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Nichts macht mehr müde,

als das durchzusetzen,

worin man anders ist.

André Gide

 

I’ve taken liberties.

Richard Ford

DER ANFANG

An Cesco Como

Basel, 4. 6. 1903

Seit kurzem halte ich allabendlich einen entzückenden, kleinen, schwarzen, wilden Schatz im Arm, wandle im Mondschein, mache Verschen, pflücke Jasmin und schwelge auf entlegenen Rasenplätzen vor der Stadt … Heirat usw. ist natürlich ausgeschlossen, dafür habe ich eben keinerlei Talent.

An den Vater

Basel, 21. 6. 1903

In letzter Zeit kam ich in die Lage, die Möglichkeit einer Heirat zu überlegen. Ein mir schon länger bekanntes Mädchen, das mich lieb hat, ziemlich älter als ich ist und wohl zu mir passen würde. Ich kann mich in dieser Sache aber nicht entschließen, da ich zunächst noch zu arm an Gelde bin und auch vor dem Heiraten ein unbestimmtes Grauen habe.

An Cesco Como

Basel, 21. 6. 1903

Daß jede Liebe ihre Tragik hat, ist doch kein Grund, nicht mehr zu lieben! Gewiß ist Liebe und Schuld eng verkettet …, aber sie ist auch eine Schule der Reife und eine Krone des Lebens … Mein Schatz ist kein liebes dummes Gretchen, sondern mir an Bildung, Lebenserfahrung und Intelligenz mindestens ebenbürtig, älter als ich und in jeder Hinsicht eine selbständige Persönlichkeit. Sie liebt mich schon länger … Warum soll ich das sehnsüchtige und vertrauende Gesicht von mir weisen …? Weil nachher einmal ein Ende kommen muß?

An Dr. von Schaukal

Basel, 30. 6. 1903

Noch eines: würden Sie mir raten zu heiraten? Sie kennen mich ein wenig, sind Diplomat und haben selbst eine Frau. Ist es wirklich so schlimm, wie man immer hört, oder nicht?

An Stefan Zweig

Calw, 11. 10. 03

Ich hoffte, diesen Winter zu heiraten, aber der Vater sagte sehr ruppig nein, und Geld war keines da, darum muß ich jetzt arbeiten und was verdienen, denn sobald ich das Nötigste im Sack habe, wird natürlich der alte Dickkopf nimmer gefragt.

An Dr. Wackernagel

Calw, 19. 11. 1903

Eine anfangs harmlos scheinende Liebesgeschichte ward unversehens zu einer wohlabgewogenen Novelle und ist seither zu einem völligen Roman angewachsen. Das hat mich vollends in Anspruch genommen 

An Hermann Haas

Calw, 8. 1. 1904

… die Erkältung lokalisierte sich und entzündete den linken Tränensack, so daß Eiter durchs Auge kam und ich zwei Tage lang heillose Schmerzen hatte. Aber jetzt bin ich wieder fast völlig hergestellt, wenn auch physisch ziemlich herunter, da meine Liebessache anfängt mir allerlei Sorgen und Nöte zu bringen.

An Hermann Haas

Calw, 2. 6. 1904

Ich habe schon die zur Heirat nötigen Papiere besorgt und wir sind schon im Basler Cantonsblatt »ausgeboten«.

Vermählungsanzeige

 

 

Maria Bernoulli

Hermann Hesse

 

beehren sich, Ihnen Ihre bevorstehende

Vermählung anzuzeigen.

 

Basel                Calw

Pfingsten 1904

 

 

An die Familie

Steckborn, 5. 8. 1904

… viele schöne Grüße und die Mitteilung, daß wir am Dienstag getraut wurden. Es gab darauf bei Maria ein kleines Essen, und abends fuhren wir zwei nach Schaffhausen, von da Mittwochs nach Konstanz, wo wir noch viel Besorgungen hatten. Seither trieben wir uns am See herum, besuchten in Rheineck eine Freundin von Maria, waren in Ermatingen usw. Heut abend kamen wir in Steckborn an, und morgen wollen wir anfangen in Gaienhofen nach unseren Sachen zu sehen. Freilich wird sich noch wenig tun lassen, denn unsere Möbel sind noch nicht da … Leider hat Maria, wohl in Folge der vielen Arbeit und Springerei in letzter Zeit, beim Gehen Beschwerden im Rücken 

An Gustav Keyßner

Gaienhofen, 21. 9. 1904

Man hatte mich unterbrochen, ich mußte Brennholz einkaufen u.s.w. Nun sitze ich wieder zuhaus, ganz allein, da meine Frau für ein paar Tage nach Basel fuhr.

An Karl Isenberg

Gaienhofen, 25. 11. 1904

Ich wohne und lebe hier primitiv, aber schön. Nur ist Maria immer noch krank in Basel. Ich besuche sie zuweilen, kann aber der Arbeit wegen nie lange fort und hause hier allein mit der Magd, die täglich einige Stunden kommt.

An Lili du Bois-Reymond

 

Gaienhofen am Bodensee (Baden), 11. 12. 1904

Und nun beginnt die Ehe, mein Leben vollends zu ändern, indem sie wenigstens dem ewigen Wandern und Zigeunern ein Ende macht. Ich muß regelmäßig arbeiten, um für den Haushalt zu sorgen u. s. w., aber im Grunde bummle ich doch meistens, nur mit etwas schlechterem Gewissen.

DER EWIGE FRIEDE

(1907)

Volksbad

Mit einem schönen Katzenjammer von dem zweifelhaften Rheinwein, den er am Abend vorher getrunken hat, steht Hesse ausgehfertig in der Diele, als von der Wand das Telefon schrillt. Es dauert eine Minute, bis der Hausherr aus dem Schlafzimmer kommt und ihn von dem quälend lauten Klingeln erlöst. Reinhold Geheeb trägt einen blutroten Morgenmantel. Sein Haar steht in alle Richtungen, er wirkt übellaunig. Sicher ist er genauso verkatert wie sein Gast. Aber er ist Geschäftsmann, Teilhaber am Simplicissimus und ein wichtiger Mann im Albert Langen Verlag, er würde noch mitten im größten Besäufnis ans Telefon gehen.

Dezent wendet Hesse sich ab, er geht sogar ein paar Schritte in Richtung Tür, kann seine Ohren aber nicht verschließen und weiß gleich, dass Langen am anderen Ende der Leitung ist. Der Verleger hat ihn eingeladen, an diesem Vormittag gemeinsam ins Müllersche Volksbad zu gehen. Er hat die Modernität der Anstalt gepriesen und behauptet, man fühle sich nach ein paar Stunden Aufenthalt dort wie ein neuer Mensch. Nun sagt Langen also ab, wie Hesse ahnt und wie Geheeb ihm bald unter mürrisch gekräuselten Brauen mitteilt. Er habe die unerwartete Gelegenheit, einen Berliner Literaturkritiker zu treffen. Ein Kritiker, murrt Hesse innerlich. Er entschließt sich, trotzdem ins Bad zu gehen. Sein Gastgeber zeigt sich erleichtert. Hesse bezweifelt, dass Geheeb sich noch mal hinlegen wird. Geheeb legt sich eigentlich nie hin, und sollte er eben geschlafen haben, war es ein Versehen. Als er sich umdreht, um in der dunklen Tiefe der Wohnung zu verschwinden, sieht Hesse, dass der Morgenmantel seines Gastgebers auf der Rückseite mit einem goldenen Drachen bestickt ist.

Der frische Wind, der München so oft durchweht, ist heute einem föhnigen gewichen. Es ist für einen Märztag sehr warm. Im Gegensatz zur Diele ist es draußen gleißend hell, die frischen Jugendstilfassaden in der Ainmillerstraße leuchten. Sie wirken auf ihn wie Kulissen, nichts ist wahr an diesem Morgen. Sollten die Häuser sich dennoch als echt erweisen, wäre er bloß eine Bühnenfigur oder gar ein albern schnell laufendes und ruckelndes Männchen aus dem von ihm wenig geliebten Kintopp.

Vor einem Café auf der Leopoldstraße sitzen reglos, in Decken gehüllt, einige Münchner Bürger. Die Stühle wurden so gestellt, dass ihre Gesichter der Sonne zugewandt sind. Sie sind stumm, Puppen mit ausgebauter Sprechvorrichtung. Auch die Gestalten in der vorbeifahrenden Tram, deren Fenster an diesem scheinbaren Frühlingstag ausnahmslos aufgerissen wurden, sind von verräterischer Bewegungsarmut. Bei dem dichten Verkehr hat Hesse Mühe, auf die andere Straßenseite zu kommen. Vom Siegestor braust mit hohem Tempo ein glänzendes Automobil heran, das feurig hupend einige Pferdefuhrwerke überholt. In Richtung Stadt fahren gleich drei motorisierte Wagen. Im Näherkommen erkennt Hesse das stadtauswärts rasende Auto als das von Albert Langen, ein knallroter, offener Züst mit Speichenrädern und dicken Lederpolstern. Der Mann hinterm Steuer trägt eine Mütze und einen bis zur Nase reichenden Schal. Neben ihm sitzt ein ebenso vermummtes Fräulein. Automobilistenbrillen machen die beiden vollends unkenntlich. Hesse würde nicht mehr schwören, dass es sich um Langen und seinen Züst handelt, auch wenn in München gerade mal fünfhundert Autos zugelassen sind. Die rechte Hand des Fahrers liegt starr auf dem Steuerrad, die linke auf der Ballhupe. Die Hände des Fräuleins ruhen auf seinem Oberschenkel und auf dem Armaturenbrett. Im Gegensatz zu den Gestalten, die Hesse bisher gesehen hat, wirken diese beiden lebendig. Sie weben einen Faden hin und her aus Liebe oder Anziehung. Der ist unsichtbar und doch so stark, dass man ihn noch bei zwanzig Kmh erkennt. Sollte es sich tatsächlich um Langen handeln, dann gehört das Fräulein nicht an seine Seite. Wie seine getrennt lebende Ehefrau oder die neue Lebensgefährtin sieht es jedenfalls nicht aus. Bevor Hesse sich vergewissern kann, ist der Wagen wie ein Traumgebilde vorbeigezogen. Nichts als die stinkende Rauchfahne bleibt. Der Dichter macht sich nicht die Mühe, sich über den Verlagsmann zu ärgern.

Bis zur Kaulbachstraße kennt Hesse den Weg. Dort befindet sich die Redaktion des Simplicissimus, dort gründen sie gerade die liberale Zeitschrift März, für die Hesse Rezensionen schreiben und die er mitherausgeben wird. Ein Stückchen weiter links liegt die Mandlstraße, wo Langen wohnt. Im Englischen Garten muss Hesse den Weg zum neuen Bad erraten. Wenn er immer geradeaus geht, wird er irgendwann auf die Isar treffen. Das Bad müsste ein Stück weit flussaufwärts liegen. Er folgt auf gut Glück den verschlungenen Pfaden durch den riesigen Park und gelangt zügig zum Chinesischen Turm. Die Anlage ist recht belebt, doch die Gestalten, die seinen Weg kreuzen, machen denselben verdächtigen Eindruck auf ihn wie schon jene in Schwabing. Die in den offenen Droschken und auf den Bänken sind von der gleichen puppenhaften Reglosigkeit und scheinbaren Hingabe an die wärmende Sonne. Andere wirken blass, übernächtigt, vom Licht bedroht wie Vampire. Ein großer Mann mit wirrem Bart und abgerissenen Kleidern tritt aus einer Bedürfnisanstalt. Er nestelt hastig seine Hose zu. Dabei schaut er sich ängstlich um, ob hinter ihm nicht allzu schnell der hübsche Knabe hinausschlüpft, den er mitgenommen hatte. Ein anderer steht unwillig am Wegrand und lässt sich von einer Frau in Hosen die Schminke aus dem Gesicht wischen. Immer wieder befeuchtet sie ihr Taschentuch mit Spucke und reibt ihm den Zinnober von den Wangen, das Karmesin von den Lippen. Der jungenhafte Mann legt seine schmalen Hände an verschiedenen Stellen auf die Frau, ohne dass sie sich irgendwo wohl fühlen würden. Dieser magere, bei aller Misslichkeit seiner Lage hochmütig dreinblickende Mann mit dem schulterlangen, glatten schwarzen Haar, gestern noch schwul und Anarchist, bald verheiratet und Psychoanalytiker, wird in Hesses Leben einmal eine Rolle spielen. Er heißt Johannes Nohl.

Hesse geht weiter zum Monopteros. Auf einmal hat er Lust, den künstlichen Hügel mit dem kleinen Tempel zu erklimmen. Oben ist er allein. Er bleibt eine Weile sitzen, betrachtet die Wiese zu seinen Füßen und die sich dahinter erhebende Silhouette der Stadt mit ihren vielen Kirchtürmen. Er selbst hat heute keinerlei poetisches Gefühl, nur dieses Befremden, im falschen Stück, im absolut falschen Leben zu sein. Er weiß, dass es zum Teil vom Kater und zum Teil von dem ihm ungewohnten, rauschhaften Stadtleben herrührt. Er spürt an diesem Morgen Abwehr gegen das Quere und Ungeordnete im Leben, das echte Nichtstun und das prinzipielle Verachten von Regeln. Diese Abwehr verschließt ihm gewisse Möglichkeiten im Leben wie beim Schreiben. Er selbst kritisiert sich als Autor von Idyllen. Dabei hat er durchaus dunkle Regungen bis hin zur Mordlust. Die Notwendigkeit, sie darzustellen, spürt er vorerst kaum. Vielmehr geht es ihm wie den alten Dichtern um das Schöne.

Er stellt sich vor, wie die Zehntausende seiner Leser die große Wiese vor ihm füllen. Für sie würde er gern Bleibendes schaffen. Im vergangenen Jahr saß er schon mal hier und sah dem Vollmond zu, der über die Dächer der großen Gebäude an der Ludwigstraße wanderte, bis er riesenhaft gebläht und rötlich zwischen den spitzen Kirchtürmen drüben festklemmte, wo er der aufgehenden Sonne nicht weichen wollte. Das war ein Moment vollkommener Schönheit. Der Moment zerrann, und Hesse gelang es nicht, jene Schönheit auf Papier zu bannen. Es schien ihm, als sei über den Mond und die Morgendämmerung alles Gültige bereits gesagt. Aus diesem Grund gibt es keine wahren Dichter mehr.

Hesse versinkt in der Erinnerung an das Besäufnis vom vorigen Abend. Er war mit Geheeb bei einem Atelierfest irgendwo in Schwabing und blieb, was er sich heute nicht erklären kann, genau an der Frau hängen, die ihm von vornherein am wenigsten sympathisch war. Die hübsche blonde Fanny schien ihm allzu vertraut mit den anwesenden Männern. Später jedoch scherzte er mit ihr, fand seine Zehen an ihrem Knöchel wieder und ihre Hand in seinem Ärmel. Sie rauchten Zigaretten und amüsierten sich mit der Vorstellung, dass alle Menschen um sie herum nur Automaten wären. Fanny zog eine nackte Puppe unter einem Tisch hervor und zeigte den Schalter auf der Brust, das runde Loch in ihrer Seite, in dem der Phonograph sitzen sollte. Er lag aber ausgebaut auf dem Boden. Daran erinnert er sich noch. Er sagte ihr, dass er dem eigenen Leben manchmal zuschauen könne, als spielte es auf einer Bühne. Da schaute sie ihn spöttisch an. Bald darauf muss er gegangen sein. Wie er nach Haus gekommen ist, weiß Hesse nicht mehr, nur dass er abends so lebendig war wie morgens tot.

Eine Viertelstunde später erreicht der Dichter die Prinzregentenstraße. Inzwischen hat er das Gefühl, schon sehr lang unterwegs zu sein. Die Weite Münchens erstaunt ihn immer wieder. Er läuft auf den goldstrahlenden Friedensengel zu, der einen starken Kontrast zu den Fabrikschloten bildet, die im Hintergrund die Bäume überragen. Zum zweiten Mal knattert der rote Züst vorbei. Wieder scheint es ihm, dass Langen hinter dem Steuer sitzt. Wieder zweifelt er, auch weil der andere kein Zeichen des Erkennens gibt. An der Isar sieht er endlich den dicken Turm des Müllerschen Volksbads. Er geht über die Luitpold-Brücke und schwenkt nach rechts in die noch jungen Maximiliansanlagen. Er passiert das Muffatwerk, wo mit Hilfe von Wasserkraft und Dampf Strom erzeugt wird. Wie genau das vonstattengeht, ist ihm unbekannt, technische Dinge interessieren ihn nicht. So erreicht er die Rückseite des einzigen Hallenbads der Stadt.

Langen hat nicht übertrieben. Schon nach einer Stunde im Volksbad ist Hesses Kater verschwunden, er fühlt sich nicht länger wie ein Untoter. Im Dampfbad hat er Körpergifte ausgeschwitzt und sich überwunden, ins eiskalte Wasser zu steigen. Mit einer Handvoll anderer Männer hat er die Zehen zur Mitte des kreisrunden Beckens unter der Kuppel gestreckt. Auf das elektrische Lichtbad hat er allerdings verzichtet. Er hätte dabei in einer bis zum Hals geschlossenen Kiste gesessen, die im Innern von Glühbirnen erhellt und erhitzt wird. Nun ruht er sich in einer Kabine aus und reinigt allmählich seinen Geist von den nachalkoholischen Anfechtungen seiner dichterischen Natur. Draußen platschen nasse nackte Füße vorbei, ab und zu hüstelt jemand. Ansonsten ist dies ein stiller Ort, an dem die Gedanken sich leichter und weiter hervorwagen als anderswo. Er will darauf achten, dass ihm keiner verlorengeht. Nachdem er eine Menge Wasser getrunken hat, bricht er zu einer zweiten Runde auf. Im Schwitzbad hockt er sich dicht am Brunnen auf die obere Bank. Der Schweiß tritt nun viel schneller aus den Poren als vorhin. Hesse wird schlapp. Er starrt in den Dampf, der seine ohnehin schlechten Augen weiter beeinträchtigt, und genießt diese halbe Blindheit. Sie zieht einen Schleier vor die Welt.

Schwerfällig klappt die Tür. Selbst Geräusche sind in diesem Nebelreich dumpfer. In einem kühlen Hauch nähern sich mit schwerem Schritt zwei nackte Gestalten. Insgesamt hält sich vielleicht ein halbes Dutzend Männer im Schwitzbad auf. Die beiden Neuen nehmen unweit von Hesse auf der unteren Bank Platz. Sie waren schon im Gespräch, als sie die Tür öffneten, fielen vorübergehend jedoch in Schweigen. Nun nimmt der Dicke den Faden wieder auf, und Hesse, der die Ellenbogen auf die Knie stützt und den Schweiß von seiner vorgeneigten Stirn tropfen lässt, hört jedes Wort.

»Jedenfalls ist der ein Keller-Epigone. Merkst du in jeder Zeile. Der taugt mal bloß zum Volksschriftsteller.«

»Das habe ich auch gelesen. Auch dass es dem Zamenkind völlig an Stil mangle.«

Schon beim Wort »Keller-Epigone« ist Hesse hellwach geworden. Er kennt die Besprechungen seines ersten Romans und weiß, dass viele Rezensenten bemerkt haben, durch welche Schule er gegangen ist. Nicht alle haben es ihm übelgenommen. Halb resigniert, weil jedweder Protest nutzlos wäre, halb entsetzt, weil es seine eigenen Zweifel befeuert, sitzt er auf der oberen Bank und hört den beiden Bildungsphilistern zu, diesen Nordkaffern, diesen schon in ihrer Art der Rede groben Preußen, die ihre selbstgefällige Missachtung und ihre von der öffentlichen Meinung abhängigen Schmähungen über seiner empfindsamen alemannischen Seele ausgießen. Mit den Kübeln voll Neid und Spott, die sie für den erfolgreichen jungen Autor haben, ist es indes noch nicht getan.

»Haben Sie aber den Törleß gelesen?«, fragt der Dicke in die milchige Dunkelheit.

»Ist das dieses englische Buch?«

»Österreich.«

»Österreich bringt die erstaunlichsten Literaten hervor. Rilke etwa. Gedichte und Cornet.«

»Zweig. Oder denken Sie an Hofmannsthal. Erstaunlich. Der Schnitzler … Gott, ja, es sind Juden. Aber ganz erstaunlich.«

»Sie fahren zu oft nach Wien. Im Reich ham wir genauso gute.«

»Dieser neue soll richtig rangehen. Habe gelesen, was Kerr über ihn schreibt. Er heißt, warten Sie, Musil.«

»Ist das denn ein deutscher Name?«

»Die Verirrung des Zöglings Törleß heißt das Buch. Ist ein dolles Ding.«

»Wenn Sie mich fragen, klingt das nicht nach einem deutschen Namen.«

»Dieser Musil hat neue Stufungen des Seelischen beschrieben. Da hat sich sonst noch niemand rangetraut. Ohne jede Weichlichkeit. Ein Offizier. Tatsachendarsteller. Frei von Empfindsamkeit. Da ist die Stimmung nicht gemalt wie bei dem Hesse, sondern das Dargestellte wirft sie ab.«

»Und was stellt er nun dar?«

»Naja, ich weiß nicht.« Der Dicke senkt die Stimme. »Er schreibt von der Kadettenschule. Im Grunde sind es Sauereien.«

»Bist du sicher, dass er kein Engländer ist?«

Hesse springt auf. Dicht neben den beiden erschrockenen Männern tritt er auf die untere Bank und stiebt aus der Tür. Das heißt, er würde gern stieben, aber die Tür ist derart massiv, dass er sie nur langsam öffnen kann. Als er schon auf dem Gang steht, wendet er sich noch einmal um.

»Es heißt übrigens Ca-men-zind. Lernen Sie erst einmal lesen. Ade, die Herren.«

Er rauscht in die Schwimmhalle und springt vom Beckenrand ins kühle Wasser. Das trägt ihm einen mahnenden Zeigefinger vom Badediener ein. Ein paar kräftige Schwimmstöße bringen ihn in die Mitte des Beckens, wo er sich auf den Rücken dreht und toter Mann spielt. Unter der weiß getünchten Decke der Schwimmhalle sieht er regenbogenfarbene Sprühnebel, ein Effekt, den der Architekt so beabsichtigt hat. Hesse jedoch führt das Schillern auf eine Fehlfunktion seiner Augen zurück. Da neben ihm noch jemand in regelmäßigen Zügen auf und ab schwimmt, umspülen kleine Wellen seinen Körper. Wasser will in seine Nase schwappen, er hebt rechtzeitig den Kopf. Er ist ein junger Autor mit Erfolg. Der Camenzind verkauft sich seit drei Jahren ganz außerordentlich. Auch Unterm Rad läuft wider sein Erwarten gut. Die Angriffe auf seinen Stil lassen ihn kalt. Er ist sich seiner Sprache sicher. Der »Volksschriftsteller« aber ist ein Stachel. Idyllenschreiber, Unterhaltungsautor – das möchte er nicht sein, so will er nicht gesehen werden. Er wird noch einmal alles daransetzen, diesem Image zu entkommen. Er setzt schon jetzt alles daran, das hemmt ihn. Er wird bald dreißig, da sollte er im Zenit stehen. Stattdessen hat er einen Hänger. Der neue Roman will nicht gelingen. Vielleicht ist es falsch, so sehr auf die eigene Stimme zu hören und auf dem Land zu leben, dem Krach und dem Dreck, der Eitelkeit der Städte den Rücken zu kehren. Vielleicht sollte er wenigstens im Winter in München leben. Wenn er sich fragt, was ihm am Bodensee fehlt, kommt er genau auf das: Lebendigkeit.

Hesse schwimmt ausgiebig. Er lenkt seine Blicke auf die Architektur der Halle, den Tierkreis und den Schlangenwürger, lässt sich vom Wassergott aus breitem Maul einen kräftigen Strahl in den Nacken speien. Den beiden Männern aus dem Schwitzraum begegnet er nicht wieder. Sie reihen sich ein in den Zug der schwankenden Gestalten dieses Vormittags. Er hat sie bald vergessen. Erfrischt, mit aufgeweichten Händen tritt er schließlich ins Freie. Er nimmt sich vor, später im Glaspalast die Ausstellung anzuschauen.

Auf diese Weise wird er wieder Mensch.

Fantasiestück

Eben hat Mia den Bruno gewindelt, das stinkende Bündel liegt neben der Haustür. Von der Öllampe in der Stube scheint gerade genug Licht in den Flur, um nicht zu stolpern. Als Hesse seinen Hut vom Nagel nimmt, steigt ihm der Geruch in die Nase. Er bückt sich, sieht die Windel am Boden und fasst sie mit zwei Fingern. Draußen lässt er anstelle des Stoffwickels beinah die Bastflasche fallen, die er in der Linken hält. Unter dem rechten Arm klemmt außerdem eine Ledermappe. Die Magd wird morgen waschen. Bis dahin soll der Salat ruhig die Dorfluft verpesten.

Er geht mit langen, schnellen Schritten an der Kapelle vorbei. Der Nachbar schlägt im oberen Stockwerk gerade den Fensterladen zu, schaut aber nicht herüber. Hesse läuft den schmalen Pfad zwischen den Gärten hinab. Kaum ist es dunkel, wirkt das Dorf wie eingeschlafen. Hier und da leuchtet ein Fenster, steht eine Stalltür offen, aus der das Gerangel und unwillige Muhen der Kühe zu hören ist. Jetzt fressen sie, die Köpfe in hölzerne Gatter gezwängt, später liegen sie im eigenen Mist oder stehen auf der Stelle, bis der Bauer am Morgen wieder Futter bringt, ihnen die Euter wäscht, melkt. Die Katzen brechen auf, um nach Mäusen zu suchen, Kater prügeln sich in den Scheunen und kehren mit löchrigen Ohren zurück. Die Hühner schlafen, und die Hunde bellen den schwarzen Himmel an, als wären sie die Herren der Nacht. Seit die Sonne untergegangen ist, hat die Luft sich empfindlich abgekühlt. Es ist April, und hier ist nicht Italien, sondern der Bodensee. Kaum ein Dorfbewohner würde sich jetzt noch im Freien aufhalten; die Stuben sind schon kalt genug. Hesse wird keiner Menschenseele begegnen.

Er ist froh, dem eigenen Heim zu entkommen. Sein Erstgeborener zahnt und weint entsprechend viel. Der öde Landwinter, in dem es kaum Besuche gab, hat zwischen Mia und ihm die Themen erschöpft, die Rituale ausgeleiert. Nach seinem München-Besuch im März ist das alte Bauernhaus ihm eng geworden, das ganze Dorf ist ihm zu still, zu arbeitsam, zu nüchtern. Er sehnt sich nach italienischer Geselligkeit. Er würde gern ein Vagabund sein, der abends mit den Einheimischen auf der Piazza sitzt und Lieder singt oder unter dem Zitronenbaum mit einem schönen Mädchen tändelt. In diesen Fantasien hat er weder Frau noch Kind. Schon spürt er wieder Reiselust. Das Land der Möglichkeiten ist so viel hübscher als die Wirklichkeit.

Auf der Dorfstraße kann er seine eigenen Schritte hören. Hundert Meter noch, und er kommt bei der Bootslände an. Sein Kahn, schön grün und rot gestrichen, liegt als Erster fertig für den Sommer am Wasser. Leichter Nebel schwebt über dem See. Fröstelnd stemmt Hesse sich gegen das Boot. Er schiebt es aufs Wasser, springt hinein und greift die Ruder. Ein paar Züge, und er ist vom Ufer aus nicht mehr zu sehen. Nur die Wellen melden noch Bewegung. In seinem Rücken, auf der Schweizer Seite, schummern Lichter. Dort liegt Steckborn, das einen Bahnhof hat und alles, was in Gaienhofen fehlt. Es ist nicht weit entfernt. Doch heute Abend fährt er bloß in die nächste schilfbestandene Bucht.

Als er die Ruder einzieht, ist es vollkommen still. Die Frösche geben noch kein Konzert, die Vögel schlafen. Es scheint kein Stern vom Himmel. Er zieht eine Decke unter der Ruderbank hervor und legt sie sich um die Schultern. Die Flasche entkorkt er und trinkt. Er nimmt nur kleine Schlucke. Der Wein brennt in seinem Schlund. Da kein Wind weht, schaukelt das Boot kaum. Die Wellen laufen aus. Nun herrscht auch Augenstille. Lebensstille. Mäuse lebend fangen, das ist auch so eine Idee von Mia. Was tut man dann mit ihnen? Man setzt sie vor die Tür, sie kommen wieder rein. Eine Tierschützerin hat ihm neulich geschrieben und verlangt, dass er sich dem Protest gegen das barbarische Verspeisen von Singvögeln in den welschen Ländern anschließen solle. Die ganze Leserpost macht ihn schon vor der Zeit zu einem Denkmal. Verehrung, Bitten wie an einen Heiligen. Dazu bekommt er derart viele Manuskripte zugesandt, dass sich der Weg mit ihnen pflastern ließe. Er stellt sich vor, die nächsten vierzig Jahre so weiterzuleben. Dann wäre er bald siebzig, das Jahr 1947. Der Kaiser wäre achtundachtzig und hätte hoffentlich längst abgedankt. Die Mitte des Jahrhunderts ist märchenhaft weit weg. Trotzdem graut’s ihm bei der Vorstellung, es könnte sich bis dahin nichts geändert haben.

Das Grimmen in seinem Bauch schreibt Hesse jetzt nicht mehr dem Wein zu, sondern dieser Vorstellung von einem bloß noch verwalteten Leben. ›Hesse! Sie stehen im Dienst des deutschen Kaisers!‹ – ›Mit Verlaub, nein. Ich bin der Diener meines eigenen Staats, des Zwergenreiches Ich.‹ – ›Ein Staat? Im Staat! Von wessen Gnaden –‹

Mia spielt ein Fantasiestück von Schumann. Es stimmt, dass diese Klänge einen hinten beim Kopf packen, wie sie bei Zola gelesen hat. Seine Musik enthält alles. Die düsteren Farben und das »Zerrissene« darin werden gewiss nur hervorgehoben, weil man weiß, dass er schließlich wahnsinnig wurde. Bruno schläft, Gattamelata liegt auf der Ofenbank vor den warmen Kacheln. Er hat seine schwarzen Pfoten gefaltet und die Augen geschlossen, die Ohren aber aufgestellt, als lauschte er den Klängen. Mia spielt leise, zwischen den Stücken pausiert sie und horcht, ob im Haus alles still geblieben ist. Sie rechnet mit Hermanns Schritten im Studierzimmer über ihrem Haupt. Er wird bald zurückkommen. Seine Gaienhofer Freunde, Finckh und Bucherer, sind beide verreist. Und die Nächte sind noch zu kalt, um lange draußen zu bleiben.

Am Nachmittag gab es Zank. Sie hatte der Magd aufgetragen, den Ruß aus dem Ofen zu fegen. Karline ging dabei so heftig ran, dass es Hermann in seinem Zimmer oben vorkam, als wollte sie ihm die Sohlen bürsten. Er kam herunter und schimpfte nicht etwa mit dem Mädchen, das bei seinem Erscheinen auch sofort zu putzen aufhörte. Mia kriegte das Donnerwetter ab. Sie erwiderte nicht viel, aber Hermann steigerte sich in einen nervösen Anfall.

»So kann ich niemals etwas zuwege bringen.«

»Aber es erscheint doch im nächsten Monat ein neues Buch.«

»Bah, diese nichtssagenden Idyllen. Wenn es sein muss, schreibe ich dir davon drei Stück die Woche.«

»Mir gefallen sie.«

»Aus dem Libretto ist nichts geworden und der neue Roman ist ein Graus. Ich schreib bald nur noch Blech. Aber so, wie es hier zugeht, kann ja auch nichts daraus werden. Nie gibt es Ruhe.«

Während er wütend schimpfte, machte sie der Magd heimlich Zeichen. Karline ist noch ein Mädchen. Sie nimmt sich solche Szenen sehr zu Herzen. Mia kennt ihren Hermi inzwischen. Er klagt oft, dass er nichts mehr zuwege bringe. Dann hat er doch wieder was fertig und liest ihr vor. Also stellte sie die Ohren auf Durchzug und erinnerte ihn an das, was ihm das Liebste ist.

»Und deine Gedichte?«

»Was weißt du von meinen Gedichten!«

Er lief im Zimmer auf und ab wie ein gefangener Tiger.

»Das mit den Lebendfallen ist auch so etwas. Die Mäuse lachen, wenn ich sie draußen freilasse, und sind am nächsten Tag zurück im Haus.«

»Hast du sie einmal lachen hören?«

Er gab keine Antwort. Stattdessen langte er nach dem Rußbesen. Wäre sie ihm nicht zuvorgekommen, hätte er bestimmt die Stube versaut.

Später entschuldigte er sich für seinen Auftritt. Das ist nicht immer so. Der junge Herr kann seinen Groll recht lang mit sich herumtragen. Er wohnt hinter einer dünnen Schale, an die niemand klopfen soll, denn er hat ein empfindliches Ohr.

Fröstelnd schlingt Hesse die Decke noch fester um sich, stopft ihre Enden zwischen Beine und Bootsrumpf, um der kalten, feuchten Seeluft keinen Angriffspunkt zu bieten. Er hat zu viel getrunken. Auch der Magen drückt. Er will partout nicht heimgehen. Entweder wird Bruno weinen und Mia damit beschäftigt sein, ihn zu beruhigen. Oder sie sitzt am Klavier und spielt Chopin, aber so, dass es eindeutig nur für sie und nicht für ihn ist. Er leidet unter ihrer Gleichgültigkeit. Ob er strahlt oder wütet, weint oder zärtlich ist, seine Frau bleibt ungerührt wie ein Marmorbild. Er drischt das Ruder aufs Wasser, dass es nur so platscht. Aus dem Schilf antwortet ein Schnattern. Er sieht vor sich, wie die weiße Statue seiner Frau im grünen Wasser zwischen den Stängeln auf den Grund sinkt und dort liegen bleibt mit demselben ignoranten Lächeln, das sie immer zeigt und das höchstens die Algen mit den Jahren zum Verschwinden bringen könnten. Er weiß, dass er ihr unrecht tut. Trotzdem ist was dran.

Er trinkt die Flasche leer, und wenn der Magen zehnmal rebelliert. Gedankenverloren lässt er die Verschlüsse der Mappe aufspringen. Er hat Elisabeth in seiner Basler Zeit nur wenige Male gesehen, aber sie brannte ein Loch in seine Seele. So wenig er von ihr weiß, so wenig sie miteinander gesprochen haben und so gleichgültig er ihr geblieben sein muss, so tief war doch sein Glaube, sie zu kennen, jede Faser von ihr, und jeden ihrer schönen Gedanken selbst bereits gedacht, jede ihrer Empfindungen selbst bereits empfunden zu haben. Er hat ein Bild von ihr in sich getragen, bevor er sie überhaupt kannte. Er hat sie erhöht, bis sie ihm wie eine Wolke am Himmel erschien. Den ganzen Winter lang hat er an sie gedacht wie an eine Heilige, der er nicht nahekommen konnte als durch die Beschwörung ihres Bildes im Wort.

Entschlossen greift er in die Mappe und zieht ein Manuskript hervor. Es handelt sich um den Versuch eines Romans, rund hundert handgeschriebene Seiten. Alles Mist. Das Wolkenbild ist darin zu einem zähen Nebel verflossen, die Hauptfigur, obwohl ein Techniker, erinnert ihn zu sehr an Camenzind. Er blättert erst gar nicht in den Seiten. Geistesabwesend setzt er die Flasche an die Lippen, sie gibt nichts mehr her. Da schmeißt er sie auf den Boden. Es ist zum Teufelholen – er sehnt sich nach Elisabeth. Sieben Jahre ist es her, dass er zuletzt von ihr hörte, und nach all der Zeit vermisst er sie. Auf der Stelle möchte er sie anschauen, er möchte ihr nah genug kommen, um an ihrem Nacken zu riechen, um die Äderchen anzubeten, die unter der Haut ihrer Handgelenke zu sehen sind. Er will sie in den Armen halten, die nur ein kalter Stern auf seinem Weg war. Er würde sein Künstlerleben, ohne zu zögern, für sie hingeben und davor noch sein bürgerliches. All die Behaglichkeit ist verpufft, mit dem Angekommensein ist es vorbei. Der Gedanke nagt an ihm, dass er seinerzeit nicht genug Entschlossenheit zeigte. Denn er hat seiner Elisabeth niemals gesagt, was er für sie empfand.

Mias Klavierspiel hat einen Hauch von Salon in das alte Fachwerkhaus gebracht. Mitunter liebt sie das. Sie wollte noch entschiedener als Hesse aufs Land, doch auch für sie sind die Tage in diesem unfreundlichen Winter allzu gleichförmig geworden. Sie freut sich an Haus, See und Kind und bald dem eigenen Garten. Was fehlt, sind Menschen, gleichgestimmte, anregende. Im Winter zieht es niemand aufs Land. Wenn Hermann überdies verreist ist, fühlt sie sich manchmal einsam, und nun will er schon wieder fort. Seit seiner Gastroenteritis klagt er häufig über Magenbeschwerden und isst noch weniger als sonst. Dr. Huck hat bereits eine Kur empfohlen und ist damit bei ihm auf weit offene Ohren gestoßen. Nun ist es beinah schon beschlossen. Er will in den Tessin. Mia wird ihren Mann vermissen. Sie hofft, ihre Schwester Tuccia zu einem Besuch überreden zu können. Vielleicht kann auch sie selbst für einige Zeit zurück nach Basel gehen.

Die letzten Takte hat sie derartig verdorben, dass sie ihr Spiel unterbricht. Der Kater springt von der Bank und verlässt das Zimmer. Sie will noch einmal von vorn beginnen. Aber sie legt die Hände in den Schoß. Es fehlt ihr an Sammlung.

Sie denkt an das Gespräch, das Hermi in dem Münchener Bad aufschnappte. Er sollte sich von irgendwelchen preußischen Großmäulern nicht derart irritieren lassen. Dass ein Hauch Gottfried Keller in seinem Schreiben spürbar ist, kann doch nur gut sein! Freilich wollte er davon nichts wissen. Die Leute plapperten bloß nach, was sie irgendwo gelesen hätten, sagte er.

»Volksschriftsteller! Tss.«

Und seine Miene blieb düster.

»Der Volksschriftsteller war also im Volksbad«, bemerkte sie.

Er ging nicht auf ihr Necken ein, sondern schoss einen beinah hasserfüllten Blick ab. Verzweiflung hätte jedenfalls anders ausgesehen.

Sie lauscht in die Stube. Die Klänge Schumanns sind längst verhallt, doch auf geheimnisvolle Art scheinen sie im Raum gefangen. Sie fühlt die Musik. Das ist nicht bloß ein innerlicher Nachklang, sie hört es leise, leise an ihr Ohr dringen. Im Nacken spürt sie den Hauch eines unendlich sanften Atems.

Den kleinen Stapel handgeschriebener Seiten hat Hesse zusammengerollt und, wie er jetzt bemerkt, minutenlang mit der Hand gequetscht. Nun lockert er seinen Griff. Sofort schieben sich die Seiten auseinander. Er wird das Manuskript dem See übergeben. Es soll auf einem kleinen Schilffloß brennend hinaustreiben zur Toteninsel der misslungenen Dichtungen. Darin liegt der eigentliche Zweck seiner nächtlichen Bootsfahrt. Als gescheiterten Dichter will er sich dennoch nicht betrachten. Er ahnt schon, dass dieser Stoff, das Buch, das einmal Gertrud heißen soll, ihn weiter fordern wird. Oft fängt er mit dem Schreiben an, ohne einen detaillierten Plan zu haben. Wenn eine Erzählung sich nicht entwickelt, legt er sie beiseite. Mit dieser ist es anders. Auf eine Art ist sie da, schon fertig in ihm. Er hat nur nicht den richtigen Ton gefunden. An diesem Abend verspricht er sich, nicht in Beschaulichkeit zu versinken wie sein Freund Finckh, der künstlerisch auf der Stelle tritt, seit er Familie hat. Er klopft seine Taschen ab. Als er keine Streichhölzer findet, fährt er mit der Hand unter die Decke und sucht noch einmal. Mit der anderen Hand hält er sorgfältig die Enden zusammen. Soviel er auch sucht, er hat kein Feuer dabei. Sofort bekommt er Lust zu rauchen. Eine Zigarre hat er nämlich eingesteckt.

Ärgerlich schlägt Hesse wieder mit dem Ruderblatt aufs Wasser. Die im Schilf verborgenen Vögel schrecken hoch und beschweren sich. Sie könnten, wenn Gefahr drohte, ihr nicht entrinnen. Schlaf und Dunkelheit haben Fesseln an ihre Füße und Flügel gelegt. Da sieht Hesse einen schwarzen Schemen im Gekräusel. Ein Blesshuhn könnte das sein. Der Schatten wächst und wird zu einem Schwan mit dunklen Federn. Er sieht Mia im schwarzen Kleid und mit starrem Gesicht übers Wasser gleiten. Schnell nimmt er die Riemen, rudert steifbucklig aus dem Schilf und zurück in die Landebucht. Es kommt ihm vor, als hätte die ohnehin schwarze Nacht sich noch einmal verdunkelt. Nicht eine einzige Laterne spendet den Dorfwegen Licht. Kein Fenster ist mehr erleuchtet.

Bald knirscht der Bootskiel am Ufergrund. Hesse legt sich die herabgerutschte Decke wieder um die Schultern. Die Mappe klemmt unter seinem Arm. Er hat es nicht fertiggebracht, den misslungenen Romanentwurf dem See zu übergeben. Nun wird er die Seiten zurück in die Schublade legen. Mit ruhiger Stimme spricht er zu den anschlagenden Hunden. Ich bin es, Hermann Hesse. Ihr müsst nicht warnen, ihr kennt mich doch. Statt eurem Gebell möchte ich meine Frau Klavier spielen hören. Ich möchte das Licht durch die Ritzen des Schlagladens sehen und mich freuen, zu ihr in die warme Stube zu kommen. Das wäre für mich Heimat. Leider wird es so nicht sein. Sie wird meine Stimmung nicht spüren und garantiert etwas Unpassendes sagen. Oder sie schweigt und verletzt mich damit. Mir bleibt nur zu hoffen, dass das Licht, wenn ich nach Haus komme, gelöscht und das Klavierspiel verstummt sein wird. Als Fremder gehe ich durchs Dorf. Deshalb schlagt ihr an. Und ich bleibe ein Wanderer, der immer an den besseren Ort gelangen will und niemals dort ankommt.

Reise, reise

Das Studierzimmer ist kalt. Hesse hat seine Kleider aus dem Schlafzimmer mit herübergenommen, um Mia nicht zu stören. Nun zieht er sich schauernd an. Sein Schlaf war kurz und schwer, trotz Veronal dauerte er kaum länger als die halbe Nacht. Er fühlt sich noch gefangen von einem Albtraum, der ihn in tiefe Angst gestürzt hat. Er lag hilflos in einem Graben und von einem hohen, schwarz verhängten Wagen herab schleuderte ein Unbekannter einen giftgetränkten Schwamm nach seinem Hals. Hesse wusste, dass er unausweichlich getroffen würde. Es handelte sich dabei nicht um einen Anschlag, sondern um den Vollzug seiner Todesstrafe. Er hatte kein Recht, ihr zu entkommen. Unten in dem schwarzen Wagen standen einer hinter dem anderen vier kleine Särge mit den Leichnamen von Kindern. Die hatte er im Blutrausch mit einem langen Messer abgeschlachtet. Aber da waren es noch seine eigenen Kinder gewesen und die dunkle Gestalt seine Mutter, die nichts unternahm, um ihren Sohn an der grauenhaften Tat zu hindern.

Trotz der Kühle öffnet er das Fenster. Diese späte Nacht ist still. Das Käuzchen ist nach erfolgreicher Jagd bereits gesättigt. Der Marder kehrt in seinen Bau zurück, er hat vielleicht ein echtes Blutbad angerichtet. Die Sterne verblassen, bald wird der erste Vogel erwachen und nach ihm andere, die Hähne des Dorfs, die Hunde, die Bauern. Seit er vor einer Woche auf den See hinausgerudert ist, schläft er schon derart kurz und ruhelos. Er kann nicht liegen bleiben, er muss dann raus. Dabei findet er die kurze Spanne vor der Morgendämmerung ganz furchtbar.

Er hebt den Stuhl vorsichtig an, bevor er ihn unter seinen Hintern rückt. Das Polster und die kantigen Lehnen fühlen sich wohltuend wirklich an. An diesem Schreibtisch, den er selbst entworfen hat, fühlt er sich wohl, und wenn er nun reist, so wird er ihn vermissen. Er zündet die Lampe an, dreht den Docht aber nicht höher als nötig, um das vor ihm liegende Blatt sehen zu können. Jetzt fällt ihm auf, dass seine Augen gar nicht schmerzen. Dafür tut ihm der Magen weh. Durst hat er auch, mag aber nicht in die Küche hinuntersteigen. Die Dielen vor dem Treppenabgang knarren, egal, wie achtsam man sie betritt. Wenn Bruno davon aufwachte, wäre es um die stille Stunde geschehen. Keine Empfindung ist scheuer als dieses Vorgefühl des Schreibens. Den leeren Weinkrug und das Glas räumt er von rechts nach links und setzt das erste Wort aufs Blatt: Traum. Er unterstreicht es. Schnell folgen die ersten Zeilen. Zwischendurch starrt er ins Leere, schreibt wieder. Einsamkeit und Dunkelheit, wenn sie nicht ewig dauern, schärfen das innere Auge.

 

 

TRAUM

Aus einem argen Traume aufgewacht

Sitz ich im Bett und starre in die Nacht.

Mir graut vor meiner eignen Seele tief,

Die solche Bilder aus dem Dunkel rief.

Die Sünden, die ich da im Traum getan,

Sind sie mein eigen Werk? Sind sie nur Wahn?

Ach, was der schlimme Traum mir offenbart,

Ist bitter wahr, ist meine eigene Art.

Aus eines unbestochenen Richters Mund

Ward mir ein Flecken meines Wesens kund.

Zum Fenster atmet kühl die Nacht herein

Und schimmert nebelhaft in grauem Schein.

O süßer, lichter Tag, komm du heran

Und heile, was die Nacht mir angetan!

Durchleuchte mich mit deiner Sonne, Tag,

Daß wieder ich vor dir bestehen mag!

Und mache mich, ob’s auch in Schmerzen sei,

Vom Grauen dieser bösen Stunde frei!

Es ist selten, dass ein Gedicht auf Anhieb gelingt. Dieses fühlt sich bereits fertig an. Mit dem guten Gefühl, etwas geschaffen zu haben, zieht er sich noch einmal aus und legt sich ins Bett. Er hofft, dass er nachher mit seiner Frau schlafen kann.

Die Magd Karline schiebt ihr Haar zurück und steckt den linken Finger ins rechte Ohr. Sie bewegt ihn dort ein paar Mal auf und ab. Es juckt sie schon die ganze Zeit. Schnell muss sie ihn wieder rausziehen und die Schale mit Haferschleim festhalten. Der Kleine in seinem Hochstuhl hat sie zu fassen gekriegt und reißt daran, als wäre es ein schwerer Wassertrog. Zweimal war er schon schneller als sie und hat sein Geschirr auf den Steinboden gepfeffert. Die Hausfrau schimpft wenig, beim zweiten Mal aber hat sie lachend gedroht, dass Karline das nächste zerbrochene Geschirr zahlen müsse. Sie haut Bruno leicht auf die Finger und schimpft ein wenig mit ihm. Der Bub verzieht das Gesicht, er wird doch wegen dem nicht heulen. Offenbar will er das. Schnell drückt sie seinen Kopf an sich und singt ihm das Mühlenlied. Beim Klipp-Klapp will er immer wie sie auf den Tisch hauen, verpasst aber regelmäßig den Einsatz. Zum Glück lacht er nun wieder und lässt sich noch ein paar Löffel Schleim in den Mund schmieren. Mit seinen glänzenden Kinderaugen schaut er zu ihr auf und patscht mit seinem Händchen mitten auf ihre Mädchenbrust. So muss sich ein elektrischer Schlag anfühlen, sie hat von dem schon reden hören. Der Strom kann einen Menschen töten, heißt es. Dabei kann man ihn nicht mal sehen.

»Gehen wir zur Mutti, nein? Gehen wir zur Mutti? Nein? Nein, nein«, sagt sie zu Bruno, der schließlich nicht selbst antworten kann.

Wieder juckt es sie im Ohr, aber diesmal muss sie es aushalten, sie hat den Jungen hochgenommen und braucht beide Hände, um ihn zu bändigen. Er ist schwer geworden. Er will nicht auf dem Arm bleiben, lieber möchte er Laufen üben. Da er schnell müde wird und dann auf allen vieren über den Boden rutscht, darf sie ihn nicht runterlassen. So läuft sie mit ihm in der Küche herum, wiegt ihn und summt Liedchen. Sie stellt sich vor, wie sie selbst Kinder haben wird, sechs oder sieben dürfen es werden, die zu Füßen Ihrer Majestät, Füßen, die in seidenen Pantoffeln stecken, spielen werden. Sie entdeckt einen Fleck auf ihrer Kittelschürze, den der Kleine dahin gepatscht hat. Das bedeutet wieder Wäsche. Aber heute will sie die Schürze noch nicht wechseln. Die Hausfrau wird sie ja kaum zu Gesicht bekommen. Solange sie das Wasser hinausträgt und ihre Order für den Tag entgegennimmt, kann sie sich ein Geschirrtuch über die Schulter hängen.

Der Tag steht noch früher auf als sie. Mia spürt, wie ihre Beine schnell aus dem Bett wollen. Sie wirft einen Blick nach links, wo sie Hermis gleichmäßige Atemzüge hört. Ein Zipfel seines Kopfkissens ragt so weit über seinen kurzgeschorenen Hinterkopf, dass es wirkt, als hätte er eine Nachtmütze auf. Sie hat vor, an diesem Morgen mit Hilfe der Magd die Stuben zu lüften, alle Schränke und Schubfächer auszuräumen und zu reinigen und später neue Muttererde für das Beet an der Hauswand zu besorgen. Am Nachmittag will der Architekt vorbeischauen. Sobald das Wetter sich freundlicher zeigt, soll die Baugrube ausgehoben werden. Zunächst aber wird sie Hermis Koffer packen, das will sie nicht der Magd überlassen. Heute wird er nach Locarno zur Kur fahren. Sein Magen will sich einfach nicht bessern. Er lebt von Sauerampfersüppchen und Getreidebrei und scheint immer noch dünner werden zu wollen.

Mia richtet sich im Bett auf. Blitzartig fährt ihr ein Schmerz ins Kreuz, und sie sinkt wieder zurück. Ihr Rücken fühlt sich an, als wäre er zerschlagen und nur provisorisch noch mal zusammengefügt worden. Sie muss sich ganz steif machen, um nicht auseinanderzufallen. Hexenschüsse hat sie immer wieder. Manchmal kommt der Schmerz überraschend und überwältigend wie jetzt, manchmal klopft er scheinbar schüchtern an, ist aber schon durch die Tür, ehe man ihn abweisen kann. Er saust auf der Nervenbahn ihres Beins hinab in den Fuß, sodass sie kaum noch laufen kann.

Sie versucht noch einmal hochzukommen, diesmal dreht sie sich auf die Seite. Das klappt halbwegs gut. Als sie sich aber auf den Arm stützt, um den Oberkörper aufzurichten, senkt der Schmerz wie ein wütender Krieger erneut seine Lanze in sie. Mit zusammengebissenen Zähnen sinkt sie zurück. Doch sie kann einen Seufzer nicht unterdrücken. Hermi wird davon wach und setzt sich auf. Er tastet mit der Hand nach ihr und fragt schläfrig, was passiert sei. »Nur ein kleiner Piks«, sagt sie. Er starrt auf eine bestimmte Stelle in ihrem Bett. Sie folgt seinem Blick. Da schaut ein Stück ihres Beins mit dem Wollstrumpf hervor. Unwillkürlich zieht sie die Decke darüber.

»Lass doch«, sagt Hermann und schaut weiter auf die Stelle. »Es sah aus, als hätte sich ein kleines Tier ins Bett verirrt.«

Er streichelt zärtlich über ihr Bein, ein Finger bohrt sich unter dem Rand des Strumpfes hindurch. Aber das kommt jetzt nicht in Frage, es gibt viel zu viel Arbeit. Wieder versucht Mia aufzustehen, wieder entfährt ihr ein Schmerzlaut. Sie sieht ein, dass sie heute liegen bleiben muss. Als sie ihm gesteht, dass sie heftige Ischiasschmerzen hat, rät er ihr sofort zu einer Kur. Doch er sagt nicht: Komm mit!

Hermi zieht die Hand zurück. Er tastet grob nach seiner Brille.

In einem Moment, in dem Bruno nicht plappert und nicht gluckst und Karline selbst das Summen eingestellt hat, hört sie den Hausherrn oben mit seinen Medizinfläschchen klappern. Oh, sie hat ein feines Gehör. Nun hört sie auch die Stimmen der beiden. Seine ist hell und manchmal ein bisschen dünn, aber sie sägt sich durch die Zimmerwände. Die Stimme der Hausfrau ist weniger durchdringend. Sie hat die starke Melodie einer Schweizerin, manchmal benutzt sie Ausdrücke, die Karline vorher nie gehört hat. »Mutzi« ist so einer. »Gib dim Mutti e Mutzi«, sagt sie zu ihrem Sohn.