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Monika Felten

Geheimnisvolle Reiterin

Band 1:
Die Suche nach Shadow

Roman

hockebooks

Begegnung im Wald

Keine fünf Minuten später waren die drei unterwegs. Carolin ritt auf Derry voraus, gefolgt von Svea mit Yasmin. Julia bildete mit Spikey den Schluss.

»Wir nehmen den Rundweg durch den Danauer Forst!«, rief Carolin den anderen zu, als sie das Reiterhofgelände verließen und im Schritt auf die staubige Straße einschwenkten.

»Kommen wir an Neu Horsterfelde vorbei?«, fragte Julia von hinten.

»Eigentlich nicht. Das wäre ein ziemlicher Umweg«, antwortete Carolin.

»Macht nichts«, erwiderte Julia, die sich entschlossen hatte, die Auswahl der Strecke ganz Svea und Carolin zu überlassen. »Meine Mutter kann sich Spikey ein anderes Mal ansehen.«

Sie verließen die Straße über einen schmalen Trampelpfad, der sich am Rande eines Maisfeldes entlangschlängelte. Unzählige von der Sonne gehärtete Hufabdrucke zeugten davon, dass er häufig von Reitern benutzt wurde. Schließlich erreichten sie das Ende des Feldes und folgten dem Verlauf des Pfades in einen lichten Buchenwald hinein.

»Hier beginnt der Danauer Forst«, erklärte Svea. »Wenn es so heiß ist wie heute, reiten wir hier am liebsten.«

Julia nickte. Zwischen den hohen Stämmen der Buchen war es angenehm kühl. Das dichte Blätterdach spendete wohltuenden Schatten und der Boden war mit einer dicken, weichen Blätterschicht bedeckt, die die eisenbeschlagenen Hufe der Pferde nahezu lautlos auftreten ließ.

Plötzlich fühlte sich Julia nach Auerbach zurückversetzt. Die Wälder rund um den Auerbach-Hof, in denen sie so oft mit Chenna ausgeritten war, waren dem Danauer Forst zum Verwechseln ähnlich. Auch der Geruch und die Geräusche erinnerten Julia schmerzlich an ihr früheres Zuhause – und an Chenna. Ihr schlechtes Gewissen holte sie ein, und ihre Gedanken kreisten um die ungeklärte Frage, ob es Chenna wirklich gut ging.

»… kommen wir vielleicht später noch hin.« Julia war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, was Svea ihr erzählte.

»Jetzt zeigen wir dir erst einmal unseren ganz persönlichen Springgarten.« Svea schien nicht zu bemerken, dass Julia ihr nicht zugehört hatte. Sie deutete auf eine große, sonnenbeschienene Lichtung, die sich nur wenige Meter vor ihnen mitten im Wald erstreckte. »Hier hat es vor zwei Jahren bei einem Sturm einen gewaltigen Windbruch gegeben«, erklärte sie. »Die Forstarbeiter haben die noch brauchbaren Stämme herausgezogen, aber viele haben sie einfach liegen lassen. Carolin und ich kommen oft hierher, um ungestört springen zu üben.« Sie lenkte Yasmin neben Carolin und Deny, die am Rande der Lichtung auf sie warteten.

Carolin deutete auf die vier unterschiedlich hohen Hindernisse. »Die beiden kleineren, die aussehen wie ein Koppelrick, schaffen wir schon ganz locker«, meinte sie. »Wir üben jetzt an dem dritten, das ist etwas höher. An das vierte Hindernis werden wir uns wohl erst im nächsten Sommer herantrauen – wenn überhaupt. Na? Wollen wir?« Sie schnalzte mit der Zunge und ließ Derry antraben. Nacheinander übersprangen sie und Svea ein paarmal die ersten beiden Hindernisse. Julia mit Spikey gesellte sich dazu, um mitzuspringen.

Dann versuchten sich Svea und Carolin an dem dritten Hindernis. Derry benötigte dafür etwas mehr Anlauf als Yasmin, doch auch er überwand das Hindernis. Julia beschränkte sich derweil aufs Zuschauen. Sie kannte Spikey ja noch nicht sehr gut und wollte das dritte Hindernis lieber nicht springen.

Nach einer halben Stunde legten die Mädchen eine Pause ein. Sie banden ihre Ponys an die Äste junger Buchen, die hier überall wuchsen, und ließen sie grasen, während sie sich im kühlen Schatten eines hohen Baumes ausruhten.

»Sagt mal, was war heute Morgen eigentlich mit Anita los?«, fragte Svea, die mit geschlossenen Augen auf dem warmen Waldboden lag und an einem langen Grashalm kaute.

»Ach, die.« Carolin machte eine abfällige Handbewegung. »Du weißt doch, dass sie glaubt, von allen Mädchen des Reiterhofs am besten mit Pferden umgehen zu können. Die hat bestimmt Angst, dass Julia besser sein könnte als sie.«

»So ein Quatsch, wie kommt sie denn darauf?« Svea spuckte den Grashalm aus und setzte sich auf. »Etwa wegen Spikey? Weil er vorgestern über Nacht auf der Koppel bleiben musste, da sie und Katja ihn nicht einfangen konnten?«

»Vermutlich.« Carolin grinste schadenfroh. »Anita soll danach ziemlich sauer gewesen sein. Ist aber auch echt peinlich, wie die sich bei Frau Deller angeboten hat …« Sie wechselte in eine übertrieben schrille Tonlage und äffte Anitas Stimme nach. »Lassen Sie mich das nur machen, Frau Deller. Sie wissen doch, dass ich eine besonders gute Hand im Umgang mit Pferden habe. Sie können ganz beruhigt sein, es ist überhaupt kein Problem für mich, Spikey in den Stall zu bringen.« Carolin gluckste und sprach nun wieder normal weiter. »Peinlich, peinlich, kann ich euch sagen. Und diese Blamage – vor allen Augen! Es war ja noch richtig was los. Die haben das natürlich alle mitgekriegt.«

Nun musste auch Svea lachen. »Sag mal, ärgerst du dich eigentlich gar nicht über Anita?«, wandte sie sich an Julia, die schweigend zugehört hatte. »Schließlich hat sie dich mit ihren Lügen ziemlich heftig und unfair angegriffen.«

»Klar ärgert mich das«, entgegnete Julia. »Aber ich möchte nicht gleich an meinem ersten Tag Streit mit jemandem haben.« Sie blickte liebevoll zu Spikey hinüber, der genüsslich das saftige Gras aus dem weichen Boden rupfte. »Außerdem bin ich heute viel zu glücklich, um mich zu ärgern.«

»Hätte bloß noch gefehlt, dass Anita mit ihrem neuen Superpferd angibt«, meinte Carolin.

»Sie hat ein neues Pferd?« Erstaunt zog Svea die Augenbrauen in die Höhe. »Davon wusste ich gar nichts!«

»Echt nicht?« Carolin war ehrlich überrascht. »Dabei lässt sie sich seit Tagen keine Gelegenheit entgehen, es jedem auf die Nase zu binden. Eigentlich redet sie kaum noch von etwas anderem. Ich glaube, wenn ihre White Lady sie verstehen könnte, wäre sie ganz schön geknickt.«

»Was ist das denn für ein Pferd?« Svea war neugierig geworden.

»Soweit ich weiß, ein ganz junges. Es soll auch enorm teuer gewesen sein und von ganz edler Herkunft. Jedenfalls behauptet Anita, damit einmal jeden Preis gewinnen zu können, wenn es nur erst richtig trainiert ist. Den passenden Trainer hat sie scheinbar gleich dazubekommen.«

»Tja, als eine von der Heyde kann man sich so was eben leisten.« Svea seufzte ergeben. »Schließlich wissen wir alle, wie viel ihrem neureichen Vater daran liegt, dass aus seinem verzogenen Töchterchen einmal eine berühmte Reiterin wird.« Lachend stieß sie Julia mit dem Ellenbogen an. »Hey, Julia, du sagst ja gar nichts.«

Julia hatte den beiden tatsächlich nicht zugehört. Aufmerksam fixierte sie einen Punkt im schattigen Wald unmittelbar hinter Spikey.

»Julia! Du träumst …«

»Schscht, sei mal leise, dahinten war was.« Julia flüsterte fast. Ohne das Unterholz hinter Spikey aus den Augen zu lassen, deutete sie in die Richtung.

»Wo?«

»Da, hinter Spikey. Da hat sich eben was bewegt.«

»Huhu, was Großes oder was Kleines?«, witzelte Carolin lachend und rutschte zähneklappernd näher an die beiden anderen heran. »Bitte, beschützt mich! Ich fürchte mich so!«

»Carolin, also wirklich! In diesem Wald gibt es nichts, aber auch gar nichts, vor dem du dich fürchten müsstest!«, belehrte Svea ihre Freundin in mütterlichem Tonfall und kicherte. »Ich reite hier schon, solange ich denken kann, und habe nie etwas Unheimliches gesehen. Das hier ist ein stinknormaler Forstwald.«

Jetzt lachten beide.

»Wollen wir nicht weiterreiten?« Julia ärgerte sich ein wenig darüber, dass Svea und Carolin so albern waren. Sie hatte etwas gesehen! Da war sie ganz sicher. Einen Schatten, der aussah wie ein Pferd mit Reiter. Aber der Moment war zu kurz gewesen. Kaum, dass sich ihre Augen auf die Entfernung eingestellt hatten, war es wieder verschwunden.

Es will nicht entdeckt werden, schoss es ihr durch den Kopf. – Blödsinn!, war ihr nächster Gedanke. Vati hat recht. Ich lese entschieden zu viele Gruselgeschichten. Es ist bestimmt, wie Svea gesagt hat: Da ist absolut nichts.

Trotzdem konnte sie es sich nicht verkneifen, ab und zu einen prüfenden Blick in das Unterholz zu werfen, während sie zu Spikey ging, ihn losband und sich in den Sattel schwang. Spikey schnaubte nervös und scharrte mit dem Vorderhuf. Hatte er vielleicht auch etwas bemerkt? Und plötzlich, ohne dass sie sagen konnte warum, hatte Julia wieder das Gefühl, aus dem Wald heraus beobachtet zu werden. Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinab und ließ sie frösteln.

Oh Mann, reiß dich zusammen, Julia!, schalt sie sich in Gedanken. Deine Fantasie geht mal wieder mit dir durch. Vorsichtshalber kniff sie sich in den Arm und blickte zum Himmel hinauf, um das beklemmende Gefühl abzuschütteln. Doch was sie auch tat, es wollte nicht weichen. Sie meinte heimliche Blicke zu spüren, die sie aus dem Wald heraus aufmerksam beobachteten. Julia fuhr sich mit der Hand über die Augen. Litt sie unter Verfolgungswahn? Sie versuchte an etwas anderes zu denken, doch es gelang ihr nicht.

Selbst als sie sich längst wieder mit Svea und Carolin auf dem Rundweg durch den Danauer Forst befand, spürte sie es noch. Julia starrte in die Schatten zwischen den Bäumen und horchte – entdecken konnte sie aber nichts.

*

»Ganz ruhig, Gohin.« Mailin beugte sich nach vorn, um ihrem Pferd die Worte zuzuflüstern. Sie hatte die drei Reiterinnen zufällig im Wald entdeckt und war ihnen bis zur Lichtung gefolgt. Dort hatte sie beobachtet, wie sie mit ihren Ponys über die Hindernisse sprangen. Sie war schon entschlossen weiterzureiten, als sich die Gespräche der Mädchen plötzlich einem Thema zuwandten, das sie interessierte. Irgendjemand, den die drei kannten, hatte vor kurzem ein junges Pferd bekommen, vom dem es hieß, es sei etwas ganz Besonderes. Shadow? Mailin klopfte das Herz vor Aufregung bis zum Hals. Sie durfte die Reiterinnen auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Es war zwar eine vage Spur, aber die einzige, die sie hatte. Sie musste vorsichtig sein. Das Mädchen auf dem gescheckten Pony schien sie bemerkt zu haben. Schon auf der Lichtung hatte es immerzu in ihre Richtung gestarrt und es ihr unmöglich gemacht, näher an die drei heranzukommen. Und auch jetzt blieb sie aufmerksam. Während ihre beiden Freundinnen herumalberten oder sich unterhielten, warf das Mädchen prüfende Blicke in alle Richtungen, als könnte sie Mailins Anwesenheit spüren. Vorsichtshalber ließ das Elfenmädchen Gohin anhalten, um einen größeren Abstand zu den Reiterinnen zu bekommen. Doch wollte sie nicht den Anschluss an die Gruppe verlieren.

Eine Stunde später verließen die Mädchen den Wald und bogen auf einen ausgetretenen Schotterweg ein, der sich hinter einer breiten Koppel am Waldrand entlangschlängelte. Mailin, die ihre Deckung nicht verlassen konnte, sah sich gezwungen, den dreien im Schutz des Waldes zu folgen. Das erwies sich jedoch als überaus schwierig, denn dort gab es eine Menge Gestrüpp und Unterholz, sodass ein Fortkommen fast unmöglich war.

Irgendwie schaffte sie es trotzdem eine Zeit lang, die Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren. Doch als Mailin nach einem besonders langen Abstecher in den Wald endlich wieder einen freien Blick auf den Schotterweg hatte, der nun auf einer kleinen Anhöhe verlief, waren die drei verschwunden.

Mailin überlegte kurz, stieg vom Pferd und bedeutete Gohin auf sie zu warten. Die Deckung einer niedrigen Hecke ausnutzend, huschte sie über die Wiese zu der Kuppe hinauf, auf der die Mädchen entlanggeritten waren.

Oben angekommen duckte sie sich hinter einen Haselstrauch und spähte auf die andere Seite. Was sie dort erblickte, glich haargenau dem Bild, das sie in Enids Kupferschale gesehen hatte. Mailin erkannte die Gruppe von Häusern und die ausgedehnten Weiden mit den Pferden sofort wieder – und die drei Mädchen ritten genau darauf zu!

Mailin lächelte grimmig. Irgendwo ganz in der Nähe musste Shadow sein. Sobald es dunkel war und die Menschen schliefen, würde sie sich dort unten genauer umsehen.

*

Eine halbe Stunde nach ihrem Ausritt waren Derry, Spikey und Yasmin fertig geputzt und gewaschen und erfreuten sich wieder am saftigen Gras der Hauskoppel.

Die Mädchen hatten noch keinen Feierabend. Kaum hatten sie ihre Ponys auf die Hauskoppel geführt, wurden sie zu Frau Deller ins Büro gerufen.

»Na, ihr drei«, begrüßte sie die Mädchen. »Wie ist es gelaufen?«

»Gut.« Carolin pustete sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn.

»Prima, wie immer«, bestätigte Svea.

»Und mit dir und Spikey?«, erkundigte sich Frau Deller bei Julia.

»Klasse, ich hatte keine Probleme«, antwortet Julia wahrheitsgemäß. »Spikey ist ein Superpony.«

»Ich hoffe, das hast du ihm auch gesagt!« Frau Deller schmunzelte und wechselte das Thema. »Hört mal«, wandte sie sich an Svea und Carolin. »Heute steht noch ein Sattelkammerdienst auf meinem Plan, für den ich niemanden habe. Wie wäre es mit euch? Dafür bräuchtet ihr die Ausrittstunden von heute nicht zu bezahlen.«

»Also, ich hab nichts dagegen«, meinte Svea sofort, die sich über jede kostenlose Reitstunde freute.

»Ich auch nicht«, schloss sich Carolin an. »Und Zeit habe ich genug.«

»Ich helfe euch.« Julia, die ohnehin keine Lust hatte, schon nach Hause zu fahren, freute sich, noch Zeit mit ihren Freundinnen verbringen zu können.

»Na, dann ist ja alles klar.« Frau Deller zog einen langen Bartschlüssel aus der Schublade und reichte ihn Carolin. »Im Schuppen neben der Sattelkammer liegt jede Menge ausgedientes Geschirr und auch ein paar ausgemusterte Sättel. Ihr könnt nachsehen, ob etwas Brauchbares für unsere Ponys dabei ist. Der Rest kommt auf den Müll.«

»Geht klar!« Carolin nahm den Schlüssel und ging zur Tür. Das war ein leicht verdienter Ausritt. Wenn sie sich beeilten, waren sie sicher in einer halben Stunde fertig.

Ganz so schnell ging es dann doch nicht. Der Berg von alten Ausbindern, Trensen, Halftern und Sätteln war größer, als die Mädchen erwartet hatten. Und alles musste entwirrt und begutachtet waren.

»Puh, ist der staubig!« Umständlich bearbeitete Carolin einen Sattel mit dem Handfeger.

Svea musste niesen. »Igitt, lass das!«, schniefte sie. »Siehst du nicht, dass er unten total zerrissen ist?«

»Stimmt.« Carolin legte den Handfeger zur Seite, um nicht noch mehr Staub aufzuwirbeln. »Der kann getrost auf den Müll.« Sie deutete zu dem wackeligen Tisch an der Wand. »Bleibt nur der Sattel auf dem Tisch. Reichst du ihn mir rüber, Julia?«

»Na klar.« Julia, die gerade in einem hoffnungslos verworrenen Knäuel aus Lederriemen gewühlt hatte, sprang auf. Sie musste beide Arme unter den schweren Ledersattel schieben, um ihn vom Tisch zu bekommen. »Mann, ist der aber schwer!«, stöhnte sie. »Kann mir schon denken, warum sie den ausgemustert haben.«

»Ist eben noch echte Qualitätsarbeit.« Carolin, die sich für Derry extra einen leichten Sattel ausgesucht hatte, grinste. »Dickes, strapazierfähiges Leder, garantiert unzerstörbar.«

»Was man von dem Tennisschläger hier nicht behaupten kann.« Mit gerümpfter Nase zog Svea das unansehnliche, flache Kissen mit zwei Fingern unter dem Sattel hervor. Der braune Kordbezug des runden Kissens, das mit seinem stielförmigen Ausläufer tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Tennisschläger besaß, war an den Nähten aufgerissen. Grauer Schaumstoff, der früher vermutlich gelb gewesen war, quoll hervor und bröselte zu Boden.

»Also, das Kissen kann auf jeden Fall weg«, stellte Carolin fest. »Aber der Sattel ist noch gut.«

»Ist er denn auch wirklich heil?«, fragte Julia, die gerade vergeblich versuchte, die steinharten Lederriemen einer uralten Trense zu öffnen, um eine neuere aus dem Knäuel zu befreien.

»Wie ich schon sagte: dickes und strapazierfähiges Leder, garantiert unzerstörbar«, wiederholte Carolin lachend und nickte dann. »Also, soweit ich sehen kann, ist mit dem Sattel alles in Ordnung. Er muss natürlich mal ordentlich geputzt und gefettet werden, aber wenn er einen neuen Tennisschläger bekommt, sieht er prima aus.«

»Na, das ist doch ein Anfang.« Svea beugte sich zu Julia hinüber. »Hast du etwas Heiles gefunden?«

»Nur zwei Ausbinder.« Julia reichte sie Carolin. »Ich denke, die sind ganz brauchbar. Leg sie bitte zu dem Sattel. Aber das hier …« Entnervt hielt sie das heillose Durcheinander von Trensen in die Höhe. »… das schaffe ich nie.«

»Warte, ich helfe dir.« Sofort war Carolin an ihrer Seite. »Man soll niemals nie sagen.« Sie zog ein einsames Gebiss, an dem nur noch einige zerrissene Lederriemen baumelten, aus dem Haufen hervor. »Na, so etwas braucht jedenfalls niemand mehr.«

»Hey, hier steht ein kompletter Putzkasten!«, jubelte Svea, die in den Regalen neben der Tür herumstöberte. Vorsichtig zog sie ihn heraus und betrachtete ihn von allen Seiten. »Twister!«, murmelte sie nachdenklich. »War das nicht das schwarz-weiße Pferd, das im letzten Herbst jämmerlich an einer Kolik gestorben ist?«

»Ja«, bestätigte Carolin. »Die Frau wollte danach kein Pferd mehr haben.«

»Dann werde ich mal lieber den Aufkleber mit dem Namen abmachen, sonst denken alle, den Putzkasten zu bekommen sei ein schlechtes Omen.« Svea begann die Stirnseite des Putzkastens mit einem Hufauskratzer zu bearbeiten.

»Ich habe eine heile.« Triumphierend zog Carolin eine komplette Trense aus dem wüsten Haufen.

»Wie hast du denn das gemacht?« Julia staunte. »Ich glaube, ich hätte hier noch bis morgen herumwühlen können, ohne etwas zu finden. Apropos morgen, wollen wir wieder ausreiten? Das Wetter soll schön bleiben.«

»Ich würde schon gern, aber ich kann leider nicht.« Svea schüttelte bedauernd den Kopf. »Meine Omi hat morgen Geburtstag.« Sie verdrehte die Augen und machte ein wichtiges Gesicht. »Große Familienparty!«

»Du Ärmste!« Julia lachte. »Und was hast du vor, Carolin?«

Carolin legte die Stirn in Falten und dachte nach. »Da war doch was, da war doch was …?«, murmelte sie. »Ach ja, richtig. Meine Mutter wollte morgen mit mir nach Zwissau fahren. Ich brauche dringend eine neue Reithose. Tut mir leid, Julia. Morgen nicht. Aber übermorgen gern.«

»Ja, übermorgen kann ich auch«, meinte Svea. »Ich hoffe, du bist uns nicht böse, Julia. Mit einem Pflegepony darfst du ja auch allein ausreiten. Im Gegensatz zu uns. Mit den Reitschulponys ist uns das nur zu zweit erlaubt.«

»Quatsch, ich bin euch doch nicht böse«, antwortete Julia. »Übermorgen ist auch gut. Mal sehen, wenn ich es gar nicht aushalte, reite ich morgen vielleicht ein kleines Stück allein.«

»Hu, grrr!« Carolin zog eine Grimasse. »Nimm dich bloß in Acht vor gefährlichen Waldmonstern.«

»Ja, Mama!« Julia grinste.

Sie verabredeten sich also für den übernächsten Morgen. Dann sammelten sie die wenigen brauchbaren Sachen ein, die sie gefunden hatten, um sie Frau Deller zu bringen, und machten sich anschließend auf den Heimweg.

*

In der darauf folgenden Nacht wurde der Mond von hohen Wolken verdeckt. Die trockene, klare Luft der vergangenen Stunden war von feuchterer abgelöst worden, die in der herrschenden Windstille zähe, dichte Nebel über den Weiden der Danauer Mühle aufkommen ließ. Es war genau das Wetter, das Mailin brauchte.

Als die Lichter in den Häusern, die sie vom Waldrand aus sehen konnte, erloschen, machte sie sich mit Gohin auf den Weg. So geräuschlos, wie es nur Elfenpferde vermochten, überquerte der Schimmel die Wiese am Waldrand und betrat den Schotterweg, den die drei Mädchen am Mittag geritten waren. Seine Hufe berührten die losen Steine im Sand, aber selbst hier verursachten sie nicht das geringste Geräusch. Voller Zuneigung klopfte Mailin ihrem treuen Gefährten den Hals.

»Von nun an liegt es an dir, Gohin«, flüsterte sie. »Enid sagte, dass du mich führen wirst, wenn es dort unten ein Elfenpferd gibt. Ich verlasse mich also vollkommen auf dich.«

Gohin schnaubte leise und bewegte den Kopf leicht auf und ab. Mailin lächelte zufrieden. Sie wusste, dass er verstanden hatte. So wie er immer alles zu verstehen schien und – auch ohne Worte – ein untrügliches Gespür dafür besaß, im rechten Moment das Richtige zu tun.

Das Elfenmädchen verließ die Straße und umging die in unmittelbarer Nähe des Reiterhofs liegenden Häuser, indem sie über die Weiden ritt. Die niedrigen Zäune stellten für Gohin kein nennenswertes Hindernis dar. Im Gegenteil, die vielen Sprünge, die notwendig waren, um den Reiterhof auf diesem Weg zu erreichen, schienen ihm Spaß zu machen.

Wenig später gelangte Mailin zu einer großen Koppel mit niedrigem Gras, auf der gut drei Dutzend Ponys im Nebel dösten. Einige hoben verschlafen die Köpfe, doch die meisten beachteten Mailin kaum. Sie führte Gohin mal hierhin, mal dorthin über die Wiese, in der Hoffnung, dass er eines der Tiere wieder erkennen würde. Der Schimmel schritt gelassen durch die Nebel, aber nicht ein einziges Pony erregte seine Aufmerksamkeit. Bald war klar: Unter diesen Tieren gab es kein Elfenpferd!

Mailin musste es woanders versuchen. Doch auf den anderen Koppeln, wo weitere Pferde und Ponys des Reiterhofs die warme Sommernacht verbrachten, blieb ihre Suche ebenso vergebens.

Mailin seufzte und blickte sich um. Shadow hier zu finden, wäre auch zu einfach gewesen, dachte sie betrübt und überlegte, ob wohl noch Pferde in den Ställen standen. Möglich war es, auch wenn es den Anschein hatte, als wären alle Pferde in dieser lauen Nacht draußen geblieben. Aber Vermutungen brachten sie keinen Schritt weiter. Wenn sie sicher sein wollte, würde ihr nichts anderes übrig bleiben als hinüberzureiten und nachzusehen. Allerdings musste sie sich dafür gefährlich nahe an die Häuser der Menschen heranwagen. Mit einem sanften Schenkeldruck lenkte sie Gohin zu den Ställen. Der Schimmel reagierte ohne zu zögern. Die Anspannung, die seine Reiterin ergriffen hatte, schien ihn nicht zu berühren. Er wirkte so gelassen, als wäre alles nur ein Spaziergang durch die vertrauten Stallungen am Hof des Elfenkönigs.

Mailin hingegen war so aufgeregt, dass sie glaubte, ihr hämmernder Herzschlag müsse die schlafenden Menschen wecken. Im Geiste sah sie schon in allen Häusern das Licht angehen.

Doch alles blieb ruhig. Gohins Atem stieg in kleinen weißen Wölkchen auf, als sie auf den beleuchteten Hof zwischen den Reithallen und Stallungen ritten. Mailin ließ Gohin anhalten und lauschte. Irgendwo rief einsam ein Käuzchen, aber kein einziges Geräusch deutete darauf hin, dass sich in den Ställen noch Pferde befanden.

Sie seufzte leise. Es hatte keinen Sinn, hier weiter zu suchen. Besser verließen sie den Hof, der ihnen nur wenig Deckung bot, so schnell wie möglich, sonst liefen sie Gefahr entdeckt zu werden.

Mailin schnalzte mit der Zunge, um Gohin zum Umkehren zu bewegen, aber diesmal reagierte der Schimmel nicht. Wie gebannt starrte er in Richtung eines kleinen, reetgedeckten Schuppens, dessen grüne, zweigeteilte Tür fest verschlossen war.

»Ist dahinten etwas, Gohin?«, flüsterte Mailin. Gohin schnaubte. Die Ohren gespitzt und den Blick starr geradeaus gerichtet, näherte er sich langsam dem Schuppen.

»Hoffentlich hast du recht«, flüsterte Mailin. »Sonst bringst du uns unnötig in Gefahr.«

Sie hatten den Schuppen erreicht. Neugierig schnupperte Gohin am Türspalt. Und plötzlich hörte Mailin, wie es drinnen im Stroh raschelte. Es klang, als würde sich ein Tier von seinem Lager erheben, und dem Geruch nach zu urteilen war das Tier ganz eindeutig ein Pferd.

»Gohin!« Behände sprang Mailin vom Rücken des Hengstes, trat vor die Tür und spähte durch den schmalen Spalt zwischen dem Holz und der Wand. Es gab keinen Zweifel – dort drinnen stand ein Pferd! Den Geräuschen nach war es ein sehr großes Pferd, also gewiss kein Fohlen. Aber was für eines? Irgendetwas musste es mit dem Pferd auf sich haben, sonst hätte es niemals Gohins Interesse wecken können. Während sich Mailin mit einer Hand bemühte, Gohin von der Tür fern zu halten, der seine Nase immer wieder neugierig vorstreckte, versuchte sie mit der anderen, umständlich die obere Hälfte der Tür zu öffnen.

Die Reaktion des Stallpferdes war bemerkenswert: Es verhielt sich vollkommen ruhig. Es zuckte nicht einmal, als der metallene Riegel der Tür mit einem Klacken zurücksprang. Die Tür schwang auf und in dem schwachen Lichtschein, der vom Hofplatz herüberkam, tauchte der Kopf einer herrlichen weißen Stute auf.

Ein Elfenpferd!

Mailin erkannte es auf den ersten Blick. Auch ohne Gohin, der nun Nasenstupser mit der Stute tauschte, hätte es für sie keinen Zweifel gegeben – in dem Stall stand tatsächlich ein Elfenpferd.

Aber wie kam es hierher? War es womöglich das Pferd, von dem ihr Enid berichtet hatte? Jenes Pferd, von dem die Priesterin glaubte, dass Lavendra es vor vielen Jahren in die Menschenwelt geschickt hatte, und das seither nie wieder gesehen wurde? Aber wenn es hier war, wo war dann Shadow? Hatte die Kupferschale sie vielleicht auf eine falsche Fährte geführt? Wie sollte sie das Fohlen finden, wenn es nicht hier auf dem Hof war? Fragen über Fragen, auf die Mailin keine Antwort wusste. Und während sie Gohin noch ein wenig Zeit ließ, um Zärtlichkeiten mit der Stute auszutauschen, dachte sie darüber nach, wie ihre Suche weitergehen sollte.

Allein unterwegs

Obwohl sich Julia wirklich bemüht hatte, den Morgen ruhig angehen zu lassen, fand sie sich schon um halb elf wieder auf dem Reiterhof ein. Zunächst hatte sie gezögert aufzubrechen. Ohne Svea und Carolin fühlte sie sich auf der Danauer Mühle noch nicht so recht wohl. Aber nachdem sie ihrer Mutter zum dritten Mal im Weg gestanden hatte, weil sie lustlos am Türrahmen zur Küche lehnte, war Anette Wiegand endgültig der Kragen geplatzt. Kurzerhand hatte sie Julia hinausgeworfen, die sich dann doch auf den Weg zum Reiterhof machte.

Unterwegs bemerkte Julia, wie sich ihre Laune mit jedem Meter besserte, den sie sich der Danauer Mühle näherte. Als sie ihr Mountainbike schließlich die buckelige Einfahrt hinunterschob, pfiff sie leise vor sich hin. Ein Tag ohne Pferde, das ging bei ihr eben nicht, und Julia freute sich, dass sich ihre Mutter so energisch durchgesetzt hatte.

Noch bevor sie das Viereck erreichte, hörte sie Anita schimpfen. Sie stand mit Katja vor White Ladys kleinem Privatstall und deutete wütend auf die Tür.

»Wie kann es nur angehen, dass sich hier nachts jemand an den Ställen zu schaffen macht!«, ereiferte sie sich mit hochrotem Kopf. »Wie lange redet mein Vater schon davon, dass sich Frau Deller einen Wachhund zulegen sollte. White Lady hätte tot sein können. Niemand würde es bemerken, wenn sich ein Pferderipper einschleicht. Niemand! Kein Hund bellt und keine Alarmanlage springt an.« Sie hob ihre Arme theatralisch in die Höhe. »Pferdehasser dieser Welt, kommt zur Danauer Mühle! Hier ist der Ort, wo …«

»Anita!« Katja, die bisher schweigend zugehört hatte, unterbrach nun Anitas erregten Wortschwall. »Beruhige dich! Es ist doch nichts geschehen.«

»Nein, es ist nichts passiert!«, höhnte Anita. »Aber muss denn erst etwas geschehen, bevor Frau Deller für die Sicherheit der ihr anvertrauten Privatpferde sorgt?« Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Stalltür und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich will dir mal etwas sagen, Katja«, begann sie. »Dass White Lady noch hier steht, habt ihr allein meiner Mutter zu verdanken. Irgendwie ist die ganz schrecklich sentimental, was den alten Schuppen angeht, weil sie hier auch schon auf White Lady geritten ist. Aber …«, Anita hob die Stimme und straffte sich, »… mein Moonlight wird niemals hier stehen, dafür ist er viel zu wertvoll. Noch haben wir ihn bei uns zu Hause. Sobald er trainiert werden kann, wird er auf Gut Schleen untergestellt. Dort versteht man wirklich etwas von Pferden.«