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Slow Family

Julia Dibbern hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt erschien bei Beltz »Verwöhn dein Baby nach Herzenslust«. Im In- und Ausland gibt sie Kurse zur Eltern-Kind-Bindung und naturnahen Erziehung. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Hamburg.

Nicola Schmidt ist Gründerin des Artgerecht-Projekts, das seit 2010 Wildnis-Camps für Eltern und Kinder organisiert. Mit ihrer Familie lebt sie in der Nähe von Bonn. Zuletzt veröffentlichte sie »Artgerecht – das andere Baby-Buch«.

Inhalt

Bullerbü für alle!

Die gute Nachricht

24 Jahre Selbstversuch

Bullerbü ist überall

Apokalypse? Öh, jetzt?!

Wir können das!

Happy Families – Happy Planet

Es gibt Hoffnung

Kopf in den Sand bringt uns nicht weiter

Wenn alles zu viel ist

Wir entscheiden

Die vier Dimensionen der Nachhaltigkeit

Ihr seid nicht allein

Goliaths Angst

Eltern – die unterschätzte Kraft

Die Familienbedürfnispyramide

Die Bedürfnisse von Familien sind anders!

Was ist denn so schlimm an Stress? Hat den nicht jeder?

Die Fragen, die sie sich stellen, lauten:

Stress durch unbefriedigte Bedürfnisse

Unser Nordstern: Langsam, achtsam, echt

Was ist der Nordstern für dieses Buch?

Die Schatzkarte

Wir haben immer die Wahl

Das Zeitfundament

Welche Erfahrung ist echt?

Was ist in zehn Jahren noch wichtig?

Vertraue ich gerade dem Leben?

Jeden Tag ein kleines bisschen

Sieben Zutaten

Liebe

Natur

Achtsamkeit

Gemeinschaft

Ressourcen

Wissen

Zauber

So wurden wir langsam

Slow Village

Einander begegnen

Einander verabschieden

Einander verzeihen

Einander vertrauen

Um Hilfe fragen

Geschichte des Tages

Kleine Aufträge

Gemeinsam putzen

Ladet ein

Engagiert euch

Beziehungen pflegen

Betreuer als Dorfbewohner

Feuerschale

Lose Teile

Lebensmittelkunde

Einkaufen

Slow Nature

Die Natur als andere Welt

Damals

Wind und Wetter

Füße auf die Erde

Die Erde spüren

Dreck

Lebenszyklen

Kräuterkunde

Klitzekleine Haustiere

Namen vergeben

Wildnis zu Hause: Schmetterlingsgarten

Land Art

Feuer

Für ein richtig gutes Feuer brauchst du:

Kleine Holzarten-Kunde

Rauchfreies Feuer

Feuerregeln

Stockbrot

Fackeln

Duschen gegen Depression

Pitschern und Planschen

Beach Clean-up

Spaziergnge und Spiele

Spaziergang mit Ziel

Spaziergang mit Hilfe

Neue Freunde

Schätz- und Zählspiele

Riech-mal-Spiele

Mit Tieren reden

Slow Family Life

Ins Bett bringen

Zhne putzen

Was, wenn das alles nicht hilft?

Gemeinsam essen

Baden

Hund sein

Listen

Den Bus verpassen

Einen Schritt voraus sein

Verantwortung ubernehmen

Vom Besten ausgehen

Machtumkehrspiele

Die Welt auf den Kopf Stellen

Schimpfwörterwettbewerb

Ohne Druck kein Gegendruck

Anziehbahn

Haare waschen

Kinder in Ruhe lassen

Abendrunde und Morgenrunde

Notwendig oder nicht

Crazy Happy Planet

Fünf Dinge, die wir heute tun können

Danke!

Quellennachweis

Zum Weiterlesen

Bullerbü für alle!

»Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe von Menschen die Welt verändern kann. Tatsächlich sind das die Einzigen, die es je getan haben.«

Margaret Mead1

Schnell noch die Wäsche aufhängen, während das große Kind – hoffentlich – schon mal die Schuhe anzieht. Wir kommen zu spät zum Turnen. Nutzt nichts, die Wäsche muss noch eben, damit wir sie morgen früh haben, und … »Hat eigentlich mal wer die Spülmaschine ausgeräumt? Wieso muss das immer ich machen?« Zack, noch den Müll ans Handgelenk gehängt, schnell gucken, ob der Herd aus ist. Sind die Arbeitsunterlagen dabei für die Wartezeit? Das kleine Kind räumt derweil die Schublade mit den Töpfen aus. Drüber stolpern, fluchen, einräumen, das kleine Kind auf den Arm nehmen, Blick auf die Uhr … jetzt aber los! Tür zu, am Schuhregal der Nachbarn hängen bleiben, aua, raus jetzt, wo ist der Autoschlüssel, verflixtnocheins …

»Mama«, sagt das Kind.

»Was?«

»Mama, guck mal, ’metterling!«

Muss das so sein? Wann haben wir uns das letzte Mal die Zeit genommen, um eine Pusteblume zu bewundern? Mit unserem Kind einen Käfer zu untersuchen? Die Delfine in einer Kinderkrakelzeichnung zu finden? Gemeinsam einen Plätzchenteig aufzuessen? Es ist höchste Zeit, langsamer zu werden. Allerhöchste Zeit. Sonst verpassen wir die besten Jahre mit unseren Kindern. Zeit, die wir nie wieder zurückholen können. Und gleichzeitig darf das »Nimm dir Zeit« nicht zum nächsten Punkt auf der Du-bist-nicht-gut-genug-Liste werden, der uns unter Druck setzt.

Deshalb ist dieses Buch eine Anstiftung, das zu tun, was in der Familie wichtig ist. Konsequent. Erhobenen Hauptes. Und hüpfenden Schrittes.

Die gute Nachricht

Aus der Wissenschaft – und aus eigener Erfahrung – wissen wir: Weniger ist wirklich mehr. In jeder Hinsicht.

Wer bewusst aufhört, sich selbst und seine Kinder zu hetzen, beruhigt nicht nur sein Familienleben. Der Satz »Ich nehme mir die Zeit« wirkt viel weiter. Wir schaffen damit mehr Raum und Ruhe für unsere Beziehungen (für das »Dorf«, das es braucht, um Kinder zu erziehen!), unsere Ehe oder Partnerschaft und unsere Gesundheit. Und, so paradox es zunächst klingen mag: Langsam erreichen wir auch besser, was wir uns vornehmen. Wir können unsere Träume besser verwirklichen. Entscheiden, was wirklich wichtig ist.

Einfach deswegen, weil wir achtsamere Entscheidungen treffen. Wir ersparen uns all die zeitraubenden Irrungen und Wirrungen. Ein entspanntes Leben, ein Slow-Family-Leben, ist eine echte Alternative zum derzeit gängigen Modell des Größer-schneller-weiter. Vor allem ist es eine Alternative, die wir selbst nach unseren Wünschen bauen und jeden Tag in unserem Tempo ohne jede Hast umsetzen können.

»Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. … Das kann man niemals schaffen, denkt man. … Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich … Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.« So die weise Lebenseinstellung des Straßenkehrers Beppo aus Michael Endes Roman Momo.

Größer-schneller-weiter hat sich über viele Jahre und Jahrzehnte heimlich, still und leise in unsere Familien geschlichen und bringt vieles mit sich, das nicht nur unwichtig, sondern tatsächlich schädlich ist. Enttarnen wir es gemeinsam! Stellen wir also neue Regeln auf. Einfach, aber radikal. Weg vom vibrierenden Messenger hin zu unserem eigenen Herzschlag. Weg vom grellen Licht der fensterlosen Supermärkte, raus mit nackten Füßen auf die Wiese. Weg von Facebook und hin zu unseren Nächsten! Slow Family ist direkt vor unserer Tür. Direkt in unseren Händen. Doch noch sieht der Alltag in vielen Familien so aus:

Szene 1: Um acht fängt die Schule an, und das Kleine muss spätestens halb neun in der Kita sein, damit Papa um neun im Büro ist. Oder Mama. Wenn ein Meeting ansteht, auch gern mal früher. Papa-Blogger Andreas Clevert beschreibt: »Generalstabsmäßig werden bis Mitternacht des Vortags die notwendigen Dinge vorbereitet: Frühstückstisch gedeckt, Vesperdosen parat, Klamotten vorbereitet. Und an den drei Garderobenhaken hängen schon die Taschen bzw. Schulranzen mit passenden Mützen, Schals und Jacken. Ab halb sieben läuft der Countdown bis zum Schulgong um acht (Nummer 1). Kindergarten eine Ecke weiter (Nummer 2) und aufs Rad mit Nummer 3 zur Kita bis zur Deadline um neun. Wenn ich dann im Büro eintrudele, kann es eigentlich nur besser werden. Im Beruf würde das als ›Herausforderung‹ umschrieben werden. Im Privaten nennt man die Dinge eher beim Namen: Riesenstress.«2

Wenn nur eins der Kinder bei einem straffen Zeitplan »ausfällt«, steigt der Stresspegel ins Unermessliche.

Szene 2: Das Kinderzimmer ist voller Plastikspielzeug, eins bunter als das andere. Der IKEA-Straßenteppich ist nicht mehr benutzbar, weil so viel Zeug darauf herumliegt: auf Knopfdruck sprechende Puppen, die das Kind über seine Vorlieben ausfragen und diese zurückfunken an Mattel, ferngesteuerte pinkfarbene Polyester-Plüschhunde und Plastikpendants, die Leckerlis kacken, dazwischen Filly-Pferde, Barbie-Puppen und was der Spielzeugladen sonst noch so hergibt. Beliebig austauschbar durch Berge von Lego, Nerfguns, Nintendos, Fernlenkautos … Zwischen dem ganzen Zeug: ein müdes Kind.

Als Michael Ende für Momo die sprechende Puppe Bibigirl erfand, war jeder einzelnen Person, die das Buch las (oder später den Film sah), klar, was für eine albtraumhafte Vision dieses Ding darstellte. Wieso haben wir sie trotzdem in unsere Kinderzimmer und – schlimmer noch – in die Herzen unserer Kinder gelassen?

Szene 3: Halb sechs nachmittags, Supermarktkasse. Neonlicht. Kassenpiepsen. Lautsprecherdurchsagen. Der Einkaufswagen ist voll, die Mutter genervt und verschwitzt, das vierjährige Kind, das gerade aus der Kita kommt, quengelig und müde. Um den Einkauf irgendwie gesunden Geistes zu überstehen, drückt die Mutter dem Kind einen Schokoriegel in die Hand.

Diese drei Szenen haben mehreres gemeinsam: Sie machen die Beteiligten nicht glücklich. Sie sind entstanden durch ein denaturiertes Leben in einer bis zum Irrsinn beschleunigten Gesellschaft. Sie basieren auf Angst. Es gibt einen Weg da raus. Nicht einfach. Aber in kleinen Schritten.

Wir sind keine Zivilisationshasser, auch wir finden: Vollzeitjobs, Lego und Waschmaschinen sind prima! Aber wir können uns nicht ewig in alle Richtungen dehnen wie Elastigirl von den »Unglaublichen« und die perfekte Ehe führen, perfekte Eltern sein, die Außerhausarbeit perfekt verrichten und selbstverständlich die Hausarbeit auch noch. Im Gegensatz zu Comicfiguren flutschen Menschen nach solchen Dauerüberdehnungen nicht unbeschadet zurück in ihre alte Form, sondern werden krank. Es ist also an der Zeit, dass wir netter zu uns selbst sind – und damit auch zu unseren Kindern. Lasst uns eine Welt schaffen, in der nicht mehr das Piepen des Messengers, sondern unser Herzschlag den Takt angibt!

Stress: Das Wort steht für Belastung, Druck und Anspannung. Er war ursprünglich eine überlebenswichtige Reaktion – reserviert für Extremsituationen, die nicht unseren Alltag ausmachten. Heute ist das anders: Vieles in unserem Alltag löst genau diese Alarmreaktionen in unseren Körpern aus und schädigt uns so. Zwar gibt es auch guten Stress – Stress, an dem wir wachsen –, doch überwiegt leider meistens schlechter Stress – Stress, an dem wir sogar zerbrechen können.

Dabei spielt eine große Rolle, was wir persönlich als Stress empfinden. Stress ist sehr subjektiv. Was den einen kaltlässt, lässt den anderen völlig die Kontrolle verlieren. Es ist wichtig, sich das klarzumachen, statt zu sagen: »Das musst du einfach gelassener sehen.« Stress kommt zum großen Teil vom nicht steuerbaren vegetativen Nervensystem. Das ist unserer bewussten Kontrolle entzogen. Niemand von uns hat Schuld daran, wenn sein oder ihr Stress-System so »programmiert« ist, dass es schnell hochfährt. Aber: Menschen können lernen, damit umzugehen. Und wir können lernen, Stress zu reduzieren. Denn zu viel Stress schadet. Uns. Unseren Kindern. Unserem Planeten.

Zeitdruck, Hektik und Selbstoptimierungswahn führen zu unglaublichem Stress in vielen Familien – auch bei uns! Wir lieben unsere Waschmaschinen und unsere Smartphones und sind ab und an auch dankbar für die Möglichkeiten der modernen Medizin. Wir sind auch durchaus gern pünktlich bei unseren Lesungen. Und trotzdem wollten wir unseren kleinen Kindern immer die Zeit lassen, einen Käfer anzuschauen, und für die großen da sein, wenn sie jemanden zum Reden brauchen. Wie kann man aus diesem Dilemma ein in sich stimmiges Leben machen? Wir hatten beide das große Glück, früh Menschen zu treffen (im echten Leben und im Netz), die uns mit guten Impulsen halfen: Freundinnen mit älteren Kindern, lebenserfahrene Nachbarn, kluge Bücher.

Zum Zeitdruck kommt der enorme Druck, unter dem Eltern – insbesondere Mütter – sowieso schon stehen. Wir sind immer schuld. Die Amerikaner haben dafür einen schönen Spruch: »Damned if you do, damned if you don’t« – Verdammt, wenn du’s tust, verdammt, wenn du’s lässt. Du gehst arbeiten, seit das Kind klein ist? Ts ts ts. Rabenmutter. Du bist mit Begeisterung zu Hause? Ach, bitte, wie soll das denn dem Kind als Vorbild für eine emanzipierte Frau dienen. Das Kind benimmt sich beim Opa schlecht? Kein Wunder, es wird ja auch viel zu lasch erzogen. Dem Kind geht es nicht gut? Ist ja logisch, es steht unter viel zu großem Druck.

Viele Mütter haben das Gefühl, gleichzeitig ungefähr siebenundzwanzig Bälle in der Luft halten zu müssen.

Das strengt an. Das laugt aus. Die besten Jongleure schaffen das nicht. Und wenn du dann erschöpft auf dem Sofa hockst, die Hände um die warme Teetasse gelegt, gibt dir auch noch irgendein nerviges Frauenmagazin zu verstehen: »Oh, Ball sechsundzwanzig ist dir runtergefallen und du hast noch drei Kilo zu viel drauf? Tja, dann hast du dich wohl nicht genug angestrengt.«

Wer kann da noch Kraft aufbringen für die Entscheidung zur Gelassenheit? Wenn es manchmal schon zu anstrengend erscheint, vom Sofa in die Küche zu gehen, um die Teetasse neu zu füllen?

24 Jahre Selbstversuch

Wir beide, Julia und Nicola, haben zusammen 24 Jahre »Selbstversuch« hinter uns, in denen wir »artgerechtes Menschenleben« in der modernen Welt ausprobiert haben.

Wir haben unsere Babys bindungsorientiert begleitet, wir haben in der Stadt und auf dem Land gelebt, verschiedene Betreuungsmodelle ausprobiert, diverse Initiativen und Projekte unterstützt oder gegründet, Bücher geschrieben, Camps und Treffen veranstaltet, genetzwerkt und gefacebookt. Wir haben alles Mögliche versucht, vom Urban Gardening über die Flucht in die Südsee, vom Gemeinschaftsleben bis hin zum Einfamilienhaus auf dem Land. Wir haben nichts gescheut, um unseren Kindern, uns, interessierten Familien, unseren ungeborenen Enkeln und letztlich dem gesamten Planeten eine gute Zukunft zu ermöglichen.

Wir haben festgestellt: Es gibt viele Wege, sich wohl zu fühlen. Slow Family Life lässt sich mit ein paar einfachen Entscheidungen überall herstellen.

Das hört sich irrsinnig wirbelnd und fleißig an, aber in Wirklichkeit sind wir beide ziemliche Faultiere. Wir haben nämlich etwas Feines festgestellt: Man braucht gar nicht alles radikal zu ändern, um ein gutes, entspanntes Familienleben zu haben. Wir müssen weder das Smartphone verteufeln noch den Herd rausschmeißen, niemand muss sich auf selbst gesponnene Wolle beschränken oder nur noch Brennnesselspinat essen. Alles Quatsch! Diese überzogenen Vorstellungen von »perfekt« sind ja auch nur wieder Auswüchse eines Anspruches, der auf Angst basiert und zu Grabenkämpfen führt. Dogmen bringen uns nicht weiter. Nicola isst Fleisch, Julia lebt vegan, Nicola hat kein Auto, Julia hat zwei – na und? Wir haben uns trotzdem lieb! Denn eigentlich geht es um etwas ganz anderes. Es ist viel einfacher:

Für ein entspanntes, gesundes Familienleben braucht es nur ein bisschen mehr Zeit, ein bisschen mehr Achtsamkeit, ein bisschen mehr Dorf, ein bisschen mehr Naturnähe: Slow Family eben.

Bullerbü ist überall

In den nächsten Kapiteln stellen wir euch vor, was Familien wirklich brauchen, wie man es erreicht – in der Theorie – und was für lustige Effekte das bei uns hatte – in der Praxis.

Teil zwei ist unser »Rezeptteil«, wobei wir »Rezept« nicht im Sinne von Patentrezept verstehen, sondern im Sinne von Spielanregung. Dabei werden wir immer wieder kleine Anekdoten aus unseren Selbstversuchs-Jahren erzählen, damit ihr zumindest ein paar Fallen, in die wir getappt sind, von vornherein umgehen könnt.

Was uns noch wichtig ist: Dies ist kein »Friss das Doppelte – und nimm ab dabei!«-Buch (frei nach Prof. Niko Paech, Volkswirt an der Universität Oldenburg). Wir wollen weder leere Versprechungen machen noch so tun, als sei alles zum Nulltarif zu haben.

NICOLA: Meine wunderbare Freundin Julia hat mir mal gesagt: »Nicola, du musst dich immer entscheiden, du sagst immer zu jemandem Nein.« Sie erklärte mir, dass ich JA zu meinem Job sage und in diesem Moment NEIN zu meinem Kind. Dass ich JA zum Ehrenamt sage und damit eventuell NEIN zu meinem Bedürfnis, in meiner freien Zeit auch einfach mal abzuhängen. Beides ist völlig legitim. Ich will und kann arbeiten und will und kann mich im Kindergarten engagieren und will viel in der Natur sein und mit meinen Kindern basteln und meine Kartoffeln selbst anbauen und Bücher schreiben. Wenn ich all das will, muss ich mir klar darüber sein, dass ich begrenzte Ressourcen habe. Dass nicht alles, was in einen Terminkalender reinpasst, auch energetisch machbar ist. Mir geht es da leider wie der kanadischen Schriftstellerin Oriah Mountain Dreamer: »Solange ich es in meinem Terminplan unterbringe, so lange halte ich es für machbar.«3 Ein fataler Irrtum, der mir schon so manche Grippe eingebrockt hat.

JULIA: Das ist nicht von mir. Ich habe es von meiner Freundin Katja gelernt. Ehre, wem Ehre gebührt.

Wir müssen uns immer entscheiden, weil wir nicht an zwei Orten gleichzeitig sein können und weil unsere Ressourcen und die Ressourcen unseres Planeten nun mal begrenzt sind. Solange wir hoffen, dass wir einfach so weitermachen, -kaufen, -arbeiten und -leben können wie bisher und trotzdem eine entspannte, sicher gebundene, glückliche Bullerbü-Familie haben werden, so lange lügen wir uns die eigene Tasche.

Das Konzept der »Quality Time«, die man mit seinen Kindern verbringen könnte, findet sein Pendant in den Heilsversprechungen der Wirtschaft: Wenn wir die vorhandenen Ressourcen nur intensiver und klüger nutzen, können wir weiterhin immer mehr konsumieren, jedoch ohne den Planeten zu schädigen. Wenn wir die Zeit mit unseren Kindern nur effektiver nutzen, können wir viel arbeiten und trotzdem ausreichend für sie da sein. Kleine Randnotiz: Der Begriff »Quality Time« tauchte als Erstes in einer Zeitschrift namens The Capital auf.

Die Autorin Gabriele Möller schreibt dazu auf urbia.de: »›Dies ist eine Art, den Effizienzkult vom Büro auf das Zuhause zu übertragen‹, warnt die US-amerikanische Soziologieprofessorin Arlie Russell Hochschild. Es ist nicht möglich, in allzu knappe Zeitspannen all das Gute hineinpacken zu wollen, das man seinem Kind mitgeben will. Genug Zeit füreinander zu haben ist ein ebenso wichtiger Bestandteil unseres Wohlstands wie das Einkommen.« Wir sprechen von »Zeitwohlstand«, den auch das Bundesfamilienministerium im Memorandum »Familie leben« (2009) fordert, wie die Autorin bemerkt.4

Es ist also klar, dass es hier um eine Entscheidung geht. Und es ist völlig legitim, dass jeder und jede diese Entscheidung für sich immer wieder neu und frei trifft. Wir haben uns bewusst irgendwann für ein Familienleben nach dem Prinzip »Slow« entschieden – und mal schaffen wir es, mal scheitern wir daran. Was wir tun, was wir herausgefunden haben, was klappt und was wir machen, wenn es mal wieder nicht klappt, das wollen wir hier erzählen.

Ihr könnt euch einfach von unseren Erlebnissen und der Wissenschaft, die wir für euch zusammengetragen haben, inspirieren lassen und euren eigenen Weg finden. Wir verstehen dieses Buch als Einladung zum Spielen. Wir beide haben im Laufe unserer Zeit als Mütter viele Menschen getroffen, die uns gute Ideen weitergegeben haben, und genau dasselbe wollen wir auch tun. Nicht mehr, nicht weniger. Dieses Buch enthält keine wiedergekäuten Theorien, keine gutgemeinten Ratschläge und keine Selbstoptimierungstipps à la »Beim Zähneputzen immer schön auf Zehenspitzen wippen, das ist gut für den Beckenboden«.

Dieses Buch enthält unsere Erfahrungen zur Frage: Wie kann Familienleben angenehmer werden – und nicht immer noch produktiver, schneller, dichter, effektiver? Wie können wir uns ein Dorf bauen, ohne nach Papua-Neuguinea ziehen zu müssen? Es stößt in eine neue Welt vor, eine Welt, in der wir uns vom Schneller-höher-weiter abkoppeln und uns auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist. Denn am Ende seines Lebens wünscht sich vermutlich niemand: »Hätte ich doch mehr Zeit im Büro verbracht!« Es erzählt von unseren persönlichen Erfahrungen mit unseren Familien und unseren Kindern. Unseren eigenen Wegen von High-Speed-Performern hin zu – einigermaßen, im Wesentlichen, meistens – entspannten Müttern.

Fast so entspannt wie Michels Mutter Alma, damals, als die Kinder glücklich im Garten Verstecken spielten, während die Mütter und Mägde schwatzend Socken stopften und die Väter mit den Knechten das Heu einbrachten. Die Menschen hatten Zeit füreinander und saßen abends gemütlich um den Küchentisch, während im Kachelofen ein Feuer prasselte …

Vielleicht hat es diese Bullerbü-Welt nie gegeben. Aber was wäre, wenn wir sie hier und heute für uns erschaffen könnten? Denn die Sehnsucht danach ist da. Unseren Kindern kämen wir damit sicherlich entgegen. Für sie ist die Familie nach wie vor das höchste Gut, wie der »Kinderwertemonitor 2014«, erstellt von UNICEF und Geolino in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität Berlin, zeigte.

Kinder wollen eine entspannte Familie und andere Bezugspersonen des »Dorfes«, sie brauchen Freiraum und Natur – »Ich möchte später Hunde haben. Und Pferde. Und Hühner. Einen großen Garten natürlich auch, damit die Auslauf haben.« Los geht’s!

Apokalypse? Öh, jetzt?!

»Do. Or do not. There is no try.«

Yoda1

»Slow Family« zu leben bedeutet nicht weniger als die Rettung der Welt. Das Lustige ist: Wir haben eigentlich nach einer Lösung für ganz andere Probleme gesucht. Wir wollten wissen, wie wir mit unseren Kindern möglichst »artgerecht« umgehen können. Gefunden haben wir eine Lösung für die Probleme unseres Planeten: Happy Families – Happy Planet.

Allen Ernstes zu glauben, der Planet sei noch zu retten, ist genauso verrückt, wie ein Baby ohne Windeln großzuziehen? Okay! Macht nichts: Lasst uns die nächste Stufe der Verrücktheiten erklimmen!

Die kleinen Schritte, die jeder Einzelne tun kann, mögen unbedeutend scheinen, aber in der Summe sind sie es nicht. Wir sind Teil des Immunsystems der Erde! Dieses Bild ist großartig: Ja, jeder von uns ist eine kleine Zelle, aber unser Immunsystem, das täglich hunderte von Angriffen abwehrt und über Jahrzehnte unseren Körper gesund erhält, besteht auch nur aus lauter kleinen, minikleinen Zellen. Jede von ihnen tut ihren minikleinen Zellteil dazu, dass das Ganze funktioniert.

Jeder von uns tut jeden Tag etwas, das entweder ein krankes System erhält oder ein neues System schafft. Dazu kann eine einzelne gesparte Windel zählen, der Kuchen für die einsame ältere Nachbarin, vom Flugzeug auf die Bahn umzusteigen oder die Jacke zu reparieren, statt eine neue zu kaufen. Alle unsere Entscheidungen zählen, und scheinen sie noch so unbedeutend.

Wir wollten beide schon immer unser Leben dazu verwenden, aus der Welt einen besseren Platz zu machen. Aber als unsere Kinder kamen, hatten wir erstmal ganz andere Dinge im Kopf. Bis uns klar wurde: Es ist und bleibt dasselbe! Nie ist die Zeit dafür besser, als wenn Kinder zur Welt kommen und Menschen zu Familien werden.

Wir können das!

Seit uns klar geworden ist, dass wir nicht hilflos sind und dass wir uns nicht an Atomkraftwerke ketten müssen, um etwas zu tun, geht es uns besser. Viel besser. Denn wir müssen abends einfach noch Pippi Langstrumpf vorlesen, da ist für das Atomkraftwerk oft keine Zeit. Also tun wir das, was jeden Tag getan werden kann. Und das summiert sich.

Das zu wissen, macht uns entspannter. Und wir geben es weiter. Die Menschen, die wir erreichen, die plötzlich sehen, welch großes Geschenk an die Blauwale bindungsfähige Kinder sind, sind auch entspannter.

Sie sagen: »Mensch, seit ich das weiß, ist alles nur noch halb so wild.« Es sind drei Dinge, die Eltern in dieser Situation helfen: Gelassenheit, Gleichgesinnte und Gemeinschaft. Und sie machen uns stark. Ob in der Stadt, im Dorf, im Camp, auf Festivals, in Seminaren, Cafés oder sogar im Zug, diese Dinge helfen uns:

unseren täglichen Anteil am Weltgeschehen zu sehen, auch wenn wir »nur« Sandkuchen backen, unsere Möglichkeiten auszuschöpfen, die wir tatsächlich jeden Tag haben, um etwas zu verändern. Und sie helfen uns, nicht perfekt sein zu wollen – wer je die Nerfgun-Sammlung von Julias Sohn oder die Lego-Berge in Nicolas Wohnung gesehen hat, weiß, dass wir alles andere sind.

Und trotzdem oder genau deshalb werden wir dem Smartphone, dem Zeitdruck und der Werbung nicht die Erziehung unserer Kinder überlassen. Wir werden der Politik nicht die Lösung all unserer Probleme anvertrauen. Und wir werden nicht mehr warten, bis Tante Gisela endlich bei uns anruft, sondern selbst zum Hörer greifen, um uns zu organisieren.

Uns geht es um andere Werte als »mein Haus, mein Boot, mein Auto«. In diesem Buch zeigen wir, wie es gelingen kann, andere, tiefere Werte weiterzugeben. Stillen, Tragen und Familienbetten sind ein wunderbarer Anfang – und darüber hinaus können wir noch so viel mehr tun.

Wenn die Babys aus dem Gröbsten raus sind, stellen viele Eltern fest, dass sie mehr wollen. Dass sie etwas tun wollen. Dass es Zeit ist, rauszugehen und etwas zu verändern, um diesem kleinen, zarten Wesen in ihren Armen einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen. Auf unseren Treffen kommt das Thema immer wieder auf: Der starke Drang, ökologisch zu leben, weniger Auto zu fahren, sich biologisch und nachhaltig zu ernähren und zu kleiden, bessere Bildungsmöglichkeiten zu finden – die Liste ist endlos.

Happy Families – Happy Planet

Wir bräuchten 2,6 Planeten, um so weiterzuleben, wie wir es in Deutschland derzeit tun: Ozeane werden überfischt, Wälder gerodet, das Klima kippt und wir beobachten das größte Artensterben seit Verschwinden der Dinosaurier. Die Ergebnisse des Living Planet Report 2014 sind eindeutig: »Wir gehen mit der Erde alles andere als nachhaltig um, denn wir entziehen uns und unseren Kindern die Lebensgrundlagen in atemberaubender Geschwindigkeit. Damit treibt die Menschheit ihren eigenen Planeten in einen gefährlichen Burn-out.«2

Es war ein verregneter Mittwochnachmittag, als Nicola beim Elterntreffen in Bonn von unserem Buch-Baby erzählte: »Wir machen ein neues Buch. Es geht darum, wie jede Familie jeden Tag dazu beitragen kann, diesen Planeten zu retten.«

»Ach«, sagte eine Mutter, »es ist doch im Moment alles so verfahren, da können wir doch eh nichts machen.« Diese Hoffnungslosigkeit begegnet uns immer wieder und auch uns packt sie manchmal. Und dann kommt die Wut.

NICOLA: Jedes Mal wenn ich ein Kinderbuch aufschlage, könnte ich platzen: Lauter glückliche Kühe auf grünen Wiesen mit pickenden Hühnern und Bullerbü-Kindern, die Eier aus hübschen Nestern einsammeln. Wo bitte gibt es das noch? Die meisten Kinder werden niemals etwas anderes essen als Eier von zerrupften, gedopten, verhaltensgestörten armen Gefangenen mit verstümmelten Flügeln und Schnäbeln, die zu Tausenden dicht gedrängt auf Gitterböden gehalten werden.

JULIA: Mir geht es mit den Plakat-Kühen so. Die stehen da romantisch auf ihren Wiesen rum und genießen den Sonnenschein. Wer einmal das Muhen einer Kuh gehört hat, die nach ihrem Kalb ruft, der vergisst das nicht mehr. Als mein Sohn klein war, haben wir manchmal die Kälbchen beim Bauern nebenan besucht. Es hat mich innerlich zerfetzt. Wie sollte ich ihm verständlich machen, dass diese felligen Babys dort in den winzigen Boxen fern ihrer Mamas ganz alleine ihr Leben verbringen?

NICOLA: Mein Sohn liebt Wale, diese eleganten, sanften Riesen. Er frisst Walbücher wie andere Kinder Schokolade. Es ist unfassbar schwer, ihm zu sagen, dass der Lebensraum der Wale verseucht und mit Plastik überschüttet ist, dass sie von minütlichen Detonationen verrückt gemacht und an vielen Orten immer noch gnadenlos gejagt werden. Wenn man ihn fragt, was er werden will, hat er schon als Vierjähriger gesagt: Walforscher. Aber wird es noch Wale geben, wenn er eines Tages so weit ist? Oder muss er sich dann mit Archäen achthundert Meter unter dem Tiefseeboden beschäftigen, weil es die einzige Spezies ist, die wir noch nicht ausgerottet haben?

Stillen, tragen, windelfrei und Bindung, das ist ja alles schön und gut. Aber wo werden unsere Kinder spielen, wenn der letzte Wald gerodet ist? Was werden sie essen, wenn die Ozeane leer gefischt sind? Wir können ohne Öl leben, aber ohne Wasser? Ist Wasser die Ressource, um die unsere Enkel Kriege führen werden? Wie informieren wir unsere Nachfahren in einer Million Jahren darüber, dass radioaktiver Müll unter der Erde lagert? Wer sammelt unsere Plastiktüten aus den Ozeanen, bevor alle Schildkröten daran erstickt sind?

Es gibt Hoffnung

Es ist noch nicht zu spät. Da sind wir absolut hundertprozentig sicher. Jeder von uns kann in jedem Augenblick etwas tun, das ihn zum Geschenk für die Welt werden lässt. Und das fängt in der Familie an.

Es liegt an uns, dass unsere Kinder täglich etwas zu essen haben. Und dass sie auch morgen noch etwas zu essen haben. Sie brauchen Luft zum Atmen und Wasser zum Trinken. Also lautet die Frage: Strengen wir uns an der richtigen Stelle an, wenn wir schlank, klug, reich und mit dem neuesten iPhone bestückt sein wollen? Reicht es, geduldig, liebevoll und gerecht zu sein? Nein, es reicht nicht.

An manchen Tagen tut es unsagbar weh, unsere entzückenden, kleinen Kinder zu sehen, die nicht ahnen, was wir hier gerade anrichten. Und gleichzeitig sind es diese entzückenden Kinder, um derentwillen wir aufstehen und sagen: Es reicht!

Ja, ich kann mich an kein Atomkraftwerk ketten, weil ich heute Abend noch Pippi Langstrumpf vorlesen muss. Trotzdem kann ich jeden Tag etwas tun.