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Petra Mattfeldt

Tod und Spiele

Der 2. Fall für Falko Cornelsen

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © fotofabrika / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5150-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Sanfte Klänge drangen an ihr Ohr. Mit einem zufriedenen Seufzen zog sie die Decke etwas weiter über die Schultern, drehte sich auf die Seite und nickte wieder ein. Plötzlich schreckte sie hoch. Musik. Sie hörte Musik. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ängstlich sah sie sich im Schlafzimmer um. Sie suchte nach einem Gegenstand, mit dem sie sich bewaffnen konnte. Ihr Blick fiel auf die Nachttischlampe. Sie schlug die Bettdecke zur Seite, zog leise den Stecker heraus und umfasste das metallene Gestänge so fest sie konnte. Barfuß und nur in T-Shirt und Slip bekleidet, schlich sie zur Tür. Sie war nur angelehnt, wie immer, damit sie hören konnte, wenn ihr kleiner Sohn nachts wach wurde und weinte. Sie versuchte, ihre Atmung zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. Die Melodie – sie kannte sie in- und auswendig. Und sie wusste, was das zu bedeuten hatte: Er war zurück. Sie tastete nach dem Lichtschalter, fürchtete einen Schlag, als sie in den Flur trat. Mit einem Klick ging das Licht an. Niemand war da, keiner, der sie angriff. Doch Erleichterung stellte sich nicht ein. Ihr Kind. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, welches Bild sie erwarten würde, sobald sie sein Zimmer betrat. Wie festgewachsen stand sie da, unfähig, sich zu bewegen. Sie wollte losstürzen, doch die Angst ließ sie nur zaghaft einen Schritt vor den anderen setzen. In der einen Hand die Lampe, tastete sie sich mit der anderen an der Wand entlang. Außer dem Lied, das die Stereoanlage im Wohnzimmer leise und endlos spielte, war nichts zu hören. Ihr Unterkiefer zitterte unkontrolliert, ihr wurde schwindelig, je näher sie zum Zimmer ihres Sohnes kam. Auch diese Tür war nur angelehnt. Sie hatte sie geschlossen, als sie gestern Abend das Zimmer verlassen hatte, nachdem der Einjährige friedlich eingeschlafen war. Vorsichtig drückte sie mit der Hand dagegen. Mit einem leisen Quietschen schwang sie auf, gab den Blick auf das Kinderbett frei. Sie trat näher, bis sie direkt davor stehen blieb. Sie schlug ihre Hand vor den Mund. Das Schluchzen konnte sie nicht mehr unterdrücken. Das Bild, das sich ihr bot, hätte friedlicher und zugleich schockierender nicht sein können. Ihr Sohn lag auf dem Rücken, seine Stirn war rot verschmiert. Die kleinen Hände waren zu Fäustchen geballt und nach oben gewinkelt, so, wie er immer schlief. Die Bettdecke war bis zu den Hüften heruntergezogen, auf seinem Schlafanzug prangte ein weißer Zettel, der mit einer Sicherheitsnadel befestigt worden war. Rote Buchstaben schlugen ihr entgegen.

Wann immer ich es will!

Schnell entfernte sie die Sicherheitsnadel und zerknüllte das Papier. Mit schmatzenden Lauten kam ihr Sohn aus dem Schlaf. Hastig ging sie zur Kommode hinüber, zog drei Feuchttücher aus dem Behälter und kehrte zum Bettchen zurück. So vorsichtig es ihr mit den zitternden Fingern möglich war, wischte sie ihm die rote Farbe von der Stirn. Der Kleine wurde unruhig, begann leicht zu greinen. Sie nahm ihn auf den Arm, presste ihn fest an sich. Als wolle er sich aus der Umklammerung befreien, versteifte sich sein kleiner Körper. Sie hatte Mühe, ihn mit sanften Worten wieder zum Einschlafen zu bringen. Zu aufgeregt war sie, um die Ruhe auszustrahlen, die ihr Kind jetzt brauchte. Sie wollte es wieder in sein Bettchen legen, doch alles in ihr wehrte sich, den Kleinen hier zurückzulassen. Sie griff nach seiner Decke, schlang sie um seinen Körper und wiegte ihr Kind, als sie das Zimmer verließ. Sie brachte es in ihr eigenes Bett, deckte es zu und strich ihm sanft über den Kopf. Dann verließ sie den Raum. Als sie im Wohnzimmer angekommen war, drang noch immer »Every breath you take« von Police aus den Lautsprechern. Sie drückte wütend die Taste, die das CD-Fach öffnete. Dort lag ein Rohling, unbeschrieben, ohne jeden Aufdruck. Sie nahm die CD heraus, brach sie in immer kleinere Stücke und schleuderte sie gegen die Wand, während sie wild zu schluchzen begann. Es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte. Obwohl sie ahnte, dass er längst wieder aus ihrer Wohnung verschwunden war, inspizierte sie jeden Raum. Alles war wie immer, nichts sonst hatte er angerührt. Nur der herbe Geruch seines Aftershaves hing in der Luft. Sie ging zur Wohnungstür, drückte die Türklinke herab. Unverschlossen. Die Tür war nur ins Schloss gezogen worden, obwohl sie sich ganz sicher war, den Schlüssel gestern Abend zweimal umgedreht zu haben. Ein Gefühl der Hilflosigkeit ergriff Besitz von ihr. Einen Moment glaubte sie, ohnmächtig zu werden. Kurz schloss sie die Augen, ermahnte sich selbst, die Nerven zu bewahren. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Tür, sah den Flur entlang. An der rechten Wandseite hingen vier Schwarz-weiß-Bilder, die sie mit ihrem Sohn zeigten. Ein befreundeter Fotograf hatte sie gemacht, ein »Abbild der Innigkeit« hatte er sie genannt. Sie schluchzte. Ja, ihr Sohn war ihr Ein und Alles. Wenn ihm jemals etwas zustoßen würde … Nein, sie konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen. Die Bilder, die dabei in ihrem Kopf entstanden … Sie würde nicht zulassen, dass ihm etwas geschah. Mit einem Ruck löste sie sich von der Tür, warf noch einen Blick auf ihren schlummernden Sohn, als sie an ihrem Schlafzimmer vorbeiging. Entschlossenen Schrittes durchquerte sie den Flur, ging weiter bis zu seinem Zimmer, zog dort Schränke und Schubladen auf und legte alles auf den Wickeltisch. Sie wusste jetzt, was sie zu tun hatte. Rasch packte sie alles zusammen. Sie würde ihn schützen, koste es, was es wolle.

1. Kapitel

Freitag, 03. Januar, 09.40 Uhr

Raus! Ein paar Tage nachdenken. Nein, nur nicht mehr denken. Der Fall war abgeschlossen, die Akten weggelegt. Die letzten Monate waren an Falko vorbeigezogen. Er hatte gehofft, über Weihnachten abschalten zu können und ein bisschen loszulassen. Sehen, was noch zu retten war. Heike hatte Normalität geschauspielert. Es war ihr nur mäßig gelungen. Das Weihnachtsfest hatten sie wie in jedem Jahr verbracht, nur zu zweit, ein Essen, der Austausch einiger Geschenke. Zu Silvester waren sie der Einladung eines befreundeten Paares gefolgt. Andrea war Ärztin, genau wie Heike, ihr Mann Stefan Architekt. Er hatte den Auftrag erhalten, die alten Speicheranlagen zu modernen Wohnungen der gehobenen Klasse umzubauen, und erzählte ausschweifend über die Pläne dieses, wie er immer wieder betonte, einzigartigen Projekts. Falko hatte Mühe gehabt, sich auf den eintönigen Redeschwall zu konzentrieren und gelegentlich Fragen einzuwerfen, die vermeintliches Interesse signalisieren sollten. Es war kurz vor zwei gewesen, als Heike und Falko sich verabschiedetet und von einem Taxi zu ihrem Haus nach Ochtmissen hatten bringen lassen.

Das neue Jahr war noch keine zehn Stunden alt gewesen, als Falko seiner Frau beim Frühstück mitgeteilt hatte, Urlaub zu nehmen und einige Tage allein fortzufahren, um sich endlich über alles klar werden zu können. Ihr Protest war nur schwach ausgefallen.

Am Morgen des 3. Januar packte Falko die lederne Reisetasche in seinen BMW X5 und startete den Motor. Er fuhr noch kurz beim Seniorenheim vorbei, in dem seine Mutter lebte. Es war keiner der Tage, an dem sie ihn erkannte. Also hielt er sich nicht lange auf. Kurz überlegte er, einer Pflegerin Bescheid zu geben, dass er für eine Weile nicht vorbeikäme. Doch er musste sich eingestehen, dass er sich auch sonst, wenn ein neuer Fall seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, oft Tage, manchmal sogar Wochen nicht blicken ließ. Wahrscheinlich würde nicht einmal jemand bemerken, dass er seine Mutter nicht besuchte. Sie am allerwenigsten.

Er fuhr auf der A 7 Richtung Norden. Die Küste war genau das, was er jetzt brauchte. Kalte Luft, eine stürmische See, heißer Tee und lange Spaziergänge, die ihm halfen, seine Gedanken zu ordnen.

Heike hatte ihn betrogen, monatelang, und er hatte nichts davon gemerkt. Er, Kriminalhauptkommissar und Profiler, der den Ruf besaß, Menschen und Tatorte lesen zu können wie kaum ein anderer, war wie ein Ochse am Ring durch die Manege gezerrt und vorgeführt worden. Er schlug mit der flachen Hand gegen das Lenkrad. Wie hatte er nur so ein Idiot sein können? Falko beschleunigte, drückte das Gaspedal immer weiter durch, kam seinem Vordermann bedrohlich nah, der rasch nach rechts rüberzog, als er den BMW im Rückspiegel heranschießen sah. Falko gefiel das Gefühl der Macht, die Kontrolle, andere durch sein Verhalten zum Nachgeben zu zwingen. Doch schon im nächsten Moment hob er den Fuß, nahm den Druck vom Gaspedal. Was war er nur für eine jämmerliche Gestalt, wenn er es genoss, andere auf diese Weise einzuschüchtern?

An der Raststätte Harburger Berge fuhr er ab und stoppte direkt vor dem Restaurant. Als er eintrat, ließ er seinen Blick über die Gäste schweifen. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Eine weitere mit drei Kindern, die bereits etwas älter waren. Eine Vierergruppe Männer, wahrscheinlich Handwerker, ein einzelner Mann hinten rechts am Fenster. Falko tippte darauf, dass er LKW-Fahrer war. Er ging zum Tresen, besah die dort an Plexiglasscheiben angeschlagenen Angebote und entschloss sich, lediglich eine Tasse Kaffee zu trinken. Essen würde er später, sobald er die Küste erreichte. Dann in einem Fischrestaurant. Das Essen hier würde ihm nur zentnerschwer im Magen liegen.

Er nahm sich den Kaffee und setzte sich an einen Tisch am Fenster. Ihm ging das Gespräch von heute Morgen durch den Kopf, während er kleine Schlucke trank und die Kaffeetasse zwischen seinen Fingern drehte. Heike hatte ihn gefragt, wo er überhaupt hinwolle. Er war nicht sicher, dass sie ihm geglaubt hatte, als er ihr sagte, es selbst nicht zu wissen. Sie konnte ihn über Handy erreichen. Das musste ihr derzeit als Auskunft genügen.

Kurz kontrollierte er jetzt, ob ein Anruf eingegangen war, bevor er den letzten Schluck nahm und das Tablett mit der Kaffeetasse in einen dafür vorgesehenen Geschirrwagen stellte. Niemand hatte versucht, ihn zu erreichen.

Die Kollegen wussten Bescheid, dass er sich eine kleine Auszeit nahm. Bis auf Timo Breitenbach, seine rechte Hand, wusste keiner aus seinem Team um die Ehekrise, in der er steckte. Sarah Bischoff und Rolf Kramer hatte er sich nicht anvertraut, obwohl Falko sicher war, dass die beiden etwas ahnten. Sie waren Vollblutermittler, genau wie er. Es war ihr Beruf, die Menschen um sich herum genau zu beobachten. Doch selbst wenn sie es wussten oder zumindest ahnten, dass es privat bei Falko nicht zum Besten stand, waren sie höflich genug, ihn nicht darauf anzusprechen.

Er ließ seinen Blick über die Raststätte schweifen, als er ins Freie trat. Was machte er hier eigentlich? Wäre es nicht besser gewesen, sich gemeinsam mit Heike eine kleine Auszeit zu nehmen, um festzustellen, was sie noch verband? Tat er nicht genau das, was sie ihm immer mal wieder zum Vorwurf gemacht hatte? Spielte er einsamer Wolf, der stets alles mit sich selbst ausmacht? Er schlang sich den Schal, den er von Heike zu Weihnachten bekommen hatte, um den Hals, zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und ging zu seinem Auto. Kurz überlegte er, dann zog er sein Handy hervor und wählte einen Kontakt aus. Es klingelte zweimal.

»König?«

»Oli? Hier ist Falko.«

»Was? Mit dir hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet. Frohes neues Jahr!«

Es tat Falko gut, die Freude in der Stimme des Freundes zu hören. »Dir auch! Wie sieht’s aus bei dir?«

»Alles bestens. Bei uns ist’s im Moment ruhig. Offenbar sind die Straftäter alle noch im Weihnachtsurlaub.« Er lachte auf. »Ich hab ein paar Tage Urlaub genommen.«

»Ach ja? Ich auch. Hättest du dann Lust, dich mit mir auf ein Bier oder einen Wein zu treffen?«

»Wieso? Bist du in Flensburg?«

»Noch nicht, aber auf dem Weg an die Küste. Dann würde ich dort Halt machen.«

»Mensch, Falko. Das würde mich wirklich freuen. Wann kannst du hier sein?«

Falko sah auf die Uhr. »In zwei Stunden etwa, würd ich sagen.«

»Perfekt! Ich koche uns was für heute Abend. Oder willst du lieber Essen gehen?«

»Mir wär’s bei dir lieber.«

»Mir auch. Und bevor du was sagst, ich mach direkt die Couch fertig. So kannst du nachher den Wagen stehen lassen und wir haben mal kein zeitliches Limit.«

»Okay. Dann bis nachher.«

»Ja, bis dann. Ich freu mich echt auf dich.«

Falko klickte die rote Taste, steckte sein Handy in die Jackentasche und stieg ins Auto. Seine Stimmung hatte sich schon jetzt erheblich verbessert. Oliver König war genau wie er Kriminalhauptkommissar. Er hatte sich vor über zehn Jahren in Flensburg niedergelassen, war 41 Jahre alt, nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Ein sportlicher Typ, der trotz seines ernsten Berufes immer eine gewisse Leichtigkeit ausstrahlte. Etwas, das Falko von sich leider nicht behaupten konnte. Sie hatten sich vor Jahren bei einer Fortbildung kennengelernt, den Kontakt stets aufrechterhalten und waren schließlich gute Freunde geworden. Schon oft hatte Oliver Falko um dessen Profilermeinung gebeten, wenn dieser sich bei seinen Ermittlungen in einer Sackgasse befand und einen neutralen Blick auf die Fakten benötigte. So hatte Falko oft einen Impuls geben können, um einen Fall neu zu betrachten und die Ermittlungen in eine weitere Richtung zu lenken.

In Flensburg würde er noch irgendwo ein oder zwei Flaschen besorgen. Oliver bevorzugte genau wie er selbst Rotwein. Er startete den Motor und fuhr los. Endlich ein Ziel vor Augen, auf das er sich freute.

Gute zweieineinhalb Stunden später drückte er den Klingelknopf zu Olivers Wohnung in einem Mehrfamilienhaus am Rand der Altstadt und wartete, bis er den Summton hörte. Dann trat er ins Treppenhaus.

»Da bist du ja.« Oliver stand in der geöffneten Wohnungstür. »Mensch Alter, komm rein.«

Die Männer umarmten sich zur Begrüßung. Eine Geste, die Falko mit nur sehr wenigen Menschen tauschte.

»Es ist echt schön, dich zu sehen«, bekräftigte Falko. »Ist ’ne ganze Weile her.«

»Das kannst du laut sagen. Gib mir deine Jacke.«

»Danke.« Falko trat vom Flur aus ins Wohnzimmer und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Hier hat sich aber einiges verändert. Hast du eine Freundin?«

»Hatte«, bemerkte Oliver grinsend. »Die Frau ist wieder weg, ihren guten Geschmack hat sie hiergelassen.«

»Was Ernstes?«

Oliver wiegte den Kopf. »Schon, aber ich bin drüber weg. Der Dienst«, er zuckte mit den Schultern. »Du weißt ja, wie’s ist. Hier musste ich mal eine seit Langem geplante Feier bei Freunden absagen, da mal einen Besuch im Konzert, weil die Herren Straftäter sich so ungern an Bürozeiten halten. Da hat’s ihr irgendwann gereicht. Doch wir verstehen uns noch immer gut. Sie hat inzwischen einen neuen Freund, kommt aber gelegentlich noch vorbei. Wenn du verstehst …« Er zwinkerte.

»Ich verstehe«, bemerkte Falko grinsend.

»Ist eben nicht überall wie bei dir und Heike«, brachte Oliver mit bedauernder Geste hervor, sah jedoch, wie sich sofort Falkos Gesichtsausdruck veränderte.

»Ist was passiert?«

»Ach, was soll ich lang drum herumreden? Genau deshalb bin ich für ein paar Tage weg. Meine Frau hat auch von Zeit zu Zeit jemanden besucht«, brachte er spöttisch hervor.

»Oh. Und jetzt hast du dich von ihr getrennt?«

»Ja und nein. Sie war ausgezogen, ist dann wieder eingezogen. Das Übliche eben. Aber es ist nicht mehr das Gleiche.« Er seufzte. »Ich bin nicht sonderlich gut im Verzeihen.«

»Oh Mann. Tut mir echt leid. Ich dachte immer, ihr beide wärt das perfekte Paar.«

»Dachte ich auch. Bis ich sie beim Lügen erwischt habe und sie mir alles erzählt hat. Es ging über mehrere Monate. Kein gutes Gefühl, so ein Idiot gewesen zu sein.«

»Kann ich mir vorstellen.« Oliver deutete auf die Couch. »Setz dich erst mal. Dann können wir in Ruhe erzählen. Rotwein?«

»Ja.« Falko öffnete seine Tasche und zog zwei Flaschen hervor. »Ich hab auch direkt welchen mitgebracht.« Das war eigentlich nicht unbedingt die Zeit, zu der er üblicherweise Wein trank. Aber heute war das was anderes.

»Perfekt«, urteilte Oliver, als er die Etiketten besah. »Hast du auch Hunger?«

»Noch nicht.«

»Okay. Dann nur der Wein. Kommt sofort.«

2. Kapitel

Die Stille und die Dunkelheit in der Nacht waren das Schlimmste. Tagsüber, wenn er mit den anderen zusammen war, ja selbst, wenn sie sich untereinander stritten, gab es so etwas wie Normalität. Doch in der Nacht kreisten seine Gedanken unaufhörlich, Verzweiflung und Panik vervielfachten sich, sodass er kaum noch Luft bekam. Jeden Abend schlief er mit der Angst vor seinen Träumen ein. Und dann, sosehr er sich auch dagegen wehrte, kam der Schlaf und riss ihn mit sich in eine Schwärze, aus der es kein Entrinnen gab, die auf direktem Weg in den Tod führte. Er wusste es. Er wusste, dass die Nacht kommen würde, in der er nicht mehr zurückkehrte. Doch davor hatte er keine Angst. Nur vor den Schmerzen und davor, dass seine Albträume schon am nächsten Tag wieder grausame Realität sein würden. Am Anfang, als er noch neu hier war und niemals geahnt hätte, hier sein Dasein fristen zu müssen, war ihm in seinen Träumen noch das Bild seiner Mutter erschienen. Er vermisste sie so sehr, dass sich sein Herz beim bloßen Gedanken an sie zu verkrampfen schien. Dabei hatte sie eigentlich nie viel für ihn übrig gehabt, und manchmal, wenn sie betrunken, wütend oder beides war, hatte sie doch ziemlich fest zugeschlagen. Aber dennoch war sie seine Mutter. Und auch wenn die anderen ihm widersprachen, konnte und wollte er nicht glauben, dass sie auch nur ahnte, dass er hier festsaß. Noch immer meinte er, die Hand zu spüren, die sich auf seinen Mund gelegt, und den schmerzenden Griff des Mannes, der ihn gepackt und in das Auto geschleudert hatte. Heute wusste er, dass es Dieter gewesen war, der ihn verschleppt hatte. An die Fahrt selbst konnte er sich nicht mehr richtig erinnern, weil er durch den Sack, den sie ihm über den Kopf gestülpt hatten, ohnehin nichts hatte sehen können. Doch den Geruch, den er damals zum ersten Mal wahrgenommen hatte, würde er nie vergessen. Noch heute löste er Ekel in ihm aus, immer dann, wenn nicht Janko oder Laszlo kamen, sondern Dieter, um ihn zu holen. Er wusste nicht, warum ausgerechnet er damals aus seinem Bett geholt und hierhergebracht worden war. Rasch rollte sich Marek auf die andere Seite, als könne er sich von den Erinnerungen wegdrehen.

»Kannst du nicht schlafen?« Er zuckte zusammen, als er Louisas Stimme hörte.

»Nein«, gab er hauchend zurück.

»Ich auch nicht.«

Marek hörte, dass sie ein Schluchzen unterdrückte. Eine Weile sagte keiner von beiden etwas, sie starrten mit offenen Augen in die Dunkelheit.

»Morgen ist es wieder so weit«, flüsterte Louisa dann.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich habe es vorhin gehört, als ich aufs Klo ging. Janko hat es gesagt. Er sagte, dass Leila morgen kommt.«

»Janko war gar nicht hier«, widersprach Marek rasch und mit klopfendem Herzen, als wolle er sich selbst einreden, dass Louisa sich geirrt haben musste.

»Doch«, sagte sie leise. »War er. Du hast geschlafen, und wir wollten dich nicht wecken.«

»Seid still«, forderte Michi barsch. »Wir wollen schlafen.«

»Entschuldige«, gab Louisa kleinlaut zurück. »Gute Nacht.«

Marek hörte, dass Louisa leise vor sich hin schluchzte. Am liebsten hätte er sich zu ihr gelegt und sie in den Arm genommen, doch sein Herz schlug noch heftiger als zuvor. Morgen also, war sein letzter Gedanke, bevor auch ihm eine Träne über die Wange rollte. Vielleicht war es ja doch heute Nacht so weit, dass der Tod den Schlaf besiegte.

*

Samstag, 04. Januar, 10.10 Uhr

Falko öffnete ein Auge und kniff es sofort wieder zu. Himmel, was hatte er für einen Brummschädel. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so viel Alkohol getrunken hatte. Er hielt sich den Kopf, als er sich aufrichtete, und setzte sich an die Couchkante. Wieder presste er die Augen aufeinander und wartete einen Moment, bis er sich sicher sein konnte, das Tageslicht einigermaßen aushalten zu können.

Es klapperte in der Küche und Kaffeeduft machte sich breit. Falko stand auf und schlurfte hinüber. Oliver stand an die Küchenplatte gelehnt und leerte gerade ein Glas.

»Guten Morgen. Mann, du siehst genauso aus, wie ich mich fühle.« Oliver deutete auf das Glas in seiner Hand. »Auch ein Aspirin?«

Falko nickte. »Alter, hab ich einen Schädel.« Er ging zum Küchentisch hinüber und setzte sich auf einen der Stühle.

Oliver griff ein weiteres Glas aus dem Küchenschrank, warf eine Tablette hinein und füllte mit Wasser auf. »Hier. Das hilft«, brachte er etwas gequält hervor. »Hast du eine Ahnung, wann wir ins Bett gekommen sind?«

Falko schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass ich zuletzt vor 20 Jahren so betrunken war.«

»Kein Wunder«, urteilte Oliver. »Ich habe eben nachgesehen. Wir haben uns irgendwann auch noch Whiskey reingezogen und einen Birnenschnaps, den ich mal geschenkt bekommen hab.« Er schüttelte sich.

»Wir sind ja echt voll daneben«, meinte Falko schmunzelnd und war dankbar, als Oliver ihm das Glas mit der aufgelösten Schmerztablette reichte.

»Ich geh eben zum Bäcker und sehe zu, ob ich noch Brötchen bekomme«, schlug Oliver vor. »Danach wird’s uns besser gehen.«

»Was hältst du davon, wenn ich dich zum Frühstück einlade? Wir machen uns fertig und gehen irgendwo hin. Dann kriegen wir gleich mal ein bisschen Sauerstoff in die Lungen. Das hilft.«

»Streber!« Oliver grinste ihn an und schaltete die Kaffeemaschine aus. »Na gut, dann eben Sauerstoff.« Er lachte auf. »Ich springe kurz unter die Dusche. Trink du in Ruhe deine Kopfschmerztablette. In der Zeit bin ich so weit und du kannst ins Bad.«

Falko nickte nur und begann zu trinken. Wenn sich doch nur sein Kopf wieder wie sein Kopf anfühlen würde.

Nicht einmal eine Stunde später betraten sie das Café-Bistro »East-Side« auf der Ostseite der Hafenspitze, das einen fantastischen Blick über das Wasser auf die gegenüberliegende Westseite des Flensburger Hafens bot. Es war zu kalt, um auf der großen Terrasse mit direktem Blick auf das Wasser Platz zu nehmen, doch sie fanden einen schönen Fensterplatz. Der Wind peitschte Regentropfen gegen die Fensterscheiben.

Falko hatte recht behalten, dass ein wenig frische Luft und Bewegung ihnen guttun würde. Auf dem kurzen Weg vom Parkplatz zum Café hatte der Wind ihnen die Regentropfen ins Gesicht geschleudert und ihre Wangen gerötet. Trotzdem fühlte sich sein Kopf noch immer an, als würde er nicht zum Rest des Körpers gehören.

»Wirklich toll hier«, sagte Falko. »Ich mag diesen Holzhausstil.«

»Hoffentlich bleibt das so«, meinte Oliver. »Es gibt Gerüchte, dass das Café verkauft werden soll.«

Die Bedienung kam an den Tisch, und beide bestellten sich ein kleines Frühstück mit Rührei und dazu schwarzen Kaffee. Kaum, dass er den ersten Bissen genommen hatte, klingelte Olivers Handy. Er warf nur einen kurzen Blick auf die angezeigte Nummer. »Die Dienststelle.« Er verdrehte die Augen. »König.«

Oliver lauschte, während Falko sich Rührei in den Mund schob und von seinem Brötchen abbiss.

»Und was ist mit Kurt?«, fragte Oliver und verzog das Gesicht. »Verstehe. Und Martin?« Wieder hörte er aufmerksam zu. »Ja, alles klar. Schick mir die Adresse auf’s Handy. Und sag auch Stefan Bescheid. Ich mach mich gleich auf den Weg.« Er drückte das Telefonat weg.

»So eine Scheiße«, fluchte er leise.

»Was ist?«

»Ein Toter, und die Hälfte der Leute auf der Dienststelle sind krank. Ich muss da hinfahren. Tut mir leid, mit dem Frühstück. Kannst du dir zurück ein Taxi nehmen?«

»Ja klar, kein Thema. Ich kenn das ja.« Falko überlegte kurz. »Oder soll ich mitkommen? Ein zweites Paar Augen sieht vielleicht mehr.«

»Jetzt wirklich? Da sag ich nicht Nein.«

»Dann los.« Falko füllte das Rührei zwischen zwei Brötchenhälften und klappte diese dann zusammen. Er winkte der Kellnerin zu, bezahlte und machte sich mit Oliver, der sich ebenfalls zu essen genommen hatte, was er tragen konnte, auf den Weg.

König sah auf sein Handy. »Wir müssen in die Straße ›Schöne Aussicht‹ im Solitüde«, murmelte er.

Falko zuckte mit den Schultern. »Du wirst wissen, wo das ist. Dann kann ich in der Zeit mein Brötchen aufessen.« Oliver öffnete die Zentralverriegelung seines Audi. Sie stiegen ein, und bevor Oliver den Schlüssel ins Zündschloss steckte, biss er noch einmal herzhaft von seinem Brötchen ab. »Ist doch immer das Gleiche. Wirklich mal freizuhaben, ist auch nicht mehr als ein frommer Wunsch.«

»Ach, hör doch auf. Du machst den Job genauso gern wie ich.«

König grinste. »Stimmt. Und ich finde es klasse, dass du mitkommst. Dann lös du mal den Fall, Herr Profiler, damit wir heute Abend eine ruhige Kugel schieben können.« Er startete das Fahrzeug. »Du bleibst doch noch, oder?«

»Einen Tag bestimmt. Aber eigentlich wollte ich ins Hotel.«

»Tja, und eigentlich wollte ich heute freimachen. Pläne ändern sich.«

Während der kurzen Fahrt waren die beiden mehr mit ihren Brötchen beschäftigt als damit, sich zu unterhalten. Falko hatte sich lange nicht mehr so gelöst gefühlt. Zwar machte ihm sein Kopfschmerz noch immer zu schaffen, doch die Tatsache, gleich mit Oliver einen Tatort zu begehen, an dem er gar nicht selbst zu ermitteln hatte, sondern sich bloß einbringen konnte, wenn er wollte, gefiel ihm.

Sie fuhren in eine ruhige Wohngegend am nördlichen Randbereich Flensburgs. Oliver stoppte den Wagen hinter zwei abgestellten Polizeiautos in der Einfahrt eines großen Einfamilienhauses. Rechts und links von der Tür standen hohe dunkle Keramikblumentöpfe mit Buchsbäumen. Ganz wie in den gepflegten, reicheren Gegenden üblich, in denen die Vorgärten als Visitenkarte ihrer Besitzer galten.

»Sieht auf den ersten Blick ganz harmlos aus, oder?«, fragte Oliver.

»Wieso? Was meinst du mit ›harmlos‹?«

»Na, warte mal ab.« Oliver bedeutete Falko, dass dieser vorgehen sollte, als in diesem Moment ein weiteres Auto heranfuhr und vor dem Haus hielt.

»Ah, da ist Stefan«, erklärte Oliver und wartete gemeinsam mit Falko, bis sein Kollege ausgestiegen war.

»Hallo, Stefan«, begrüßte Oliver den Mann, den Falko etwa auf Anfang 30 schätzte. Er war nur wenig kleiner als Oliver, hatte dunkelblonde, kurze Haare, trug eine Jeans und einen Kurzmantel. »Stefan, das ist mein Freund Falko Cornelsen aus Lüneburg. Er ist für ein paar Tage zu Besuch und hat angeboten, sich den Tatort kurz mit anzusehen. Falko, meine rechte Hand, Kriminaloberkommissar Stefan Krieger.«

Die Männer reichten sich die Hände. »Freut mich«, sagte Krieger. »Falko Cornelsen? Sie sind der Profiler, richtig? Oliver hat schon einige Male von Ihnen erzählt.«

»Bitte, Falko. Und ja, der bin ich.«

»Stefan.«

Falko fand den Kollegen auf Anhieb sympathisch, wohl auch, weil er ihn vom Aussehen ein wenig an Timo Breitenbach, seinen Kollegen in Lüneburg, erinnerte.

»Wollen wir?«, fragte Oliver und deutete mit der Hand in Richtung Eingang.

Stefan sah an dem Gebäude hoch. »Das ist es also. Hätte ich beim Vorbeifahren nie gedacht, was sich hinter diesen Mauern so abspielen soll.«

Falko fragte nicht, wie er diese Bemerkung meinte. Er registrierte, dass Krieger kurz auf die Uhr sah. Das zweite Mal, seit er aus seinem Auto gestiegen war.

»Bist du noch verabredet?«, fragte Falko an Stefan gewandt.

Dieser sah ihn verdutzt an. »Woher weißt du …?«

Oliver lachte auf. »Der Mann ist Profiler und beobachtet alles, was um ihn herum geschieht, Stefan. Und? Liegt Falko richtig?«

Stefan verzog kurz das Gesicht, dann musste auch er schmunzeln. »Ich dachte ja, ich hätte frei. Ich hab gestern Abend eine wirklich nette Frau kennengelernt. Sie ist noch bei mir.«

»Dann lass uns einen Zahn zulegen, damit sie nicht zu lange auf dich warten muss.«

Gemeinsam betraten sie das Haus, an dem unterhalb des Klingelschildes ein Hinweis auf eine Vermögensberatung angebracht war. Im Innern war es angenehm warm, jedoch nicht so überhitzt, wie Falko es häufig empfand, wenn er zu dieser Jahreszeit fremde Wohnungen betrat.

In dem geräumigen Flur standen zwei uniformierte Polizisten; Drei Türen gingen davon ab, zwei waren geschlossen, eine am Ende des Korridors war geöffnet. Von da drangen die gedämpften Stimmen einiger Frauen herüber. Entgegen der Atmosphäre, die an anderen Tatorten herrschte, kam es Falko hier entspannt, geradezu gelöst vor. Zumindest meinte Falko zu spüren, dass sich die Betroffenheit der Beamten in Grenzen hielt.

»Da vorn«, deutete einer der Polizisten mit dem ausgestreckten Arm. »Die Treppe runter und dann gleich links.«

»Danke.«

Oliver, Stefan und Falko stiegen die massiven Marmorstufen hinab, auf denen jeder ihrer Schritte nachhallte. Unten angekommen, sahen sie vier weitere Räume. Alle Türen waren geöffnet und erlaubten damit einen Blick in die Zimmer. Im Türrahmen hinten links stand ein etwa 40 Jahre alter, schlanker Mann, etwas entfernt von ihm saß auf einem Stuhl in der Ecke eine Frau in einem schwarzen Latexanzug.

Langsam machte Falko sich einen Reim auf die Andeutungen der Kollegen und auch darauf, wie entspannt die Streifenbeamten oben reagiert hatten.

»Sind Sie von der Kripo?« Der Mann stieß sich vom Rahmen ab und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

»Oliver König, Stefan Krieger und Falko Cornelsen.« Oliver deutete mit der Hand auf jeden von ihnen. »Wir sind von der Kriminalpolizei.«

Falko bemerkte, dass Oliver vermied, von der Kripo Flensburg zu sprechen. Schließlich hatte er an diesem Ort im Grunde nichts zu suchen.

»Axel Wieters, Notarzt. Leider konnte ich nichts mehr für ihn tun. Als ich ankam, hatte er keinerlei Vitalzeichen mehr.« Er deutete in den Raum hinein.

»Haben Sie etwas verändert?«

»Nein. Er lag schon so am Boden. Ich habe ihn gemeinsam mit den Rettungssanitätern so vorgefunden. Da war leider nichts mehr zu machen. Gerade kam noch ein Notruf rein, und ich hoffe, es ist in Ordnung, dass die Sanitäter wieder gefahren sind. Die Namen der beiden habe ich bereits Ihren Kollegen mitgeteilt.«

»Das ist kein Problem«, erwiderte Oliver, während Falko einen ersten kurzen Blick auf den Toten warf, der ausgestreckt am Boden lag. Zwei weitere Beamte vom Streifendienst warteten ebenfalls in dem Raum.

»Können Sie schon etwas zur Todesursache sagen?«, fragte König.

»Im Moment würde ich sagen, er ist an einem Herzinfarkt gestorben.«

»Anzeichen für Fremdeinwirkung?«

»Na ja, sehen Sie selbst. Die Fesselungsspuren sind noch gut zu erkennen, ebenso die Strangulationswunden. Allerdings dürften die ihm freiwillig zugefügt worden sein.« Er hob abwehrend die Hände. »Aber ich bin da kein Experte. Dem ersten Anschein nach hat sein Herz die Überreizung nicht verkraftet. Im Totenschein habe ich ungeklärte Todesursache eingetragen. Alles andere ist mir in dieser Situation hier«, er deutete mit einem Nicken zu der Frau in dem Latexanzug hinüber, »einfach zu gewagt.«

»Ich verstehe. Haben Sie vielen Dank. Ich denke nicht, dass wir im Augenblick noch etwas von Ihnen brauchen. Die Kollegen wissen, wo wir Sie erreichen können?«

»Selbstverständlich.«

»Gut. Wir melden uns, wenn wir noch Fragen haben sollten.«

Der Arzt beugte sich herunter und hob seine Tasche an. »Dann noch einen guten Tag«, verabschiedete er sich, nickte den Anwesenden zu und stieg die Stufen hinauf.

Falko warf Oliver einen kurzen Blick zu und deutete fast unmerklich mit dem Kopf zu der Frau. Oliver verstand, was Falko meinte. Er würde die Frau befragen wollen. Kurz nickte er Falko zu.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?« Falko war näher an sie herangetreten.

Sie zuckte kurz zusammen, als er sie ansprach. Langsam erhob sie sich, straffte ihren Körper und kam mit ruhigen, kontrollierten Schritten auf ihn zu. Der schwarze Latexanzug war bis zum Hals geschlossen und machte bei jedem ihrer Schritte ein sanftes Geräusch. Ihre Augen waren tiefschwarz geschminkt, ihre Haare zu einem straffen Knoten gebunden. Der knallrote Lippenstift war das Einzige an ihr, das sich farblich abhob.

»Ich bin Madame Noir«, gab sie mit tiefer, lasziv klingender Stimme von sich.

»Wir müssten dann doch Ihren richtigen Namen wissen«, stellte Stefan grinsend fest.

»Alexandra Brunner.«

»Und Ihre vollständige Anschrift, bitte.«

Alexandra Brunner nannte sie ihm.

Falko missfiel der offensichtliche Spott, mit dem Stefan die Frau behandelte. Doch er ließ sich nichts anmerken. Schließlich war er derjenige, der hier nur zu Gast war. Dennoch fragte er: »Können Sie uns sagen, was geschehen ist?«

Sie sah ihm lange in die Augen und hob dann das Kinn. Nicht auf arrogante Art und Weise, eher abschätzig, als wolle sie klarstellen, wer die Regeln in dieser Befragung bestimmte. Falko hielt ihrem Blick stand, wenngleich er das Gefühl hatte, als hätte die Begegnung in diesem Moment etwas Gefährliches an sich. Er hätte nicht genau sagen können, was es war. Doch kam es ihm fast so vor, als blickte sie durch seine Augen hindurch direkt in seine Seele. Er musste sich bemühen, eine Souveränität auszustrahlen, die er in diesem Augenblick gar nicht empfand.

Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als wäre der Blick eine Prüfung gewesen, die er bestanden hatte.

»Ich kann Ihre Frage wirklich nicht beantworten, Herr Kommissar. Es war nichts Außergewöhnliches, bis er zusammenbrach.«

»Nichts Außergewöhnliches?«, wiederholte Stefan verärgert. »Der Mann liegt tot am Boden. Da scheint doch offensichtlich etwas nicht ganz so geklappt zu haben, wie Sie es wollten, oder?«

Oliver hob die Hand, um Stefan zu bedeuten, dass er Falko die weitere Befragung überlassen sollte. Stefan atmete laut vernehmlich ein, nahm es jedoch hin.

»Gibt es hier einen Raum, in dem wir ungestört sprechen können?«, fragte Falko.

Alexandra Brunner deutete mit dem Finger zur Decke. »Oben gibt es einen Aufenthaltsraum.«

»Gut. Gehen Sie bitte nach oben und warten Sie dort. Meine Kollegen und ich werden gleich nachkommen.«

Ohne ein weiteres Wort folgte sie der Aufforderung und stöckelte geschmeidig mit ihren High-Heel-Stiefeln die Treppe hinauf.

Falko, Oliver und Stefan traten in den Raum, in dem der Tote lag. Die Kollegen vom Streifendienst, die dort gewartet hatten, begrüßten sie mit einer Kopfbewegung. »So was sieht man auch nicht alle Tage, was?«, fragte der eine von ihnen.

Von den Kommissaren ging keiner auf die Bemerkung ein. »Wissen wir, wer der Tote ist?«, fragte Oliver.

»Ja, Klaus Deepenbrock, Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei. Ich wette, so hat den in der Kanzlei auch noch keiner gesehen«, spottete der andere Polizist.

»Wir werden uns hier kurz umsehen. Es wird das Beste sein, ihr wartet oben, bis die Kollegen von der Spurensicherung eintreffen.«

»Ist gut.« Sie gingen hinaus.

»Ganz schön bizarr hier drin.« Oliver sah sich um. Falko erwiderte nichts und ließ seinen Blick umherwandern. Der Raum war komplett weiß gestrichen, keine Tapeten, nur weißer Putz. An den Wänden waren etliche Haken angebracht, an denen Riemen, Seile und Ketten hingen. An der Decke führten zwei Metallschienen entlang, in denen an Rollen befestigte Ketten hingen, die an der Wand eingehakt waren. Das einzig Farbige in diesem Raum war ein an der Wand montiertes Andreaskreuz, an dem jeweils am oberen und unteren Ende metallene Halterungen angebracht waren. Der Boden war nicht gefliest, sondern bestand aus grauem, stumpf wirkenden Estrich. Alles, bis auf das Kreuz, erinnerte Falko an einen mittelalterlichen Folterraum. Es roch nach Leder und nach etwas, das Falko nicht näher benennen konnte. Er meinte jedoch, dass es ein öliger Geruch war. Die Atmosphäre in dem Raum war kalt, rau, grob und hatte für Falko etwas sehr Befremdliches. Nur im Vorbeigehen hatte er einen Blick in die anderen Räume geworfen, die an diesen angrenzten. Soweit er es hatte erkennen können, waren diese gemütlich, eher verspielt und vorwiegend in Rottönen eingerichtet. Er nahm sich vor, sobald sie hier fertig waren, auch dort hineinzugehen und sich umzusehen. Zunächst wollte er sich jedoch dem Toten widmen.

»Stört es euch, wenn ich ihn mir etwas genauer ansehe?«

Oliver machte eine einladende Handbewegung. »Fühl dich ganz wie in Lüneburg. Wir können von Glück sagen, dass du einen Blick auf das Ganze hier wirfst. Glaub mir, so was hab ich auch noch nicht gesehen.«

Falko sah auf den Toten herab. Er war mit eng sitzenden Ledershorts bekleidet, an den Handgelenken trug er breite Lederbänder mit Nietenbesatz. Um seine nackte Brust herum war ein Geschirr aus Riemen und Ketten gebunden, das in der Mitte in einem Ring zusammenlief. Neben seinem Kopf lagen eine weitere Ledermanschette mit Nieten, eine Fetischmaske und ein in ein Ledergeschirr eingelassener Gummiball, der offenbar dazu gedient hatte, ihn zu knebeln.

»Ich weiß echt nicht, was einem so was gibt«, bemerkte Stefan.

»Was? Tot zu sein?« Falko warf ihm einen fragenden Blick zu. »Wenn ich eines gelernt habe in all den Jahren, dann jeden Tatort auf seine ganz individuelle Art wahrzunehmen. Wir ermitteln hier in einem ungeklärten Todesfall. Versuch mal, den ganzen Lack- und Lederkram auszublenden und dich auf das Opfer zu konzentrieren. Du wirst sehen, das hilft.«

»Hast recht. Entschuldige.«

»War nur als Ratschlag gemeint«, murmelte er, als er den Toten noch genauer betrachtete. »Sollte nicht belehrend klingen.« Falko ging in die Hocke. »Also männlich zwischen Ende 40 und Mitte 50, würde ich ihn schätzen. Offensichtliche Strangulationsmale am Hals. Von der Breite her passen sie zu dem Lederband mit den Nieten, das neben ihm liegt. Wir müssen Frau Brunner fragen, ob sie ihm die Gegenstände abgenommen hat.«

Oliver zog sich einen Einweghandschuh über die rechte Hand, ging ebenfalls in die Knie und befühlte die Brust der Leiche. »Er ist noch warm.« Er besah das Gesicht des Toten. »Wenn ich mir seine Haare ansehe, vermute ich, dass ihm die Maske rasch vom Kopf gezogen wurde. Vermutlich hat er das nicht mehr selbst gemacht.«

»Sehe ich auch so.«

»Hallo, Oliver, Stefan.« Ein Mann von der Spurensicherung stand mit seinem Kamerakoffer in der Tür. »Können wir gleich rein?«

»Hallo, Thomas.« Oliver deutete auf Falko, der in diesem Moment aufstand. »Thomas Wiedehöfer, das ist Falko Cornelsen von der Kripo Lüneburg. Er unterstützt uns in dem Fall.«

Die Männer nickten sich zu.

»Können sie rein?«, fragte Oliver an Falko gewandt.

»Ja, sicher. Ich denke, wir haben für den Moment alles gesehen.«

»Dann räumen wir mal das Feld.« Oliver bedeutete Stefan, mit nach draußen zu kommen.

»Könnten Sie bitte den gesamten Raum fotografieren?« Falko deutete mit dem Zeigefinger nach oben, »auch die Decke, bitte?«

»Geht klar.« Wiedehöfers Blick folgte Falkos Finger. Er zog kurz die Augenbrauen hoch, als er das Metallgestänge mit den Ketten darin sah, und machte sich gleich an die Arbeit.

Der Aufenthaltsraum, in dem sie saßen, war ganz offensichtlich nur für die Frauen hier und nicht für ihre Kundschaft eingerichtet worden. Es gab eine Küchenzeile, auf der sich ein Kaffeeautomat befand. Der Herd machte nicht den Eindruck, als ob er oft benutzt worden sei. Auf der Stellfläche daneben stand eine Mikrowelle, den Abschluss bildete ein Kühlschrank. Ansonsten gab es einen Tisch mit vier Stühlen, die von Material und Muster nicht zusammenpassten.

Auf dem Weg nach oben hatte Oliver Falko und auch Stefan gesagt, dass er Falko gern die Befragung übernehmen lassen würde. »Von dir können wir noch einiges lernen«, urteilte er und beobachtete, ob Stefan etwas einzuwenden hatte. Obwohl Oliver unten eine gewisse Spannung zwischen seinem jungen Kollegen und Falko bemerkt hatte, ließ Ersterer sich jedoch nichts anmerken.

»Frau Brunner«, begann Falko das Gespräch, nachdem sie sich zu der jungen Frau an den Tisch gesetzt hatten. »Bitte erzählen Sie uns, was geschehen ist.«

Sie sah ihn einen Augenblick lang an. »Sie scheinen nicht beeindruckt von dem, was Sie unten gesehen haben«, stellte Alexandra Brunner fest. Kurz sah sie zu Stefan hinüber, dann wieder zu Falko. »Er schon.«

Falko lächelte. »Möchten Sie meinen Kollegen provozieren oder versuchen Sie, meiner Frage auszuweichen?«

Sie gab das Lächeln zurück. »Macht der Gewohnheit.«

In Stefan brodelte es, doch er hielt sich zurück. So, wie sich die Domina und Falko ansahen, wirkte es auf ihn, als stünden sie sich in einem Kampf gegenüber. Alexandra Brunner sah Falko noch eine Weile in die Augen, was dieser regungslos und ohne mit der Wimper zu zucken zur Kenntnis nahm.

»Ich habe Decimus für 9.20 Uhr bestellt.«

»Mit Decimus meinen Sie Klaus Deepenbrock?«, fragte Falko, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte.

»Natürlich.«

»Und? War er pünktlich hier?«

»Selbstverständlich. Er hätte nicht gewagt, sich mir zu widersetzen.«

»Wie muss ich mir das vorstellen? Sie rufen Ihre Kunden an und bestellen sie her, wann Sie wollen?«

»Ich bevorzuge den Ausdruck ›Klienten‹ statt Kunden. Schließlich verkaufe ich kein Obst. Und nein, ich rufe sie nicht an. Sie erhalten eine SMS von mir, in der ich ihr Erscheinen zu einer bestimmten Zeit anordne.«

»Und wenn mal einer keine Zeit hat?«, fragte Oliver.

Sie blickte von Falko zu ihm, verzog spöttisch den Mund. »Mich interessieren etwaige andere Termine meiner Klienten nicht.«

Stefan zog die Augenbrauen hoch und wandte den Blick ab. Ihn nervte die Art dieser Frau extrem.

»Läuft das mit jedem Ihrer Klienten so?«, fragte Falko.

»Selbstverständlich.«

»Gut. Sie haben Herrn Deepenbrock also zu sich bestellt. Was ist dann geschehen?«

»Er kam her.«

»Und dann?«

»Helena hat ihn in Empfang genommen und ihm von mir befohlen, dass er sich duschen soll.«

»Helena ist Ihre Kollegin?«

»Sie ist eine Angestellte.«

»Helena, und weiter?«

»Helena Kurz.«

»Wir müssen sie ebenfalls sprechen.«

»Ich lasse sie gern für Sie holen.«

»Später, danke. Ich würde gern erst mit Ihnen weitermachen. Ist es üblich, dass Sie Ihre Kunden, Verzeihung, Klienten, zum Duschen schicken?«

»Je nachdem, in welcher Laune ich mich befinde.«

Falko ersparte es sich, zu seufzen. Diese Frau spielte mit ihnen, das war offensichtlich. Doch er durfte nicht die Beherrschung verlieren.

»Und dann?«

»Was meinen Sie?«

Falko sah sie an. Scheinbar gelassen antwortete er: »Wissen Sie, Frau Brunner, es wird wohl das Beste sein, wenn Sie uns aufs Revier begleiten und wir dort Ihre Aussage aufnehmen. Es scheint, als kämen wir hier nicht so recht weiter.«

»Aber sehr gern, wenn Sie es wünschen. Ich habe derzeit nichts anderes vor.«

Falko ärgerte sich, dass seine Drohung die gewünschte Wirkung verfehlte. Kurz tauschte er einen Blick mit Oliver, der ihm zunickte. Dann stand Falko auf. »Gut. Wenn Sie sich noch umziehen möchten.«

Sie schien kurz zu überlegen. »Ja, danke.«

»Und sagen Sie bitte Ihrer Kollegin Helena Bescheid. Wir werden sie ebenfalls mitnehmen.«

»Darf ich fragen, weshalb?«

»Ja, das dürfen Sie.«

3. Kapitel

Oliver hatte Stefan noch vor Ort mitgeteilt, dass er ruhig zu seiner neuen Flamme nach Hause fahren könnte. Falko und er würden die Befragung der Domina übernehmen. Ohnehin würde Oliver den Fall morgen noch seinem gesamten Team vorstellen. Ob Stefan insoweit einen Wissensvorsprung hatte oder nicht, war ohne Belang. Da konnte er ebenso gut noch ein paar nette Stunden mit seiner neuesten Eroberung verbringen, insbesondere da nicht einmal sicher war, ob hier überhaupt ein Fremdverschulden vorlag. Danach hatte Oliver zwei Streifenbeamte damit beauftragt, der Ehefrau die Nachricht vom Tod ihres Mannes zu überbringen. Er selbst war zusammen mit Falko zur Direktion gefahren, um dort Alexandra Brunner und ihre Kollegin Helena Kurz in Empfang zu nehmen. Falko sagte ihm auf dem Weg dorthin, dass er fest davon ausging, dass die Befragung länger dauern würde, was ihm aber nichts ausmachte.

»Bist du sicher? Immerhin bist du ja eigentlich nicht zum Arbeiten hergekommen.«

Falko schmunzelte. »Na ja, der Kollege hatte vorhin nicht ganz unrecht: So was sieht man wirklich nicht alle Tage.«

Sie erreichten die Polizeidirektion Norderhofenden 1, ein weißes, historisches Gebäude, fast direkt an der Südspitze des Hafens gelegen. Sie gingen hinauf in den 1. Stock, in dem Oliver sich ein Büro mit Stefan Krieger teilte.

»Setz dich«, bot Oliver Falko an. »Ich hole uns einen Kaffee nachsehen, ob sonst noch jemand vom Team in der Direktion ist. Dann stelle ich dir gleich die anderen vor.«

»In Ordnung.« Falko hängte seine Jacke über eine Stuhllehne und nahm Platz. Er sah sich in dem Raum um. Er war großzügig, größer als die Büroräume in Lüneburg. Die Schreibtische standen sich direkt gegenüber, die gesamte Einrichtung war in einem Hellgrau gehalten. In einem Regal an der Seite lagen mehrere Akten aufeinandergestapelt. Diverse Ordner standen nebeneinander aufgereiht. Die große Fensterfläche bot genug Tageslicht, doch draußen war es grau in grau, sodass die zusätzliche Beleuchtung eingeschaltet war. Neben den Schreibtischen standen insgesamt vier Besucherstühle.

Kurze Zeit später kam Oliver mit zwei Tassen Kaffee in den Händen und gefolgt von zwei Männern wieder herein.

»Falko, das sind die Kollegen Michael Gerster und Tammo Weinert, die weiteren Mitglieder meines Teams.« Er stellte die Tassen ab, während Falko sich erhob und den Männern die Hand schüttelte. »Und das ist Falko Cornelsen, Kriminalhauptkommissar und Profiler bei der Kripo Lüneburg.«

»Falko«, stellte dieser sich selbst knapp vor.