesen nebst Scheune war heruntergewirtschaftet und stellenweise baufällig. Je näher sich Ewald mit dem Gebäudekomplex befasste, desto deprimierter wurde er. Selbst die Gerätschaften und der überschaubare Fuhrpark hatten schon bessere Zeiten erlebt, manches stammte aus dem 19. Jahrhundert. Nur der neue 37er Lanz Bulldog stach aus diesem halbverrotteten Ensemble heraus.

Gleich im nächsten Frühjahr, wenn der Krieg vorbei sein würde, länger als ein halbes Jahr würde er bestimmt nicht dauern, müsste er mit dem Erneuern und dem Renovieren des Anwesens beginnen. Er wusste nur noch nicht, wie er seine Schwiegermutter, den alten Besen, davon überzeugen konnte, dafür die Ersparnisse zu opfern.

Das Frühjahr 1940 kam, und ein Ende des Krieges war nicht abzusehen. Während auf den Äckern immer mehr Personal benötigt wurde, wurde dieses reihenweise eingezogen. Die Knappheit an Arbeitern machte Ewald zu schaffen, zumal er immer noch mit seiner eigenen Einberufung rechnete.

Eines Tages, wieder hatten sich drei Arbeiter auszahlen lassen, da sie an der Westfront benötigt wurden, stritt er sich wie fast täglich mit seiner Schwiegermutter. Diese hatte gerade ihren Mann gefüttert, der im Obergeschoss vor sich hinvegetierte. Das bereits öfters vorgebrachte Argument, in den Bauernhof zu investieren, quittierte sie mit einer saftigen Ohrfeige. Wutentbrannt schubste Ewald sie zurück. Daraufhin verlor sie das Gleichgewicht und stürzte mit einem mörderischen Radau rücklings die steile Stiege hinab.

Da Dorothea zu diesem Zeitpunkt bei den Nachbarn weilte, gab es keine weiteren Zeugen. Der hinzugerufene Arzt war an diesem Sturz völlig desinteressiert und füllte bei einem Gläschen Himbeergeist sogleich den Totenschein aus.

Fortan musste sich Dorothea alleine um ihren Vater kümmern. Ewald wurde vom Kriegsdienst freigestellt, um die Versorgung der Bevölkerung mit Grumbeeren, wie man die Kartoffeln nannte, sicherzustellen. Die Arbeit war mühsam, da er als Gehilfen nur ein paar Kriegsversehrte akquirieren konnte.

Im Herbst 1941, die Ernte war eingefahren, entledigte er sich nach einem Zechgelage seines Schwiegervaters. In Ewalds Augen band seine Versorgung die Arbeitskraft seiner Frau, die dringend benötigt wurde. Nachdem Dorothea ihrem Vater den Abendbrei verabreicht hatte, der ohne ihr Wissen mit einem Gemisch aus grünen Knollenblätterpilzen angereichert war, achtete Ewald genau darauf, die Reste des Mahles zu entsorgen.

Der am nächsten Morgen einsetzende Brechdurchfall war für den halbseitig Gelähmten äußerst schmerzhaft, aber erst der Anfang des Endes. Nach zwei Tagen ging es ihm kurzzeitig sogar wieder besser, doch nach neun Tagen versagte seine Leber endgültig. Der Nachweis einer Vergiftung war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu erbringen, zumal der Arzt, es war der gleiche wie beim Tod seiner Schwiegermutter, ohne richtig hinzusehen, eine natürliche Todesursache bescheinigte.

Während seine Frau trauerte, freute sich Ewald über das Erbe. Allerdings stellte sich bald heraus, dass die Verstorbenen bereits vor der Hochzeit das Anwesen auf Dorothea übertragen hatten. Dorothea war Alleinerbin, damit musste sich Ewald wohl oder übel arrangieren.

Das Leben auf dem Hof ging trotz widriger Umstände seinen Weg. 1943 wurde der Lanz Bulldog eingezogen. Im Gegenzug erhielt Ewald ein Kontingent polnischer Fremdarbeiter, wie die Kriegsgefangenen hießen, zugewiesen.

Einem glücklichen Umstand hatte Ewald es zu verdanken, dass er 1949 seinen Traktor fast unbeschädigt zurückerhielt. Kurz nach der Beschlagnahmung des Bulldogs wurde er in einer Scheune im Ludwigshafener Stadtteil Hemshof zwischengelagert. Wenige Nächte später wurde die Scheune und die umliegenden Gebäude ein Opfer der Bombardierung. Erst bei der Schuttbeseitigung sechs Jahre später entdeckte man den verdreckten, aber fahrbereiten Traktor wieder.

Die Nachkriegszeit gestaltete sich ebenso hart wie die Jahre zuvor. Arbeitskräfte waren nach wie vor Mangelware, und zu allem Überdruss wurden im Zuge der technischen Modernisierung, wie man es Anfang der 50er Jahre nannte, zahlreiche Äcker neu verteilt, um dem stark zunehmenden Autoverkehr die benötigten Überlandstraßen zu bauen. Bereits vorher besaß Ewald kleinere Parzellen, die sich auf mehrere Gemeinden des Landkreises Ludwigshafen verteilten. Fortan war es für ihn noch zeitaufwendiger, die weiter entfernten Felder zu bestellen.

Dorothea hatte sich längst mit ihrem Schicksal abgefunden. Trotz aller Mühsal des täglichen Lebens gelang es ihr als eine der ersten in der Vorderpfalz, einen kleinen Hofverkauf mit eigenen Produkten zu etablieren. Eine genossenschaftliche Angliederung hatte ihr Mann stets abgelehnt.

1960 sahen die beiden das erste Mal Licht im Tunnel. Die Ernte übertraf bei Weitem die Erwartungen, und es gelang ihnen, eine kleine Lebensmittelkette in Südhessen zu überzeugen, fast das komplette Erntegut zu einem guten Preis abzunehmen. Leider war aufgrund diverser Qualitätsmängel das Geschäft bereits ein Jahr später wieder Vergangenheit.

In der Euphorie des Vorjahres war Dorothea schwanger geworden. Lange vor der Geburt eskalierten die ehelichen Beziehungen, was nicht nur daran lag, dass Ewald mit Geld nicht umgehen konnte und den einen Teil des Gewinnes in die Wirtschaft getragen und die andere Hälfte in die Anzahlung eines Mittelklassewagens gesteckt hatte. Der weit wichtigere Grund lag in dem unbestimmten Geschlecht des Nachwuchses. Während Dorothea von einem Mädchen träumte, war Ewald auf einen Stammhalter dermaßen fixiert, dass er mehr als einmal wüste Beschimpfungen gegenüber seiner hochschwangeren Frau aussprach.

Größere Gewalttätigkeiten hatte Ewald sich seiner Frau gegenüber bisher nicht zu Schulden kommen lassen, die vielen kleinen Nadelstiche verschärften den Ehezwist langsam, aber sicher.

Genau zu dieser Zeit passierte es: Bauer Ewald fuhr mit seinem Traktor auf einer der kleineren Parzellen weit ab von Rheingönheim, als plötzlich das linke Vorderrad einbrach. Wütend brachte er die Maschine zum Stehen. Zu Beginn dachte er an einen überdimensionierten Kaninchenbau, wie es sie im direkt benachbarten kleinen Kieferwäldchen massenhaft gab. Während er sich die Situation betrachtete und überlegte, wie er seinen Traktor ohne fremde Hilfe aus dem Loch herausbekommen könnte, stutzte er. Mit wenigen Handgriffen löste er einen metallenen Gegenstand aus der Ackerkrume. Für eine Hinterlassenschaft des Weltkrieges war er zu alt. Nachdem Ewald den Gegenstand notdürftig gesäubert hatte, erkannte er die Schneide eines Beils. Die Form hatte allerdings nur wenige Ähnlichkeiten mit den Werkzeugen, die Ewald kannte. Auch wenn es für ihn eine intellektuelle Herausforderung war: Er deutete seinen Fund korrekt. Das Beil musste aus Bronze sein, was auf eine keltische Herkunft schließen ließ.

Statt seinen Fund zu melden, ging Ewald mit dem wenigen Werkzeug, das er zur Verfügung hatte, an die Arbeit und untersuchte die Grube. Woher der Hohlraum auf einmal kam, konnte Ewald nicht wissen. Er war viel zu aufgeregt, als er zwei weitere bronzene Beilschneiden fand. Schließlich stieß er mit seinem Spaten auf eine tönerne Platte, die bei dem Versuch der Bergung in kleinste Teile zerbröselte. Dass er unter der Tonschicht nur einen winzig kleinen schwarzen Metallkegel entdeckte, enttäuschte ihn zunächst. Erst als es ihm nicht gelang, den Kegel aus dem Boden zu ziehen, wurde er stutzig. Mit seinen Händen befreite er das Umfeld des Kegels von dem Sand. Immer größer wurde der seltsame Gegenstand. Nach einer Weile musste er sogar die Grube mit seinem Spaten vergrößern und dabei aufpassen, dass der Traktor nicht tiefer rutschte. Nach gut zwei Stunden stieß er auf Widerstand. Der Kegel breitete sich an dieser Stelle horizontal aus. Ewald wusste mit dem schmutzigen Gebilde nichts anzufangen, dennoch glaubte er, etwas Seltenes und Wertvolles aus dem Boden zu holen. Geduldig arbeitete er weiter, bis er den 70 Zentimeter großen Kegel aus dem Loch herausziehen konnte. Zuerst war er ziemlich schwer, doch als er ihn hochhob, fiel das Innere des Kegels einfach zurück in das Loch. Sand, dachte sich Ewald und betrachtete den nun leichten Kegel mit der abschließenden Krempe. Die Erkenntnis traf ihn fast wie ein Schlag. Vorsichtig streifte er den hartnäckigen Schmutz ab und legte damit viele kleine Ornamente frei. Ewald hatte einen Goldenen Hut gefunden. Er wusste, dass vor über 100 Jahren nur ein paar Kilometer von seinem jetzigen Standpunkt entfernt ein weiterer Hut gefunden wurde, der aus purem Gold bestand. Bisher hatte er nur Fotos des wertvollen Hutes gesehen. Der Fund, den er in der Hand hielt, erschien ihm größer und vollständig erhalten. Mit Bedacht, um ja nicht die dünne Wand des Hutes einzudrücken, stellte er ihn auf den Fahrersitz seines Traktors.

Ewald überlegte, was er mit seinem Fund anstellen könnte. Ihn einfach melden? Würde er den Hut abgeben müssen, vielleicht lediglich gegen einen kleinen Finderlohn, wenn überhaupt? Oder sollte er ihn einem Kunsthändler zum Kauf anbieten? Während er die Möglichkeiten durchging, fiel ihm seine Frau ein. Gestern hatte sie wieder von Scheidung gesprochen. Nein, Ewald war nicht gewillt, seiner Frau die Hälfte des Gewinns abzugeben. Den Hut hatte er gefunden, er ganz allein.

Gewillt, möglichst viel Geld aus dem Fund herauszuschlagen, wickelte er den Hut vorsichtig in eine Decke ein und versteckte ihn in der Großwerkzeugkiste, deren Inhalt er einfach auf das Feld warf. Bevor er zurückfahren konnte, wartete eine weitere schweißtreibende Arbeit auf ihn: Er musste die Grube wieder befüllen, um mit seinem Traktor nicht tiefer einzubrechen.

Erst spät am Abend kam er erschöpft im Hof an und motzte als Erstes mit seiner Frau, weil das Essen nicht auf dem Tisch stand.

Nach dem Abendessen verschwand er in der Scheune, wo eine ältere und unbenutzte Metallkiste lagerte. Zusammen mit zwei oder drei Decken packte er den Hut und die Beilschneiden ein und polsterte den Rest des Volumens mit Stroh aus.

Gleich am nächsten Morgen fuhr er zum zweiten Mal auf die abgelegene Parzelle und öffnete erneut die Grube. Sorgfältig stellte er die Metallkiste hinein und deckte sie grinsend mit dem Ackerboden ab. Jetzt kann die Scheidung kommen, dachte er. Gleich danach werde ich den Goldenen Hut zum zweiten Mal finden.

Da Ewald wusste, wie schnell man sich bei Entfernungen auf dem freien Feld verschätzen konnte, fertigte er eine Karte an. Dazu schritt er die Strecken zu zwei markanten Punkten der Umgebung ab und notierte sie. In seinem Haus versteckte er seine private Schatzkarte auf dem Speicher bei den Habseligkeiten, die er mit in die Ehe gebracht hatte und vor allem aus stark abgenutzter Kleidung und einem vergilbten Bild seiner Mutter bestand.

Das Schicksal nahm seinen Lauf. Ein abendlicher Streit der beiden kam einer Scheidung zuvor. Ewald, nach dem übermäßigen Genuss von Alkohol nicht mehr geistiger Herr über sich selbst, pöbelte seine Frau an, die, hochschwanger wie sie war, den Holzboden im Obergeschoss reinigte. Ein Wort gab das andere, die erhobene Hand Ewalds konterte Dorothea mit dem Stiel des Schrubbers, und schon stürzte Ewald wie seinerzeit seine Schwiegermutter final die enge Stiege hinunter. Das Ausstellen des Totenscheins war nur eine Formsache.

Kapitel 1 – Ein paar Vermisstenfälle

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

»Grumbeere?« Ich glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Der Montagmorgen hatte so vielversprechend begonnen. Nach einem stressigen Wochenende, an dem ich wie üblich durch meine Familie zu 100 Prozent fremdbestimmt war, fuhr ich heute früh gut gelaunt zur knapp einen Kilometer entfernten Dienststelle im Schifferstadter Waldspitzweg. Dass der Montag das heimliche Wochenende familiengeplagter Väter war, dürfte jedem Beamten, aber auch den meisten Arbeitnehmern bekannt sein. Als Polizeibeamter der Kriminalinspektion Schifferstadt hatte ich einen zusätzlichen Bonus zum Wochenstart: Unser Dienststellenleiter KPD, mit richtigem Namen Klaus P. Diefenbach, nutzte den Wocheneinstieg immer zur Selbstbeweihräucherung in eigener Sache. Ein endloser Monolog, noch nie hatte es ein Zuhörer geschafft, seinen Ausführungen in Gänze zu folgen, was vor allem daran lag, dass es niemand versuchte. Die Kunst während der Lagebesprechung bestand darin, möglichst natürlich nach vorne gebeugt zu sitzen, sodass KPD, der im Stehen referierte, die geschlossenen Augen nicht bemerken konnte. Ein geöffneter Schreibblock nebst Kugelschreiber vervollständigte die Tarnung. Selbst ein leichtes Schnarchen störte unseren Chef nicht, da er während seines Monologes nicht auf einzelne Untergebene, wie er uns bezeichnete, achtete.

Ich benötigte einen kurzen Augenblick, um aus meinem Dreiviertelschlaf in die Realität zurückzukommen.

»Ja genau, Grumbeere!«, wiederholte KPD und starrte mich an. Im gleichen Moment bemerkte ich, dass der Sozialraum leer war. Meine Kollegin Jutta Wagner hatte mich mal wieder nicht rechtzeitig geweckt.

»Bekommen wir endlich eine Kantine?« Im selben Moment, als ich die Frage meinem Chef entgegengeschleudert hatte, wusste ich, dass es die falsche war.

KPD schüttelte verärgert den Kopf. Breitbeinig stellte er sich vor mich. »Palzki! Haben Sie vorhin nicht richtig zugehört, als ich über das Thema gesprochen hatte? Ich kann Ihnen doch nicht immer alles mehrfach erklären. Eigentlich dürften Sie keine Pause machen, da man Sie nach der Pause jedes Mal neu anlernen muss.«

Er steigerte sich wie üblich in ein Potpourri an Beleidigungen hinein, die mir sonst wo vorbeigingen. Unseren Chef konnte man einfach nicht ernst nehmen. Teilnahmslos wartete ich seine Tiraden ab.

»Und da wir an unserer Dienststelle, dank meines Einsatzes und weil ich ein so guter Chef bin, seit Wochen keine ungelösten Kapitalverbrechen haben, unterstützen wir fortan die anderen Abteilungen. Es kann schließlich nicht angehen, dass wir meine geballte Kompetenz nicht nutzen und Sie und Ihre Kollegen die Dienstzeit damit vertrödeln, um Kaffeemaschinen zu entkalken oder Pizza zu bestellen.«

»Pizza essen wir meist nur in den Pausen.«

KPD ignorierte meinen Einwand. »Ab sofort kümmern Sie sich um die Vermisstenfälle in unserem Zuständigkeitsgebiet. Frau Wagner und Herr Steinbeißer werden Sie dabei unterstützen, sonst würde das ja gar nicht funktionieren. Ich erwarte täglich von Ihnen einen Rapport.«

Er drehte sich zur Tür, um den Raum zu verlassen.

»Und wen sollen wir finden?«, hakte ich nach. »Wird irgendwo eine Kartoffel vermisst?«

KPDs königsblaue Halsschlagader schwoll gefährlich an. Ein oder zwei weitere Kommentare von mir und sie würde platzen. Dies könnte meine Rettung sein.

»Zum Kartoffel-Käfer nach Iggelheim sollen Sie fahren. Dort wird eine Vorarbeiterin vermisst. Und danach fahren Sie zum Schulzentrum in Schifferstadt. Eine Lehrerin aus England ist abhanden gekommen, die mit einer Austauschgruppe in der Pfalz weilt.«

Ohne weiteren Kommentar oder Gruß verließ KPD den Sozialraum. Ich blieb zunächst noch ein Weilchen sitzen, um das Erlebte sich setzen zu lassen.

»Was für eine verrückte Idee hat sich KPD dieses Mal ausgedacht?«, rief ich wenig später, als ich Juttas Büro betrat, das sich in letzter Zeit als Treffpunkt unseres Teams etabliert hatte.

Gerhard Steinbeißer, der am Besprechungstisch mit dem Rücken zu mir saß, winkte ärgerlich ab. »Halt mal kurz die Klappe, Reiner.«

Neugierig trat ich näher. Gerhard beugte sich gemeinsam mit Jutta über diese modernen Kaffeekapseln aus Plastik. Daneben standen zwei leere Tassen.

»Macht ihr jetzt auf Verpackungsmüll?«, wunderte ich mich. »Bei eurem Kaffeeverbrauch kann die kunststoffherstellende Industrie Sonderschichten einlegen.«

Jutta und Gerhard hörten mir nicht zu. Während ich mich zu ihnen an den Tisch setzte, fragte Gerhard meine Kollegin: »Sollen wir es wagen?« In der Hand hielt er eine der Kapseln, die seltsamerweise keine Beschriftung hatte.

Da mir die Situation äußerst suspekt vorkam und ich mit suspekten Situationen neben meinem Chef nur sehr wenige Personen in meinem Umfeld in Verbindung brachte, versuchte ich mich erneut in einem sinnvollen Redebeitrag. »Sagt bloß, ihr habt das Zeug von Dr. Metzger? Wisst ihr, was das bedeutet? Da ist alles drin, nur nichts, was für den menschlichen Verzehr geeignet ist.«

Der Notnotarzt Dr. Metzger hatte vor einiger Zeit seine Kassenzulassung zurückgegeben und sich in der Region als freischaffender ärztlicher Berater etabliert. Dabei scheute er sich nicht, in seinem umgebauten Reisemobil, das die gleichen hygienischen Bedingungen wie ein frühmittelalterliches Bauerndorf aufwies, seine Kunden, wie er die Patienten nannte, zu operieren. Hinzu kam, dass er sich laufend neue Geschäftsideen einfallen ließ, auf die nicht einmal ein krankes Hirn im Suff kam.

»Metzger?«, fragte Jutta zurück. »Wie kommst du auf den?« Sie schüttelte sich. »Ne, wir haben Jacques getroffen.«

Jacques? Aus Sicherheitsgründen rückte ich mit meinem Stuhl ein Stück weit vom Tisch weg. Jacques Bosco, einer der letzten allgemeingelehrten Wissenschaftler und Erfinder, war seit meiner Kindheit mein Freund. Damals wohnten wir in seiner Nachbarschaft, und meine Eltern bekamen regelmäßig graue Haare sowie rote Flecken am Hals, wenn ich in seinem Labor Verstecken spielte. Jacques, der seit dem Tod seiner Frau alleine im Schifferstadter Westen im Kestenbergerweg wohnte, erfand Dinge, die erst in ein oder zwei Jahrhunderten reif für die Menschheit waren. Ich musste neidlos eingestehen, dass er uns mit seinen physikalischen Kunststücken schon mehr als einmal dabei geholfen hatte, Verbrecher zu überführen. Ich war mehr als gespannt, was Jacques mit den Kaffeekapseln zu tun hatte.

»Jacques hat die Kaffeekapseln erfunden?«

Jutta lachte kurz auf. »Neu erfunden, wenn du es so willst.«

»Wieso habt ihr überhaupt Jacques getroffen?« Mein Freund lebte sehr einsam und ging so gut wie nie in die Öffentlichkeit.

Gerhard grinste. »Er hat einen ersten Freifeldversuch gegen die Fliegenplage unternommen.«

Jetzt machte es bei mir Klick. »Meinst du seine neue Züchtung, die Staubfliegen?«

Ein doppeltes Kopfnicken gab mir die Bestätigung. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Jacques die Staubfliegen in seiner Wohnung neu gezüchtet, um sich von der verhassten Hausarbeit zu entlasten. Die Fliegen taten nichts anderes, als Staub zu fressen. Dabei wurden sie größer als Hummeln und vermehrten sich rasant. Zwei Dinge liefen dabei ungeplant schief: Die Fliegen erzeugten absonderlich große Kotbrocken, die sie bevorzugt während des Fluges fallen ließen. Hinzu kam die kurze Lebensdauer der Staubfresser. An allen zugänglichen und leider auch an nicht zugänglichen Stellen wie zum Beispiel hinter Schränken lagen ihre Leichen und begannen zu stinken. Ich konnte ihn damals überzeugen, die Fenster seines Hauses zu öffnen. Was wir nicht bedacht hatten, war, dass die neue Züchtung die einheimischen Fliegenarten in rasantem Tempo verdrängten. Inzwischen war die Population so mächtig, dass es in Teilen Schifferstadts absonderlich nach Fliegenkot und Fliegenleichen stank. Da die Fliegen ständig auf Staubsuche waren, reichte ein geöffnetes Fenster, um sich die neue Plage ins Haus zu holen. Immerhin schien er sich auf die Suche nach einem Gegenmittel zu machen.

Ich setzte meine Fragerei fort. »Und bei dem zufälligen Treffen hat er euch die Kapseln gegeben?«

»Genau«, bestätigte Jutta. »Jacques weiß schließlich, wie gerne Gerhard und ich Kaffee trinken.«

»Seine neue Erfindung ist aber auch so was von genial«, ergänzte Gerhard.

»Wenn sie funktioniert«, zweifelte Jutta. »Jacques hat selbst gesagt, dass er bis jetzt nur erste Versuche unternommen hat und durchaus noch Kinderkrankheiten vorkommen könnten.«

Ich rückte einen weiteren halben Meter zurück.

»Sind das neue Handgranaten im Miniformat?«

Gerhard lachte auf. »Nicht ganz. Obwohl, expandieren soll der Inhalt schon, nur hoffentlich nicht explodieren.«

Jutta hatte Erbarmen mit mir. »Jacques hat das Prinzip des Kaffee to go auf die Spitze getrieben. In Zukunft brauchst du nur eine Kaffeetasse mitzunehmen und diese speziellen Pads.«

»Und eine Kaffeemaschine.«

»Eben nicht, Reiner.« Gerhard drückte mir eine der Kapseln in die Hand. »Jacques ist es gelungen, das benötigte Wasser zu komprimieren. In dieser Kapsel ist nicht nur das Kaffeepulver, sondern auch genügend Wasser für eine Tasse Kaffee.«

»Jetzt schau nicht so doof aus der Wäsche«, meinte Jutta, da ich die beiden mit offenem Mund anglotzte.

»Das kann niemals funktionieren«, entgegnete ich meinen beiden Kollegen. »Wasser kann man wie Öl nicht oder nur unwesentlich komprimieren. Wenn das gehen würde, gebe es keine Hydraulik.«

Ich war stolz auf meine physikalischen Kenntnisse, die ich nicht der Schule, sondern Jacques zu verdanken hatte. Mit so manchem Trick verhalf er mir damals, die Schule entspannter hinter mich zu bringen.

Gerhard räusperte sich. »So ganz habe ich das nicht verstanden. Er meinte, dass er die Bestandteile von Wasser, also Wasserstoff und Sauerstoff, getrennt und erhitzt hätte. Beide Elemente wären dann gasförmig und ließen sich problemlos komprimieren. Schwieriger sei es gewesen, eine Verpackung zu entwickeln, die den großen Druck aushält.«

Vorsichtig legte ich die Kapsel auf den Tisch.

»Die zweite Aufgabe war, die beiden Elemente zusammenzuführen. Dabei entsteht Wärme, und das Resultat ist heißes Wasser. Durch geschicktes Vermischen mit dem Kaffeepulver entsteht so innerhalb von wenigen Sekunden eine Tasse aromatischen Kaffees.«

»Und das wollt ihr jetzt ausprobieren?«

»Stell dir mal vor, wenn das funktioniert. Wir hätten im Außendienst immer unseren frischen Kaffee dabei.«

Ich nutzte das Stichwort, um das Thema zu wechseln. »Apropos Außendienst. Ihr habt es vorhin bestimmt mitbekommen. Wir sollen uns um diverse Vermisstenfälle kümmern. Könntet ihr mich da mal bitte aufklären? Eure gefährlichen Experimente könnt ihr später durchführen.«

»Genau, wir haben das mitbekommen«, sagte Jutta in einem sarkastischen Unterton. »Du hast mal wieder gepennt.«

»Und als Dank hast du deinen lieben Kollegen nicht geweckt«, revanchierte ich mich.

»Ich hab’s versucht. Beim Schütteln wärst du beinahe vom Stuhl gefallen. Da habe ich dich sitzen lassen. Ich konnte schließlich nicht ahnen, dass KPD dich persönlich anspricht. Hattest du ein schwieriges Wochenende?«

»Wie immer. Jetzt erzähl mal. Wir sollen eine Lehrerin suchen. Wenn das mein Sohn Paul erfährt, lässt er mich entmündigen.«

»Lehrer sind auch nur Menschen«, entgegnete Jutta.

Ich sah sie streng an. »Aha, ich wusste gar nicht, dass du nie eine Schule besucht hast.«

Meine Kollegin zeigte mir den Vogel. »Nicht alle ehemaligen Schüler sind von ihrer Schulzeit so traumatisiert wie du, Reiner. Die meisten konnten in der Penne sogar etwas fürs Leben lernen.«

»Ich nicht«, konterte ich und erntete Gelächter, mit dem ich natürlich nicht einverstanden war. »Meine Schule war und ist das Leben. Könnt ihr das mit der Lehrerin übernehmen?«

»Geht nicht«, erwiderte Gerhard. »KPD hat uns nachher für eine andere Arbeit eingespannt. Wenn du nicht geschlafen hättest, wüsstest du das.«

Jutta reichte mir eine handschriftliche Notiz. »Du kannst meine Mitschrift haben. Die Adresse vom Kartoffel-Käfer in Iggelheim habe ich dazugeschrieben. Was es mit der verschwundenen Vorarbeiterin auf sich hat, musst du selbst herausfinden. Wahrscheinlich stellt sich das sowieso als harmlos heraus. Du weißt, wie Vermisstenfälle immer aufgebauscht werden.«

»Und die Sache mit der Lehrerin?«

»Hat sich vielleicht bei einem Ausflug verlaufen. Die Schüler aus England sollen auf jeden Fall vollständig sein. Schau halt mal vorbei, kann ja sein, dass«, Jutta schaute auf ihre Notizen, »Frau Avril Walters inzwischen wieder aufgetaucht ist.«

Kapitel 2 – Kartoffel-Käfer

Unzufrieden mit mir selbst und meiner Aufgabe machte ich mich auf den Weg. Da Iggelheim einigermaßen verkehrsgünstig im Dreieck Schifferstadt-Speyer-Iggelheim lag, opferte ich den kaum erwähnenswerten Umweg zu einem Besuch bei der Speyerer Currysau. Kaum vorzustellen, wenn ich hungrig bei dem Kartoffelhof ankam und versehentlich mein Magen knurren würde. Leider war weder der Inhaber Robert noch sein Bruder Jürgen anwesend, die mir seelischen Beistand geleistet hätten. Doch mit einem Palzki-Burger, den die beiden Brüder vor ein paar Monaten mir zu Ehren für die Rettung der Currysau kreiert hatten, ging es auch so. Immerhin handelte es sich um einen über elf Zentimeter hohen Burger, belegt mit allem, was ein nichtvegetarisches Herz begehrt.

Die Beilagen-Cheeseburger und die Pommes aß ich während der Fahrt nach Iggelheim. Mit den Pommes war ich quasi schon in der Eingewöhnungsphase zum Thema Kartoffeln. Ich konnte es nicht verstehen, wie man Kartoffeln in anderer Form essen konnte. Okay, Chips ließ ich mir als Alternative gefallen. Vielleicht lag meine Aversion an einem weiteren Kindheitstrauma.

Das imposante Gebäude, das direkt an der Straße stand, war nicht zu verfehlen. Über der offenen Hofeinfahrt prangte ein Werbeschild: ›Kartoffel-Käfer – mehr Bio geht nicht‹.

Auch wenn die Inhaber des Hofes es sicherlich anders meinten: Bio stand für ›Leben‹, hier also lebende Kartoffeln. Ob damit tatsächlich Kartoffelkäfer gemeint waren?

Seitlich am Gebäude befand sich ein gut besuchter Verkaufspavillon. Neben den beworbenen Biokartoffeln gab es weiteres Gemüse, das ich teilweise sogar namentlich benennen konnte.

Um nicht als Kunde aufzutreten, jemand könnte mich schließlich in der Warteschlange erkennen und damit meinen Ruf nachhaltig schädigen, drängelte ich mich nach vorne.

»He«, schrie eine rotzfreche jüngere Frau von hinten, »selbst Rentner haben genügend Zeit, um sich anzustellen.«

Ich ignorierte diese gemeine Beleidigung und wandte mich an eine der Verkäuferinnen. »Guten Tag, ich möchte zu Herrn Käfer.«

Mein Gegenüber runzelte die Stirn. »Zu wem wollen Sie?«

»Zu Herrn Käfer.« Ich zeigte auf die vielen Werbetafeln mit den diversen Angeboten, die alle mit Kartoffel-Käfer betitelt waren.

»Ach so.« Sie lachte. »Einen Käfer gibt’s bei uns nicht. Einen kleinen Moment bitte.« Sie drehte sich um und rief: ›Roswitha! Kannst du mal kommen?«

Eine korpulente Frau in blauer Arbeitskleidung trat aus dem Haus. In der Hand hielt sie eine Axt. »Was gibt’s?«

Die Verkäuferin zeigte auf mich. »Er will den Chef sprechen.«

»Ihnen gehört der Hof?«, fragte ich und vermied, den Namen ›Käfer‹ zu erwähnen.

»Mir und meinem Mann«, antwortete sie, legte die Axt auf den Tisch und gab mir die Hand. »Roswitha Ziemniak ist mein Name. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Name ist Reiner Palzki. Ich komme von der Kriminalinspektion Schifferstadt. Sie vermissen eine Vorarbeiterin?«

Sie sah mich fragend an. »Sie sind von der Polizei?« Abwertend schaute sie an mir herunter. Sofort fiel mir der Spruch der doofen Kundin ein, die mich, weil sie anscheinend nicht richtig hingeschaut hatte, für einen Rentner hielt. Sicherheitshalber antwortete ich: »Ich bin erst Mitte 40.«

Sie schien immer noch nicht zufrieden. »Sie haben keine Uniform an, und ich sehe keinen Streifenwagen.«

Jetzt erkannte ich den Fehler. Ich zog meinen Dienstausweis aus der Tasche. »Wir von der Kripo sind meist in Zivil unterwegs.« Wäre ja noch schöner, wenn ich den ganzen Tag eine unbequeme Uniform tragen müsste.

»Aha, dann kommen Sie mal mit.«

Sie führte mich nach hinten in eine Scheune, in der allerhand technische Gerätschaften standen. Ein Mann hantierte geräuschvoll und fluchend im Motorraum eines Traktors. Als er uns in die Scheune kommen sah, stellte er sich auf. »Wen bringst du da an, Roswitha?«

»Sie sind Herr Käfer?«, kam ich seiner Frau zuvor.

Er lachte. »Das meinen viele, stimmt aber nicht. Käfer war der Name meines Schwiegervaters. Ihm gehörte früher der Hof. Mein Name ist Herrmann Ziemniak.«

»Herrmann, das ist Herr Palzki von der Polizei. Er kommt wegen Pia.«

Herrmann Ziemniak zeigte mir seine ölverschmierten Hände. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen keine Hand gebe. Kommen Sie einfach mit.«

Zu dritt verließen wir die Scheune und gingen weiter in das Hofgrundstück hinein. Auf beiden Seiten befanden sich größere und kleinere landwirtschaftliche Gebäude unterschiedlichsten Alters. Überall standen Gerätschaften und mir unbekanntes Zeug herum, das für die Bewirtschaftung eines Hofes benötigt wurde. Der schlauchartige Hof mündete in einem offenen Feld. Ob es sich um einen Kartoffelacker handelte, konnte ich nicht erkennen. Hinter der letzten Scheune auf der rechten Seite stand ein altes Backsteingebäude, das winzig wirkte und starke Zerfallserscheinungen zeigte.

»In dieser Hütte hat vor 100 Jahren eine ganze Familie gewohnt«, erklärte Roswitha. »Das Gelände haben wir in den 60er Jahren dazugekauft, als meine Eltern ihren Hof vergrößerten. Heute befindet sich dort das Büro und die Wohnung unserer Vorarbeiterin Pia Skarbu.«

»Ist das die, die vermisst wird?«

»Genau«, sagte Herrmann und schloss die Tür auf. »Seit zwei Tagen haben wir nichts mehr von ihr gehört.«

»Haben Sie schon bei ihr zu Hause nachgefragt? Ist sie verheiratet?«

Herrmann schaute mich zweifelnd an. »Sind Sie wirklich von der Polizei? Das haben wir doch bereits alles zu Protokoll gegeben!«

Da Spontanität meine Spezialität war, rettete ich wie immer die Situation. »Bei uns auf der Dienststelle läuft es im Moment ein bisschen chaotisch. Wahrscheinlich wird uns unser Dienststellenleiter bald verlassen müssen.«

Ein bisschen Wunschdenken kann nie schaden, dachte ich mir mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Was? Herr Diefenbach verlässt die Schifferstadter Kripo? Das hat er uns bisher gar nicht verraten.«

Dumm gelaufen, dachte ich, während sich mir ein Kloß in den Hals setzte. »Sie kennen KP, äh, Herrn Diefenbach?«

»Natürlich, er kauft mehrmals in der Woche bei uns ein. Er trägt übrigens immer Uniform. Ein sehr kompetenter Mensch, der weiß, wo es langgeht. Wir könnten ihm stundenlang zuhören, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Ohne ihn scheint bei der Polizei in Schifferstadt nichts zu funktionieren. Er schimpft regelmäßig über die mangelhaften Strukturen im Polizeiwesen. Gerne würde er vieles ändern, scheint aber mit dem Präsidium in Ludwigshafen nicht handelseinig zu werden.«

Während ich die Hütte betrat, überlegte ich, wie ich aus dieser Misere herauskommen konnte. Nach der Eingangstür stand man sofort in einem Raum, der ähnlich vergammelt war wie das Äußere der Hütte. Im Hintergrund ging eine verrottete Stiege nach oben. Toilette oder Bad gab es keines, das war vor 100 Jahren wohl so üblich. Auf einem Schreibtisch, der ebenfalls schon bessere Jahre oder Jahrzehnte gesehen hatte, stand ein PC nebst Drucker. Diverse Papiere lagen verstreut herum, in einem Regal, das aus Bananenkisten zusammengezimmert war, stand Fachliteratur. Persönliche Dinge konnte ich nicht finden.

»Pia kommt aus Polen und wohnt während der Saison oben.« Roswitha zeigte zur Stiege. »Selbstverständlich haben wir bei ihren Eltern in Wrocław angerufen. Dort ist sie aber nicht. Außerdem hat sie keinen Grund, von der Arbeit fernzubleiben. Sie fühlt sich bei uns sehr wohl und verdient gutes Geld. Ihre Kleider sind da. Ob sie vollständig sind, kann ich natürlich nicht sagen.«

Ich verzichtete darauf, mich zu setzen. Alles war speckig und abgenutzt. »Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«

»Vorgestern am frühen Abend während des Abendessens. Nach dem Essen ging sie in ihre Wohnung beziehungsweise Büro. Wir konnten feststellen, dass sie dort eine Weile im Internet gesurft hat. Aber nur Belangloses.«

»Sie muss also anschließend weggegangen sein und hat Ihnen nicht gesagt, wohin. Kam dies öfters vor?«

»Nie«, fuhr mir Herrmann ins Wort. »Sie gehörte fast zur Familie. Sie sagte uns immer, wenn Sie irgendwohin fuhr. Manchmal habe ich ihr sogar meinen Mini ausgeliehen.«

Seiner Frau fiel etwas ein. »An dem Abend parkte eine Zeit lang ein Oldtimer in der Nähe ihres Büros. Das könnte aber genauso gut vor dem Abendessen gewesen sein. So genau weiß ich das nicht mehr.«

»Was für ein Oldtimer?«, fragte ich zurück.

»So ein altes Auto halt, wie man es vor ein paar Jahrzehnten gefahren hat. Ich kenne mich da nicht aus, und so genau habe ich nicht hingeschaut.«

»Sie wissen nicht, wer alles auf Ihrem Grundstück parkt?«

Herrmann, der kurz vor der Tür war und gerade wieder reinkam, mischte sich ein. »Herr Palzki, bei uns geht es meist zu wie in einem Taubenschlag. Wir haben einen Hofverkauf und jetzt zu Beginn der Saison jede Menge Saisonarbeiter. Da können Sie nicht den Überblick behalten. Bisher ist nie etwas passiert oder gestohlen worden.«

Hier kam ich nicht weiter, ich leitete den Rückzug ein. »Dann weiß ich jetzt erst mal Bescheid. Wir warten zwei oder drei Tage ab, wenn sie bis dahin nicht aufgetaucht ist, sehen wir weiter.«

Die beiden Ziemniaks ließen sich so leicht nicht abspeisen. »Herr Diefenbach hat uns versprochen, dass sofort und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln nach Pia gesucht wird. Wollen Sie nicht wenigstens Pias Sachen durchsuchen?« Herrmann drehte sich zu seiner Frau. »Ruf doch gleich mal bei Herrn Diefenbach an.«

Mit dieser Androhung hatte ich nicht gerechnet. »Sparen Sie sich den Anruf, Herr Diefenbach ist sowieso immer schwer beschäftigt. Ich gehe nach oben und schaue mir Pias Sachen an.«

Unter Druck zu arbeiten, fiel mir schon immer schwer. Und in diesem Fall ging es um einen trivialen Vermisstenfall, der nicht einmal zwei Tage zurücklag. Diese Pia hatte bestimmt einen netten Kerl kennengelernt und ließ für ihn die Arbeit Arbeit sein.

Schwerfällig stieg ich die schiefen Holzstufen hinauf und landete in einer Kammer mit schrägen Wänden. Es roch bestialisch, und ich öffnete das Dachflächenfenster, was mir nur mit großer Anstrengung gelang. Die Einrichtung der Kammer bestand im Wesentlichen aus einer Couch, einem Kleiderschrank und einem kleinen runden Tisch. Im Schrank lagen, ziemlich durcheinander, diverse Kleidungsstücke und ein paar Dinge für die tägliche Hygiene. Der Rest der Kammer war schnell durchsucht. Es gab nichts, was auf eine Gewalttat oder ein Verbrechen schließen ließ. Nur der Gestank war nicht auszuhalten. Insbesondere in der Nähe der Couch roch es fürchterlich. Mit den Fingerspitzen hob ich die Decke beiseite. Dabei registrierte ich, dass es sich um eine ausziehbare Bettcouch handelte. Da die beiden Hofbesitzer, die unten warteten, mir mangelnde Sorgfalt vorwerfen würden, wenn ich jetzt schon wieder nach unten kommen würde, zog ich mit einem Griff die Couch auf. Ich schaute auf eine weibliche Leiche ohne Gesicht.

Nachdem wir die Hütte verlassen und die Spurensicherung informiert hatten, kam ich ins Grübeln: Um die Vermisstenfälle mussten meine Kollegen und ich uns nur deshalb kümmern, weil es zurzeit keine Kapitalverbrechen gab. Jetzt sah die Sache anders aus: Es gab eine Tote, die eines nichtnatürlichen Todes gestorben war. Nach meiner und hoffentlich auch KPDs Logik dürfte sich damit die Suche nach der vermissten Lehrerin erledigt haben. Das würden nun ein paar andere Beamte übernehmen.

»Palzki, was haben Sie jetzt schon wieder angestellt!«

Die orkanartige Stimme gehörte KPD. Was machte dieser an einem Tatort? Üblicherweise verließ er zwischen März und November so gut wie nie sein voll klimatisiertes Büro. In der Hand trug er einen geflochtenen Weidenkorb. »Per Funk hat man mich informiert, dass mein Untergebener Palzki mal wieder eine Leiche gefunden hat. Nicht einmal seine Pause kann man in Ruhe zu einem Einkauf nutzen, ohne irgendein Störfeuer Ihrerseits!«

Er stellte wütend den Korb auf den Boden. »Haben Sie wenigstens inzwischen den Täter identifiziert?«

»Hallo, Herr Diefenbach, guten Tag. Sie sind aber mal schnell.« Roswitha Ziemniak drückte ihm die Hand. KPD verschwieg, dass er sowieso auf dem Weg hierher war. »Ich bitte Sie, das ist doch selbstverständlich. Mir war sofort klar, dass ich diesen Fall zur Chefsache machen muss. Mit meinen wenig kompetenten Untergebenen würde das in einem Fiasko enden.« Er zeigte auf seinen Einkaufskorb, der auf dem Boden stand. »Frau Ziemniak, wären Sie so nett, mir das Übliche zu richten? Ihr Mann kann mir in der Zwischenzeit den Tatort zeigen. Sie wissen, dass ich immer um Effizienz bemüht bin.«

Ohne mich zu beachten, ging er mit dem Hofbesitzer zur Hütte. Plötzlich drehte er sich um: »Palzki, haben Sie wenigstens die Spurensicherung informiert? Warum ist noch niemand hier?«