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Michael Gerwien

Schattenkiller

Thriller

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Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © krockenmitte / photocase.de, © cymage / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5198-0

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

»Wie viel?«, wollte der Chef von Gunther Gräber wissen.

»Bei 5.000.000 Euro haben wir aufgehört, wie abgemacht. Er wollte nichts davon wissen.«

»Und?«

»Wir haben ihm ein bisschen Angst gemacht.«

»Angst gemacht? Wieso? Ihr solltet ihm Geld anbieten, sonst nichts.«

»Aber er wollte doch kein Geld.« Gunther zuckte die Achseln. Unwillkürlich. Natürlich würde es der Chef nicht sehen. Er war in seinem Büro am anderen Ende der Leitung.

»Na und? Da geht man eben wieder und wartet auf neue Instruktionen.«

»Aber sagten Sie nicht selbst, wir sollten ihm Druck machen?« Er hatte sich das doch nicht eingebildet. Der Chef hatte es klar und deutlich so gesagt. Verdammt noch mal. Erst wurden einem Befehle gegeben und danach wurden sie abgestritten.

»Was ist? Hat er geredet, eingewilligt?«, wollte der Chef wissen, anstatt zu antworten.

»Eher nicht. Er kam nicht mehr dazu.«

»Was heißt das?«

»Na ja … also … ich glaube, er bewegt sich nicht mehr.«

»Du glaubst, er bewegt sich nicht mehr? Was ist das denn schon wieder für eine Scheiße? Bewegt er sich oder nicht?«

Der Chef hörte sich normalerweise nie besonders freundlich oder unfreundlich an. Eher neutral arrogant. Gerade klang er allerdings mehr als unfreundlich.

»Also, … eher nicht.«

»Eher nicht?«

»Sicher nicht.«

»Was jetzt? Eher nicht oder sicher nicht?«

»Na ja … also … der ist wohl … eher hin, sozusagen.«

»Hin? Tot etwa? Spinnst du?«

»Na ja … ja. Ist wohl so, was Jungs?« Gunther sah seine beiden vermummten Begleiter, die ihm in gut zwei Metern Entfernung gegenüberstanden, fragend an.

Synchrones Nicken.

»Schätze, er hatte ein schwaches Herz«, fuhr er fort.

»Ihr seid doch vollkommen wahnsinnig geworden. Ihr solltet ihm Geld anbieten und ihn ein bisschen einschüchtern. Von Umbringen hat kein Mensch etwas gesagt, ihr Vollpfosten! Das gibt’s ja nicht.« Die Stimme des Chefs überschlug sich vor Wut. »Wisst ihr, was ich jetzt für einen Ärger bekomme?«

»Ich weiß, voll blöd, Chef, aber …«

»Nichts aber. Bescheuerte Idioten. Das hat Konsequenzen. Das schwör ich dir.« Der Chef legte auf.

»Oh Mann, Leute«, wandte sich Gunther an seine stumm dastehenden Mitarbeiter. »Der ist ziemlich sauer. Und ich sag noch, schlagt nicht so hart zu.«

Kapitel 2

Zehn Minuten später.

»Chef, ich bin’s noch mal.« Gunther gab sich unterwürfig. Er wusste genau, dass er und seine Leute die Sache hier in der Wohnung von diesem Wissenschaftler gründlich verbockt hatten.

»Was willst du, Idiot? Seid ihr etwa immer noch draußen bei ihm am Wannsee?«

»Ich hab mir was überlegt.«

»Und?« Der Chef klang nach wie vor höllisch mies gelaunt. Die Sache mit der Leiche gefiel ihm gar nicht. So viel war sicher.

»Ich hab da so eine Idee.«

»Du hast eine Idee? Da bin ich aber gespannt. Was für eine Idee wird das wohl sein?«

»Könnte nicht ein Arzt herkommen? Sie kennen doch so viele Leute.«

»Und dann?«

»Er schreibt einen Totenschein wegen Herzinfarkt und nimmt ihn mit.«

Pause.

»Du bist gar nicht so blöd, wie du aussiehst, Gunther. Wartet dort. Ich schicke jemanden.« Der Chef schien sich wieder etwas zu beruhigen. »Habt ihr sein Haus durchsucht?«

»Hier ist nichts. Nicht mal Geld.« Gunther schob kopfschüttelnd die Unterlippe nach vorne.

»Habt ihr auch bestimmt überall nachgesehen?«

»Natürlich, Chef.« Gunther schnaubte genervt. »Kommen Sie her und schauen Sie selbst, wenn Sie mir nicht glauben.« Er hielt die Sprechmuschel seines Handys zu. »Ihr habt alles durchsucht, stimmt’s Jungs?«

Seine Kollegen nickten.

»Ihr habt also wirklich nichts gefunden?«, bohrte der Chef weiter. »Keine Unterlagen, Papiere, Notizen?«

»Nichts. Außer …«

»Außer was?«

»Da liegen so ’n paar unwichtige winzige Zettel auf seinem Schreibtisch.«

»Winzige Zettel? Was für Zettel?«, bellte der Chef. »Red schon. Da findet der Trottel irgendwelche Zettel und sagt das erst jetzt. Ich glaube, es hackt.«

»Es sind so … na ja … so normale kleine gelbe Zettel eben.« Gunther ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Meine Alte klebt mir die Dinger immer an den Kühlschrank. Sie schreibt drauf, wo das Essen ist und solche Sachen.«

»Dein Essen interessiert mich nicht die Bohne. Was steht auf den Zetteln, Idiot?«

»Namen und Adressen und kleine Notizen.«

»Bring die Zettel mit. Wenn du auch nur einen Einzigen davon vergisst oder verlierst, wird das sehr unangenehm für dich und deine Kumpels, kapiert?«

»Klar.« Gunther nickte.

Der Chef legte grußlos auf.

»Es klappt. Er schickt einen Arzt wegen dem Toten.« Gunther grinste seinen Kollegen erleichtert zu.

Kapitel 3

Der dunkelhaarige Mann, der sich Rebekka als Mitarbeiter der Stadtwerke vorgestellt hatte, umklammerte ihren Hals mit der rechten Hand wie ein Schraubstock. Gleichzeitig drückte er sie mit seinem ganzen Körper gegen die Wand.

Wegen des Gases wäre er hier, hatte er gerade eben an der Tür behauptet und gefragt, ob er einen kurzen Blick auf ihren Zähler werfen dürfe. Es gäbe Unklarheiten bei den Verbrauchsangaben, die sie der Zentrale gemeldet hätte.

Er hielt ihr für Sekundenbruchteile einen Ausweis, auf dem irgendetwas mit München stand, unter die Nase, steckte ihn aber gleich wieder ein.

Sie hatte sich nichts weiter dabei gedacht, da sie ihre Strom- und Gaszähler tatsächlich vor einigen Tagen abgelesen und die Zahlen anschließend auf der Website der Stadtwerke eingetragen hatte.

Es war genau vor einer Woche gewesen, wusste sie noch. Am Montag, den 7. September. Ihre Mutter hatte am selben Tag ihren 73. Geburtstag gefeiert.

Normalerweise kamen die Leute von der Stadt zwar eher tagsüber und nicht abends um halb sieben. Aber diesbezüglich gab es sicher auch Ausnahmen. Noch dazu war er ausgesucht höflich gewesen und hatte einen von diesen typischen blauen Monteuroveralls an.

Er besaß außerdem ein sympathisches Lächeln. Also hatte sie ihn hereingebeten.

Jetzt war ihr klar, dass das ein verhängnisvoller Fehler gewesen war. Möglicherweise sogar der schwerste ihres Lebens.

Ihr Kopf lief rot an. Sie bekam kaum noch Luft, zappelte, wand sich wie ein Fisch auf dem Trockenen.

In heller Panik blickte sie sich in ihrem mit viel dunklem Holz gemütlich eingerichteten Wohnzimmer nach einem Gegenstand um, mit dem sie zustechen oder zuschlagen könnte.

Auf dem Küchentisch lag das scharfe japanische Messer, ein Geschenk von ihrem Mann zu ihrem 39. Geburtstag im Frühjahr.

Aber leider war das hier nicht die Küche. Es gab nur Zeitschriften, Möbel und Sofakissen. Nichts, was im weitesten Sinne als Waffe zu gebrauchen gewesen wäre.

»Wo sind die Pläne?«, fragte der Eindringling sie jetzt bereits zum dritten Mal.

Sie schüttelte erneut hilflos den Kopf.

»Sie müssen deinem Mann zugeschickt worden sein.« Er lockerte den Griff um ihren Hals etwas.

»Ich hab keine Ahnung«, krächzte sie, sobald sie wieder Luft bekam.

»Komm schon. Dein Mann und du, ihr müsst davon wissen.«

»Schauen Sie doch selbst nach. Die Post meines Mannes liegt im Arbeitszimmer, gleich links von der Küche.« Sie deutete auf den Ausgang zum Flur.

»Na gut. Sorry, ist nichts Persönliches.« Er ließ sie los. Sah sie kurz ausdruckslos an. Schickte sie mit einem kräftigen Fausthieb gegen die Schläfe zu Boden.

Sie blieb regungslos liegen. Das Surren ihres Handys auf dem Küchentisch hörte sie nicht mehr.

Kapitel 4

»Geh doch endlich ran, Mädchen.« Der Münchner Journalist Wolf Schneider schüttelte ungeduldig das Smartphone in seiner Hand.

Wo mochte Rebekka nur sein? Beim Einkaufen? Vielleicht nahm sie aber auch ein Bad und das Handy lag außerhalb ihrer Reichweite.

Wie auch immer. In zehn Minuten würde er es erneut bei ihr versuchen. Dann hätte sie immer noch genügend Zeit, sich für das Abendessen zurechtzumachen, zu dem er gerade sehr kurzfristig samt Ehefrau per SMS von Martha Rögner nach Grünwald eingeladen worden war. Auch im Namen ihres Mannes.

Ihr Mann Bernhard Rögner war sein Chef beim »Tageblatt«. Erfahrungsgemäß empfahl es sich, der Einladung zu folgen, wenn Wolf keine Unstimmigkeiten im Büro riskieren wollte. Auch wenn es nur eine »spontane private Idee« war, wie auf dem Display stand.

Martha würde ihrem Mann die Hölle heiß machen, wenn Wolf nicht zusagte. Und Bernhard würde Möglichkeiten finden, seinen Frust an ihn weiterzugeben.

Er legte sein abhörsicheres Geschäftshandy auf den Tresen der kleinen Bar gleich neben dem Verlagsgebäude in der Innenstadt. Rückte seine dicke Hornbrille zurecht. Trank nachdenklich einen Schluck von seinem zweiten Feierabendbier.

Seit zehn Jahren arbeitete er jetzt für das »Tageblatt« und damit für Bernie, wie sich der Chef von seinen Freunden und näheren Bekannten – zu denen auch Wolf zählte – rufen ließ. Zuerst im Regionalen, danach Feuilleton. Seit letztem Jahr leitete er das Ressort Politik.

Eine lange Zeit. Oft aufregend, viel Routine, manchmal langweilig. Irgendwann würde er auf jeden Fall noch was anderes machen. Schließlich war er dieses Jahr erst 42 geworden. Kein Alter für einen Mann von heute. Irgendwas mit Reisen würde ihm gefallen. Weit weg. In exotische Länder, in denen alles ganz anders war als zu Hause.

Alles außer Rebekka. Seine geliebte Frau würde er, so wie sie war, mitnehmen. Immer und überall.

Ein Anruf, Absender unterdrückt. Er ging ran.

»Schneider.«

»Rück die Pläne raus«, meldete sich eine künstlich klingende Stimme. Als läge ein technischer Effekt darauf.

»Was?« Wolf meinte sich verhört zu haben.

»Pack sie in eine Plastiktüte und leg sie bis spätestens heute Abend, 21 Uhr in das Vogelhäuschen vor deinem Haus.«

»Moment mal. Was für Pläne denn?«, stammelte Wolf verdattert.

»Das weißt du ganz genau. Sie wurden dir zugeschickt. Wenn du sie nicht rausrückst, stirbt deine Frau«, fuhr die Stimme ungerührt fort. »Keine Polizei. Sonst stirbt sie ebenfalls.«

Der Anrufer legte auf.

Wolfs Mund blieb vor Staunen offen stehen. Er schüttelte ratlos seinen Kopf.

Vor fünf Jahren hätten dabei seine Haare noch mitgewippt. Als damals jedoch von einem Tag auf den anderen unschöne Geheimratsecken begannen, seine Stirn zu erobern, ließ er sie radikal bis auf einen Zentimeter abschneiden. Rebekka hatte ihn dazu überredet.

Mittellang, mittelbraun und fettig. Einen zweiten Guildo Horn bräuchte die Welt wirklich nicht, hatte sie gemeint.

Was war denn das gerade? Welche Pläne meinte der Kerl? Gestern lagen keine Pläne in der Post. Heute auch nicht. Und was sollte das heißen: »Wenn nicht, stirbt deine Frau«?

Sicher erlaubte sich nur jemand einen geschmacklosen Witz. Andererseits konnte es sich ebenso gut um eine Verwechslung handeln.

Unfassbar. Die Welt wurde von Tag zu Tag verrückter.

Wenn es wirklich ein Witz war, wem wäre so etwas zuzutrauen? Roman Radspieler fiel ihm ein. Sein alter Freund aus Schulzeiten und jetziger stellvertretender Ressortleiter Politik beim »Tageblatt«. Der Dicke, wie ihn so gut wie jeder respektlos nannte, hatte gelegentlich durchaus Sinn für schrägen Humor jenseitiger Art. Vor allem, wenn er zu tief ins Glas geblickt hatte, was er regelmäßig tat.

Roman war heute wieder mal früher aus dem Büro verschwunden. Angeblich, weil er Besuch aus Frankfurt bekam. Seine Schwester Karla und ihr Mann hätten sich angesagt. Er konnte sie alle beide nicht ausstehen, wie er Wolf bereits des Öfteren erzählt hatte. Die ältere Karla ging ihm seit Kindertagen auf die Nerven. Aber gegen die Verwandtschaft käme man nun mal nicht an. Egal, ob man sie mochte oder nicht.

Wolf fand Karla gar nicht so schlimm. Allerdings wusste er aus seiner eigenen Kindheit, dass sich die Verwicklungen in einer Familie von außen betrachtet immer anders darstellten als von innen.

Vielleicht hatte Roman die Geschichte mit dem Besuch aber auch nur erfunden, um früher in seine Stammkneipe zu kommen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er etwas in der Art tat.

In dem Fall trank er im Moment sicher bereits das fünfte Bier samt Obstler und befand sich somit in einem geradezu idealen Zustand für derbe Scherze.

Wolf rief erneut auf Rebekkas Handy an. Sie hob immer noch nicht ab.

Obwohl er sich so gut wie sicher war, dass der seltsame Anrufer ihn gerade eben auf den Arm nehmen wollte, begann er sich Sorgen um sie zu machen.

Er versuchte es auf dem Festnetz.

Wie zuvor auf dem Handy, meldete sich nur der Anrufbeantworter.

Kapitel 5

Der Mann im blauen Overall trat ins Freie hinaus. Er schloss langsam die Tür hinter sich. Die beginnende Abendsonne tauchte die gutbürgerlichen Eigenheime rund um das Haus der Schneiders in sanftes Licht.

Er hatte das Arbeitszimmer des Journalisten durchsucht. Keine Briefe mit Plänen, keine Pläne in den Schubladen und Regalen. Keine selbst gebrannten CDs, kein Stick. Nicht mal ein Computer.

So kam er nicht weiter. Sinnlos, das einstöckige Haus weiter zu durchsuchen. Es könnte Tage dauern, bis er fündig wurde.

Schneider musste die Unterlagen gut versteckt haben. Sicher rückte er sie irgendwann heraus, wenn er ihm weiter Druck machte. Wenn er erst mal richtig Angst um seine Frau bekam, würde er garantiert vernünftig werden.

Er durchquerte den schmalen Vorgarten mit den üppigen Rosenbeeten. Trat ohne Hast auf die Straße hinaus.

Direkt hinter Rebekkas BMW hielt er an, kniete nieder, tat so, als nestelte er an seinen Schuhen herum, während er flink einen Peilsender unter dem Kofferraum anbrachte.

Danach stützte er sich kurz am Kotflügel ab, erhob sich wieder und ging auf seinen weißen Lieferwagen zu, den er vorhin auf der Straßenseite gegenüber geparkt hatte.

Obwohl so viele Menschen unterwegs waren, fiel er dabei niemandem auf.

Das wusste er. Es war immer so.

Er konnte sich unsichtbar machen. Bereits als Kind war er wie ein Schatten durch die Welt geglitten. Immerzu. Nicht nur, wenn er etwas angestellt hatte und so unauffällig wie möglich seiner Bestrafung entgehen wollte.

Eine natürliche Eigenschaft, die ihm in seinem heutigen Berufsleben zupass kam.

Erpressung, Inkasso, Einschüchterung, Auftragsmord.

Seit 20 Jahren übte er sein Geschäft erfolgreich aus. Zunächst in Russland. Seit acht Jahren vermehrt in Deutschland und den Nachbarstaaten. Er erledigte seine Aufträge stets zur vollsten Zufriedenheit seiner Kunden. Deswegen wurde er regelmäßig gebucht, und deswegen lebte er immer noch.

Er drehte den Schlüssel im Zündschloss herum. Der Motor sprang an.

Nachdem er das Radio angeschaltet hatte, legte er den ersten Gang ein und fuhr los. Nicht zu schnell, nicht zu langsam.

Niemand in der reichen Vorstadt hier draußen würde sich später an einen weißen Lieferwagen erinnern.

Kapitel 6

Wolf versuchte zum dritten Mal, Rebekka zu erreichen. Handy und Festnetz. Wieder nichts. Dabei musste sie längst von ihrem Halbtagsjob in der Buchhandlung zurück sein.

Die Sache wurde ihm unheimlich. Zumindest auf ihrem Handy war sie normalerweise immer zu sprechen.

Er rief Roman an. Fragte ihn ohne Umschweife, ob er vorhin mit verstellter Stimme bei ihm angerufen hätte und dubiose Pläne von ihm verlangt habe.

Sein alter Freund verbrachte den frühen Abend tatsächlich mit seiner angereisten Schwester und deren Mann. Essen beim Italiener.

Demgemäß war er nicht im Geringsten zu Scherzen aufgelegt. Auch nicht zu albernen Telefonstreichen, wie er unwirsch zischte, bevor er auflegte.

Wolfs Unruhe nahm zu. Ein seltsamer Drohanruf eines Unbekannten. Rebekka war nicht zu erreichen. Keine gute Kombination.

Er bezahlte seine Rechnung bei Berthold, dem glatzköpfigen Barkeeper mit der geringfügig ausgeprägten Hasenscharte oder Lippenspalte, wie man heute sagte. Dann eilte er hinaus.

Mit seinem Auto wollte er nach den zwei Bier, die er getrunken hatte, nicht mehr fahren. Also ließ er es nebenan in der Tiefgarage des Verlagshauses stehen. Er winkte lieber ein Taxi von der Straße.

Kapitel 7

»Nach Harlaching in die Harthauser Straße. Schnell, bitte.« Wolf setzte sich eilig auf den Beifahrersitz.

»Harlaching. Okay. Aber wo ist die Harthauser Straße?« Der schmale dunkelhaarige Mann hinter dem Steuer sah ihn fragend an.

»Fahren Sie einfach Richtung Grünwald. Ich sage Ihnen, wie es weitergeht.«

Gab es inzwischen keine Taxifahrer mehr, die sich in der Stadt auskannten? Er war zumindest seit Langem mit keinem unterwegs gewesen.

Er schnallte sich an. Wenigstens fuhr der Chauffeur flott. Die Bäume und Gebäude am Straßenrand flogen an ihnen vorbei.

Noch 200 Meter bis zu seinem Haus. Wolfs Smartphone signalisierte eine SMS. Absender Martha. »Kommt ihr nun oder nicht?«

»Sag’s dir später«, schrieb er zurück. Das musste genügen. Es gab gerade weitaus Wichtigeres.

Der Fahrer hielt an. »16 Euro 30, bitte.«

»Stimmt so.« Wolf drückte ihm 20 Euro in die Hand.

Er stieg behände aus. Lief schnell auf den Eingang zu.

Mit fliegenden Fingern fischte er seinen Schlüssel aus der Hosentasche, zitterte ihn umständlich ins Schloss, öffnete, trat ein.

Kapitel 8

»Rebekka? Bist du hier?«, rief Wolf mit beunruhigter Stimme, nachdem er die Haustür hinter sich zugezogen hatte.

Keine Antwort.

»Rebekka. Sag doch was.«

Er sah in der Küche nach ihr, die direkt vom Flur abging. Nichts. Auch das Bad war leer.

»Rebekka!«

Als er ins Wohnzimmer kam, meinte er links von sich ein leises Stöhnen zu vernehmen. Er folgte dem Laut. Zunächst bemerkte er nichts.

Dann entdeckte er Rebekka. Sie lag reglos auf ihrem neuen Ledersofa. Auf dem Bauch. Ihr Gesicht der Lehne zugewandt.

Er eilte zu ihr.

»Rebekka, was ist mit dir? Warum gehst du nicht an dein Handy?« Schnell beugte er sich zu ihr hinunter, tippte ihr auf die Schulter, schüttelte sie vorsichtig. »Bekka-Schatz! Wach auf, alte Schlafmütze.«

Keine Reaktion.

»Rebekka. Wärst du bitte so nett und würdest endlich aufwachen.« Seine Stimme wurde lauter, ungeduldig. »Ich hab mir große Sorgen um dich gemacht. Mach schon.«

Sie rührte sich nicht.

Kapitel 9

15 Jahre früher.

Ein herrlicher Spätsommertag. Der Starnberger See war noch warm genug zum Baden. Die Berge erweckten dank des starken Föhns den Eindruck, als würden sie sich direkt vom Südufer aus in den weiß-blauen Himmel erheben.

Rebekkas dunkle Lockenpracht erregte Wolfs Neugier bereits von Weitem. Er und sein Freund Roman waren von München aus hergeradelt.

Sie hatten ihr Journalistenstudium gerade erfolgreich beendet. Ab nächster Woche erwartete beide ein lukrativer Job bei einem kleinen Anzeigenblatt.

Alles sah so weit gut aus. Die Welt gehörte ihnen.

Vor dem Studium waren sie bei der Bundeswehr gewesen. Zuerst normaler Wehrdienst, direkt vom Abi in Magdeburg aus. Weil sie insgesamt Spaß mit ihren Kameraden hatten, verlängerten beide und bewarben sich um Auslandseinsätze.

Was dabei genau auf sie zukommen würde, ahnten sie allerdings nicht. Sie wollten eigentlich nur für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt sorgen. Doch einer aus ihrer Truppe starb in Bosnien in einem Hinterhalt. Sie standen keine zehn Meter von ihm entfernt.

Eine harte Lektion für zwei harmlose Abiturienten aus mehr oder weniger gutbürgerlichen Verhältnissen. Lange nicht so aufregend und abenteuerlich, wie sie es sich vorher ausgemalt hatten.

Eher beängstigend und verstörend.

Roman hatte noch am selben Abend zu trinken begonnen und bis heute nicht mehr damit aufgehört.

Rebekka lächelte ihnen zaghaft von ihrem Badeplatz aus zu. Wolf ging zu ihr. Er fragte sie nach Feuer. Sie gab ihm ihr kleines Plastikfeuerzeug, worauf er sie auch noch um eine Zigarette bat. Er rauche eigentlich nicht. Ob das wirklich so ungesund sei, wie alle sagten.

Der Bann war gebrochen. Sie lachte ausgelassen. Ihre blauen Augen blitzten ihn dabei temperamentvoll an.

Am Abend lud er sie zum Essen beim Kiosk ein. Wiener Würstchen mit Senf und Brot für sie, Schnitzel und Kartoffelsalat für ihn. Dazu Bier für ihn und Weißwein für sie.

Roman schickte er vorher nach Hause. Der fügte sich nur widerwillig. Hatte wohl selbst ein Auge auf Rebekka geworfen.

Nach dem Essen kehrten sie zu zweit ans inzwischen menschenleere Seeufer zurück. Sie verbrachten dort die Nacht unter blinkenden Sternen.

Genial. Er hatte eine waschechte Münchnerin kennengelernt.

Am nächsten Morgen gestand sie ihm, dass ihr seine durchtrainierte schlanke Figur von Anfang gut gefallen hätte.

Sie wäre ein Engel auf Erden, hatte er erwidert. Klug, wunderschön, reinen Herzens, absolut faszinierend.

Ihre mit einem amüsierten Lächeln gestellte Frage, ob er da nicht ein kleines bisschen übertreibe, hatte er mit ernster Miene verneint.

Kapitel 10

»Hallo, Schatz.« Martha Rögner küsste ihren Mann zur Begrüßung flüchtig auf die rechte Wange.

»Hallo.« Er lächelte reserviert.

Bernie fühlte sich ihr nach wie vor innerlich verbunden. Keine Frage. Gleichzeitig wurde ihm in letzter Zeit aber immer mehr bewusst, wie sehr sie ihn seit Jahren manipulierte. Ganz egal, ob es dabei um einen gemeinsamen Konzertbesuch ging, den sie sich einbildete, um Kinder, die er wollte, sie aber nicht, um die Wohnungseinrichtung, oder um ihre Urlaubspläne.

Bisher hatte ihm das nichts ausgemacht.

Aber seit er vor drei Wochen in Paris zum ersten Mal mit seiner neuen rothaarigen Assistentin Manuela Schaller im Bett gewesen war, hatte sich vieles in ihm verändert. Vor allem seine Sicht auf seine Frau.

Irgendwann würde er ihr gründlich die Meinung sagen. Noch nicht gleich allerdings. Er würde spüren, wann der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war.

»Gestresst?«, erkundigte sie sich.

»Geht so.«

Er trat hinter die kleine Bar, die sie sich im Wohnzimmer eingerichtet hatten, und schenkte sich einen Whiskey ein. Single Malt. Etwas anderes trank er kaum. Bier schmeckte ihm nicht. Beim Wein waren seine Ansprüche an den Geschmack so speziell, dass sie nur selten befriedigt werden konnten.

»Stell dir vor, die Schneiders haben immer noch nicht ab- oder zugesagt. Ich hab Wolf bereits zwei SMS geschickt, bekomme aber keine anständige Antwort zurück.« Sie warf empört den Kopf zurück.

»Der wird sich schon melden.« Bernie winkte ab. »Bisher hat er sich immer gemeldet.«

Kapitel 11

Rebekka bewegte sich. Sie schien Wolf endlich gehört zu haben. Gott sei Dank, sie war nicht ohnmächtig, wie er bereits befürchtet hatte.

»Bekka-Schatz? Was ist los? Schlaftabletten?« Er atmete erleichtert aus.

Sie drehte ihm unter erneutem Stöhnen ihr Gesicht zu, schlug mit flatternden Lidern ihre Augen auf. Die stark gerötete Schwellung über ihrem rechten Jochbein fiel ihm sofort auf.

»Um Gottes willen. Bist du gestürzt?« Er blickte erschrocken auf sie hinab.

»Wolf …?«, erwiderte sie mit zitternder Stimme. »Ist er weg?« Sie sah sich ängstlich im Wohnzimmer um.

»Wer?«

»Der Mann … es war … ich dachte, ich muss sterben.« Tränen liefen über ihre Wangen.

»Aber was ist denn passiert? Welcher Mann?« Wolf hielt gespannt den Atem an.

»Wie lange war ich weg?«, erwiderte sie.

»Weg? Aber du bist doch hier.« Er schüttelte verwirrt den Kopf.

»Ich war ohnmächtig, Wolf. Der Mann … er hat mich gewürgt … und er hat mir einen Schlag verpasst … dann wurde alles schwarz. Er muss mich auf das Sofa gelegt haben.«

»Von welchem Mann redest du denn, um Himmels willen?«

»Er sagte, er wäre von den Stadtwerken.«

»Von den Stadtwerken?«

»Ja. Ich glaube schon …« Sie nickte unmerklich.

»Und der hat dir einen Schlag verpasst? Weil wir den Strom nicht bezahlt haben oder was?« Er kämpfte gegen ein unfreiwilliges Grinsen an.

Es musste von seinen angespannten Nerven kommen. Lustig war das hier jedenfalls gerade nicht.

»Nicht witzig«, erwiderte sie prompt. Sie stöhnte ein weiteres Mal.

»Stimmt. Entschuldige. War nur so ein … ja, Reflex oder so, saublöd. Sorry.« Er tätschelte behutsam ihre Hand.

»Schon gut. Klingt auch alles seltsam genug.« Sie brachte trotz ihrer schmerverzerrten Miene ein flüchtiges Lächeln zustande. »Aua, mein Kopf.«

»Warum hat dich dieses Schwein niedergeschlagen? Wollte er Geld?«

Wut und Angst keimten in ihm auf. Offensichtlich war man nicht mal in der besten Münchner Vorstadtgegend vor Verrückten und Kriminellen sicher. Wozu gab es eigentlich die Polizei?

»Er wollte Pläne, die man uns angeblich zugeschickt hätte. Keine Ahnung, was er meinte.«

»Was? Der hat mich vorhin auch angerufen!« Wolf sprang auf.

Es musste derselbe Kerl sein. Ihm fiel auf der Stelle die Drohung des Unbekannten wieder ein, dass er Rebekka umbringen würde.

»Und? Hast du sie?«

»Ich weiß genauso wenig darüber wie du.« Er lief aufgebracht im Zimmer hin und her. »Was für ein mieses Schwein. Wieso musste er dich deswegen gleich niederschlagen? Du hättest tot sein können!«

»Vielleicht wollte er uns damit Angst machen.«

»Wahrscheinlich.« Wolf blieb vor dem Sofa stehen. Er nickte langsam. »Weißt du noch, wie er aussah?«

»Nicht so richtig. Mittelgroß, dunkle Haare, braune Augen, etwas heller als deine. Total unauffällig.«

»Würdest du ihn wiedererkennen?«

Sie zuckte nur die Schultern.

»Der Mistkerl scheint es wirklich ernst zu meinen. Bleib bitte einfach liegen und ruh dich aus, Bekka-Schatz. Ich hol dir einen kalten Waschlappen und rufe einen Arzt.« Er entfernte sich rasch.

Kapitel 12

Auf dem Weg ins Badezimmer kam Wolf immer mehr ins Grübeln.

Was um alles in der Welt sollte das mit diesen Plänen? Warum waren sie so wichtig, dass Rebekka dafür bedroht wurde und sogar sterben sollte?

Fakt war, es gab keine geheimnisvollen Unterlagen im ganzen Haus. Auch in seinem Büro beim »Tageblatt« lag nichts dergleichen herum. Keine CD, kein USB-Stick. Nichts.

Er speicherte normalerweise alles auf seinem Notebook. Die Sicherung trug er in Form eines Sticks immer bei sich, genauso wie den kleinen Computer selbst.

Hatte er eine E-Mail übersehen? Hatte er in letzter Zeit jemanden interviewt, der ihm Pläne zuschicken wollte? Hatte es mit der Drogensache zu tun, an der er gerade dran war, oder mit dem Minister, der das Mädchen aus Grünwald vergewaltigt haben sollte? Mit dem Artikel über die Immobilienpreise in Grünwald, den er mit Roman schrieb?

Er kam auf keine befriedigende Erklärung.

Abhauen, schoss es ihm durch den Kopf. Nichts wie weg hier, bevor Schlimmeres passierte.

Ein Feind, der aus dem Nichts zuschlagen konnte, war unberechenbar. Dem wären sie so gut wie wehrlos ausgeliefert.

Also das Nötigste einpacken und irgendwohin verreisen, bis die leidige Angelegenheit sich geklärt hatte.

Ganz eindeutig handelte es sich hier um ein Missverständnis. Es konnte gar nicht anders sein. Der Erpresser würde früher oder später von selbst darauf kommen. Wenn es so weit war, würden sie zurückkehren und ihr Leben würde so harmonisch weiterverlaufen wie bisher.

Er legte Rebekka behutsam den nassen Waschlappen auf die Stirn. Verständigte den Notarzt. Machte die Sache dringend.

Die gestresst klingende Frau am anderen Ende der Leitung meinte, es wäre in spätestens zehn Minuten jemand bei ihnen.

Hoffentlich.

Nachdem er aufgelegt hatte, erzählte er Rebekka die Einzelheiten über den Drohanruf, den er erhalten hatte. Er wusste, es würde sie aufregen. Dennoch hatte sie ein Recht darauf, zu wissen, was los war.

Schließlich ging es in erster Linie um sie.

»Er will mich umbringen?«, fragte sie fassungslos, nachdem er geendet hatte. Sie starrte ihn ungläubig an. »Du lieber Gott. Was für Pläne sollen das denn nur sein?«

»Ich habe, wie gesagt, keine Ahnung, was dieser Irre will, Bekka-Schatz. Es gibt keine geheimnisvollen Pläne.« Er schüttelte den Kopf. »Zumindest keine, die in meinem Besitz sind.«

»Bist du dir wirklich ganz sicher?« Sie richtete sich halb auf. Wachsende Beunruhigung im Blick.

»Ich schwöre es dir. Oder hast du gestern vielleicht doch einen Umschlag in der Post übersehen, der an mich adressiert war?«

»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte sie entschieden. »Ich hab alles wie immer geordnet und die Sachen für dich auf deinen Schreibtisch im Arbeitszimmer gelegt.«

»Merkwürdig.« Er legte nachdenklich sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Ein größerer Umschlag mit Plänen wäre mir aufgefallen.«

»Es hätte auch ein kleiner Umschlag sein können. Oder ein USB-Stick oder eine CD.«

»Du kannst gerne selbst noch mal schauen. Ich weiß jedenfalls von nichts.«

»Ein Glas Wasser?«

Rebekka nickte.

Wolf verließ erneut das Wohnzimmer.

»Ich gehe kurz mal ins Arbeitszimmer«, fuhr er fort, als er mit dem Wasser aus der Küche zurück war.

»Da war er allerdings auch schon.« Sie trank gierig.

»Wer?«

»Dieser Mann. Ich hab ihm gesagt, er kann sich dort gerne umsehen.«

»Oh je. Ich ahne Schreckliches. Bin gleich wieder da. Bitte bleib liegen, bis der Arzt kommt.«

»Okay.« Sie ließ sich in die Polster zurücksinken. »Aber wenn wir diese ominösen Pläne nicht haben, kann es doch nur eine Verwechslung sein«, rief sie ihm hinterher. »Das muss man diesem Menschen schnellstens klarmachen.«

»Fragt sich bloß, wie.« Er blieb stehen, zuckte ratlos die Achseln.

»Ruf ihn zurück.«

»Geht nicht. Seine Nummer war unterdrückt.«

»Holen wir die Polizei.«

»Zu riskant. Der Typ scheint seine Drohungen wahr zu machen. Schau dich bloß mal an. Am besten zu niemandem ein Wort über ihn. Wir verschwinden erst mal eine Weile von hier. Ab sofort müssen wir alle beide sehr gut auf dich aufpassen.«

»Ich hab Angst, Wolf.«

Kapitel 13

14 Jahre früher.

Der jeweils andere war für beide die große Liebe ihres Lebens. Genau ein Jahr nach der ersten Nacht am Starnberger See heirateten sie.

Direkt am Seeufer.

Roman sowie Wolfs fünf Jahre jüngere Halbschwester Eva waren ihre Trauzeugen.

Wolf und Roman machten anschließend Karriere als Journalisten. Rebekka arbeitete weiter in der Buchhandlung, in der sie bereits nach dem Abitur angefangen hatte und noch heute voller Arbeitseifer zu Werke ging.

Studium hatte sie kein passendes für sich gefunden.

Aber Verkauf, Beratung, Organisation, Menschen. Das war genau ihr Ding. Außerdem liebte sie Bücher seit jeher.

Erfolg im Beruf, Glück und Harmonie im Privatleben. Alles in allem führten sie das vielbeneidete Leben eines Traumpaares. Gingen auf Partys, ins Theater, ins Konzert, waren überall gern gesehen.

So gut wie niemand sprach schlecht über sie. Keiner wollte ihnen etwas Böses.

Kapitel 14

In Wolfs Arbeitszimmer herrschte das pure Chaos. Akten und Bücher lagen überall auf dem Boden verstreut. Büroregale umgekippt dazwischen. Offenkundig hatte der Unbekannte das, hinter dem er her war, nicht gefunden. Klar, sonst hätte er vorhin nicht angerufen.

Sinnlos, in diesem heillosen Durcheinander weiterzusuchen.

Er ging zu Rebekka ins Wohnzimmer zurück.

Im selben Moment fuhr draußen der Notarzt mit Blaulicht und Martinshorn vor.

Wolf öffnete dem Dreierteam in den orangefarbenen Jacken. Er führte sie ins Wohnzimmer.

»Wissen Sie noch, was vor dem Schlag auf ihren Kopf geschah?«, wollte der junge Arzt, Dr. Wagner, von Rebekka wissen, nachdem er sie untersucht hatte.

»Ja.« Sie nickte entschieden. »Ich stolperte über den Teppichrand, knallte mit dem Kopf gegen die Sofakante, mir wurde schwarz vor Augen. Ich fiel um. Das war’s.«

»Ein Unfall also?«

»Ungeschicklichkeit.« Rebekka nickte erneut.

»Muss meine Frau ins Krankenhaus?«

Wolf sah auf die Uhr. Gleich halb acht. Es eilte. Bis um neun sollte er die Pläne, von denen er nichts wusste, in ihrem Vogelhäuschen deponiert haben.

Sie mussten unbedingt weg. Je länger sich das hier hinzog, desto größer wurde die Gefahr, dass Rebekka umgebracht wurde. Vielleicht sogar sie beide.

»Es wäre gut, wenn sie eine Nacht zur Beobachtung dortbliebe.« Wagner setzte einen ernsten Blick auf. »Sie hat ziemlich sicher eine Gehirnerschütterung. Damit sollte man nicht leichtfertig umgehen … Es war aber nicht so, dass Sie beide einen Streit hatten und dann …?« Er sah bedeutungsvoll von einem zum anderen.

»Was? Wie kommen Sie denn auf so was?« Wolf blickte entsetzt drein. Er straffte angriffslustig seine Schultern.

»Hatten wir nicht«, sagte Rebekka bestimmt. »Mein Mann war in der Arbeit. Außerdem lieben wir uns.« Sie brachte trotz ihrer Schmerzen ein zärtliches Lächeln Richtung Wolf zustande.

»Eben.« Er lächelte zurück. »Passen Sie besser auf mit vorschnellen Verdächtigungen, junger Mann«, wandte er sich an Wagner. »Dabei ist schon so mancher über seine eigenen Füße gefallen.«

»Tut mir leid. Fragen muss ich das aber. Häusliche Gewalt kommt häufig vor.« Wagner hob abwehrend die Hände.

»Wenn jemand das fragen muss, ist es doch wohl die Polizei, und nicht Sie«, empörte sich Wolf weiter.

»Okay. Rufen wir sie am besten gleich.«

»Was?«

Wolf schüttelte inwendig den Kopf über den Wichtigtuer. Hatte der Kerl keine Menschenkenntnis? Typischer Numerus-Clausus-Mediziner von heute. Guter Schnitt im Abi. Also rein ins Medizinstudium. Egal, ob man dafür die nötige Berufung mitbrachte oder nicht.

Haut endlich ab, Leute. Die Zeit drängt immer mehr.

»Die Polizei rufen, das schaffen wir gerade noch selbst.« Rebekka schien Wolfs Gedanken erraten zu haben. »Wir bedanken uns herzlich für Ihre Hilfe, meine Herren. Bitte gehen Sie jetzt. Wir wollen alleine sein. Auf Wiedersehen.« Ihr nachdrücklicher Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie meinte, was sie sagte.

»Wie Sie wollen, Frau Schneider.«

Wagner erhob sich. Er wirkte verschnupft. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, von seinen Patienten herumkommandiert zu werden.

»Kommt, Männer«, fuhr er an seine Begleiter gewandt fort. »Wir werden hier nicht mehr gebraucht.«

Wolf brachte sie zur Tür. Er schloss zweimal hinter ihnen ab.

Auf dem Rückweg zu Rebekka fiel ihm ein, dass sie bereits mehrmals darüber gesprochen hatten, dass zwischen ihm und ihr gelegentlich so etwas wie Telepathie aufblitzte. Ihr Verhalten gerade eben war wieder mal der beste Beweis dafür.

Wäre es doch nur so gewesen, bevor sie überfallen wurde. Er hätte es möglicherweise verhindern können. Ihr die Schmerzen und die Angst erspart.

Kapitel 15

19.30 Uhr, Isarauen, München, Oberbayern.

Noch eineinhalb Stunden, bis Schneider die Pläne hinterlegt hätte. Er würde sie sich holen, wie abgemacht seinem Auftraggeber zuschicken und abkassieren.

Damit wäre sein Job erledigt. Schneiders Frau musste er nicht einmal töten. Sie würde ihn niemals wiedererkennen. Völlig unmöglich mit der Perücke, die er aufgehabt hatte, und mit den braun gefärbten Kontaktlinsen.

Er zog kräftig an der Filterlosen, die er sich gerade gedreht hatte. Ihre Spitze leuchtete wie ein Glühwürmchen in der fortschreitenden Dämmerung.

Das spärliche Licht, die Vogelschwärme, das Rauschen des Flusses. Friedlich war es hier in den Isarauen.

Atem schöpfen. Genießen.

Wenn alles glattging, wäre dies sein letzter Auftrag. Höchste Zeit, sich endgültig zur Ruhe zu setzen und irgendwo im Süden die Sonne auf der Haut zu genießen.

Gestern zeigten sie einen Bericht über Burn-out im Fernsehen. Er hatte ihn in seinem Entschluss bestärkt, alles auf eine Karte zu setzen und die 5.000.000 Euro, die ursprünglich für Schneider gedacht waren, in die eigene Tasche zu stecken.

Danach nichts wie raus aus dem Todeskarussell. Nicht, dass er es auf einmal bereut hätte, Menschen einzuschüchtern, zu foltern, nötigenfalls auch umzubringen. Aber es machte lange nicht mehr so viel Spaß wie früher.

Abgestumpft?

Mochte sein. Vielleicht einfach zu viele Tote in all den Jahren.

Außerdem gab es da noch die Sache mit seinen Nerven. Sie waren angegriffen. Der viele Schnaps. Das Koks. Die Amphetamine. Er sollte damit nicht unbedingt weiter als Erlediger und Auftragskiller arbeiten. Früher oder später machte er einen entscheidenden Fehler deswegen.

Der könnte dann sein letzter gewesen sein.

Kapitel 16

»Hast du das Nötigste?«

»Moment. Ich bin noch nicht wieder ganz fit.« Rebekka bedachte Wolf mit einem vorwurfsvollen Blick. Sie ließ sich nicht gerne beim Packen hetzen. Mit starken Kopfschmerzen erst recht nicht.

»Wir fahren nicht in den Urlaub, Schatz. Wir sind auf der Flucht. Komm schon.« Er stand ungeduldig mit ihrem Autoschlüssel wedelnd neben der Haustür. »Lass den Wintermantel hier. Bis du den brauchst, sind wir längst wieder zurück.«

»Bestimmt?« Sie blinzelte unsicher.

»Ja. Verschwinden wir. Schnell. Es ist gleich halb neun. Vielleicht wartet der Kerl bereits irgendwo da draußen auf uns. Dann sehen wir sowieso alt aus.«

Er fühlte sich denkbar unwohl in seiner Haut. Hätte lieber gewusst, wann und von woher die Gefahr kam.

»Brauche ich mein helles Sommersakko?« Sie zog fragend die Brauen hoch.

»Nimm es mit«, zischte er. »Aber bitte beeil dich. Willst du etwa noch heute Nacht sterben?«

»Bin ja schon da. Es kann losgehen.«

Männer! Welche Frau konnte oder wollte so gut wie nackt aus dem Haus gehen? Keine, die sie kannte, zumindest.

Sie traten auf die Straße hinaus und stiegen in Rebekkas BMW, den sie immer direkt vor der Tür parkte. Die Garage war für Wolfs Mercedes, Reifen, Werkzeug und ihre diversen Fahrräder reserviert.

Rebekka fand das nicht richtig. Protestierte immer wieder dagegen. Aber er trumpfte jedes Mal mit dem Argument auf, dass der Mercedes um etliches teurer gewesen sei als ihr BMW.

Wolf setzte sich ans Steuer. Sie nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Er drehte den Zündschlüssel herum. Fuhr zügig los. Sie blickten sich immer wieder nach allen Seiten um.

Es sah so aus, als folgte ihnen niemand.

Sobald sie in die Grünwalder Straße stadteinwärts bogen, lehnte sich Rebekka erschöpft in ihrem Sitz zurück. Wolf ließ seine Augen nicht vom Rückspiegel. Die Angst weiter im Nacken.

Nichts.

Keine Scheinwerfer weit und breit. Offenbar war tatsächlich niemand hinter ihnen her.

Glück gehabt.

Der verkrampfte Griff seiner feuchten Hände um das Lenkrad lockerte sich etwas. Die hervorgetretenen Knöchel auf der Oberseite schimmerten noch eine Zeitlang weiter weiß im Licht der vorbeifliegenden Straßenlaternen.

»Wir fahren am besten an den Chiemsee«, schlug er vor. »Kannst du dich noch an das kleine Hotel in Prien erinnern, in dem wir vor Jahren einmal waren?«

»Wo wir das leckere Frühstück hatten? Gleich beim See?« Rebekkas Miene hellte sich auf.

»Genau das.« Er nickte.

»Klar kann ich mich daran erinnern. Von da aus ist es nur ein Katzensprung ins Wasser. Meinen Bikini hab ich Gott sei Dank eingepackt.« Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Und meine Badehose?«

»Auch. Ich denke schließlich immer an uns beide, wenn ich packe. Auch wenn es deswegen gelegentlich etwas länger dauert.«

Das saß. Wolf musste trotz der angespannten Lage grinsen. Als er zu ihr hinübersah, bemerkte er, dass es ihr genauso ging.

Kapitel 17

Er war zu früh bei den Schneiders angekommen. Und somit gerade noch rechtzeitig, um zu beobachten, wie sie in den BMW vor ihrer Tür stiegen.

Sobald sie ein Stück weit die Straße hinunter gefahren waren, rollte er lautlos direkt vor ihr Haus, hielt an, stieg aus, sah sich kurz nach allen Seiten um und eilte zu dem Vogelhäuschen im Vorgarten. Dort tastete er nach einem Umschlag, Papieren, einer CD oder einem USB-Stick.

Nichts. Keine Pläne.

Offensichtlich hatten sie seine Aufforderung nicht ernst genug genommen. Wie leichtsinnig von ihnen.

Sie schienen nicht zu ahnen, dass sie damit einen Fehler gemacht hatten. Möglicherweise den größten ihres Lebens.

Egal, wohin sie fuhren, er würde sie einholen. Der Peilsender, den er am frühen Abend sicherheitshalber unauffällig unter ihrem Auto befestigt hatte, würde ihm den Weg weisen.

Kapitel 18

»Die kommen bestimmt nicht mehr.« Martha Rögner trug den Schweinsbraten, den sie eigentlich für den Besuch der Schneiders zubereitet hatte, ins dunkel möblierte Esszimmer.

»So bleibt mehr für uns. Alles hat auch seine guten Seiten.« Bernie rieb sich voller Vorfreude auf das herrlich riechende Essen den Bauch.