Über das Buch

Wo Madina herkommt? Das ist egal. Sie kommt von überall und nirgendwo. Sie musste fliehen. Und ist nun endlich angekommen, in einem Land, das Sicherheit verspricht. Für sie fühlt es sich hier nach Zukunft an. Doch nicht allen in ihrer Familie fällt es leicht, Fuß zu fassen. Ihr Vater zieht sich zurück, ihre Mutter schweigt. Und so ist es an Madina, tätig zu werden. Mittlerin zu sein zwischen ihrer Familie im Flüchtlingsheim und dem unbekannten Leben außerhalb. Zerrissen zwischen ihren Eltern, die sie nicht loslassen wollen, und dem Wunsch, ein ganz normaler Teenager zu sein, nimmt Madina das Schicksal ihrer Familie in die Hand. Und findet in Laura eine Freundin, die für sie in der Fremde Heimat bedeutet.

Julya
Rabinowich

DAZWISCHEN:
ICH

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-25438-1

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Marion Blomeyer / Lowlypaper, München

Umschlagzeichnung: Shout

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de.

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für alle Kinder und Jugendlichen,
die mir begegnet sind und Heimat suchten.

– – – – –

Und für Naima.

1

Wo ich herkomme? Das ist egal. Es könnte überall sein. Es gibt viele Menschen, die in vielen Ländern das erleben, was ich erlebt habe. Ich komme von Überall. Ich komme von Nirgendwo. Hinter den sieben Bergen. Und noch viel weiter. Dort, wo Ali Babas Räuber nicht hätten leben wollen. Jetzt nicht mehr. Zu gefährlich.

– – – – –

Ich habe langes Haar. Bis zur Hüfte. Ich habe früher viel gelacht. Ich habe einen kleinen Bruder und keine Angst vor wilden Hunden. Und ich habe schon Menschen sterben sehen. So. Wer das weiß, weiß mehr von mir als die meisten hier.

Ich fange einfach damit an, was ich mag. Was ich nicht mag, kann ich immer noch später aufzählen.

Also was ich mag: Ich mag es, wenn ich Laura umarme und sie vertraut riecht. Ich mag es, wenn ich Dinge schaffe, die ich mir vorgenommen habe. Und wenn mir jemand blöd kommt, dass ich dem übers Maul fahren kann. Weil ich die Sprache endlich beherrsche. Wer dann nämlich schweigt, hat schon verloren. So schnell geht das.

Ich mag es, wenn die Sonne scheint. Der Himmel ist dann von einem strahlenden Blau, und wenn man die Geräusche der Autobahn wegdenkt, kann man die Vögel singen hören.

Neben unserem Haus steht ein Baum. Ein großer Baum mit verzweigten Ästen, in dem schlafen sie. Ich stelle mir vor, dass sie in den Astlöchern Nester gebaut haben. Solche Nester können nicht so leicht bei Sturm hinunterfallen. Das mag ich lieber. Diese Vorstellung, dass die Vögel auch bei heftigem Wind sicher sind. Außerdem regnet es da auch nicht rein. Jedenfalls nicht sehr.

Eigentlich ist es gut, dass der Baum nicht direkt vor meinem Fenster steht, ich würde zu viel Zeit damit verbringen, den Vögeln zuzusehen. Oder sie zu füttern. Ich habe die Brötchen vom Frühstück oft in Servietten eingewickelt und heimlich mitgenommen, damit ich die hellen Krümel später auf unser Fensterbrett legen kann. Man darf kein Essen aufs Zimmer mitnehmen.

Mama hält sich eisern daran. Ich finde das blöd.

Die Köchin hält sich auch nicht an die Vorschriften, sie räumt schon ab, während wir noch essen. Deswegen schlingen wir alle so. Manchmal kann ich kaum etwas essen, manchmal habe ich abends einfach keinen Hunger. Wer hat schon täglich zur gleichen Zeit Hunger? Ich nicht. Nachholen darf man sich auch nichts. Am besten, man häuft sich gleich so viel auf den Teller, wie man kann. Manchmal schimpft sie, dann muss ich Brot oder Wurst oder Käse zurückgeben. Sogar die, die ich schon angefasst habe.

»So viel isst du gar nicht«, sagt sie dann. »Und Wurst isst du ganz bestimmt nicht. Weiß ich doch.«

Ich sage dann nichts. Natürlich kann ich nicht so viel essen. Ich will trotzdem selbst entscheiden, wann ich was esse und wer mitessen darf. Die Vögel dürfen zum Beispiel immer mitessen. Und die Wurst gebe ich der Katze im Hof. Bevor ich in die Schule gehe oder am Abend vor dem Schlafengehen.

Ich habe der Köchin oft zugesehen, wie sie mit präzisen, geschickten Handgriffen unser Brot einpackt, unsere Wurst, unseren Käse. In eine Plastiktüte vom Supermarkt hinein und dann in ihre große Plastiktasche, mit der sie immer kommt. Die Tasche ist manchmal so schwer, dass sie, wenn sie von der Pension mit dem Fahrrad und der Tasche am Lenkrad wegfährt, auf der schmalen Landstraße hin und her schlenkert. Rami ist so dumm, der hat ihr auch noch seinen kleinen bunten Rucksack angeboten. Papa hat gelacht. Rami ist überhaupt ein Schleimer, wenn man ihn lässt. Seitdem mag ihn die Köchin natürlich, sogar Kaugummi hat sie ihm schon mal zugesteckt, weil er so artig schauen kann mit seinen Kulleraugen, auf die Mama auch so leicht reinfällt. Überhaupt jeder. Kleine Brüder sind die Pest in Menschengestalt. Pest mit Locken.

»Die beklaut uns«, habe ich ihm gesagt. »Und du willst ihr auch noch dabei helfen?«

»Aber die ist doch lieb«, hat er gesagt.

Und ich habe dann natürlich: »Blödmann« gesagt.

Und er hat gelacht. Alle findet er lieb, alle.

Den Grobian aus dem zweiten Stock auch, der ihm schon Kopfnüsse verpasst hat und mir öfter das Bein stellt, in der Früh, wenn ich die Treppe hinunterrenne, um den Schulbus noch zu erwischen.

Nein, ich stehe immer rechtzeitig auf. Im Sommer machen die Vögel einen solchen Radau, dass ich schon um fünf wach bin. Aber bis das Bad frei ist, kann es bis zu einer Stunde dauern. Und bis meine Tante draußen ist, sogar noch länger. Stunden bleibt sie drin. Stunden. Bis Papa brüllt.

Ich bin schon ein paarmal einfach ungeduscht in die Schule gefahren und habe mich dann den ganzen Tag geniert, vor allem, weil Mona laut »Die stinkt« gesagt hat, als ich an ihr vorbeigegangen bin. Aber vielleicht hat sie das auch nur so gesagt, sie sagt es ja fast täglich zu mir. Glück gehabt, es haben nicht alle darüber gelacht, und Laura sowieso nicht.

Wir haben jetzt ein Seifenversteck im Klo gemacht, damit das nie wieder passiert. In der dritten Kabine vom Mädchenklo ist eine Kachel in der Wand locker. Dahinter hat sie eine kleine, in rosa Papier verpackte Seifenkugel versteckt, und ich schleiche in der ersten Stunde auf die Toilette und wasche mich mit dieser kleinen Seife, die so toll nach Rosen duftet, als würde ich in einer Wanne voller Blumen baden.

Rosen haben wir früher viele gehabt, in unserem Garten. Und eine Katze hatte ich damals auch. Und auf dem Heimweg kam ich an einer Ziegenherde vorbei. Ziegen mag ich. Manche Bauern hier haben auch Ziegen. So wie meine Oma.

Habe zu Hause niemandem etwas davon gesagt. Also nicht von den Ziegen, sondern von den blöden Sprüchen der blöden Mona. Auch nicht vom Nichtwaschen noch von der Rosenseife im Versteck auf dem Mädchenklo, damit Papa sich nicht schon wieder wegen der besetzten Dusche aufregt und Mama ihn beruhigen und ihre Schwester Amina verteidigen muss. Und dann kriegt sie Krach mit Amina, weil meine Tante überhaupt gerne streitet. Mit jedem, aber immer noch am liebsten mit Mama, weil die immer so freundlich bleibt oder gleich weint, und dann hat die Tante gewonnen. Ich gehe ihr aus dem Weg, wenn ich kann.

Wenn ich Laura nicht hätte, wäre es wirklich schlimm. Aber Glück gehabt, ich habe sie. Ich habe überhaupt viel Glück gehabt, finde ich.

Irgendwann erzähle ich vielleicht einmal von denen, die weniger Glück gehabt haben.

Aber das möchte ich noch nicht.

– – – – –

Einige hier sind auf Mama böse, weil sie sich oft mit ihnen wegen meiner Tante, die stundenlang das Bad blockiert, in die Haare kriegt.

»Frau Lema«, sagen sie zuerst vorwurfsvoll. »So geht es nicht.«

Mama beruhigt und hält Vorträge, bittet um Nachsicht und geht damit allen, die kaum noch Nerven haben – und das sind hier recht viele –, auf die wenigen verbliebenen Nerven. Wenn Amina das Bad endlich verlässt, gibt es meistens schon Streit auf dem Gang. Mit mehreren Personen. Amina geht an ihnen vorbei, ohne zu grüßen, und die Haut an ihren Händen, Unterarmen, am Halsansatz glüht dunkelrot, weil sie sich so fest geschrubbt hat. Manchmal denke ich, sie zieht die Haut irgendwann in Fetzen ab. Sie bedankt sich nie bei Mama. Und Mama sieht sie so traurig an, dass ich sie am liebsten trösten würde. Keiner sagt dann mehr etwas. Alle tun so, als ob es ganz normal wäre, wenn sich jemand die Haut vom Körper reißen will. Ich sage dann auch nichts, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll.

2

Habe die Katze heute heimlich ins Zimmer gelassen. Sie hat sich in meinem Bett zusammengerollt und geschnurrt. Ich habe meinen Kopf neben sie gelegt, damit ich das leise Beben ihres Körpers wahrnehmen kann. Das ist so angenehm wie die sanfteste Massage. Nur ohne Hände.

– – – – –

Amina sagt, sie verpetzt mich beim Pensionsbesitzer, den hier alle Chef nennen, wenn sie das »Drecksvieh« noch einmal in ihrem Zimmer erwischt, so wie gestern. In ihrem Zimmer. Sehr witzig.

– – – – –

Habe Papa gefragt, ob wir Amina nicht in ein eigenes Zimmer abschieben können.

Nein, können wir nicht. Wir hätten schon ein großes Zimmer, sagt der Chef. Die kleinen brauchen sie für Paare mit Babys. Einzelzimmer gibt es hier keine. Das lohnt sich nicht.

Papa hat das fast noch mehr bedauert als ich.

– – – – –

Ich will jetzt nicht total miese Laune haben. Herr Bast, unser Biolehrer, hat mal in einem philosophischen Anfall ein Glas mit Wasser auf das Lehrerpult gestellt. »Halb voll oder halb leer?«, hat er gefragt. Das komme nur drauf an, wie man es betrachte. Kurz vor der Pause hat er es leider umgeworfen, weil er immer, wenn er in Fahrt ist, mit seinen Armen ausholt wie eine Windmühle.

Ich sehe es so: Das Glas ist immer halb voll, auch wenn es in Wirklichkeit fast leer ist. Ich versuche es. Eigentlich ist noch gar nichts wirklich gelöst bei uns. Wir sind noch nicht wirklich hier, aber ich arbeite daran. Stimmt, den Bescheid haben wir nicht. Aber ich kann mich ja trotzdem anstrengen! Zum Beispiel wenn ich merke, dass ich schon bei fast allen Unterrichtsfächern mitkomme und keine Angst mehr haben muss, dass ich durchfalle und Laura weiterkommt und ich wieder allein bin. Zugegeben, wenn Laura mir nicht helfen würde, hätte ich sicher schon ein paar Klassenarbeiten in den Sand gesetzt. Vor allem in Deutsch. Mathe ist leichter. Ich glaube, die Deutschlehrerin – King heißt sie – weiß das. Ich glaube, sie sieht manchmal einfach weg. Das ist sehr lieb von ihr. Hoffentlich merkt das keiner außer mir.

– – – – –

Mama hat wieder einmal mit Tante Amina gestritten. Die kann einen bis aufs Blut reizen. Papa hat sich wie immer eingemischt, hat Mama rausgeschickt und dann mich. Rami hat sich hinter dem Schrank versteckt, den hat er nicht gesehen. Oder nicht sehen wollen.

Mama ist in den Hof gegangen, hat sich draußen auf die Bank gesetzt, in die Sonne, und hat sich das Taschentuch an die Augen gehalten und so getan, als ob sie Schnupfen hätte. Was hätte sie auch sonst tun sollen – auf dem Gang stehen, wo alle vorbeigehen? Die Küche ist am Nachmittag verschlossen. Im ganzen Haus gehen immer wieder Frauen herum, die leise weinen. Und Männer streiten lautstark. Manchmal streiten auch die Frauen laut und die Männer weinen, aber das passiert meist erst, wenn sie wirklich total am Ende sind, und dann passieren manchmal auch noch ärgere Sachen, bei denen der Arzt kommen muss oder die Polizei oder beides. Der Depp aus dem zweiten Stock wurde von seinen Eltern mal krankenhausreif geprügelt. Hat den Heimleiter nicht geschert. Der hat die Polizei nicht gerufen. Weiß nicht, wer das war. Und kaum war der Depp zurück, hat er Rami vermöbelt. Bis ich dazwischengegangen bin. Ist zwar die Pest, aber dennoch mein kleiner Bruder.

Ich habe mich zu Mama auf die Bank gesetzt, die rot getigerte Katze ist mir auf den Schoß gesprungen, hat geschnurrt. Ich habe die eine Hand auf die warme weiche Katze gelegt und die andere auf Mamas Arm und habe ihr lustige Dinge von der Schule erzählt. Die in echt gar nicht so lustig waren. Die habe ich einfach ausgeschmückt. Das ist aber in solchen Momenten in Ordnung, finde ich. Sie hat gelacht und sich die Augen abgetupft. Ich mag es, wenn sie nicht immer weint.

– – – – –

Papa läuft wie jeden Morgen zum Briefkasten, wie alle anderen hier, die nicht aufgegeben haben. Und kommt dann schweigend zurück. Dann weiß ich, dass wieder nichts drin war. Der Bescheid der Behörde, der Bescheid, in dem schwarz auf weiß steht, dass wir bleiben dürfen und hier Asyl bekommen. Endlich. Asyl bekommen klingt ein bisschen nach Kind bekommen. Es ist etwas, auf das man mit großer Hoffnung wartet. Dieser Asylbescheid reift und wächst und die Behörden brauchen leider viel länger als neun Monate. Und gleichzeitig hat man auch eine Riesenangst davor, vor diesem Augenblick. Dann ändert sich alles. Alles.

Jeder, der hier ausziehen durfte, hat davor diesen Brief erhalten. Das habe sogar ich mitbekommen. Entweder ausziehen, eigene Wohnung und hierbleiben. Oder abgeholt werden mit Polizei und raus aus dem Land. Manche sofort, andere ein bisschen später. Manchmal mit Geschrei und wilden Kämpfen im Haus oder vor dem Polizeiauto. Manche Polizisten waren lieb, die haben fast geweint. Manche waren einfach nur brutal und haben das auch noch genossen. Fast wie bei uns zu Hause. Ich konnte nicht wegschauen. Musste am Treppengeländer stehen und hinstarren, wie bei einem Horrorfilm – man denkt, wenn man wegschaut, passiert etwas noch Schlimmeres. Wie sie die Menschen an den Haaren gepackt haben. Die Köpfe zurückgerissen. Ich habe gezittert.

Papa war plötzlich da, ich hatte ihn nicht gehört. Hat mir die Hand ganz vorsichtig auf die Schulter gelegt. »Komm, Madina«, hat er gesagt. »Komm, gehen wir ins Zimmer. Na komm.«

Habe mich in seinen Arm hineingekuschelt, bin hineinversunken, habe seinen Oberkörper an meinem Hinterkopf gespürt. Breit, fest. War plötzlich wie in dichtem Nebel. Konnte mich nur mit seinem Arm im Rücken bewegen. Habe mich von ihm langsam vom Treppengeländer weglotsen lassen. Die Schreie sind unten im Treppenhaus verhallt. Er hat mich mit sanftem Druck ins Zimmer geschoben und das Radio aufgedreht, komische Musik, irgendein Sender, per Zufall erwischt. Ich habe mich auf die Musik und die Stimme der Sprecherin konzentriert. Sonst nichts mehr gehört. War ihm so dankbar.

»Uns passiert das nicht«, hat er gesagt. Total ruhig sagte er das. »Hörst du. Wir bleiben da.«

Die Eingangstür fiel ins Schloss, und draußen fuhr ein Auto weg.

Ich habe nichts geantwortet. Hatte bestimmte Bilder im Kopf.

Nein, das mag ich jetzt nicht schreiben. Aus. Schluss. Sofort. Ich gehe jetzt aufs Klo und trinke dann ein Glas Wasser.

– – – – –

Bin wieder da.

Also noch mal. Alle warten auf den Brief, den einen Brief, der sie rettet. Der Brief, in dem drinsteht, dass sie hier Asyl bekommen. Schwarz auf weiß. Sicher. Besser als nur geträumt. Und dieses Schwarz-auf-Weiß wiederum heißt hierbleiben. Rechte haben. Ein echter Mensch sein mit echtem Leben. Dann ziehen sie weg.

Ich habe schon drei Freundinnen auf diese Weise verloren.

Eine war fast fünf Jahre hier, hat sie mir erzählt. Ich habe sie kennengelernt, als wir hierherkamen. Sie hat meine Sprache gesprochen. Das war total schön. Hat mir das Haus gezeigt, die Katze, die Vögel. Hat mich gewarnt, wem ich aus dem Weg gehen soll. Hat mit mir im Hof Brettspiele gespielt und mir im Gemeinschaftsraum die Fernsehserien erklärt. Ich konnte ja kein Deutsch.

Zwei Monate später war sie weg. Sie hat sich sehr gefreut. Auf die neue Wohnung. Mit eigener Küche und eigenem Klo und eigenem Bad. Da müsste ich nur noch mit der Tante darum kämpfen, das wäre ein absoluter Fortschritt. Wir haben gesagt, wir würden uns noch sehen. Aber die neue Wohnung war an einem anderen Ort, ziemlich weit weg. Sie kam noch ein paarmal. Dann nicht mehr. Ich war wieder allein.

Darum möchte ich nicht, dass mir so was mit Laura passiert. Das wäre schrecklich. Ich bin mit Laura am längsten hier befreundet. Seit ich in der Schule bin. Seit fast eineinhalb Jahren. Und abgesehen davon ist sie die Einzige gewesen, die einfach so auf mich zugekommen ist. Sich ab und zu zu mir gesetzt hat. Nicht gelacht hat über meine Deutschfehler, die für alle lustig waren, nur nicht für mich. Am Anfang habe ich aus lauter Angst gestottert. Das war für die Klasse noch lustiger.

Manchmal vergesse ich, dass ich früher zu Hause eine noch bessere Freundin hatte. Das ist nicht fair. So was darf man eigentlich nicht vergessen. Andererseits bin ich manchmal sogar froh, wenn ich Mori vergesse. Ich kann doch sowieso nichts mehr für sie tun.

Und für ihre Schwestern auch nicht.

– – – – –

Mona ist eine noch größere Pest als mein kleiner Bruder. Ich habe ihr nichts getan.

– – – – –

Ich will lieber über etwas Schönes schreiben. Etwas, das ich mag. Zum Beispiel mein langes Haar. Um das haben mich schon viele beneidet, auch früher zu Hause. Ich habe es sicher seit sieben Jahren nicht mehr geschnitten. Wenn ich einen Zopf mache, reicht er mir fast bis zur Taille. Ein dicker, schöner, glänzender Zopf. Wenn ich meine Haare offen tragen will, wie die meisten anderen in der Schule, ist mein Vater sauer.

Laura steht auf fransige Kurzhaarschnitte. Und Sabine, auf die ich ein bisschen eifersüchtig bin, weil sie schon vor mir mit Laura befreundet war, und die auf mich ein wenig eifersüchtig ist, weil ich mich mit Laura besser verstehe als sie, würde sich nie so einen langweiligen Zopf flechten. Sabines Schwester arbeitet bei einem Friseur. Sabine hat eher dünnes Haar und jede zweite Woche etwas anderes auf ihrem Kopf, weil die Schwester immer an Sabine übt. Manchmal geht das gut. Manchmal übertreibt sie es. Und manchmal sind die Haare danach so, dass sie sie wieder abschneiden muss.

»Du hast doch so schöne Locken«, sagt Sabine, die auch so gerne Locken hätte. Und dann sagt sie noch: »Wie schade.«

Ich sage dann, dass ich meine Haare nicht offen tragen will. Ich will ihr nichts erklären müssen. Dass Papa nur mit Mühe und Not davon abzuhalten war, mir plötzlich ein Kopftuch aufzusetzen. Im Sommer! Das habe ich zu Hause auch nie getragen. Aber hier ist auf einmal alles anders.

Sie nimmt meinen Zopf, lässt die einzelnen Haarsträhnen am losen Ende hochspringen, dreht sie sich um die Finger wie ein schwarz glänzendes Seidenband. Ihre Haare sind glatt und hell wie gekochte Spaghetti.

Manchmal gehen wir zu dritt zu Laura und sperren uns auch lange im Bad ein, fast so lang wie meine Tante, und dann probieren wir alles aus: den Stylingschaum von Sabines Schwester, das Gel von Lauras Bruder, den Lockenstab der Mutter. Irgendwann wollen wir auch Haare färben. Haben wir uns fest vorgenommen. Laura, die viel Taschengeld bekommt, hat schon bunte Tönungen für uns besorgt, Tomatenrot und Meerblau. Ich habe leider nichts davon, auf blauschwarzem Haar wird man nichts sehen. Egal. Wir schminken uns, wir rühren Hautpackungen an und legen Gurkenscheiben rund um unsere Augen. Wir fotografieren uns.

»Schönheit für die Ewigkeit«, sagt Laura.

Wir als feine Damen. Wir als Bronzepuder-Indianer. Wir mit Lockenwicklern in Knallpink und grellrosa Lippenstift und Katzenohren. Ein ganzes Album voll. Ich male schöne Muster um die aufgeklebten Fotos. Lauras Mutter ist ganz entzückt.

Die Wohnung ist vollgehängt mit Fotos, von ihr, von Laura und Markus. Auf manchen Fotos ist ein Teil abgeschnitten, sieht man am Rahmen. Einfach seitwärts weg. Da war mal Lauras Vater drauf.

– – – – –

Das Abendessen ist immer um sieben Uhr. Nicht früher, nicht später. Eine Viertelstunde vor der Essensausgabe müssen alle unten sein. Im Erdgeschoss. Bei der Tür zum Speisesaal bildet sich eine Schlange. Und dann warten wir. Manche werden ungeduldig wie Tiere im Zoo, die wissen, wann ihre Fütterungszeit ist, und auch, dass noch jedes Mal einer gekommen ist und ihnen ihr Futter gebracht hat, ihr Fleisch, ihren Fisch, ihr Heu und ihre Früchte. Und dennoch sind sie jedes Mal nervös, als könnten sie es nicht glauben.

– – – – –

Am Anfang – also ganz am Anfang, in den ersten Tagen nach unserer Ankunft – sind wir eingesperrt gewesen. So richtig eingesperrt. Mit Beamten in Uniform und Gitterstäben am Fenster und Balken vor der Tür und Essensausgabe. Als wären wir Verbrecher, die man schon überführt hat. Sie sahen aus wie Soldaten. Sie wirkten fast wie die zu Hause. Sie herrschten uns an, und keiner verstand ein Wort. Die Räume waren total überfüllt. Aber sie stopften die ganze Zeit noch mehr Menschen hinein. Manche von uns hatten keinen Platz zum Schlafen bekommen, die lagen dann in den Gängen auf dem Boden herum. Alte, Kleinkinder, Männer, Frauen.

Wir waren alle aufgeregt, weil wir es geschafft hatten, und gleichzeitig fertig mit den Nerven. Wir schwitzten vor Angst. Irgendwann kam ein Übersetzer. Hat abfällig, so angeekelt, geschaut. Diesen Blick habe ich später noch oft bemerkt. Er fühlt sich an wie Abwaschwasser im Gesicht. Jetzt hebe ich meinen Kopf höher, wenn er mich trifft. Und straffe meine Schultern. Das machen Tiere auch, wenn sie gefährlich und wichtiger erscheinen wollen. Ich mache das wie die Tiere. Und ich schaue nicht weg. Das tun Tiere nämlich auch nicht. Aber das hat gedauert. Zuerst, bis ich das kapiert habe. Dann, bis ich es konnte.

Sie haben uns Brötchen in den Raum hineingeworfen, nicht verteilt, sondern richtig hingeworfen, als wären wir im Zoo, aber auf der falschen Seite. Papa hat immer wieder von vorn beteuert, vollkommen in Ordnung zu sein. Egal. Bis sie uns geglaubt haben, ist einige Zeit verstrichen. Und dann hat man uns hierher gebracht. Hier ist es besser. Wir haben einen Speisesaal. Da ist die Eingangstür immer offen, und wir können sogar nachts raus und den Mond anschauen, wenn wir Lust haben.

3

Lauras Mutter hat mir übrigens dieses Tagebuch geschenkt. Einfach so.

»Da kannst du jeden Tag alles hineinschreiben, was du erlebt hast«, hat sie gesagt. »Ich habe auch so eines gehabt. Das ist dann später sehr lustig, wenn du das in fünf Jahren liest. Oder in zehn.« Gelächelt hat sie. Stand da, an die gemütliche Küchenzeile aus hellem Holz gelehnt, in ihrer Jeans, in den bunten Turnschuhen. Sie wirkt ganz jung, obwohl sie rundlich ist wie Mama. Rundlich und klein. Hinter ihr ein blau gemusterter Vorhang, Blumen und Kräuter in bunten Keramiktöpfen auf dem Fensterbrett. Die ganze Wohnung luftig und hell. Ich bin sehr gerne bei ihr.

Ich habe aber die Stirn gerunzelt, nur kurz, das hat sie nicht verstanden. Vielleicht hat sie geglaubt, mir gefällt ihr Geschenk nicht. Doch, es hat mir sogar sehr gefallen. Ich mag nur nicht alles reinschreiben, was ich erlebt habe. Das Buch ist zu schön dafür.

Es ist mit blauem Samt bezogen, mit einem silbernen Verschluss in der Mitte und dazu einem kleinen, zierlichen Schlüssel. Wie im Märchen. Nur Prinzessinnen haben solche Schlüssel. Ich habe mich gefühlt wie eine Instantprinzessin, eine Auf-der-Stelle-Prinzessin. Aber keine, die im Turm auf den Prinzen wartet. Eher so eine, die um ihr Königreich kämpfen wird. Ich habe den Schlüssel zu meinem polierten Lapislazuli an meine Halskette gehängt. Der Stein sieht aus wie ein Tropfen, wie eine Träne in Silberfassung. Früher habe ich eine ausgestreckte Hand mit blauem Auge darin um den Hals getragen. Die Lapislazuliträne hat mir Oma geschenkt, bevor wir weggingen. Damit ich nicht weine. Damit alle Tränen im Stein eingeschlossen bleiben. Hat sie gesagt und selber mit den Tränen gekämpft. Den gebe ich ihr zurück, wenn wir uns wiedersehen. Ich habe die Silberhand mit dem blauen Auge von der Kette abgenommen und ihr in die braun gebrannte, runzlige Hand gedrückt. Als Andenken an mich. Wir haben ausgemacht, dass wir wieder tauschen. Später.

Das Buch lege ich jede Nacht unter mein Kopfkissen.

Wenn Papa schnarcht oder Rami im Schlaf aufschreit, oder meine Mutter, schrecke ich hoch. Und wenn ich hochschrecke, sehe ich meistens dasselbe Bild: meine Tante, die reglos vor dem Fenster sitzt und hinausstarrt. Um eins in der Nacht ebenso wie um drei oder um vier. Sie merkt wohl, dass ich wach bin, aber sie dreht sich nie um. Sie sagt kein Wort. Wenn ich nicht wüsste, dass sich ihre Brust kaum merklich hebt und senkt, wäre ich nicht sicher, ob sie noch am Leben ist. Im Mondlicht kann ich die Bewegung ihres Halses, ihrer Brust leichter sehen. Darum mag ich es, wenn der Mond hinter den Wolken hervorkommt. Ich mag den Mond.

Das passiert recht oft. Eigentlich. Ich zwinge mich dann, so zu tun, als hätte ich sie nicht gesehen, und mich wieder hinzulegen. Taste nach der samtigen Oberfläche, fast wie nach meiner Katze damals, zu Hause, und alles ist wieder gut. Alles, was hier drin ist, gehört mir. Und ich zeige es nur dann her, wenn ich will. Das Album mit den Fotos lasse ich aber sicherheitshalber bei Laura. Was weiß ich, wie meine Eltern das fänden. Das wilde Schminken und Lauras Nachthemdchen. Ich gehe lieber auf Nummer sicher.

– – – – –

Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und weiß nicht, wo ich bin. Und ich könnte schreien vor Angst. Aber ich traue mich nicht zu schreien. Damit mich niemand hört, der mich nicht hören soll. Damit uns niemand findet. Ich taste mit der Hand nach dem Lichtschalter. Ich muss immer neben dem Lichtschalter schlafen. Ich habe meine Matratze direkt darunter geschoben. Wenn ich die Finger dann auf das Plastik draufdrücke und weiß, ich könnte jederzeit Licht machen, dauert es trotzdem einige Zeit, bis sich mein Herzrasen wieder beruhigt hat. Und noch länger, bis ich wage, mich aufzusetzen und im Zimmer umzusehen. Ob wir immer noch alle da sind, wo wir hingehören. Ich zähle immer alle ab, bevor ich mich wieder hinlege. Ob nicht jemand fehlt.

– – – – –

Manchmal würde ich Laura gerne zu mir einladen, damit ich nicht immer die bin, die nach der Schule mitkommt. Das ist mir unangenehm. Wirklich. Es ist ziemlich unhöflich, wenn man nie eine Gegeneinladung macht. Wenn ich zu Hause gewesen wäre, hätten wir die ganze Familie von Laura sofort eingeladen. Früher hatten wir oft Gäste zu Hause.

Früher hat Mama dann immer aufgekocht, als ob eine Hochzeit stattfinden würde, mindestens aber ein Geburtstag. Reis mit Rosinen und mit Lammfleisch oder Hühnchen mit Pflaumen und Salatschüsseln mit Granatäpfeln und Datteln garniert. Und erst die Torten. Mamas Torten fehlen mir sehr. Auch, weil ich ihr als kleines Mädchen immer helfen durfte. Das war etwas ganz Besonderes, das Teigrühren, die Gewürze, Rosenwasser und Früchte. Und nachher mit Rami die Schüsseln ausschlecken zu dürfen. Manchmal bekam ich allerdings vom rohen Teig fürchterlichen Durchfall, er auch. Aber das war uns egal. Im Frühling hatten wir den Tisch draußen, im Garten. Zikadenzirpen am Abend. Und ein riesiger Vollmond hinter den Baumumrissen und Sterne am dunkler werdenden Himmel. Kerzen. Irgendjemand war immer dabei, der Musik gemacht hat. Oder wir spielten eine CD.

Ich hätte das wirklich gerne einmal mit Laura erlebt. Wenigstens die Torte. Mit ihr zusammen Schlagsahne mit Vanille und Zimt von den Löffeln geschleckt. Aber es ist mir noch peinlicher, wenn Laura sieht, wie wir hier leben. Im Haus gibt es echt seltsame Menschen. Vor einem fürchte ich mich ganz besonders. Der wäscht sich nie, frisiert sich nie, spricht mit sich selbst und schreit manchmal zusammenhangloses Zeug herum. Und er geht den Frauen im Haus nach. Es hat gar keinen Sinn, ihm zu sagen, er soll es lassen. Er macht das dann weiter. Er tut einem zwar im Endeffekt nichts. Er spielt nur Schatten. Aber wenn ich den sehe, sperre ich mich im Klo ein, bis jemand muss.

Laura würde sich ekeln vor unseren Toiletten. Und vor unserem Zimmer vermutlich auch. Fünf Matratzen am Boden und ein Tisch und vier Stühle, mehr passt nicht in den engen Raum. Einer von uns hat einfach keinen Platz. Entweder sitzt Rami bei Papa auf dem Schoss, was mir an seiner Stelle langsam auch peinlich wäre. Oder meine Tante wird rausgeekelt. Oder ich gehe, weil mir das alles zu viel wird, diese ganze Stimmung um den Tisch und das Hickhack und die Enge.

Papa bleibt manchmal Stunden weg, und keiner weiß, wo er ist. »Im Wald spazieren«, sagt er, wenn man ihn fragt. Aber das stimmt nicht. Ich habe ihn noch nie in den Wald weggehen sehen oder aus dem Wald zurückkommen. Jedenfalls nicht, wenn ich Wache hielt vor dem Haus. Und das habe ich am Anfang oft gemacht. Rami sagt, er hat ihn öfters in den Keller gehen sehen, aber nicht mehr hinaufkommen. Manchmal habe ich Angst, dass es hier irgendwo so einen verwunschenen geheimen Raum gibt, in den er sich zurückzieht. Solche Räume haben aber meistens nur Könige und Bösewichter. Und Papa ist weder noch. Er ist einfach nur mein Papa, der manchmal zu streng ist. Aber der mich lieb hat, das weiß ich.

– – – – –

Am Anfang war es so, dass wir alle Angst hatten, sobald jemand von uns nicht da war. Na gut, Angst vielleicht nicht. Aber wir waren unruhig. Ob der auch wiederkommt. Es gibt viele, die nicht wiedergekommen sind. Die Einzige, die immer die Stellung hier hält, ist Mama. Egal was passiert, egal wer mit wem schreit und schimpft. Wenn Papa weg ist und es dauert länger als zwei Stunden, wird sie unruhig. Sie lächelt immer noch, aber auf dem Kiefer tritt eine harte Linie zwischen Wange und Mundwinkel hervor, erinnert mich an eine gespannte Bogensehne, von der die Worte, die sie gerne sagen würde, doch nie abgeschossen werden. Wenn ich sie so sehe, umarme ich sie. Manchmal will ich dann aber nicht da sein.

Und wenn ich zu oft bei Laura bin, ist Mama gekränkt und Papa wird böse.

Dann bleibt mir kein anderer Ausweg als der, meinen Märchenwald zu öffnen und hineinzugehen. Das habe ich auch zu Hause gemacht, immer wenn wir im Keller saßen und der Putz auf unsere Köpfe rieselte und wir die Erschütterungen gezählt haben: Wie nah war das jetzt? Wie viele? Wenn es viele waren, war die Chance recht hoch, dass die Flugzeuge abdrehten, weil sie keine Bomben mehr geladen hatten. Mama hat für Rami Lieder gesungen und immer, wenn das Brummen lauter wurde, ist auch ihre Stimme lauter geworden, als ob sie die Flugzeuge übertönen könnte, die Explosionen. Er hat sich fest in sie hineingedrückt wie in ein Kissen und die Ohren zugehalten. Und Papa hat uns umarmt. Hat versucht, uns alle auf einmal zu umarmen, das ging nur, wenn wir so nah zusammengerückt sind, dass wir keine Luft mehr bekamen.

Ich bin es immer noch nicht gewohnt, zu weit abzurücken. Ich rücke immer nur ein wenig ab. Aber sogar das ist schon schwierig.

Manchmal gibt es keinen Weg raus außer den nach innen. Dann stelle ich mir etwas vor, mit aller Kraft. Wenn man sich reinsteigert, kann man sogar die Vögel im Märchenwald schreien hören. Ich will bunte Vögel in meinem Wald haben, mit prächtigen Paradiesfedern im Schweif. Sie haben keine Angst, auch wenn die Sonne untergeht und die Schatten zwischen den uralten Bäumen wachsen.

– – – – –

Manchmal hat Papa Angst, dass ich ihm so fremd werde wie das Land, das ihn jetzt umgibt. Aber das bilde ich mir bestimmt nur ein. Bestimmt. Er ist so stolz auf mich, weil ich gut Deutsch sprechen kann. Das ist etwas, das er nicht zusammenbringt. Aber er hat auch keine Lehrerin wie ich. Und keine Laura. Er hat hier immer noch keine Freundschaften geschlossen, im Unterschied zu Mama, die sich mit vier Frauen im Haus ganz gut versteht. Zwei von ihnen werden allerdings bald ausziehen, sie haben schon die Erlaubnis. Wir nicht. Papa hat vielleicht Angst, auf andere zuzugehen, weil er sich noch immer nicht gut auskennt. Ihm ist es noch viel peinlicher als mir, wenn er Fehler macht. Glaube ich. Und ohne mich wäre er sowieso verloren. Deswegen muss ich oft mit ihm mitgehen und übersetzen.

Ich übersetze dann Dinge, die ich nicht verstehe. Also von den Worten her schon, aber vom Sinn her nicht. Was er für Papiere braucht. Warum er hergekommen ist. Immer wieder dasselbe. Eigentlich könnte er nur noch mich schicken, allein. Vielleicht würde ihn das sogar weniger aufregen. Und zu mir sind die Frauen und Männer hinter den verschiedenen schäbigen kleinen Tischen in verschiedenen schäbigen kleinen Zimmern freundlicher als zu ihm. Ich weiß ja genau, was er darauf antworten wird. Ich habe es unzählige Male wiederholt, wie ein Leierkastenspieler, der immer die gleiche Melodie anstimmt. Und er wird dann nervös und schwitzt, und ich sehe schon, wie er sich ärgert und sich zwingt, ruhig zu bleiben. Was ihm meistens gelingt. Und er antwortet brav ein ums andere Mal dasselbe: Warum ist er hergekommen? Warum sind die Papiere von zu Hause immer noch nicht da? Weil unser Haus nicht mehr steht und zerbombt worden ist und wir deswegen keine mitgenommen haben und weil die Behörden in einem Land, in dem Krieg herrscht, einfach nicht so korrekt und schnell arbeiten, wie in einem Land, in dem kein Krieg ist. Weil Papa gesucht wird. Nicht, weil er Verbrechen begangen hat. Die Beamten hier davon zu überzeugen war am allerschwersten gewesen. Mein Papa ist doch kein Verbrecher. Mein Papa ist Krankenpfleger. Der würde nie jemandem etwas zuleide tun. Dass Papa niemandem etwas zuleide tun wollte, das allein hat schon als Verrat gegolten. Weil es in einem Krieg nicht möglich ist, sich komplett rauszuhalten. Auch wenn man es noch so sehr versucht. Aus Papa wurde so schnell ein gesuchter Mann und Staatsfeind, so schnell konnte er gar nicht schauen.

»Soso«, sagen die Beamten an verschiedenen schäbigen Tischen in verschiedenen schäbigen Zimmern. »Er hat also nur seinen Job getan. Wieso sollte er deswegen in Lebensgefahr sein?«

Und ich erkläre alles von vorne: Wie Schwerverletzte vor unserer Türe abgelegt worden sind. Wie Papa sie natürlich nicht auf seiner Türschwelle hat sterben lassen können. Auch wenn es Aufständische waren.

»Soso«, sagen sie. »Sie haben also aktiv Gewalttätige unterstützt.«

Papas Patienten. Die Widerstandskämpfer und die Regimeverteidiger. Oder anders gesagt: die Aufständischen und die Soldaten. Es war immer dasselbe. Nur die Namen wechselten. Die Namen wechseln, und die Gewalt bleibt. Man kann gar nicht so schnell laufen. Das, wovor man weggelaufen ist, steht schon da und wartet auf einen. Wie beim Igel und dem Hasen. Ein mieser Trick. Aber den Trick kennt hier keiner. Ich muss ihn erst erklären. Und Papa wird ganz betreten und sagt, dass wir doch alle umgebracht worden wären, wenn er die Hilfe verweigert hätte. Entweder von den einen, wenn er half, oder von den anderen, wenn er nicht half. Und Nichthelfen sei ihm eben am schwersten gefallen.

Sie fragen ihn – also mich, weil ich übersetze –, warum er nicht beweisen kann, dass ich seine Tochter bin. Vielleicht bin ich ja jemand anderer.

Ich verstehe einfach nicht, warum die uns nicht glauben. Man sieht doch, dass ich seine Tochter bin. Ich sehe ihm total ähnlich. Ich habe sie schon oft hergezeigt: Unsere Hände sind vollkommen gleich, die Daumen, die Finger, sogar die Nagelform. Warum sollte ich nur so tun, als wäre ich seine Tochter? Das ist verrückt.

4

Ich habe Papa gefragt, wann wir denn wieder Gäste einladen können. Wie lange wir noch hier sind. Ich will weg.

»Wir werden feiern, wenn wir hier ausziehen dürfen«, hat er gesagt. Und dann hat er noch gesagt, ich soll warten.

»Ich kann fast nicht mehr warten«, habe ich ihm gesagt.

Und er hat gesagt: »Dann musst du es eben lernen. Jeden Tag neu.«

Papa wartet täglich darauf, dass wir hier ausziehen dürfen. Aber das dauert und dauert.

Alle warten hier. Niemand hat etwas anderes zu tun. Bis der Startschuss zum Hierleben fällt. Dieses Warten ist so schwerelos wie Gegenstände im Weltraum. Kein Boden. Kein Oben, kein Unten. Die Erwachsenen kreisen um sich selbst, weil einfach nichts anderes da ist. Alle, die noch nicht volljährig sind, haben es leichter. Wir dürfen etwas. Wir tun etwas. Die Erwachsenen kreisen um sich selbst, und wir sind Kometen, die zwischen Schule und Kindergarten und dem großen Warten hin- und herziehen. Das hilft.

Der Stempel, der aufs Papier geknallt wird, ist der Urknall, mit dem das Hier und Jetzt eines neuen Universums entsteht. Die Zeit beginnt erst dann zu existieren.

Die, die aufgegeben haben zu warten, werden irgendwann entweder sehr still, gehen kaum noch aus dem Zimmer. Oder sie beginnen zu randalieren. Ich habe gelernt, ihnen aus dem Weg zu gehen. Wenn sie lange und laut genug randalieren, kommen sie weg. Ich weiß nicht, wohin sie kommen. Will ich auch gar nicht wissen.

Wir kommen da nie hin.

– – – – –

Der Depp hat Rami von einem Computerspiel erzählt. Bei dem hängt Rami öfter ab, im letzten Stock. Gespielt hat er es noch nie, nur mit roten Ohren zugehört. Von einem Assassinen, der auf Fassaden und Türme klettern kann und hauptsächlich damit beschäftigt zu sein scheint, irgendwen zu ermorden. Rami hat ein Plakat aus dem Abfalleimer gezogen und in unserem Zimmer an der Wand befestigt. Jetzt verlangt er von mir, dass ich ihn Altair nenne. Ich denke nicht daran! Aber Mama macht das auch noch wirklich. Ich habe sie gefragt, ob ihr klar ist, dass sie ihrem Sohn einen Mördernamen gibt. Sie hat gesagt, der Name ist traditionell und gut. Ich habe ihr das Plakat gezeigt. Sie hat blöd geschaut, Rami sofort wieder Rami genannt, ihm aber weiterhin erlaubt, Assassine zu spielen, mir hinter Ecken aufzulauern und die Tante auf dem Klo zu erschrecken. Ich warte einfach mal ab, bis es Amina reicht. Die ist dreimal so eiskalt wie sein Assassine.

– – – – –

Musste heute ganz schnell sein auf dem Weg zum Schulbus. Der Typ, der so gern allen Frauen im Haus nachgeht, hat versucht, mich im Erdgeschoss abzufangen. Habe mich nicht umgedreht. Der ganze Gang hat nach ihm gestunken. Der sieht aus, als käme er direkt aus der Hölle. Unrasiert, stinkend, mit Haaren, die schon zu festen, von seinem Kopf abstehenden Haarwürsten verfilzt sind. Manchmal heult er in der Nacht, als ob er ein Tier wäre. Er wäre bestimmt so einer, der sich auf Friedhöfen aus der Erde buddelt. Aus meinem Märchenwald würde ich ihn vertreiben, wenn er da mit seinem widerlichen Kopf zwischen den Wurzeln hervorkäme. Mit einer Fackel würde ich ihn verscheuchen.

Gestern stand er den ganzen Tag am Fuß der Treppe und glotzte alle an, die vorübergingen. Die Frauen ganz widerlich. Die Männer hasserfüllt. Immerzu hat er die Hände in den Hosentaschen, als ob da drin etwas wäre. Manche Männer wurden beim Gehen schneller, wenn die an ihm vorbeimussten, auch einige, die sonst schnell laut werden. Manche stecken auch die Hände in die Hosentaschen, wie ein Spiegelbild, und deuten an, da ist auch was. Pass bloß auf.