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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer

ISBN 978-3-492-97445-5

© 2016 by Moby

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Porcelain. A Memoir« bei Penguin Press, New York, Penguin Random House.

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, unter Verwendung des Designs der amerikanischen Originalausgabe.

Covermotiv: Matthias Cramer/Corbis Outline

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Prolog

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PARKPLATZ, 1976

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DIE ZUKUNFT

Die Geschäfte am Hafen von Stratford, Connecticut, hatten längst geschlossen, nur der Waschsalon war noch geöffnet. Drin stand meine Mutter in Jeans und ihrer braunen Winterjacke, die sie für fünf Dollar im Laden der Heilsarmee gekauft hatte. Unter flimmernden Neonröhren lehnte sie an einem schäbigen Plastiktisch, rauchte eine Winston und faltete Wäsche. Die Kleider gehörten nur zum Teil uns, das meiste war von unseren Nachbarn, die sich manchmal von ihr die Wäsche machen ließen und ihr ein wenig Geld dafür gaben. An diesem Märzabend lagen die Geschäfte im Dunkeln, und außer unserem Chevrolet Vega stand nur noch ein anderes Auto auf dem Parkplatz. Die Luft war kalt und klamm, die Schneehaufen in den Ecken des Parkplatzes waren grau und schmolzen im Regen.

Alle zwei Wochen fuhr ich mit meiner Mutter zum Waschen zu der Ladenzeile am Hafen. Manchmal half ich ihr, manchmal saß ich auch nur auf den Plastikstühlen im Waschsalon und sah zu, wie die riesigen Trommeln der Trockner herumwirbelten. Meine Mutter war seit über einem Jahr arbeitslos, und ihre letzte Beziehung war in die Brüche gegangen, nachdem ihr Freund mit einem Messer auf sie losgegangen war. Oft weinte sie, während sie die Wäsche der Nachbarn zusammenlegte. Sie faltete wütend, eine Zigarette zwischen den Lippen, und ihre Tränen tropften auf die Hemden der Nachbarn. Ich war zehn.

Nachdem ich ihr beim Sortieren der Wäsche geholfen hatte, ging ich meistens nach draußen und streunte über den leeren Parkplatz. Oder ich ging an den Lieferbuchten und verrosteten Müllcontainern der Läden vorbei zum verlassenen Hafen. Die Mauern waren schwarz und verrußt. Irgendwann hatten hier Schiffe angelegt, aber nun ragten die Mauern schwermütig und schweigend aus dem schwarzen Housatonic River. Wenn ich Glück hatte, erspähte ich eine der riesigen Wasserratten, die aus einem Loch im Schlamm hervorschoss und in einem anderen verschwand.

An diesem Märzabend des Jahres 1976 war es zu nass und kalt für meine Erkundungsgänge, und im Waschsalon hing der Zigarettenrauch in dichten Schwaden. Während ich auf einem der kalten Plastikstühle saß und meiner Mutter zusah, wie sie faltete, rauchte und weinte, erschien mir unsere Armut noch bedrückender. Also setzte ich mich ins Auto, kuschelte mich in meine nasse Daunenjacke aus dem Secondhandladen und spielte mit dem Radio. Im steten Rhythmus trommelte der Regen auf das Dach des Chevrolet, und ich suchte nach einem Sender, der mir gefiel.

Ich hatte keinen festen Musikgeschmack. Wenn etwas im Radio lief, dann gefiel es mir. Ich nahm an, dass die DJs ihren Job verstanden und niemals etwas spielen würden, was nicht perfekt war. Jede Woche hörte ich Casey Kasems American Top 40 und kannte alle Hits auswendig. Lieblingslieder hatte ich nicht – ich verehrte sie alle, von den Eagles und ABBA über Bob Seger und Barry White bis zu Paul McCartney mit seinen Wings. Musik, die im Radio lief, verdiente unterschiedslos meine Verehrung.

Meine feuchten Jeans klebten am Kunststoffsitz des kalten Autos, aber ich hörte selig der Musik zu. Es war die Zeit von Disco, Rock, Progressive Rock, Yacht Rock und Balladen. Led Zeppelin wurde neben Donna Summer gespielt, und Aerosmith neben Elton John. Plötzlich hörte ich etwas Neues: »Love Hangover« von Diana Ross. Ich kannte Discomusik, aber in meinen Ohren unterschied sie sich nicht sonderlich von den anderen Sachen im Radio. Aber »Love Hangover« war anders. Schon der Einstieg klang sinnlich – irgendwie überirdisch und verführerisch – und machte mir Angst.

Alles, was mit Sex und Sinnlichkeit zu tun hatte, machte mir Angst und weckte in mir das dringende Bedürfnis, Zeichentrickfilme zu sehen. Wenn ich mit meiner Mutter Fernsehserien sah und die Darsteller in Maude oder Love Boat Zärtlichkeiten andeuteten, dann erstarrte ich und wartete schweigend darauf, dass die Szene endlich endete.

Aber »Love Hangover« war anders. Erstens wurde es im Radio gespielt, und schon deshalb musste es gut sein. Zweitens klang es futuristisch. Ich war begeisterter Fan von Raumschiff Enterprise und Mondbasis Alpha 1 und liebte alles, was irgendwie mit der Zukunft zu tun hatte. Die Zukunft war strahlend sauber und faszinierend, und vor allem kannte sie keine traurigen Mütter, die rauchend Wäsche falteten. Obwohl es um Sex ging, hörte ich »Love Hangover« bis zum Ende an. Es war ein futuristisches Lied im Radio, und weder das Radio noch die Zukunft hatten mich je im Stich gelassen.

Durch die regennassen Scheiben sah ich die verschwommenen Lichter des Waschsalons und fand mich allmählich damit ab, dass mir das Lied gefiel, obwohl es mir Angst machte. Es stand für eine Welt, die ich nicht kannte, für den Gegenpol meiner Welt – und meine Welt war unerträglich. Ich hasste die Armut, den Zigarettenqualm, die Drogen, die Scham, die Einsamkeit. Und Diana Ross verhieß mir eine Welt ohne Trauer und Enttäuschungen. Irgendwo gab es eine Welt, die sinnlich, futuristisch und hypnotisierend war. Und strahlend sauber.

Während ich im Auto saß, träumte ich von einer leuchtenden Stadt, die eine Ewigkeit von diesem leeren Parkplatz entfernt war. Ich stellte mir Menschen vor, die mit erhobenen Köpfen durch die glitzernden Straßen gingen und Glaspaläste betraten, von denen sie auf Diskotheken und Weltraumflughäfen blickten. Während der fiebrigen Schlussakkorde von »Love Hangover« stellte ich mir Tanzende vor, die ganz in Weiß gekleidet waren und aussahen wie Roboterengel.

Als das Lied zu Ende war, schaltete ich das Radio aus. Ich stieg aus, ging hinaus in den Regen und blickte über den leeren Parkplatz mit seinen Pfützen und schmelzenden Schneehaufen. Durch die Scheibe des Waschsalons sah ich, wie meine Mutter rauchte und Wäsche faltete. Es war unerträglich. Das Leben musste doch mehr sein als diese eisige, einsame Ladenzeile. Aber die Saat war gelegt und hatte sich irgendwo in mein Gehirn eingenistet. Ein Disco-Song im Radio hatte einen leisen Hoffnungsschimmer in mir geweckt: Eines Tages würde ich aus dieser toten Vorstadt herauskommen. Ich würde in eine Stadt kommen und dort in einen Schoß zurückkriechen – einen Disco-Schoß, der von futuristischer Musik erfüllt war. Ich stellte mir vor, wie ich eine Diskothek auf dem Dach des höchsten Gebäudes der Welt betrete und Tausende Menschen sehe, die mich lächelnd willkommen heißen.

Teil 1

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SCHMUTZIGES MEKKA

1989 – 1990

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1 ZEHN QUADRATMETER

Um sieben Uhr gaben die Hähne endlich Ruhe.

Die leer stehende Fabrik von Stamford, in der ich lebte, wurde von vier wiederkehrenden Geräuschen heimgesucht.

  1. Schüsse. Die Crackdealer lieferten sich regelmäßig Schießereien, die meistens nach Sonnenuntergang begannen.
  2. Lauter Gospelgesang. Jedes Wochenende wurden vor den jamaikanischen und puerto-ricanischen Ladenkirchen gegenüber große Missionszelte aufgebaut, in denen die Crackdealer zur Umkehr bewegt werden sollten.
  3. Public Enemy. Oder EPMD. Oder Rob Base und DJ E-Z Rock. Alle paar Minuten fuhr draußen ein Auto vorbei, aus dem »Fight the Power« oder »It Takes Two« dröhnte, dass mein Toaster klapperte.
  4. Hahnenschreie. Sämtliche Nachbarn der alten Fabrik schienen in ihren Hinterhöfen Hähne zu halten. Die fingen morgens gegen halb fünf an zu krähen – genau dann, wenn ich mich schlafen legen wollte. Ich hatte ein altes Radio neben meinem Bett, das ich zwischen zwei Sender einstellte, wenn ich schlafen wollte. Das Rauschen übertönte gerade so die morgendlichen Balzgesänge der Hähne.

Ich war zwei Jahre zuvor in die alte Fabrik gezogen und fühlte mich dort wohl. Im 19. Jahrhundert waren in den zwanzig oder dreißig gigantischen Ziegelhallen Türschlösser hergestellt worden. Jetzt, 1989, war die Fabrik nur noch eine finstere Burg in einem Viertel mit der höchsten Mordrate von ganz Neuengland. Ein Jahrzehnt zuvor hatte ein Immobilienspekulant den ganzen Komplex aufgekauft, eingezäunt und Wachleute davorgestellt, die darauf aufpassen sollten.

Einige der Wachleute besserten ihr Gehalt auf, indem sie Obdachlose und Hausbesetzer für 50 Dollar im Monat in den leer stehenden Gebäuden wohnen oder arbeiten ließen. Ich verdiente im Jahr an die 5000 Dollar, sodass ich mir diese »Pennermiete« gerade so leisten konnte. Ich hatte nur eine kleine Nische zwischen einem Produktionsstudio von Schwulenpornos und einem Künstleratelier, aber diese Nische war mein: Zehn Quadratmeter, auf denen ich leben und arbeiten konnte, solange die Wachleute ihre 50 Dollar einsteckten und wegschauten.

Die Wände meines Studios hatte ich aus alten Spanplatten zusammengezimmert, die mein Freund Paul und ich aus einem Müllcontainer gefischt hatten. Paul und ich hatten uns in der Highschool von Darien, Connecticut kennengelernt und uns angefreundet, weil wir beide Science-Fiction-Fans und die einzigen Armen der ganzen Schule waren. Meine Wände sahen aus wie braune Wolldecken, und in der sommerlichen Hitze sonderten sie einen widerwärtigen Gestank ab, der an den Müllcontainer erinnerte, aus dem wir sie gezogen hatten. Außerdem hatte mein Studio eine hübsche und stabile Tür, die wir aus einem leer stehenden Haus in der Nähe der Route 7 in Norwalk gerettet hatten, und auf dem Boden lag ein dicker beiger Teppich, den ich aus der Garage der Eltern eines Freundes hatte mitgehen lassen. Sie hatten mir zwar nicht erlaubt, ihren Teppich mitzunehmen, aber ich hatte kein schlechtes Gewissen, weil ich mir sagte, dass ich ihn zurückgeben würde, sobald sie seine Abwesenheit bemerkten. Obwohl ich keinen Staubsauger hatte, blieb der Teppich auf unerklärliche Weise makellos.

Auf einem kleinen Schultisch hatte ich mein Casio-Keyboard, meinen Alesis-Drumcomputer, mein vierspuriges TASCAM-Mischpult und einen schauderhaften Yamaha-Sampler aufgebaut. Weil ich mir keine Boxen leisten konnte, hörte ich meine Sachen über einen Kopfhörer von Radio Shack. Mein Essen kochte ich auf einer elektrischen Kochplatte und in einem Tischbackofen. Aber ich war zufrieden. Ich liebte die zerbröselnden Backsteine, die schweren Fabrikdüfte eines ganzen Jahrhunderts und mein großes, nach Süden hinausgehendes Fenster, durch das im Winter ein fahles Licht hereinfiel und im Sommer glühend die Sonne brannte.

Die Fabrik muss ungefähr zehn Hektar groß gewesen sein. Sie war so riesig, dass ich keine Ahnung hatte, wie viele Menschen dort lebten. Ich wohnte zwar nur auf zehn Quadratmetern, doch ich hatte Zugang zum gesamten Gelände. Manchmal düste ich mit dem Motorrad meines Freundes Jamie durch die leeren Hallen oder spielte Motorrad-Bowling: An einem Ende einer Halle stellte ich Flaschen auf und versuchte, sie mit den Rädern des Motorrads umzukegeln. Wenn mir langweilig war, unternahm ich Erkundungsgänge, auf denen ich alte Gasflaschen, Fässer mit Industriechemikalien, riesige verrostete Schraubenschlüssel, Trommeln mit Stahlkabeln und hin und wieder eine tote Taube fand.

Freunde und Verwandte, die mich besuchten, waren entsetzt. Als einmal mein fünfjähriger Cousin Ben mit meiner Tante Anne vorbeischaute, blieb er in der Tür meines kleinen Raums stehen und rief: »Das ist ja schrecklich!« Ich stank wie ein Penner, und obwohl ich ein Dach über dem Kopf hatte, war ich im Grunde auch einer. Ich hatte kein fließendes Wasser, kein Klo, keine Dusche und keine Heizung, aber der Strom war umsonst, und mehr braucht man nicht, um Musik zu machen.

Zum Pinkeln benutzte ich eine leere Wasserflasche. Ohne Bad duschte ich mich nur einmal pro Woche bei meiner Mutter oder bei meiner Freundin im Studentenwohnheim. Deswegen stank ich, aber das machte mir nichts mehr aus. An meinem Leben in der alten Fabrik fand ich einfach alles genial.

Oder fast alles. Weniger genial war die Tatsache, dass ich seit Jahren an meiner Musik arbeitete und immer noch in einer Kleinstadt in sechzig Kilometer Entfernung zu New York City lebte. Oder dass sich kein Plattenlabel für meine elektronische Musik interessierte. Oder dass außer meiner Freundin niemand meine Musik gehört hatte. Aber abgesehen davon, dass ich davon träumte, in Manhattan zu leben und Musik zu machen, war die alte Fabrik perfekt.

Meistens stand ich gegen Mittag auf, kochte Haferflocken auf meiner Kochplatte, las in der Bibel und arbeitete an meiner Musik. In meinen Pausen fuhr ich mit dem Skateboard die langen, leeren Gänge einer der Fabrikhallen auf und ab oder ging in einen dominikanischen Laden um die Ecke, wo ich Haferflocken und Rosinen kaufte.

Aber heute fuhr ich nach New York City, mein schmutziges Mekka. Ich hatte verschiedene Möglichkeiten, nach New York zu kommen. Manchmal fuhr ich mit meinem alten Moped zu meiner Mutter nach Darien und lieh mir ihren alten Chevrolet. Dann folgte ich der Route, auf der ich als Achtjähriger mit meinem Großvater in die Stadt gefahren war: Er hatte mir eine mautfreie Strecke dorthin gezeigt, die allerdings durch die schlimmsten Banden- und Drogenviertel der Stadt führte.

Hin und wieder konnte ich bei Freunden mitfahren. Aber meistens nahm ich den Pendlerzug Metro-North. Mit diesem Zug war ich als Jugendlicher oft aus Connecticut nach Manhattan geflüchtet. In unseren besten Band-T-Shirts waren meine Punk-Freunde und ich in die Stadt gefahren, in der Hoffnung, dass uns echte Punks entdecken und unsere Black-Flag- und Bad-Brains-T-Shirts gut finden würden. Morgens hatten wir auf dem Weg nach Manhattan neben müden weißen Angestellten gesessen, und abends auf dem Rückweg saßen wir zwischen denselben Angestellten, die jetzt erschöpft oder betrunken waren.

Wenn Polizisten in der Nähe waren, wenn ich die Fabrik verließ, kletterte ich aus einem der riesigen Fenster, um nicht angehalten zu werden. Aber heute rumpelte nur ein Lastwagen durch die Straße und ich verließ das Gebäude durch das große Tor. In der Kälte krampfte sich mein Körper zusammen. Es war eine feuchte Kälte, die einem in die Knochen fährt und die Socken gefrieren lässt. Drei Tage zuvor hatte es geschneit, und die Erde war von einem engelhaft weißen Tuch bedeckt gewesen, doch das hatte sich rasch unter dem gefrierenden Regen aufgelöst. Unter einem bleiernen Himmel ging ich über den Parkplatz und suchte mir einen Weg durch ein Labyrinth aus Schlaglöchern und Pfützen. Am Zaun des Geländes angekommen, kroch ich durch ein Loch in einer Ecke und machte mich auf den Weg zum Bahnhof.

Unterwegs kam ich an Ladenkirchen mit ihren handgemalten Schildern vorüber. Ein Lebensmittelgeschäft mit Panzerglasscheiben hatte Schlitz-Dosenbier im Sonderangebot. Es folgten ein Billardsalon und einige verlassene und verrammelte Gebäude. Schon nach wenigen Minuten hatte ich eisige Hände und Füße. Die paar Passanten, denen ich auf der Straße begegnete, sahen aus wie Obdachlose. Scheu blickten sie dem verwahrlosten weißen Jungen nach, der durch ihr Viertel ging.

Da der nächste Zug zur Grand Central Station von Manhattan erst in einer halben Stunde ging, machte ich unterwegs im Billardsalon halt und spielte allein eine Runde Pool. Der Raum war düster und wurde nur von ein paar Funzeln über den fünf Billardtischen erleuchtet. Aber selbst in diesem Dämmerlicht waren die Brandflecken und Narben nicht zu übersehen, die Zigarettenstummel und verschüttete Bierreste vieler Jahrzehnte hinterlassen hatten. Außer mir war an diesem Mittag nur ein Mann im Salon, der allein an einem Tisch spielte, und natürlich der Typ, bei dem ich für 1,50 Dollar den Queue und die Kugeln bekam. Obwohl ich ein mäßiger Spieler war, schaute ich auf dem Weg zum Bahnhof oft im Billardsalon vorbei. Ich tröstete mich damit, dass das Spiel zu schnell zu Ende wäre, wenn ich besser spielen würde. Wie so oft hat Mittelmaß auch seine Vorteile.

Wie immer hing dichter Zigarettenqualm im Billardsalon. Obwohl ich Nichtraucher war, machte mir das nichts mehr aus: Ich arbeitete in Kneipen, in denen alle rauchten, und aß in Lokalen, in denen alle rauchten. Außer mir befanden sich zwar nur noch zwei Menschen im Raum, doch es schien mir völlig normal, dass ich kaum durch die Rauchschwaden hindurchsehen konnte.

Ich wechselte nie ein Wort mit den anderen Gästen oder dem Typen am Tresen. Im Stillen hoffte ich, dass mir irgendwann jemand leise zunicken oder ein »Hi« murmeln würde, aber sie ignorierten mich einfach. In dieses Viertel verirrten sich Weiße nur, um Crack oder Heroin zu kaufen. Ich nahm zwar keine Drogen, aber in den Augen der Anwohner war ich nur ein weißer Junkie mehr, der ihr Viertel zugrunde richtete. Irgendwann bemerkten sie schließlich, dass ich ihr Nachbar war; nun grüßten sie mich zwar immer noch nicht, aber immerhin starrten sie mich nicht mehr feindselig an.

Ich versenkte meine letzte Kugel und hoffte, dass einer der beiden Typen zu mir herübersehen und mich für einen besseren Spieler halten würde, als ich es war. Hin und wieder, wenn ich eine schwierige Kugel einlochte oder es laut krachen ließ, blickte ich verstohlen auf, um zu sehen, ob es irgendwer bemerkt hatte. Aber niemand beachtete mich. Als verlotterter Weißer fiel ich zwar auf, aber nicht genug, um für irgendjemanden interessant zu sein.

Ich schlüpfte in meinen Secondhandmantel, der jetzt nach Rauch und nassem Schaf stank, und stapfte die letzten paar Hundert Meter zum Bahnhof. In einer der Ladenkirchen fand ein Gottesdienst statt. Der Klang von Tamburinen, einer elektrischen Orgel und einem Chor drang auf die Straße. Während der Sonntagsmesse ging ich manchmal in eine dieser improvisierten Kirchen und stellte mich hinten in die letzte Reihe. Wenn das Wetter gut war und die Kirchen ihre Türen geöffnet hatten, füllte der Lärm der konkurrierenden Messen die Straßen und das Viertel klang wie nach dem Turmbau zu Babel. An der Hauptstraße reihten sich die Gebetsräume von Puerto-Ricanern, Abessiniern, bibeltreuen Christen, Pfingstlern und anderen Gemeinden, die sich die Ladenmiete und die Plastikstühle leisten konnten. Aber wenn ich zu lange in der Tür stand und zuhörte, wurden die Gläubigen nervös, weshalb ich mich meist draußen neben die Tür stellte, um den Casio-Orgeln und dem Gesang zu lauschen.

Im Zug schloss ich mich sofort in der Toilette ein. In der Highschool hatte ich gelernt, dass man sich die fünf Dollar für die Fahrkarte sparen konnte, wenn man sich dort versteckte. Ich wollte nach New York City, um in einem neuen Club ein DJ-Tape abzugeben. Meine Freundin Janet, mit der ich seit ein paar Monaten zusammen war, hatte mir von dem Club erzählt. Janet war in Greenwich, Connecticut, aufgewachsen und hatte als Kind Reitunterricht bekommen. Inzwischen wohnte sie in einem Studentenwohnheim der Columbia University, studierte im zweiten Jahr und machte ein Praktikum bei der Zeitschrift Interview. Sie sah aus wie Katharine Hepburn in Die Nacht vor der Hochzeit, aber ihre Helden waren die Journalisten, die für Paper und Village Voice schrieben. Außerdem war sie eine besessene Club- und Galeriebesucherin.

Einer der Journalisten von Interview hatte Janet erzählt, dass ein neuer Club namens Mars Leute suchte und dass ich ein Tape abgeben konnte, wenn ich mich beeilte. In der zerrissenen Tasche meiner nassen Jacke trug ich daher eine Sechziger mit meinen besten DJ-Mixes: Auf der einen Seite Hip-Hop, auf der anderen House. Tagelang hatte ich an dem Tape gearbeitet, auf meinem vierspurigen Rekorder Grooves gemischt und mit A-cappella-Tracks von obskuren Hip-Hop- und Disco-Maxis überlegt. Um etwas weniger obdachlos zu wirken als gewöhnlich, trug ich unter meinem zerlumpten Mantel mein coolstes Club-Outfit: schwarzer Rolli, schwarze Jeans, schwarze Lederschuhe, alles von Goodwill und der Heilsarmee.

Eine Dreiviertelstunde lang hockte ich auf der Toilette des Metro-North, atmete den Gestank von Pisse und Sagrotan ein und betrachtete das Cover, das mein Freund Jamie gestaltet hatte. War das cool genug? War das überhaupt cool? Jamie hatte mir ein Logo in Graffiti-Optik entworfen. Er war leidenschaftlicher Sprayer, aber er war eben auch ein weißer Junge aus Norwalk und studierte an der University of Connecticut. Konnte man das erkennen? Vielleicht war das Logo ja cool. Ich hatte keine Ahnung.

Ähnliche Tapes hatte ich auch an einen Raden Promoter in Kalifornien geschickt. In einem DJ-Magazin hatte ich seine Anzeige gelesen: »Gesucht: Tapes für landesweite Radiosendungen«. Ich hatte die angegebene Nummer gewählt und mit einem mürrischen Typen in Oakland gesprochen. Im Hintergrund hatte ein Baby geschrien. Der Mann hatte behauptet, er könne die Tapes in Radiosendungen unterbringen, also hatte ich ihm halbstündige Hip-Hop-Mixes geschickt. Ich hatte nie einen Cent gesehen und der Mann hatte mir auch nie verraten, ob die Tapes tatsächlich ausgestrahlt wurden, aber ich schickte eifrig weiter meine Mixes, in der Hoffnung, dass irgendwo irgendwer zuhören würde.

Der Zug fuhr in die Grand Central Station ein. Ich verließ die Zugtoilette und lief an den Pendlern vorbei durch die riesige Bahnhofshalle hinunter in die Subway. Eine Viertelstunde und zwei übersprungene Ticketsperren später rannte ich die Fourteenth Street hinunter, an den Schlachthöfen des Meatpacking District vorbei. Atemlos vor Hoffnung und Aufregung kam ich im Mars an. Der Club befand sich in einer leer stehenden Lagerhalle. Ein Clubbesitzer namens Rudolf hatte das Gebäude gemietet, um dort den größten und geilsten Club des Planeten zu eröffnen. Die Fassade ging hinaus auf den West Side Highway, einige Sex- und Sadomaso-Clubs und den bleigrauen Hudson River. Im Meatpacking District gab es keine Restaurants oder Kneipen, aber vor dem Club standen Hunderte coole New Yorker Schlange, um einen Job zu ergattern. Ich stellte mich in meinen Club-Klamotten an, in der Hoffnung, dass die anderen mich nicht als den kleinen und schlecht gekleideten weißen Jungen erkennen würden, der in einer Fabrikruine in Connecticut wohnte.

Eine gute Stunde später stand ich vorn. Im Eingangsbereich des Clubs saßen drei Leute hinter einem großen Klapptisch und verteilten Formulare. Einer fragte mich: »Als was willst du anfangen? Kellner, Barkeeper oder Wachmann?«

»Äh, haben Sie auch Formulare für DJs?«, fragte ich.

Die drei sahen mich wortlos an, dann lachten sie. »Nein, Formulare für DJs haben wir keine«, sagte eine bildhübsche Afromerikanerin in einem langen schwarzen Mantel über einem ausgewaschenen T-Shirt der New York Dolls. »Yuki hat seine DJs schon zusammen«, erklärte sie mir.

»Oh. Na ja. Kann ich vielleicht einfach ein Tape dalassen?«, fragte ich. »Auf der einen Seite ist House, auf der andern Hip-Hop. Vielleicht könnten Sie das ja dem geben, der die DJs einstellt?«

Sie sah mich mitleidig an, aber sie nahm die Kassette entgegen. Dann wandte sie sich dem Typen zu, der hinter mir in der Schlange stand. Wie gelähmt stand ich da. »Okay, danke«, stieß ich hervor, aber sie gab mir keine Antwort mehr. »Okay. Ciao.«

Ich lief nach draußen und zu einer Telefonzelle an der Ecke, um Janet anzurufen. Das Telefon war kaputt. Ich lief zur nächsten Telefonzelle an der nächsten Ecke. Es war auch kaputt. Es nieselte, es war kalt, der dunkle Himmel hing tief herunter, und ich hatte mich gerade im demnächst coolsten Club des Planeten vor einer wunderschönen Frau zum Affen gemacht. Ich hatte zu hoffen gewagt, dass ich im Mars auflegen würde. Ich war ein Idiot. Und nun stand ich mit den Füßen in Pfützen aus Matsch und Tierblut und starrte auf ein kaputtes Münztelefon.

Weil ich ein paar Dollar in der Tasche hatte, ging ich zu einem Bioladen an der Ecke Thirteenth Street und Eighth Avenue. Auf der Fahrt in die Stadt hatte ich davon geträumt, endlich ein New Yorker DJ zu werden. Und nun lief ich mit eingezogenem Kopf durch den Regen und den kalten Wind zu einem Hippieladen. Ich kaufte Sojamilch und Sprossenbrot, sprang in der Subway über die Ticketsperre, stieg in der Forty-Second Street in die Linie zur Grand Central Station um und gönnte mir eine Fahrkarte nach Stamford, um nicht wieder auf dem Klo hocken zu müssen. Im Zug aß ich mein Brot, trank meine Sojamilch, schaute durch die zerkratzte Scheibe hinaus auf die Bronx und blätterte im New York Rocker, den jemand liegen gelassen hatte.

Die Bands im New York Rocker hatten Plattenverträge. Sie gaben Konzerte und Interviews. Sie brachten Platten heraus. Leute machten Fotos von ihnen und hörten ihre Musik. Genau davon träumte ich. Ich wollte vor einem richtigen Publikum auftreten. Ich wollte in dunklen, überfüllten Clubs in New York City auflegen. Aber in Wirklichkeit war ich ein quasi obdachloser Dreiundzwanzigjähriger, der elektronische Musik machte und montags in einer winzigen Kneipe von Port Chester und samstags in einer christlichen Diskothek von Greenwich auflegte.

Als ich in Stamford ausstieg, regnete es heftig. Ich rannte zur Fabrik. In meinem kleinen Studio angekommen, rief ich Janet an. Ich staunte noch immer, dass ich überhaupt ein Telefon hatte. Als ich in die alte Fabrik eingezogen war, hatte ich bei der Telefongesellschaft angerufen, um zu fragen, ob ich einen Anschluss bekommen könne. Schon am nächsten Tag kam ein Techniker vorbei, und fünf Minuten später hatte ich ein Telefon. Der Mann fragte nicht, ob ich illegal in der Fabrik wohnte, sondern verlegte einfach das Kabel und setzte eine Dose. Als er ging, war ich so dankbar, dass ich ihn fast nach seinem Namen gefragt hätte, um meinen Erstgeborenen nach ihm benennen zu können.

»Wie war’s?«, fragte Janet aufgeregt. »Haben sie dich genommen?«

»Na ja, es waren eine Menge Leute da, die Arbeit gesucht haben. Aber ich habe der Chefin ein Tape von mir gegeben«, sagte ich.

»Toll! Wie fühlst du dich?«

»Gut«, log ich.

Wir quatschten ein paar Minuten, verabredeten uns zum Sonntagsgottesdienst und legten auf.

Ich hatte getan, was ich konnte, um einen Job im Mars zu bekommen. Ich war mit dem Zug nach Manhattan gefahren. Ich hatte ein Tape abgegeben, das ein BWLer mit Graffiti verziert hatte. Der Rest war in Gottes Hand. Na ja, das Tape nicht. Das lag vermutlich längst in der Tonne. Aber die Situation war in Gottes Hand. Also nahm ich meine Routine wieder auf: Ich schaltete meine Geräte ein und bastelte an meiner Musik. Bis Mitternacht arbeitete ich an ruhigen Ambient-House-Tracks, dann nahm ich den Kopfhörer ab und schaltete die Geräte aus. Ich kochte Haferflocken, blätterte in einem zerschlissenen Star Trek-Taschenbuch und hörte Debussy.

Ich saß vor dem riesigen Fabrikfenster, der Regen trommelte gegen die Scheibe, der Heizlüfter lief volle Pulle, und ich war glücklich. Ich war schmutzig und stank. Ich lebte in einem leer stehenden Fabrikgebäude mitten in einem Drogenviertel, es war ein entsetzlich frustrierender Tag gewesen, aber ich war ruhig und zufrieden. Um vier Uhr legte ich mich in mein schmales Stockbett und lauschte dem Regen.

Am nächsten Morgen hatte der Regen aufgehört, aber es war immer noch kalt und der Himmel war grau. Ich kochte Haferflocken und nahm ein paar Mandeln und eine Orange aus meinem Vorrat. Mandeln und Orangen waren Luxus, aber gestern war ein anstrengender Tag gewesen, und ich wollte mich verwöhnen. Da ich kaum noch Wasser hatte, ging ich nach dem Frühstück zum Laden an der Ecke und kaufte zwei große Plastikflaschen Wasser. Auf dem Rückweg besah ich mir zwei riesige Erdhügel auf dem Parkplatz: Von einem einstigen Bauprojekt waren nur noch zwei Dreckhaufen übrig.

Als ich wieder in mein Studio kam, blinkte mein Anrufbeantworter. Ich spulte die Kassette zurück und drückte Play. Was ich dann hörte, war die beste Nachricht seit der Erfindung des Anrufbeantworters: »Hi, hier ist Yuki Watanabe vom Mars. Ich habe eine Nachricht für DJ Moby. Ich habe dein Tape gehört. Ruf mich an, wenn du im Mars arbeiten willst.«

Ich erstarrte. Ich hörte mir die Nachricht noch einmal an. Und noch einmal.

Ein Mann namens Yuki mit einem breiten japanischen Akzent hatte mein Tape gehört und wollte, dass ich im Mars auflegte. Ich hörte mir die Nachricht noch einmal an, um ganz sicher zu sein, dass ich richtig verstanden hatte. Und dann wieder. Und weil es so schön war, noch einmal.

Zitternd nahm ich den Hörer ab. Ich musste diesen Yuki anrufen und ihn davon überzeugen, mir den Job als DJ im Mars zu geben. Bitte. Mehr konnte ihm nicht sagen. Nur bitte.

Mit schweißnassen Händen hielt ich den Hörer und wählte.

»Hi, Yuki Watanabe«, sagte eine grollende Stimme.

»Hi, hier ist DJ Moby«, stammelte ich. »Du hast mich angerufen, um im Mars aufzulegen?«

»Ja. Ich habe dein Tape gehört. Klingt sehr interessant. Kannst du Freitagabend auflegen?«

»Ja. Ja, ich kann Freitagabend auflegen.«

»Okay. Du legst im Keller auf. Von zehn bis vier. Du bekommst 100 Dollar.«

»Danke! Wir sehen uns da!«

»Okay, DJ Moby.«

Ich legte auf und dachte an Walker Percy. In einer Szene in seinem Roman Der Kinogeher ist die Hauptfigur nach einem Unfall in einem Museum. Er erlebt einen Moment der Klarheit, und plötzlich sieht er Staubkörnchen durch die Sonnenstrahlen schweben. Mein Leben hatte gerade eine unvorstellbare Wende genommen, und nun sah ich die Staubkörnchen durch die Sonnenstrahlen schweben, die durch meine riesigen Fenster hereinfielen.

Ich saß auf dem Boden, hielt den Hörer umklammert, und meine Hirnzellen sprühten wie wirbelnde Atome einer Wissenschaftssendung im Fernsehen. War das eine Halluzination? Hatten die Ausdünstungen der alten Fabrik mein Hirn zerfressen? Zur Sicherheit hörte ich mir die Nachricht auf dem Anrufbeantworter noch einmal an. Sie war echt. Ich hatte gerade einen Job als DJ im coolsten Club des ganzen Planeten bekommen.

Die Welt um mich schien zu verdunsten. Die Fabrik, das Telefon, der Himmel in meinem Fenster, sie alle verschwanden. Vor meinen Augen sah ich nur noch den Keller des Mars. Ich stellte mir einen schwarz gestrichenen Raum mit niedrigen Decken und einer perfekten Soundanlage vor. Ein finsterer Raum voll mit unvorstellbar coolen Leuten, und ich am DJ-Pult und mit Hip-Hop und House.

Ich rief Janet an. Sie war nicht zu Hause, und ich sprach auf ihren Anrufbeantworter. »Janet, du wirst nicht glauben, was grade passiert ist«, stieß ich hervor. »Yuki vom Mars hat angerufen. Ich lege am Freitagabend auf. Ich fass es nicht! Ruf mich an! Ich fass es nicht!« Ich legte auf.

Ich verspürte das Bedürfnis, Gott zu danken. Also kniete ich mich auf meinen geklauten Teppich. »Danke, Gott«, flüsterte ich. »Danke. Das ist alles. Danke.«

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2 VEGANERKEKSE

»Jamie ist erschossen worden?«, fragte ich. Es war ein sonniger Freitagvormittag, und ich stand mit Pedro, einem der anderen Bewohner, vor der Fabrik.

»Erstochen«, erwiderte Pedro. »Ein paar Leute haben ihn letzte Nacht schreien gehört, dann haben sie zwei Typen durch den Gang laufen gesehen. Sie haben in Jamies Zimmer geschaut, und da hat er in einer Blutlache auf dem Boden gelegen.«

Pedro war Fotograf und Sprayer. Er hatte das gesamte Fabrikgelände mit seinen Tags verziert, die Aufzüge, die Müllcontainer und jeden Zentimeter der Ladebuchten. Er trug immer eine braune Motorradlederjacke und lebte schon seit zehn Jahren in der Fabrik.

»Das kann doch nicht sein«, sagte ich. »Ich habe ihn doch gestern noch gesehen. Schau mal, da ist doch noch sein Motorrad.«

Pedro besah sich Jamies Triumph, die zwischen zwei Müllcontainern stand. »Meinst du, das nimmt jemand mit?«, fragte er.

»Es wundert mich, dass es noch da ist«, antwortete ich.

»Ist das Diebstahl, wenn er tot ist?«

Schweigend starrten wir die Maschine an. Schließlich meinte ich: »Ich glaube, das ist eine Grauzone.«

Das Leben in der Fabrik hatte den Vorteil, dass sich niemand dafür interessierte, was wir Bewohner taten. Ich legte nicht nur Platten auf und machte elektronische Musik, sondern spielte auch Schlagzeug in der Punkband Pork Guys und hämmerte in der Industrial Band Shopwell auf Blechkanistern herum. Zu den Proben bauten wir unser Equipment in einer leeren Ecke der Fabrik auf und machten dort so viel Krach, wie wir wollten. Niemand beschwerte sich. Es war schließlich eine leer stehende Fabrik in einem Drogenviertel. Solange wir niemanden umbrachten, ließ man uns in Ruhe.

Aber vor einem Monat war auf dem Parkplatz ein Obdachloser ermordet worden und jetzt hatte jemand Jamie erstochen. Wir Bewohner hatten keine Angst, dass uns etwas passieren könnte – wir hatten nur Angst, dass die Polizei auf uns aufmerksam würde und uns vertrieb. Tote in der Fabrikhalle waren nicht gut für unsere Anonymität. »Wenn du weggehst, weißt du schon, wohin?«, fragte ich Pedro.

»Keine Ahnung«, erwiderte er. »Vielleicht Brooklyn. Oder die Lower East Side. Ich habe Freunde in einem besetzten Haus an der Avenue C. Da gibt’s halt ein paar Ratten.«

Die meisten Hausbesetzer lebten in leer stehenden Wohnhäusern, und weil diese Häuser früher bewohnt gewesen waren, wimmelte es dort vor Kakerlaken und Ratten. Das Schöne am Leben in einer Fabrik waren nicht nur die zehn Hektar freie Fläche, sondern auch die Tatsache, dass es kein Ungeziefer gab.

»Und du?«, fragte Pedro. »Wohin würdest du gehen?«

»Nach Hause kann ich nicht«, sagte ich. »Wahrscheinlich irgendwie nach New York City.«

»Kannst du dir das leisten? Oder würdest du in ein besetztes Haus ziehen?«

»Wenn ich öfter auflege, kann ich mir wahrscheinlich pro Monat 150 Dollar Miete leisten.«

»Das ist ’ne Menge«, meinte er.

»Ja. Aber ich muss nach New York City.«

»Okay. Mach’s gut«, antwortete Pedro. »Und lass dich nicht erstechen.«

»Armer Jamie«, sagte ich und warf einen letzten Blick auf sein Motorrad, als könnte ich mich so von ihm verabschieden.

Um vier Uhr musste ich zu einer Bibelstunde in Greenwich sein, und danach sollte ich zum Gemeindehaus der Episkopalen, wo ich samstagabends auflegte, um meinem Freund Chris, der dort ein Filmprojekt für die Universität aufnahm, das Mikrofon zu halten. Mit dem Moped war ich in einer halben Stunde in Greenwich. Ich setzte den Helm auf und fuhr Richtung Westen, vorbei am Billardsalon, den Ladenkirchen und den Dealern. Auf der Route 1 kam ich am alten Anthrax-Club vorbei, wo ich Anfang der Achtziger die Circle Jerks, Agnostic Front und zahllose andere Hardcore-Bands gesehen hatte. Dann bog ich nach Westen ab, vorbei an der Villa Bar, wo ich mich als Sechzehnjähriger besoffen hatte.

Einmal hatte ich im Villa auf der Toilette das Bewusstsein verloren. Ein paar Sheriffs hatten mich vom Boden gekratzt, mir Wasser ins Gesicht geschüttet und mich auf den Gehsteig geworfen. Ich kam zu mir, als meine Freundin Kitty meinen Namen brüllte.

»Was?«, lallte ich, öffnete die Augen und sah mich besoffen um.

»Ich hab gedacht, du kackst ab, du Scheißkerl!«, schrie sie.

Das ließ ich auf mich wirken. »Ich brauche was zu trinken«, stöhnte ich dann.

»Du kannst da nicht mehr rein. Die Türsteher prügeln dich windelweich!«

»Aber ich liebe Türsteher. Können wir nicht nach Port Chester und was trinken?«

Port Chester war schon in New York, und die Kneipen waren bis vier Uhr morgens geöffnet. Also stiegen wir in Kittys Auto und fuhren nach Port Chester, wo ich weitertrank. Dann kotzte ich und kippte wieder um. Als ich im Morgengrauen aufwachte, hing ich auf einem Liegestuhl neben dem Pool von Kittys Eltern in New Canaan: sechzehn, verkatert und stolz.

Wenig später knatterte ich mit meinem Moped durch Greenwich, Connecticut, eine der reichsten Ortschaften des ganzen Landes. Die heruntergekommenen Läden und Wohnblocks von Stamford wichen den eleganten Gartencentern und Villen hinter hohen, gepflegten Hecken. Vor dem Haus, in dem sich die Bibelgruppe treffen sollte, stellte ich mein Moped – eine zwölf Jahre alte grüne Fünfziger von Peugeot – zwischen einem Porsche Carrera und einem Mercedes-Kombi ab. Nachdem ich den Helm abgenommen hatte, fuhr ich mir mit der Hand über den Kopf, um mir die Schaumstoffbrösel aus den Haaren zu wischen. Den Helm hatte ich in Darien im Laden der Heilsarmee gekauft. Er war noch älter als mein Moped, viel zu groß, und jedes Mal, wenn ich aufsetzte, bekam ich Schaumstoffschuppen.

Gastgeberin der Bibelgruppe war Catherine, eine schüchterne, niedliche Sechzehnjährige, die Reitstunden nahm und The Cure hörte. Ihre Familie war vor ein paar Jahren aus Belgien in die Staaten gezogen, und die Bank, bei der ihr Vater arbeitete, hatte der Familie eine Villa mit acht Schlafzimmern und Swimmingpool, Tennisplatz, Pferdekoppel und zweieinhalb Hektar Land in Greenwich gemietet. Im Souterrain der Villa sollte ich heute eine Bibelstunde geben.

Als Thema hatte ich mir die Feldpredigt aus dem Lukas-Evangelium ausgesucht. Das war so etwas wie die Greatest Hits von Jesus: »Liebet eure Feinde«, »Richtet nicht, so werdet auch ihr nicht gerichtet«, aber auch »Weh euch Reichen!« und »Weh euch, die ihr jetzt satt seid!«.

Ich war zwar Christ, aber ich war auch ein Arschloch. Ich hatte kein Geld, lebte in einer Fabrikruine und ernährte mich von zehn Dollar pro Woche. Wenn es in der Bibel hieß, »Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden«, dann erfüllte mich das mit Selbstzufriedenheit und ich fühlte mich von Gott gesegnet.

Für gewöhnlich fühlte ich mich als schlechter Christ und ging davon aus, dass ich Gott andauernd enttäuschte. Ich kümmerte mich nicht genug um die Obdachlosen. Ich wollte Musiker werden. Ich hatte lüsterne Gedanken. Aber in Sachen Armut war ich ganz vorn. Keiner meiner Freunde und Bekannten war so arm wie ich. Selbst die Armen, die ich aus meiner Jugend kannte, hatten fließendes Wasser und lebten in vier festen Wänden, nicht zwischen Spanplatten aus dem Müll.

Voller Selbstgefälligkeit zog ich daher durch die Villen von Greenwich, um über die Kinder der Reichen zu richten und ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden, weil sie in reichen Familien aufwuchsen. Ihr Seelenheil interessierte mich nicht. Es ging mir nicht darum, sie liebevoll auf den rechten Weg zu führen. Sie sollten sich nur mies fühlen, weil sie reich waren. Und sie sollten mir applaudieren, denn schließlich hatte ich Stunden in meinem Kabuff in der Fabrik zugebracht, um für meine Predigt Bibelstellen auswendig zu lernen und mir zu überlegen, wie sich die christliche Religion am besten verwenden ließ, um anderen ein schlechtes Gewissen zu machen.

Ich war auch ein Experte, wenn es darum ging, sich mit der Religion selbst zu kasteien. Drei Wochen zuvor war ich zu dem Schluss gekommen, dass mein Glaube nicht genügte: Ich kam mir vor wie ein Hochstapler, denn obwohl ich Christ war, hatte ich ein Dach über dem Kopf. Es war zwar nur eine Nische in einer leer stehenden Fabrik, aber es war ein Dach. Aus meiner Lektüre der Bibel hatte ich den Schluss gezogen, dass man als Christ obdachlos zu sein hatte. Jesus wollte, dass ich meine Besitztümer verschenkte und predigend über die Erde wandelte. Ich fühlte mich berufen. Eines Tages beschloss ich, meinen Glauben umzusetzen und in die Welt hinauszuziehen, nur mit einer Bibel und den Kleidern, die auf dem Leib trug.

Ich nahm meine Bibel, verließ mein Zimmer und zog die Tür hinter mir zu. Dann starrte ich auf meinen Schlüssel. Wenn ich diesen Schlüssel ins Schloss stecke und umdrehe, dann gehe ich und komme nicht mehr zurück. Ich bekenne mich dazu, als Prediger durch die Welt zu ziehen und allen, die es nötig haben, das Wort Gottes zu bringen: den Armen, den Hungernden, den Notleidenden. Ich gehe und lasse alles hinter mir, mein Zuhause, meine Karriere, meine Träume, alles.

Der Schlüssel schwebte einen Zentimeter vor dem Schlüsselloch. Im Geiste hörte ich, wie er ins Schloss fuhr und sich drehte. Ich stellte mir vor, wie ich den Gang entlangging, zur Fabrik hinaustrat und von der Telefonzelle an der Straßenecke aus meine Mutter anrief: »Mama, kannst du mir einen Gefallen tun? Ich werde Wanderprediger. Kannst du bitte meine Sachen verkaufen und das Geld den Armen geben?«

Aber ich schaffte es nicht. Mit dem Schlüssel in der Hand stand ich an der Tür und betete: »Lieber Gott, wenn es dein Wille ist, dann gib mir die Kraft dazu.« Der Ruf war so laut und klar gewesen, aber die Minuten verstrichen, und noch immer stand ich vor der Tür. So bescheiden meine Behausung war, ich konnte sie nicht aufgeben und in die Fremde hinausgehen. Ich kannte keine Bettelprediger und hatte keine Ahnung, was ich zu tun hätte. Schließlich steckte ich den Schlüssel wieder ein, ging zurück in mein Zimmer und setzte mich auf den Plastikstuhl, den Paul und ich aus dem Müllcontainer geholt hatten.

Ich betete. »Lieber Gott, vergib mir. Ich kann es nicht. Ich kann nicht alles hinter mir lassen und predigen. Es tut mir leid.« Ich war ein Heuchler. Ich hatte den Ruf gehört, aber ich konnte ihm nicht folgen. Aber zumindest wollte ich über die Reichen und ihre verwöhnten Kinder richten.

Catherines kleine Schwester öffnete die Tür, und ich ging die Treppe hinunter ins Souterrain der Villa. Dort betrat ich einen Raum mit einem roten Billardtisch, neben dem bequeme Sofas und Sessel im Kreis aufgestellt waren. Sieben meiner acht Bibelschüler warteten schon auf mich, frisch geduscht und lächelnd. Alle wohnten sie bei ihren Eltern und schliefen in den bequemen Betten ihrer Kindheit. Die Jungs trugen Hemden von Brooks Brothers, die Mädchen Jeans von Calvin Klein und Sweatshirts von Fair Isle. Wir erhoben uns, und eines der Mädchen betete: »Lieber Gott, wir danken dir, dass du uns hier zusammengeführt hast und dass du uns diesen Raum gibst, um zu beten und zu lernen. Bitte führe Moby, damit er uns deine Lehre bringt. Amen.«

»Amen«, wiederholten wir alle.

»Okay, dann schlagt mal eure Bibeln auf bei Lukas 6,12«, sagte ich. »Tory, möchtest du mit dem Vorlesen beginnen?«

Wir lasen reihum, jeder von uns ein paar Verse, und endeten bei Lukas 7. Mit dem Fabrikgestank in den schmutzigen Klamotten und den Schaumstoffbröseln aus dem Motorradhelm im Haar fühlte ich mich vorbereitet. Ich würde diesen verweichlichten Vorstadtchristen das gerechte Urteil Gottes verkünden. Wenn ich im Bett lag, hörte ich Schüsse; und wenn sie in ihren Betten lagen, hörten sie das Schnarchen ihres Cockerspaniels. Hatten wir nicht gerade den Vers »Weh euch Reichen!« gelesen? Ich fühlte mich im Recht und spürte den heiligen Zorn in mir aufsteigen.

Dann sah ich den Tisch, auf dem Catherines Mutter Kekse und Limonade für uns aufgebaut hatte. Catherine folgte meinem Blick. »Oh, möchtest du ein paar Kekse?«, fragte sie. »Meine Mama ist extra in den Bioladen gegangen und hat Veganerkekse für dich besorgt.«

»Danke«, antwortete ich. Dann schwieg ich. Sie hatte meinem Zorn den Wind aus den Segeln genommen. Hatte ich heute etwas Selbstloses getan? Hatte ich heute eine Anstrengung unternommen, um nett zu jemandem zu sein? Hatte ich heute jemandem zu essen gegeben?

Nein. Hier war ich, der Christ mit dem flammenden Schwert, die selbst ernannte Stimme des zornigen Gottes, und starrte auf meine Schwächen in Form einer Schüssel veganer Kekse. Catherines Mutter war in einen komischen Bioladen gegangen, um sonderbare vegane Kekse für einen Freund ihrer Tochter zu kaufen, den sie nicht einmal kannte. Und ich war der gute Christ?

Mir fiel Hosea ein: »Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer.« Also vergaß ich meinen Zorn, und statt über diese freundlichen Christen zu richten, sprach ich darüber, wie ich drei Wochen zuvor Gottes Ruf gehört hatte, alles hinter mir zu lassen und den Armen zu predigen, und wie ich Gott um Vergebung bitten musste, weil ich ihn enttäuscht hatte. Dann führte ich aus, dass das Göttliche nicht nur in den großen Gesten und Entsagungen zu finden ist, sondern auch in kleinen Dingen, etwa wenn wir einem wildfremden Menschen vegane Kekse anbieten. Oder Leute in unser Haus einladen und ihnen zu essen geben. In diesem Moment schienen mir diese kleinen Gesten viel größer und göttlicher.

»Deswegen danke ich euch, dass ihr heute hier seid«, endete ich. »Und, Catherine, richte deiner Mutter bitte meinen Dank für die veganen Kekse aus.«

Ich erwähnte nicht, dass die Kekse trocken waren und grässlich schmeckten.

Nach der Bibelstunde gingen wir alle zur Christ Church von Greenwich und halfen Chris, dem Sohn des Predigers, bei den Aufnahmen für sein Filmprojekt. Chris studierte an der New York University und behauptete, sein Betreuer sei Martin Scorsese.

»Kommt Martin Scorsese auch zu den Aufnahmen?«, hatte ich Chris gefragt.

»Kann sein«, hatte Chris geantwortet. Er erinnerte mich an Tom Sawyer, der seine Freunde so weit bringt, dass sie umsonst seinen Zaun streichen.

In der Abenddämmerung fuhr ich zur Christ Church und stellte mein Moped neben dem Friedhof aus dem 18. Jahrhundert und unter einer ausladenden Ulme ab. Chris stand vor dem Eingang einer Kapelle mit gotischen Fenstern und erklärte einer Gruppe von Schauspielern und Statisten, was sie zu tun hatten. Da ich Musiker war, sollte ich das Mikrofon halten.

»Chris, wer ist das da drüben?«, fragte ich und deutete auf einen langhaarigen Typen, der auf dem saftig grünen Rasen im Kreis ging und mit sich selbst sprach. Er trug einen dunklen Wintermantel und fuchtelte wild mit den Armen, als rede er auf einen Geist ein.

»Oh, das ist Viggo Mortensen. Der studiert mit mir. Das ist mein Hauptdarsteller«, erklärte Chris.

»Aber warum geht er denn im Kreis? Hat er Rinderwahn?«

»Nein, der ist halt ein intensiver Typ. Das macht der immer vor dem Dreh.«

Wir gingen die alte Holztreppe hinauf in die Kapelle und verbrachten die nächsten fünf Stunden damit, Viggo auf dem Dach zu filmen. Er und die Hauptdarstellerin spielten immer dieselben Szenen durch, und Chris nahm immer wieder kleinere Veränderungen am Text vor. Die Nacht wurde immer kälter, und irgendwann kam Wind auf.

»Ich habe immer gedacht, Filmen wäre was Glamouröses«, lamentierte ein müder und bibbernder Schüler, der neben mir auf dem Dach stand.

Ich hielt das Mikrofon an einer langen Teleskopstange. Einer von Chris’ Kommilitonen fragte mich: »Bist du ein professioneller Boom Operator?«

»Was ist das denn?«, fragte ich.

»Scheinbar nicht«, erwiderte er und ließ mich stehen.

Kurz vor ein Uhr morgens, wir hatten dieselbe Szene ein gutes Dutzend Mal gedreht, verkündete Chris: »Okay, im Kasten!« Wir applaudierten uns selbst – das war etwas ganz Neues für mich.

Ich ging zu Viggo, der den ganzen Abend über mit niemandem gesprochen hatte.

»Gut gemacht, Viggo«, sagte ich und hielt ihm die Hand hin.

Er schlug ein, sah mir tief in die Augen und fragte: »Meinst du?«