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Rache ruht nicht

 

Der New Yorker Kriegsveteran und Bestsellerautor – und Held aus Louis Begleys Roman Zeig dich, Mörder – Jack Dana hat sich zum Schreiben auf die Insel Torcello in der venezianischen Lagune zurückgezogen. Und auch, um die dunklen Schatten vergangener Ereignisse, den Mord an seinem Onkel Harry und die Trennung von seiner großen Liebe Kerry, abzuschütteln. Doch just, als er beschließt, nach New York zurückzukehren und um Kerry zu kämpfen, erhält er einen Anruf: Kerry ist tot. Jack ist sich sicher, dass auch sie ermordet wurde. Hat sein alter Widersacher, der mächtige Abner Brown, wieder seine Fährte aufgenommen? Jack sinnt auf Rache – und nimmt den Kampf mit einem gefährlichen Gegner auf.

 

Louis Begley, 1933 in Polen geboren, arbeitete bis 2004 als Anwalt in New York. Als Schriftsteller wurde er mit seinem Roman Lügen in Zeiten des Krieges weltweit bekannt. Zuletzt erschien Erinnerungen an eine Ehe. Seine Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet.
http://www.louisbegley.com/

 

Christa Krüger hat neben Louis Begleys Werken u. ‌a. Romane von David Guterson und Penelope Fitzgerald ins Deutsche übertragen, zudem hat sie eine Biografie über Louis Begley verfasst. Sie wurde 2009 mit dem C. ‌H. Beck-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

 

 

Louis Begley

Ein Leben für ein Leben

Roman

Aus dem amerikanischen
Englisch von Christa Krüger

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Kill and Be Killed bei Nan A. Talese/Doubleday, a division of Random House, Inc., New York.

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4690.

Deutsche Erstausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Louis Begley 2007 Revocable Trust

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlag: Göllner, Michels

Umschlagabbildung: Mischer/www.deviantart.com

 

eISBN 978-3-518-74424-6

www.suhrkamp.de

Ein Leben für ein Leben

 

 

 

Für Anka und Adam, meine Lektüre-Ersthelfer

 

I

Das Alleinsein, der Charme Torcellos, dieser Insel in der Lagune von Venedig, auf die ich mich nach dem Aufbruch aus New York zurückgezogen hatte, eine fast tägliche Versenkung in das wunderbare Mosaik vom Jüngsten Gericht in der Basilika und vor allem die Zeit hatten ihre Wirkung getan. Dass Kerry sich von mir getrennt hatte, schmerzte nach wie vor, die Wunde schloss sich zwar, aber ich wurde immer noch schamrot, wenn ich an ihre Abschiedsworte dachte: Ich kann es nicht ertragen, wie deine Hände riechen, wenn du mich berührst, sie riechen nach Blut. Aber in der Erinnerung wurden die Scham und der Schmerz langsam weniger quälend, so wie auch das Bild vom Kampf meiner schönen Mutter gegen den Krebs und von ihrer langen Agonie allmählich in meinem Gedächtnis verblasste. Bei allem Kummer konnte ich keine Reue für die Art und Weise aufbringen, wie ich Slobo umgebracht hatte. Ja, ich hatte ruhig zugesehen, wie er blutete, und ja, ich hatte die Notrufnummer erst gewählt, als ich sicher war, dass er fast verblutet war und keine Chance mehr hatte, den Transport von Sag Harbor in die Klinik von Southampton lebend zu überstehen und durch eine Bluttransfusion gerettet zu werden. Aber der Schweinehund hatte meinen geliebten Onkel Harry gefoltert und ermordet und auch seine wunderschöne Katze, die ich ebenfalls geliebt hatte. Hätte ich diesen von Interpol und wer weiß wie vielen anderen Sicherheitskräften gesuchten Auftragsmörder dem Bezirksstaatsanwalt von Suffolk übergeben sollen, damit er seine Strafe auf zwölf oder fünfzehn Jahre Zuchthaus gegen Schuldbekenntnis herunterhandeln konnte? Niemals. Ich hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass ich Slobo umbringen wollte. Kerry, die harte, kluge, erfahrene Prozessanwältin der Spitzenklasse, hätte mir deutlich sagen können, dass sie mich verlassen würde, wenn ich mich nicht streng an die Regeln hielt. Klar, sie gestand mir Notwehr gegenüber Slobo zu, der in mein Haus eingedrungen war und mir nach dem Leben trachtete, hatte aber erwartet, dass ich den Rahmen der Rechtsprechung des Staates New York nicht übertrat, also nicht mehr Gewalt anwendete, als ein vernünftiger Mensch für nötig und vernünftig hielt. Wie sollte ich diese neue – und sie musste neu sein – Zimperlichkeit und Scheinheiligkeit verstehen? Blutgeruch an meinen Händen? Wo war ihr feiner Geruchssinn, als wir uns zum ersten Mal heftig liebten und später dann Nacht für Nacht mit wenigen Ausnahmen – wenn sie auswärtige Termine mit Mandanten wahrnehmen musste oder ich nicht in der Stadt war, was zweimal geschah, einmal, weil ich mir Rat holen wollte bei Scott Prentice, meinem besten Freund, der jetzt für die Agency in Langley, VA., arbeitet; und das andere Mal, um mich mit dem ultrarechten Multimillionär und Teufel in Person Abner Brown anzulegen, der den Killer Slobo auf mich gehetzt hatte. Hatte Kerry in jenen Nächten nicht das Blut der Männer gerochen, die ich im Irak und in Afghanistan getötet hatte, manche davon im Kampf Mann gegen Mann? Oder hat ihr feines Rechtsempfinden ihr versichert, dass jeder Totschlag, den ein Offizier des Marine-Corps und Zugführer der Force Recon im globalen Krieg gegen den Terror begeht, gerechtfertigt ist? Ich zügelte diese stummen Wutausbrüche, weil ich merkte, dass sie mich noch mehr verletzten als Kerrys Zurückweisung. Sie verrieten nur die unausweichliche Wahrheit, dass ich sie nicht weniger liebte als zuvor, auch wenn ich noch so wütend war.

Ich schickte ihr gleich nach meiner Ankunft auf Torcello eine E-Mail, und da ich wusste, dass sie den Ort nie gesehen hatte, beschrieb ich ihr die im Wasser versinkende schwermütige Landschaft der Insel, die Schönheit der Basilika, die Freuden der verfeinerten rustikalen Küche in der Locanda, in der ich wohnte, raffte dann all meinen Mut zusammen und fügte hinzu, dass ich überglücklich wäre, wenn sie mich besuchen käme. Ihre Antwort war vielleicht drei Zeilen lang. Sie sei froh, dass ich einen Ort so ganz nach meinem Geschmack gefunden habe, und ignorierte meine Einladung. Ich blieb beharrlich, das muss ich zugeben, auch wenn es mir peinlich ist. Ich schickte ihr oft Nachrichten von meinem täglichen Leben, weil ich ihr zeigen wollte, dass sie in meinen Gedanken sehr präsent war. Sie sollte nicht den Eindruck haben, ich würde ihr nur mal schnell zwischendurch eine kurze Mail senden, wenn ich, wie alle Schriftsteller, die am Computer arbeiten, eine Pause brauchte und unbedingt Cabo Verde oder die Erfindung des Muttertags googeln musste oder irgendwelchen Freunden ganz unten auf meiner Liste längst überfällige E-Mails schrieb. Doch Kerry antwortete auf die meisten meiner E-Mails nicht.

Ich bin Romanautor. Mein erstes Buch – über meine Erfahrungen in den beiden Kriegen im Irak und Afghanistan schrieb ich großenteils im Militärkrankenhaus Walter Reed, wo Chirurgen den Schaden an meinem Becken reparierten, den mir ein Heckenschütze in Sangin zugefügt hatte. Andere Romane folgten. Auf Torcello begann ich einen Roman, in dem ich die Geschichte vom Mord an Onkel Harry und meiner Rache erzählte. Während der Arbeit daran dachte ich zwangsläufig mehr als gewöhnlich an Kerry, nicht nur, weil wir während jener Zeit ein Paar gewesen waren, sondern auch, weil sie Harrys Protegé und Partnerin war, und weil ich ihr die Einsicht verdanke, warum Abner Brown beschloss, Harry aus dem Weg zu räumen. Die Ereignisse gingen mir wieder und wieder durch den Kopf, und ich schrieb ihr noch einmal, viel ausführlicher diesmal, und erklärte ihr – einleuchtender als während unserer Auseinandersetzung von Angesicht zu Angesicht, hoffe ich –, warum sie akzeptieren müsse, dass Slobo es mehr als verdient habe, so umgebracht zu werden, wie ich ihn umgebracht hatte, dass man nicht ungeschehen machen könne, was geschehen sei und dass wir unsere Liebe nicht der Chimäre der Rechtmäßigkeit opfern sollten. Ihre Antwort, ein einziger Satz, kam prompt: Schreiben hat keinen Sinn mehr, Jack, ich bin weitergezogen. Sie unterzeichnete »Kerry« – ohne einen Zusatz. Weder ›alles Liebe‹ noch ›Mach's gut‹, auch keine Grüße – aber vielleicht war es besser so. Lieblose Liebe und leere Worte hätten womöglich mehr geschmerzt. Aber eine quälende Frage blieb offen. Was sollte der Satz heißen? Wollte sie mir sagen, sie habe einen anderen, und es sei nicht mehr wichtig, ob sie mich zu Recht oder zu Unrecht wegen der Sache mit Slobo verlassen habe? War es möglich, dass sie damit sagen wollte, sie habe das Interesse an Abner Brown und seinem verbrecherischen Imperium verloren, und es kümmere sie nicht mehr, ob Harrys Roadmap für die Anklage, die wir dem US-Staatsanwalt ausgehändigt hatten, ihn je ins Gefängnis bringen werde? Das konnte nicht sein. Ich hatte die Berichterstattung zu den Verfahren, welche die Börsenaufsicht, die Umweltbehörde, die Bundessteuerbehörde und das Justizministerium gegen Abners Gesellschaften angestrengt hatten, online genau verfolgt. Simon Lathrop, ein Seniorpartner in Harrys ehemaliger Kanzlei Jones & Whetstone und sein bester Freund seit der Harvard Law School, informierte mich per E-Mail über Artikel in juristischen und ökonomischen Fachzeitschriften und über Gerüchte, die er gehört hatte. Noch wurde Abner Brown nicht selbst attackiert, aber seine Firmen wurden belagert, und die Justiz sparte nicht an Munition. Wie konnte Kerry das Interesse verloren haben? Ich hatte noch eine Hypothese, die ich für reichlich optimistisch hielt, aber nicht aufgeben wollte: Ihre Antwort – knapp und schroff, weil sie aus Stolz nicht zugeben mochte, dass sie ihre Meinung geändert hatte – sollte mir signalisieren, dass sie bereit war, Vergangenes vergangen sein zu lassen. Nur müsse ich meine Sache in Person verfechten. Die US-Regierung war seit drei Tagen, von Dienstag an, stillgelegt, und niemand konnte vorhersagen, wie lange das so bleiben würde, aber die Luftraumkontrolleure taten weiter ihre Arbeit und hielten die Augen – so hoffte man wenigstens – auf die Monitore gerichtet. Es war Zeit für mich, Kerry in die Arme zu nehmen, endlich wieder ihren schwindelerregenden Duft aus Seife und frischem Schweiß einzuatmen, der, sobald sie erregt war, ihre Achselhöhlen feucht werden ließ. Ich hatte per Briefwahl für Obama gestimmt und war glücklich und erleichtert über seinen Sieg. Aber das Land, das damals so eindeutig die richtige Entscheidung getroffen hatte, schien mir seither wahnsinnig geworden zu sein. Wie viele Male hatten die Republikaner im Parlament gegen Obamacare gestimmt? Fünfundzwanzig, dreißig Mal? Würden sie mit irgendeiner Maßnahme einverstanden sein, die das Land voranbrachte? Meine Rückkehr nach Hause würde mir kaum ein klareres Bild verschaffen, aber nach New York zog mich die wichtigste Angelegenheit meines Lebens, der Versuch, Kerry zurückzugewinnen, nicht irgendeine halbgare Bürgerpflicht. Ich hatte sieben Jahre meines Lebens für den unablässigen Dienst auf dem Schlachtfeld hingegeben. Basta così! Die Jahre, die mir noch blieben, waren für meine Bücher und die Liebe zu Kerry bestimmt. Ich buchte für den kommenden Dienstag einen Direktflug von Venedig nach JFK und gab Harrys Haushälterin Jeanette, die seit Jahrzehnten bei ihm gewesen war und zugestimmt hatte, auch für mich zu arbeiten, meine Ankunftszeit durch.

Was Fliegen sind den müß'gen Knaben, das sind wir den Göttern: Sie töten uns zum Spaß. In Venedig und auf Torcello herrscht Anfang Oktober vielleicht das angenehmste Klima. Die Luft ist mild. Die wenigen Touristen sind ernsthafte, an Architektur und Kunst interessierte Menschen. Sie sprechen mit leiser Stimme. Als ich am Sonntag beim Lunch im Garten der Locanda saß – einer Pasta Frutti di Mare und einem Weißwein aus dem Friaul, meinem Abschiedslunch, wie ich glaubte –, klingelte mein Handy. Reiner Zufall, dass ich es eingeschaltet und in meine Jackentasche gesteckt hatte. Meistens ließ ich es auf dem Arbeitstisch in meinem Zimmer liegen. Empfang hatte es nur sporadisch, niemand rief mich an, und ich benutzte das Handy, wenn überhaupt, dann nur, um E-Mails zu checken, solange ich unterwegs war. Als ich sah, dass der Anrufer Simon Lathrop war, hüpfte mir das Herz vor Freude. Ich war mir sicher, dass er anrief, weil es in den Gerichtsverfahren gegen Abner Browns Firmen eine wichtige Entwicklung gegeben hatte. Trotzdem, ein Anruf an einem Sonntag … Sobald ich seine Stimme hörte, die zittrig und gebrochen klang, wusste ich, dass ich mich getäuscht hatte. Hier ging es nicht um Gerichtsverfahren.

Jack, sagte er, es ist eine Tragödie.

Offenbar konnte er nicht fortfahren, also drängte ich ihn. Was ist passiert, Simon, was ist denn?

Kerry. Er brachte ihren Namen nur mit Mühe heraus. Sie ist Freitagnacht gestorben. In einem Hotelzimmer in Chelsea. An einer Überdosis. Sie war in so einem Club gewesen. Le Raton. Dann ist sie in dieses Hotel gegangen und hat es getan. Das Zimmermädchen fand sie am Samstagmorgen. Wahrscheinlich wird Times online die Nachricht bringen. Ich wollte Sie unbedingt erreichen, bevor Sie es im Internet lesen. Was für eine Tragödie!

Aber sie hat keine Drogen genommen, als wir zusammen waren, sagte ich. Unsere gemeinsame Zeit war nur kurz, aber solange sie dauerte, war ich praktisch jeden Abend, jede Nacht bei ihr, es sei denn, sie hatte im Büro zu tun. Da war nichts dergleichen zu bemerken. Wie hat so etwas passieren können?

Ich merkte, dass ich ihn anflehte, als hätte er die Macht, etwas am Geschehenen zu ändern.

Langes Schweigen, und ich dachte, die Verbindung sei unterbrochen. Aber dann sagte er wieder etwas.

Jack, die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen. Rob Mooney, der neue Chef der Sozietät, hat mich gebeten, die Sache im Auge zu behalten, und ich habe mit dem Bezirksstaatsanwalt gesprochen – das ist ein guter Mann, ich kenne ihn aus einem Ausschuss der Anwaltskammer, dessen Vorsitz ich hatte – und mit den Leuten, die er mit der Untersuchung des Falls betraut hat. Anscheinend war sie in dem Club dafür bekannt, dass sie Drogen nahm, Kokain und ein Zeug, das sie MDMA oder E nennen. An jenem Freitag checkte sie allein im Hotel ein und bezahlte im Voraus, mit Kreditkarte. Als man sie fand, war sie nackt. Keine Anzeichen für einen Kampf, nichts deutet auf Raub hin, der Inhalt ihres Portemonnaies war vollständig, die Tür nicht gewaltsam geöffnet. Sie hatte sich den Stoff in die Armvene gespritzt. Eine Analyse der Spritze ergab Spuren von Kokain, MDMA samt den üblichen Verschmutzungen, und Heroin. Offensichtlich eine tödliche Mischung. Sie hatte getrunken, aber der Alkoholanteil in ihrem Magen lag wohl nicht über der Norm. Das heißt, sie wusste noch, was sie tat. Jedenfalls traf sie die Vene noch auf Abhieb. Natürlich suchten sie auch nach Fingerabdrücken. Kerrys waren überall, auch auf der Spritze und den Utensilien zum Mischen des Stoffs. Keine anderen frischen Fingerabdrücke. Jetzt wissen Sie alles, was ich erfahren habe. Der Staatsanwalt hält es für einen klaren Fall. Selbstmord oder Unfall.

Ich zwang mich zu sprechen und sagte: Simon, ich muss Sie etwas fragen, es widerstrebt mir zutiefst, aber ich muss. Hatte sie Sex?

Unklar, mein Junge, unklar. Im offiziellen Bericht heißt es, die Verfassung der Organe lasse den Schluss zu, dass Sex stattgefunden habe. Heftiger, jedoch nicht zwingend gewaltsamer Sex. Wann es dazu gekommen sei, konnten sie nicht zeitlich eingrenzen. Sperma wurde nicht gefunden.

Jetzt konnte ich kein Wort mehr herausbringen. Ich weinte. Als ich mich wieder in der Gewalt hatte, erzählte ich Simon, dass ich einen Direktflug von Venedig gebucht hatte, um am Dienstag wieder in New York zu sein. Vielleicht könnte ich aber auch einen Flug nach Rom oder Paris erwischen und schon am Montag früh auf dem JFK landen. Wenn ich das schaffte, würde ich dann rechtzeitig zur Beerdigung kommen?

Es wird keine geben, Jack. Sie hat ihren Leichnam dem New York Presbyterian Hospital zur Verfügung gestellt, mit Anweisungen, einzuäschern, was nach der Organentnahme noch übrig sei. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht – und hatte keine Zeit, mich zu erkundigen –, ob sie in einem solchen Fall die Organe überhaupt nutzen können, aber versuchen werden sie es mit Sicherheit, und sicherlich werden sie sich an Kerrys Wünsche halten und die Einäscherung in die Wege leiten. Rob und ich haben uns mit einigen Seniorpartnern beraten und beschlossen, eine kurze würdige Todesanzeige in die Times zu setzen, aber keine Trauerfeier zu halten. Unter den gegebenen Umständen erscheint uns das unangemessen.

Während Simon redete und redete, merkte ich, dass mir übel wurde. Der Kellner hatte meinen Teller mit der inzwischen kalten Pasta abgeräumt, aber das Weinglas stehen lassen. Ich hob es an die Lippen und nippte daran, sehr langsam.

Leben die Eltern noch?, fragte ich, als ich meinte, er habe alles gesagt. Gibt es sonst irgendwelche Verwandten?

Ich glaube, der Vater ist vor ein paar Monaten gestorben. Die Mutter lebt noch, in einer Art Seniorensiedlung oder so. Der jüdische Anwalt, der Sie vertritt, hat Kerrys Testament und ist ihr Nachlassverwalter. Er wird Bescheid wissen.

Ja, murmelte ich. Moses. Moses Cohen. Kerry hatte vorgeschlagen, dass ich mich an ihn wende. Vielleicht rufe ich ihn an.

Und dann erst fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Simon, sagte ich, ich komme nicht nach New York. Ich hatte mir alle möglichen Gründe für die Rückkehr eingeredet, aber in Wahrheit wollte ich nur meine arme Kerry wiedergewinnen. Das kann ich nun nicht mehr. Ich will nicht für immer auf Torcello bleiben, aber arbeiten kann ich hier ganz gut. Irgendwann wird es an der Zeit sein, abzureisen, aber noch ist es nicht so weit. Jetzt kann ich nicht zurück.

Das verstehe ich, antwortete Simon. Vielleicht besuchen Jennie und ich Sie zuerst in Venedig. Wir brauchen auch Abstand von New York.

Wir wollten schon abbrechen, da fiel mir noch eine Frage ein.

Sie hatten doch Kontakt zu ihr, stimmt's? Wie war sie in den letzten Monaten? Hatte sie im Büro alles im Griff? Ihre Arbeit gut erledigt?

Das ist das Seltsamste, antwortete Simon. Sie wirkte überhaupt nicht verändert. Sie hat Western Industries in einem wichtigen Prozess brillant vertreten. Da sich herumgesprochen hatte, dass sie eine Unterlassungsklage gegen einen Konkurrenten wegen einer unfairen Werbekampagne gewonnen hatte, gab ihr ein wichtiger neuer Mandant den Auftrag, eine Klage zu prüfen, die er plant. Es wird schwer werden, Kollegen zu finden, die ihre Arbeit übernehmen und die Mandanten zufriedenstellen. Aber soviel ich weiß, können Menschen mit hoher Leistungsfähigkeit ihren Kokainverbrauch unter Kontrolle halten. Irgendwas lief Freitagnacht katastrophal schief. Sie muss einen fatalen Fehler gemacht haben.

 

Ich lag in der folgenden Nacht bis lange nach zwei Uhr wach und spielte jeden einzelnen Moment durch, den ich mit Kerry verbracht hatte. Wie hatte ich nur so begriffsstutzig sein können, dass ich keinerlei Anzeichen eines Drogenkonsums, vielleicht gar einer Sucht bemerkte? Sie war dermaßen geradlinig, so sehr ein All-American-girl. Eine ehemalige Staatsanwältin, mein Gott! Wie hätte ich ahnen können, dass sich Molly-, Kokain- und sogar Heroinkonsum hinter der Fassade versteckten? Wenn sie süchtig war, wie kam sie ohne ihren Stoff aus, solange ich bei ihr war? Welche abgrundtiefe Traurigkeit hatte sie vor mir verborgen – und vor Harry und den anderen Partnern der Kanzlei Jones & Whetstone, die sie ein Jahr eher als üblich zur Teilhaberin befördert hatten? Es war ein Wunder, wie sie die Last der Verantwortung hatte schultern können, die eine junge Partnerin, spezialisiert auf Prozessführung, zu tragen hatte. Ich fand keine Erklärung. Stattdessen erinnerte mich meine Schlaflosigkeit an unsere erste gemeinsame Nacht, als ich, wie mir schien, stundenlang wachgelegen hatte, froh, dass sie so tief und fest schlafen konnte. Diese Erinnerung rief mir sogleich eine Sache ins Gedächtnis, die vielleicht weniger harmlos war: Ich hatte in ihrem Bad auf der Suche nach Zahnseide ein Arzneischränkchen geöffnet, in dem ich zwar keine Zahnseide sah, aber eine absurd lange Reihe brauner Fläschchen mit Pillen in verschiedenen Formen und Größen. Hier kann jemand genauso wenig wie meine Mutter Medikamente wegwerfen, die ihr der Arzt irgendwann verschrieben hat, dachte ich schmunzelnd. Tatsächlich hatte meine liebenswürdige Mutter sich nie von abgelaufenen Medikamenten trennen können; Antibiotika, Hustensäfte und Antiallergika hatten ihre Badezimmerregale in eine Art Apotheke verwandelt. Diese amüsante Eigenschaft, die mich bezaubert hatte – genau wie die Entdeckung, dass Kerry Horsd'œuvres ganz so servierte, wie meine Mutter es getan hatte –, verstand ich jetzt als eine mögliche Warnung, die ich übersehen hatte. Natürlich hatte ich die Fläschchen nicht genauer in Augenschein genommen. Aber jetzt kam es mir nicht unwahrscheinlich vor, dass sie nicht einfach nur Mittel gegen Übersäuerung, Antihistaminika und übrig gebliebenes Amoxicillin enthielten, sondern auch Prozac, Zoloft und Xanax und was Junkies sonst noch horten, Clonazepam, Tavor & Co, auch Ambien natürlich, Halcion und Seconal, falls sie einen Arzt gefunden hatte, der es ihr verschrieb. Ich verfluchte meine stupide Wohlerzogenheit. Wenn ich Prozac oder Zoloft gesehen hätte, wäre mir vielleicht wenigstens aufgegangen, dass sie in Behandlung gegen Depressionen, dass sie verletzlich war. Vielleicht hätte ich einen Zusammenhang hergestellt zwischen ihnen und ihrer merkwürdigen, übersteigerten Selbstanklage, sie sei feige. Schuldhafte Feigheit? Weil sie das Geld für die Heilanstalt aufbringen musste, in der ihr dementer Vater gepflegt wurde, und deshalb nicht wagte, es sich mit ihren Vorgesetzten in der Anwaltsfirma zu verderben? Nichts konnte natürlicher oder verständlicher sein als ihr Gefühl, sie dürfe ihre Zukunft an diesem Arbeitsplatz und die Aussicht auf ein hohes Einkommen nicht gefährden. Ich hatte in ihr aber nur eine Superfrau gesehen, die dazu noch die beste Geliebte meines Lebens war.

Am Morgen regnete es in Strömen, das Wasser stürzte senkrecht herab wie oft in der Lagune von Venedig. Ich blieb nach dem Frühstück in meinem Zimmer und klappte meinen Laptop auf. Die Macht der Gewohnheit ist groß. Sie überwand meine Verzweiflung. Ich schrieb ununterbrochen bis fast ein Uhr und stellte fest, dass ich mein übliches Pensum von gut dreizehnhundert brauchbaren Wörtern geschafft hatte. Ich brauchte einen Drink, also ging ich hinunter in die Bar, die auch Essen servierte, ließ mir vom Barmann einen trockenen Martini mixen und aß zu Mittag. Danach blieb ich noch sitzen, und als ich meinen dritten Espresso trank, brachte mir das Zimmermädchen einen in getippten Großbuchstaben an mich adressierten Brief. Er war am Samstag in Venedig aufgegeben. Ein weißes Blatt Papier mit einem großen schwarzen Fleck in der Mitte steckte darin. Nur der Fleck, kein Text. Da hat jemand die Schatzinsel gelesen, sagte ich mir, jemand, der weiß, was dieses Zeichen bedeutet. Ein verstörender Gedanke, besonders, da der Brief aus Venedig kam und ich nur wenige Bekannte in dieser Stadt hatte: einen Schönheitschirurgen aus New York und seine Frau, die ein Haus in Dorsoduro besaßen, aber zehn Tage zuvor nach New York abgereist waren, einen italienischen Winzer und seine französische Frau, die mir, meinte ich, beide besonders wohlgesinnt waren, einen Restaurantbesitzer namens Signor Ernesto, der in seinem winzigen Lokal in der Calle degli Assassini die besten Hamburger der Welt servierte, und die Leute im Gym in Dorsoduro, wo ich zwei oder drei Mal pro Woche mit einem Trainer arbeitete, der meinem New Yorker Trainer Wolf erstaunlich glich. Wir trainierten zusammen Kickboxen und Krav-Maga, und er hatte mich auf ein Niveau gebracht, das mich seiner Meinung nach zum Lehrer qualifizierte. Unvorstellbar, dass mir einer von ihnen diesen geschmacklosen Streich gespielt hätte. Und andere Venezianer, die meinen Namen kannten und meine Adresse auf Torcello wussten, fielen mir wirklich nicht ein. Blieb natürlich noch die Möglichkeit, dass der Geschäftsführer der Locanda oder einer seiner Angestellten mir den schwarzen Fleck geschickt hatte, aber ich war immer großzügig mit dem Trinkgeld, machte keinen Ärger und sah keinen Grund, daran zu zweifeln, dass ich mit allen auf gutem Fuß stand. Ich faltete das Blatt und steckte es vorsichtig wieder in den Umschlag, um mögliche Fingerabdrücke nicht zu verwischen. Was als Nächstes passierte, würden wir dann sehen.

Als ich wieder in mein Zimmer ging, um einen Mittagsschlaf zu machen und danach weiterzuarbeiten – draußen wollte ich wegen des strömenden Regens nicht herumlaufen, also könne ich ruhig weiterschreiben, fand ich –, schaute ich zuerst noch in die Onlineausgabe der Times. Wie Simon angekündigt hatte, brachten sie eine kurze Nachricht zu Kerrys Tod. Sie enthielt weniger Einzelheiten als Simons Darstellung, traf mich aber wie ein Schlag in die Magengrube.

Ich konnte weder schlafen noch arbeiten. Inzwischen nieselte es nur noch, also zog ich Laufschuhe und Trainingsanzug an und machte mich auf zu meiner täglichen Laufrunde, die ich am Morgen hatte ausfallen lassen. Acht Kilometer, das verlangte auf einer kleinen Insel eine ausgeklügelte Route, die großenteils querfeldein verlief. Aber gerade das gefiel mir. Wer einmal Force-Recon-Offizier der Marineinfanterie war, wird immer möglichst fit und einsatzfähig bleiben wollen, bereit zur Rückkehr in den aktiven Dienst, eine Option, die ich nicht erwogen hatte und die wegen meiner Verwundungen für mich ohnehin nicht in Frage kam. Ich kam traurig wieder an der Locanda an, konnte aber arbeiten und schrieb bis fast halb zehn, so lange, dass ich gerade noch genug Zeit zum Duschen, Umziehen und zur Essensbestellung hatte, bevor die Küche schloss.

Am nächsten Tag, Dienstag, war der Himmel sehr klar und blau. Da ich am Tag zuvor mein Soll doppelt erfüllt hatte, kürzte ich die morgendliche Arbeitszeit, nahm das Vaporetto nach Venedig und ging zum Lunch zu Signor Ernesto. Er war sehr beunruhigt wegen des Hilton Molino Stucky, eines Hotels mit über dreihundertsiebzig Zimmern, das auf der Giudecca auf den Grundmauern einer längst stillgelegten, aber wunderschönen Mühle hochgezogen worden war. Wie viel mehr Touristen können wir in der Hochsaison verkraften?, murrte er. Wie viele Schiffe, die sie bringen? Kein Betrieb, der auf sich hält, braucht sie! Er brauchte sie nicht, das war sonnenklar. Sein Restaurant war voller Einheimischer aus der Umgebung des Fenice – Besitzern von Antiquitätenläden, Immobilien- und Versicherungsmaklern; der Apotheker aus der Nachbarschaft war da und ein paar Anwälte, alle in Anzug und Krawatte – dazu ein, zwei manierliche Ausländer wie ich. Ernesto hatte die Gabe, sowohl inklusiv wie exklusiv zu verfahren. Gefiel ihm, wie du aussahst, stellte er die einfallsreich gebauten Tische so um, dass er dir einen Platz anbieten konnte. Wenn nicht, war jeder leere Tisch reserviert. Tut mir leid, da kann ich nichts machen. Non c'è niente da fare. Ernesto kam wie so oft an meinen Tisch und wollte über amerikanische Politik reden. Ich forderte ihn auf, sich zu mir zu setzen, und schenkte ihm ein Glas von dem exzellenten Rotwein ein, den er empfohlen hatte. Un vino stupendo, hatte er gesagt, stupendo, und wie immer zu Recht. Nachdem ich ihm in meiner üblichen Mischung aus Italienisch und Englisch erklärt hatte, was es mit der Schuldendecke auf sich hatte und warum der Kongress sie anheben müsse, und nachdem er noch einmal ungläubig den Kopf geschüttelt hatte, fragte ich ihn, was für einer Sorte Venezianer er zutraue, mir mit der Post einen Drohbrief in meine Locanda auf Torcello zu schicken. Einem antiamerikanischen Spinner? Einem Kellner, der meinte, ich hätte ihm nicht genug Trinkgeld gegeben? Ich sei ziemlich sicher, dass ich in der Regel eher zu viel gab, fügte ich hinzu. Einem Witzbold? Ernesto schüttelte den Kopf und sagte, das sei unmöglich. Sie sind ein Gentleman, der hier beliebt und geachtet ist, erklärte er. Und außerdem schicken wir Venezianer keine solch blödsinnigen Botschaften.

 

Das Wetter blieb schön. Am Donnerstag aß ich wieder im Garten meiner Locanda zu Mittag. Der Kummer um Kerry war zu einem anhaltenden Schmerz geworden, der mich vom Morgen bis in die Nacht, vom Aufwachen bis zum Einschlafen begleitete. Er drang in meine Träume und glich am ehesten dem dumpfen Bohren – für den Schmerztherapeuten ordnete ich es auf Stufe sieben einer Skala von eins bis zehn ein –, das mich noch monatelang plagte, nachdem die Chirurgen in der Walter-Reed-Klinik meine Hüfte repariert hatten. Das war ein Schmerz, den ich kannte und mit der gelegentlichen Hilfe von Percocet ausgehalten hatte, und ich hielt auch jetzt auf Torcello durch, arbeitete gleichmäßig, nahm mein Mittagessen im Garten ein, wenn die Sonne schien, so wie am nächsten Tag, einem Freitag, genau eine Woche nach Kerrys Tod, und plante die Struktur des nächsten Kapitels. Der große Unterschied bestand darin, dass es gegen diesen neuen Schmerz kein Heilmittel gab und dass ich tief im Inneren auch keine Heilung wollte, da sie ein Zeichen für das Nachlassen meiner Liebe gewesen wäre.

Ich trank meine halbe Flasche Wein leer und wäre vielleicht am Tisch eingedämmert – das passierte mir ab und zu –, wenn mich nicht das scusi, signore des Zimmermädchens aufgeschreckt hätte. Sie hatte einen Brief für mich. Wie der erste war er in getippten Großbuchstaben an mich adressiert und in Venedig mit dem Datum des Vortages abgestempelt. Ich schlitzte den Umschlag sehr vorsichtig auf und zog das einzelne Blatt Papier heraus. Diesmal war nicht nur ein schwarzer Fleck darauf, sondern eine ausdrückliche, wenn auch kurze Botschaft: DU BIST DER NÄCHSTE, SCHEISSKERL! Ich holte tief Luft, machte den Kellner, der an der Balustrade der Veranda lehnte, auf mich aufmerksam und bestellte mir einen doppelten Espresso und ein Glas alten Grappa di Barolo. Wer diese Wörter zu Papier gebracht hatte, interessierte mich nur in zweiter Linie. Die Wortwahl verwies zweifelsfrei auf Abner Brown. Er hatte den Satz diktiert. Die Absicht dahinter war mir vertraut. Er hatte versucht, mich umzubringen, als ich entdeckt hatte, dass der angebliche Selbstmord meines Onkels in Wahrheit Mord war, dass ein Auftragsmörder, den Brown geschickt hatte, ein Serbe namens Slobodan Milić, ihn gezwungen hatte, sich zu erhängen. Ich hatte den Serben getötet, und als ich Brown am Telefon diese Nachricht übermittelte, schimpfte er mich einen Scheißkerl – für Abner war das offenbar ein Kosewort – und bedachte mich mit einer wortreicheren Variante der Drohung, die ich gerade empfangen hatte. »Dich krieg ich«, brüllte er, »vielleicht nicht diese Woche oder diesen Monat, aber glaub ja nicht, das wär's dann. Ich bring dich zur Strecke, du Arschloch.« Neu war, dass ich der »Nächste« sein sollte. Also war bereits jemand zur Strecke gebracht worden. Und Harry meinte er damit wohl nicht. Der war für Abner Schnee von gestern. Die Beute, auf die er anspielte, war zweifellos Kerry, Harrys Mitarbeiterin und engste Vertraute, denn Harry hatte sie weitgehend eingeweiht in seine Erkenntnisse über die Betrügereien und andere kriminelle Machenschaften, die unentwirrbar in Abner Browns Unternehmen verwoben waren. Harry starb, weil Abner fürchtete, von ihm enttarnt zu werden. Kerry musste wohl sterben, weil sie zu viel wusste und weil Abner wahrscheinlich von Maulwürfen im Amt des US-Staatsanwalts in New York oder Houston, Spionen beim FBI oder im Justizministerium informiert worden war, dass sie Harrys Roadmap von Abners verbrecherischem Imperium, die ich nach seinem Tod fand, für unsere Regierung interpretiert hatte. Aber warum war Kerry nicht schon früher ermordet worden? Auf diese Frage wusste ich keine Antwort. Warum hatte er sie noch länger als ein Jahr, nachdem die Roadmap an die zuständigen Stellen weitergegeben worden war, am Leben gelassen? Denn jetzt war ich überzeugt, dass die tödliche Überdosis, ganz egal, ob Kerry Kokain geschnupft oder Molly oder andere Drogen eingeworfen hatte, kein Selbstmord und kein Unfall gewesen war. Sie war auf Abners Befehl ermordet worden, genau wie Harry. Nach meinen Erfahrungen mit Brown durfte ich die Drohung, dass ich der Nächste sein würde, nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Seitenwaffe aus meiner Zeit bei der Marineinfanterie, einen Colt 1911, hatte ich im Safe meiner New Yorker Wohnung gelassen. Aber in dem Koffer, den ich aufgegeben hatte, als ich das Flugzeug nach Venedig nahm, steckte das rasierklingenscharfe Springmesser des Mullahs, dem ich in der Kaserne in Helmand mit dem Ka-Bar-Messer meines Vaters die Kehle durchgeschnitten hatte, als ich sah, wie der Mistkerl anfing, den Splint einer Granate zu ziehen. Der Koffer stand unter meinem Bett. Ich holte ihn hervor. Das Messer war noch genau da, wo ich es hineingelegt hatte. Ich steckte es in meine Jackentasche und beschloss, es so lange Tag und Nacht in Reichweite zu behalten, bis ich das Flugzeug nach Hause bestieg. Jetzt hatte ich einen neuen, zwingenden Grund, nach New York zurückzukehren.

Drei Uhr nachmittags auf Torcello, neun Uhr morgens an der amerikanischen Ostküste. Ich rief Scott Prentice auf seinem Diensthandy an. Er war sofort am Apparat, und nach einer kurzen und herzlichen Begrüßung gestand er, er habe mich wegen Kerry anrufen wollen, es aber nicht übers Herz gebracht.

Dir muss elend zumute sein, meinte er. Als ich die Nachricht letzten Montag auf Times online las, war ich wie vor den Kopf geschlagen.

Ja, ziemlich elend, sagte ich, auch jetzt noch. Ich hatte vor, am nächsten Tag abzureisen und wollte dich und Susie überraschen, unangemeldet in Alexandria auftauchen, aber als ich von Simon Lathrop – er hat mich Sonntag angerufen – hörte, was mit Kerry ist, konnte ich einfach nicht. Ich habe den Flug storniert und keine neuen Pläne gemacht. Ich bin einfach geblieben und habe gearbeitet.

Dann erzählte ich ihm von dem schwarzen Fleck und der Botschaft, die ich gerade erhalten hatte.

Dahinter muss Abner stecken, sagte ich. Abner, der entschied, dass sie verschwinden muss, und jetzt hat er wieder mich im Visier. Aber ich verstehe nicht, warum gerade jetzt. Was hat ihn ausgerechnet jetzt mobilisiert, nach all den Monaten? Irgendwas Neues in den Gerichtsprozessen gegen seine Gesellschaften muss den Anstoß gegeben haben.

Möglich, erwiderte Scott. Ich habe die Sache nicht so genau verfolgt, wie ich sollte. Ein anderer Grund könnte sein, dass er sich nach dem Fehlgriff mit Slobo erst einmal bedeckt halten wollte.

Ich entgegnete, es sei nicht Abners Stil, sich bedeckt zu halten.

Sieh ihn dir doch an, fuhr ich fort, es ist über ein Jahr her, seit wir mit dem Stein von Rosetta, der seine Machenschaften im Wesentlichen entschlüsselt hat, zum US-Staatsanwalt und zu deinen Leuten gegangen sind, und er sitzt immer noch fest im Sattel. Er baut ja sogar einen Staat im Staat auf, mit seinen Super-PACs, den politischen Aktionsgruppen und den Geldströmen, die er jedem noch so irrwitzigen Projekt der Rechten zufließen lässt. Ich wette mit dir, der Kerl bildet sich ein, er sei so erhaben über Recht und Gesetz, dass keiner von euch ihm etwas anhaben kann. Hinter der neuen Drohung muss etwas anderes stecken.

Wann kommst du?, fragte Scott.

Morgen werde ich es nicht schaffen, aber bestimmt in den nächsten drei oder vier Tagen.

Besuch uns, sobald du kannst, und halt mich auf dem Laufenden. Inzwischen höre ich mich um und finde raus, was im Umlauf ist. Und schick mir diese anonymen Botschaften per FedEx. Wahrscheinlich haben sie alle Spuren abgewischt, aber man weiß ja nie. Ich lasse sie sehr genau unter die Lupe nehmen.

Ich schicke sie dir, versicherte ich Scott.