Bachmann, Ingeborg Der gute Gott von Manhattan

PIPER

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de/literatur

Textgrundlage: Werke, Band 1, herausgegeben von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, Piper Verlag, München 1982, 3. Auflage 1993.

ISBN 978-3-492-97456-1

Juni 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1976

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Wolgensinger

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

PERSONEN

Der gute Gott

Der Richter

Jan, ein junger Mann aus der alten Welt

Jennifer, ein junges Mädchen aus der neuen Welt

Billy

}

zwei Eichhörnchen

Frankie

Ein Wärter

Ein Gerichtsdiener

Eine Zigeunerin

Ein Bettler

Eine Frau

Ein Portier

Ein Liftboy

Zeitungsverkäufer

Ein Polizist

Zwei Kinder

Ein Barmann

und Stimmen, monoton und geschlechtslos

Im Gerichtssaal

Der Ventilator ist angestellt, denn es ist Hochsommer.

GERICHTSDIENERvom Eingang her in den Raum sprechend

Euer Gnaden …

RICHTER

Ja?

GERICHTSDIENER

Darf der Angeklagte hereingebracht werden?

RICHTER

Ja. Und stellen Sie bitte den Ventilator ab.

GERICHTSDIENER

Mit Verlaub. Bei dieser Hundehitze?

RICHTER

Stellen Sie ihn ab!

Die Tür öffnet sich; ein Wärter tritt mit dem Angeklagten ein.

WÄRTER

Euer Gnaden, der Angeklagte! Gedämpft. Hierher. Sie haben stehenzubleiben während dem Verhör, verstanden?

Der Ventilator dreht sich langsamer und bleibt stehen.

RICHTERmit veränderter Stimme

Setzen Sie sich!

WÄRTERleise, eifrig

Setzen! Setzen Sie sich. Es ist erlaubt.

RICHTER

Und Sie können gehen, Sweeney. Auch Sie, Rossi.

WÄRTER

Wie Sie befehlen.

GERICHTSDIENER

Danke, Euer Gnaden.

Die beiden Männer verlassen den Raum. Es ist einen Augenblick lang still. Der Richter blättert in den Papieren.

RICHTERundeutlich sprechend, während er einige Eintragungen macht

New York City, den … August, neunzehnhundertund … fünfzig … Dann rascher, mit klarer, gleichgültiger Stimme. Sie heißen? Sie sind geboren? Wann? Wo? Hautfarbe? Statur? Größe? Religiöses Bekenntnis? Durchschnittlicher Alkoholkonsum? Geisteskrankheiten …

ANGEKLAGTER

Ich wüßte nicht.

RICHTERim gleichen Ton fortfahrend

Verdächtigt des Mordes an …

ANGEKLAGTER

An?

RICHTERfreundlich, ohne Absicht

Mörderisch, diese Hitze. So heiß war es noch in keinem Sommer. Erinnern Sie sich? Nur vor sechs Jahren, als Joe Bamfield und Ellen … Ellen …

ANGEKLAGTER

Ellen Hay.

RICHTER

Richtig. Als beide getötet wurden durch eine Bombe. Damals war es ähnlich heiß.

ANGEKLAGTER

Ich erinnere mich.

RICHTERentschuldigend

Natürlich sind wir nicht hier, um uns über hohe Temperaturen zu unterhalten.

ANGEKLAGTER

Ich will es hoffen.

RICHTER

Aber es wäre töricht, wenn ich Sie die Fragen beantworten ließe, auf die ich die Antworten schon weiß.

ANGEKLAGTERherablassend

Sie?

RICHTERwährend er wieder eine Eintragung macht, nebenbei

Es ist doch zum Beispiel richtig, daß Sie drei Zimmer in einem alten Haus an der Ecke der 63. Straße und der Fifth Avenue in der Nähe des Zoos bewohnten …

ANGEKLAGTER

Ah.

RICHTER

Verhaftet wurden Sie von den Polizeileuten Bondy und Cramer in der Hotelhalle des Atlantic Hotels, als Sie, kurz nachdem es geschehen war, dem Ausgang eilig zustrebten …

ANGEKLAGTERironisch

Zustrebten!

RICHTER

Es ist doch richtig, daß Sie …

ANGEKLAGTER

Gewiß ist es richtig. Aber verzeihen Sie, daß ich auf die erste Frage zurückkomme. Sollten Sie auch wissen, wer ich bin?

RICHTERnach einer kurzen Pause, zögernd, schüchtern

Der gute Gott von Manhattan. Manche sagen auch: der gute Gott der Eichhörnchen.

ANGEKLAGTERabwägend

Der gute Gott. Nicht schlecht.

RICHTERhastig

In Ihrer Wohnung wurden drei Säcke mit Eichhörnchenfutter gefunden.

ANGEKLAGTER

Und beschlagnahmt? Schade. Ich war ein Geschäft für Manhattan. Oder haben Sie je jemand gesehen, der die vielen Automaten für Nüsse in den Untergrundbahnhöfen benützt hätte?

RICHTER

Sie haben diese Nüsse also für die Tiere gekauft. Sie sind Tierliebhaber? Es soll Länder geben, in denen diese Nagetiere scheu und unschuldig sind; aber sie sehen gemein und verdorben aus bei uns, und es heißt, sie seien mit dem Bösen im Bund. Oder sind Sie Tierhändler? Züchter? Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich jetzt mit dem Verhör beginne.

ANGEKLAGTER

Ich weiß nicht, ob ich irgend jemands Neugier stillen kann. Was erwarten Sie von mir? Rechtfertigung? Im besten Fall könnte ich Sie aufklären. Aber wenn Sie einem alten Mann erlaubten, Ihnen einen Rat zu geben …

RICHTER

Es scheint, daß ich mich gut gehalten habe. Ich bin selber nicht mehr der Jüngste.

GUTER GOTT

Fangen Sie mit dem Anfang an oder mit dem Ende! Bringen Sie ein System in die Befragung. – Ich sehe, Sie haben mein Amt ausgeräumt und alle Karteikarten und Korrespondenzen vor sich. Bequemer können Sie es nicht haben. Meine Arbeit war langwieriger, minutiös, detektivisch, und ich hätte sie nicht ohne die Eichhörnchen machen können. Sie waren mein Nachrichtendienst, die Briefträger, Melder, Kundschafter, Agenten. Mehrere hundert waren mir untertan, und zwei von ihnen, Billy und Frankie, hatte ich als Hauptleute. Auf sie war wirklich Verlaß. Ich legte nie eine Bombe, ehe die beiden nicht den Ort gefunden und die Zeit errechnet hatten, an dem es todsicher, in der es todsicher …

RICHTER

Todsicher – was?

GUTER GOTT

… die treffen mußte, die gemeint waren.

RICHTER

Wer war gemeint?

GUTER GOTT

Oh! Sie wissen es nicht? Neugierig. Wie sehen Sie die Sache?

RICHTER

Ich sehe sie nicht mehr. Ich sah eine Kette von Attentaten gegen Menschen, die niemand bekümmert hatten, ausgeführt von einem unauffindbaren Wahnsinnigen.

GUTER GOTT

Ich dachte, Sie nähmen die Gutachten Ihrer Psychiater ernst.

RICHTER

Ich war nur dieser Meinung, ehe Sie mir als Urheber dieser Vorkommnisse bekannt waren.

GUTER GOTT

Urheber. Sehr gut. Der Urheber.

RICHTER

Die Erhebungen sind jetzt abgeschlossen. Mit Ausnahme des letzten Falles allerdings.

GUTER GOTT

Der letzte »Fall« – wie Sie ihn in Ihrem zweifelhaften Jargon zu nennen belieben – ist auch für mich nicht abgeschlossen. Ich wüßte gerne, da ich keine Gelegenheit hatte, meine Aufgabe wirklich zu Ende zu führen, was aus dem jungen Mann wurde, der entkommen ist.

RICHTER

Entkommen?

GUTER GOTT

Er dürfte nicht einmal verletzt worden sein.

RICHTER

Verletzt nicht. Aber …

GUTER GOTT

Ist er nicht abgereist?

RICHTER

Gewiß. Er nahm sogar noch am selben Abend das Schiff nach Cherbourg.

GUTER GOTT

Ah! Sehen Sie: und dieser Mensch hatte geschworen, er werde das Schiff nicht nehmen, sondern leben und sterben mit ihr, sich Ungewißheit und Not überantworten, seine Herkunft und seine Sprache vergessen und mit ihr reden in einer neuen bis ans Ende seiner Tage. Und er nahm das Schiff, und er hat sich nicht einmal die Zeit genommen, sie zu begraben, und geht dort an Land und vergißt, daß er beim Anblick ihres zerrissenen Körpers weniger Boden unter sich fühlte als beim Anblick des Atlantik.

RICHTER

Ja, er hat dieses Mädchen nicht begraben.

GUTER GOTT