Penelope Fitzgerald

Ein
Hausboot
auf der
Themse

Roman

Mit einem Nachwort von Alan Hollinghurst

Aus dem Englischen von Christa Krüger

Insel Verlag

Die Originalausgabe erschien 1979 unter dem Titel Offshore

bei HarperCollins Publishers, London

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4457.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016

© Penelope Fitzgerald 1979

© Alan Hollinghurst 2013

© Hermione Lee 2013

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagfoto: Suzanne Levasseur, Outremont, Québec

eISBN 978-3-458-74443-6

www.insel-verlag.de

Für Grace

und alle, die mit ihr gesegelt sind

»che mena il vento, e che batte la pioggia,

e che s’incontran con sì aspre lingue.«

1

»Soll das heißen, Dreadnaught verlangt von uns allen, dass wir nicht die Wahrheit sagen?«, fragte Richard. Dreadnaught nickte, erleichtert, weil man ihn so mühelos verstanden hatte.

»Nur damit ich verkaufen kann. Anders ist mein Problem nicht zu umschiffen. Nur wenn alle Anwesenden sich einigen würden, dass sie nichts dagegen haben, das Hauptleck zu verschweigen oder nicht daran zu rühren, solange die Frage nicht direkt angeschnitten wird.«

»Wollen Sie also, dass wir sagen, die Dreadnaught sei nicht leck?«, fragte Richard geduldig.

»Das wäre übertrieben.«

Alle Versammlungen der Hausbootbewohner fanden auf Richards umgebautem Minensucher statt – so selbstverständlich wie Ebbe und Flut. Lord Jim, dessen makellosen, immer frischen grauen Anstrich Amateure als leisen Tadel empfanden, stellte die anderen Boote weit in den Schatten, hatte auch fast doppelt so viel Schiffsraum wie sie, und Richard in seinem korrekten blauen Blazer dominierte die Versammlung in der gleichen Weise. Dabei strebte er diese Verantwortung keineswegs an. Wer am Battersea Reach in Sichtweite einiger sehr guter Häuser und unter der Aufsicht der Port of London Authority wohnte, hatte natürlich gewisse Verhaltensregeln zu beachten. Richard wäre einer der Letzten zu Wasser oder zu Lande gewesen, der jemandem Regeln hätte aufzwingen wollen. Aber irgendjemand musste es tun. Pflicht ist das, was gerade kein anderer tun will. Definieren musste er Pflicht zum Glück nicht. Das hatten sein Kriegsdienst in der RNVR, der freiwilligen Marine-Reserve, und sein Temperament davor und seither für ihn besorgt.

Richard wollte auch diesmal nicht den Vorsitz führen. Ein Ausschuss wäre ihm lieber gewesen, aber die Bootsbesitzer, nicht alle Eigner, manche nur Mieter ihrer Boote, waren nicht von dem Stoff, aus dem Komitees gebildet werden. Ein weiter Abstand klaffte zwischen Lord Jim mit dem Liegeplatz fast im Schatten der Battersea Bridge und den alten Themsekähnen aus Holz zweihundert Meter flussaufwärts, dicht an den Müllplätzen der Werften und der Brauerei. Die Hausbootbewohner, weder auf dem festen Land noch auf dem Wasser ganz zu Hause, wären gern repektabler gewesen. Einen Platz am Chelsea-Ufer hätten sie sich gewünscht, wo Anfang der sechziger Jahre viele Tausende mit ordentlichen Berufen und ausreichend Geld wohnten. Aber weil sie es zu ihrem Kummer nicht geschafft hatten, wie andere Leute zu sein, landeten sie, wie angeschwemmtes Treibgut auch sonst oft, wieder im Schlamm des großen Themse-Priels.

Biologisch gesehen konnten sie wie die meisten an der Flutlinie lebenden Geschöpfe als »erfolgreich« gelten. Sie waren nicht leicht zu vertreiben. Aber das Boot zu verkaufen, den Reach zu verlassen, das war für sie eine Verzweiflungstat, nicht anders als der Umzug der Amphibien, als sie in einem früheren Stadium der Weltgeschichte auf festen Boden wechselten. Das bezahlte ein großer Teil der Spezies mit dem Leben.

Richard sah an seinem soliden, messingbeschlagenen Tisch in die Runde und hatte den Eindruck, dass alle, die da saßen, ihr bestes Benehmen zeigten. Also sammelte er sorgfältig Meinungen, ihm blieb gar nichts anderes übrig, da schließlich Willis selbst sozusagen um eine Diskussion seines Falles gebeten hatte.

»Rochester? Grace? Bluebird? Maurice? House of Ease? Dunkirk? Relentless

Technisch gesehen befanden sie sich im Hafen, deshalb war es korrekt, dass Richard jeden beim Namen seines Bootes nannte. Dem liebenswürdigen jungen Maurice war diese Angewohnheit gleich aufgefallen, als er zum Reach kam, und um nicht mit dem Namen Dondeschiepolschuygen IV angesprochen zu werden, der in goldenen Lettern auf dem Bug prangte, taufte er sein Boot um in Maurice.

Niemand sprach gern als Erster, und Willis, ein ungefähr fünfundsechzigjähriger Marinemaler, Eigner der Dreadnaught, saß da, die Hände vor sich auf dem Tisch, den Kopf leicht gesenkt, so dass man nur seinen borstigen schwarzen, mit grauen Strähnen durchzogenen Haarschopf sah. Das lastende Schweigen wurde von einem langen Heulton unterbrochen, dem Nebelhorn eines Schiffes stromabwärts. Es war ein auf der Themse übliches Signal: Ich mache den Anker klar. Die Flut begann, obwohl die Boote noch auf dem Schlick festlagen.

Richard hörte ein leises, aber deutliches Geräusch aus der Kombüse und entschuldigte sich höflich. Wenn er wiederkam, würden sie vielleicht etwas mehr zu diesem sehr bedenklichen Punkt zu sagen haben.

»Wie kommst du voran, Lollie?«

Laura schnitt irgendwas in kleine Stücke, vor ihr lag ein aufgeschlagenes Kochbuch. Sie streifte ihn mit einem müden großäugigen Blick, dem in die Ferne schweifenden Blick eines Gutsherrn über seine bis an den Horizont reichenden Äcker und Weiden. Richard wusste: Loyalität ihm gegenüber hieß für sie, dass sie sich bis jetzt noch bei niemandem außer ihm über dieses Leben an Bord eines Boots mitten in London statt in einem hübschen Haus beklagt hatte. Einmal pro Monat reiste sie heim aufs Land, bekämpfte jede Neigung zur Beschwerde und erzählte ihrer Familie stattdessen, auf der Themse würden sehr unterhaltsame Leute wohnen. Richard und sie machten einander nichts vor. Richard, der jeden Abschnitt seines Lebens still hinter sich ließ, sobald er damit abgeschlossen hatte, und der gern für alles eine rationale Erklärung gab, konnte sich jedoch nicht erklären, warum er so an Lord Jim hing. Er hätte sich gut ein Haus leisten können, kostspielig war auch der Umbau von Lord Jim gewesen. Und wenn der Fluss nur in Richards Träumen zu ihm sprach, nicht zu seinem wachen Ich, dann hatte er wohl kein Recht, sich darauf einzulassen.

»Wir sind fast fertig«, sagte er.

Laura schüttelte ihr halblanges, leicht feuchtes Haar zurück. Theoretisch hing ihr Aussehen von den Diensten vieler Angestellter ab, von meinem Friseur, meinem früheren Friseur, meinem Arzt, dem anderen Arzt, den ich gefunden habe, als der erste mir gar nicht guttat, aber Laura würde immer schön sein, mit oder ohne deren Bemühungen.

»Diese Kombüse ist wirklich nicht schlecht, jetzt mit dem neuen Dunstabzug, oder?«, fuhr Richard fort. »Ein Rest Schwaden bleibt natürlich …«

»Ich hasse dich. Kannst du diese Leute nicht loswerden?«

Im Salon redete gerade Maurice, der ziemlich spät gekommen war, er wollte Willis unterstützen. Er war heillos mitfühlend. Sein Geld verdiente er damit, dass er aus einer Kneipe in der Nähe, mit der er eine Vereinbarung hatte, am Abend Männer abschleppte und mit auf sein Boot nahm; kein besonders profitabler Job. Profitmachen lag Maurice nicht, aber sich darüber oder über irgendwas zu ärgern lag ihm auch nicht. Es war nicht leicht, Maurice zu zeigen, dass man ihn gernhatte, denn ihm schienen Freunde und Feinde gleich viel zu gelten. Zum Beispiel benutzte ein unangenehmer Bekannter von Maurice dessen Boot als Lagerplatz für gestohlene Waren. Nur wenige der anderen Eigner wussten das nicht, unter ihnen Laura und Richard. Und doch war Maurice offenbar sogar stolz darauf, weil Harry nicht zu seinen Kunden gehörte, sondern jemand war, der einen Gefallen verlangt und keine Gegenleistung geboten hatte.

»Ich muss auch Harry einschärfen, dass er nicht über das Leck redet«, sagte er.

»Was weiß denn der davon?«, fragte Willis.

»Er war bei der Handelsmarine. Wenn Leute sich die Dreadnaught ansehen, könnten sie ihn nach seiner Meinung fragen.«

»Ich hab ihn nie mit jemandem sprechen sehen. Er kommt doch nicht oft, oder?«

In diesem Moment ging ein unmissverständliches Beben durch Lord Jim, vom Bug bis zum Heck. Nichts fiel um, denn alles auf dem Schiff war ordentlich gesichert, aber es schwankte, schien sich sanft zu schütteln und löste sich vom Untergrund. Die Flut hatte es angehoben.

Gleichzeitig fühlten sich alle rund um den Tisch aufgestört. In den nächsten sechs Stunden – oder etwas weniger, denn am Battersea Reach dauert die Flut fünfeinhalb und die Ebbe sechseinhalb Stunden – würden sie nicht an Land, sondern auf dem Wasser wohnen. Und alle spürten sie die Flicken, die Schwachstellen und die Risse in ihren Booten wie Schäden am eigenen Leib. Vor der Rückkehr graute ihnen, und doch drängte es sie, nachzusehen, ob die letzte Kalfaterung gehalten hatte. Ein Themsekahn hat keinen Kiel und schwimmt, sobald das Flachwasser nur ein paar Zentimeter hoch ist. Die einzige Ausnahme am Tisch war Woodrow von der Rochester, der pensionierte Direktor einer kleinen Firma, der sein Boot geradezu fanatisch pflegte. Die Flut hatte keine Schrecken für Woodie, machte ihn aber ärgerlich und ungeduldig, weil die Rochester in seinen Augen wunderschöne Linien unter Wasser hatte, die nun wieder zwölf Stunden lang unsichtbar bleiben mussten.

Auf jedem Kahn am Reach würde nun ein zunächst nur ganz leises verdächtiges Klicken, nicht mehr als eine ins Schloss fallende Schranktür, immer lauter werden, bis alle Stringer, Planken und Waschborde eine Salve knarrender, ächzender, geradezu menschlich klingender Töne ausstießen. Die verrückten alten Boote, ohne Ladung hoch im Wasser liegend, erwarteten ihre Eigner.

Richard spürte wie ein guter Kapitän sogar durch die solide Teakwand hindurch die Unruhe der Versammlung. Ihn hätte keine Meuterei kalt erwischt, wäre er in verflossenen Jahrhunderten zur See gefahren.

»Ich lasse sie jetzt besser gehen.«

»Du kannst einen oder zwei einladen, noch auf einen Drink zu bleiben, wenn du möchtest«, sagte Laura, »falls irgendjemand in Frage kommt.«

Sie ahmte oft unbewusst die Stimme ihres Vaters nach und hatte wie dieser angefangen, gelegentlich aus Langeweile etwas zu viel zu trinken. Richard war überwältigt von seiner Zuneigung. »Ich habe mir heute Country Life geholt«, sagte sie.

Das hatte er schon bemerkt. Lord Jim war so tadellos aufgeräumt, dass alles Neue sofort ins Auge fiel. Die Seite der Illustrierten mit den Anzeigen für Immobilien war aufgeschlagen, zu sehen war unter anderen das Foto eines Rasens mit einer Zeder samt Schatten und einem quadratischen Haus im Hintergrund, das den Zweck des Rasens markierte. Monat für Monat erschien ein gleichartiges Foto, nur Größe und Standort variierten etwas, so dass man den Eindruck hatte, die Leser von Country Life fänden Veränderungen unter ihrer Würde oder nähmen sie nicht wahr.

»Das da habe ich nicht gemeint, Richard, ich dachte an ein anderes, ein paar Seiten weiter. Da sind kleinere Häuser.«

»Ich könnte Nenna James einladen, noch zu bleiben«, sagte Richard. »Von der Grace

»Warum, findest du sie hübsch?«

»Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«

»Hat ihr Mann sie nicht verlassen?«

»Ich weiß nicht genau, wie der Stand der Dinge ist.«

»Der Postbote hat immer erzählt, für die Grace kämen nicht viele Briefe.«

»Hat immer erzählt«, sagte Laura, weil der Postbote inzwischen keine Briefe mehr brachte. Seit er zweimal auf dem Weg zur Maurice von der schlecht gesicherten Laufplanke gefallen und sämtliche Post vom Morgen mit dem Müll des großen Flusses weggeschwemmt worden war, hatte die GPO mit vollem Recht erklärt, am Reach könne die Post nicht mehr zugestellt werden. Die Postverwalter räumten ein, dass Mr Blake von Lord Jim ihren Angestellten beide Male gerettet habe, und sie wünschten, ihren Dank dafür zum Ausdruck zu bringen. Seitdem mussten die Briefe im Büro der Werft abgeholt werden, und Laura fand, damit lebe man auf dem Boot nicht viel besser als im Ausland.

»Nenna ist in Ordnung, meine ich«, fuhr Richard fort. »Ganz in Ordnung, eigentlich. Aber länger mit ihr allein bleiben würde ich vielleicht lieber nicht.«

»Warum nicht?«

»Na ja, wer weiß, ob sie dann womöglich in Tränen ausbricht oder sich plötzlich die Kleider vom Leib zerrt.« Das war Richard tatsächlich einmal an seinem Arbeitsplatz bei den Anlageberatern Nestor und Sage passiert. Die Firma dachte jetzt daran, die Arbeitsplätze zu modernisieren und zu einem offenen Großraumbüro umzubauen.

Alle Versammelten blickten erleichtert auf, als er wieder in die Kajüte zurückkam. Fest und unerschütterlich auf dem schwankenden Bootsboden stehend, weckte er schon an der Tür durch seine gelassene Haltung die Zuversicht, dass alles, auch wenn es schwierig war, einigermaßen gut ausgehen würde. Nicht, weil er allzu selbstgewiss gewesen wäre, sondern einfach, weil er einen sicheren Blick für das hatte, was möglich war.

Willis dankte dem jungen Maurice für seine Unterstützung.

»Du hast mir beigestanden … ein Freund in der Not …«

»Gern geschehen.«

Willis erhob sich halb: »Trotzdem, dass dieser Kerl jemals bei der Handelsmarine war, glaube ich nicht.«

Arbeit vertagt, dachte Richard. Energisch, aber höflich geleitete er die wenig trittsichere Versammlung die Kajütstreppe hinauf. An Deck zu sein, war wie immer eine Erleichterung. Die ersten Herbstnebel machten es schwierig, den gesamten Reach zu überblicken. Seemöwen, wie die Boote auf dem Wasser treibend, umkreisten Lord Jim, die weißen Federn am Wassersaum schmutzig.

»Wahrscheinlich bleibt Ihnen ohnehin noch reichlich Zeit, um Ihre Probleme in den Griff zu bekommen«, sagte er zu Willis, »den Verkauf dieser Boote zu organisieren ist eine ziemlich langwierige Angelegenheit. Das Leck ist irgendwo achtern, oder? ... Die vier Pumpen funktionieren noch alle, nehme ich an, … in jedem Schacht eine?«

Dieses Bild von der Dreadnaught war so abwegig, dass Willis es vorzog, gar nichts zu sagen, und sich auf eine Geste beschränkte, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Salutieren eines Bootsmanns hatte. Dann folgte er den anderen, die zum Kai und am Ufer entlanglaufen mussten. Der mittlere Teil des Reach war von kleineren Booten belegt, die meisten für den Winter aufgebockt, einige sogar schon mit wetterfesten Planen zugedeckt. Diese Fahrzeuge waren nur für Schönwettersegler. Die Hausbootleute mussten bis zur Brauereiwerft laufen, dann über Maurices Vordeck und eine ganze Reihe Laufplanken, die sie mit ihren eigenen Kähnen verbanden. Woody musste Maurice, Grace und Dreadnaught überqueren, um wieder zur Rochester zu kommen. Am Kai festgemacht war nur Maurice.

Einer der letzten Vergnügungsdampfer der Saison auf dem Weg nach Kew kam mit hell erleuchteten Kabinenfenstern vorbei. »Battersea Reach, meine Damen und Herren, zur Rechten sehen Sie die Künstlerkolonie. Auf den Booten wohnen Leute, ganz wie auf der Seine, ein Künstlerleben. Ja, auf diesen Booten wohnen sie.«

Richard hatte Nenna James gebeten, zu bleiben. »Trinken Sie doch noch ein Glas mit uns, Laura würde sich freuen.«

Nennas Charakter war nicht ohne Fehler, aber sie merkte instinktiv, was andere Leute unglücklich machte, und dieser Instinkt hatte sie nur einmal im Stich gelassen, im Fall ihres Ehemanns. Sie wusste jetzt, in diesem Moment, dass Richard über den unbefriedigenden Ausgang der Versammlung verstört war. Man hatte nichts ausgewertet oder auch nur ausreichend besprochen.

»Wenn ich nur die genaue Uhrzeit wüsste«, sagte sie.

Prompt war Richard zufrieden, so zufrieden wie nur dann, wenn sich etwas mit größtmöglicher Annäherung an Genauigkeit feststellen ließ. Die genaue Uhrzeit! Ob Nenna vielleicht einen Blick auf sein Chronometer werfen wolle? Auf kleinen Booten arbeiteten sie oft nicht präzise – sie seien anfällig für Temperaturschwankungen – ob Nenna das bemerkt habe, wisse er nicht – und natürlich für Vibrationen. Er konnte ihr nicht nur die genaue Zeit angeben, sondern auch den Stand der Gezeiten an jeder Brücke über den Fluss. Dass jemand dies wissen wollte, kam nicht oft vor.

Laura stellte Flaschen und Gläser und einen großen Teller mit Knabberzeug in die Durchreiche.

»Hier riecht es merkwürdig.«

Die Hausbooteigner ließen, wo sie gingen und standen, einen ausgeprägten Teergeruch zurück, da sie jeden Tag viel Zeit mit laufenden Reparaturen verbrachten.

»Also wenn dich der Geruch stört, mein Schatz, dann gehen wir nach hinten«, sagte Richard und nahm ihr das Tablett ab. Er ließ nie eine Frau irgendetwas tragen. Die drei gingen in eine Art Nebenraum mit Backskisten und roten Kissen. Ein kleiner Yachtofen strahlte milde Wärme aus, die Brennstoffzufuhr war so geregelt, dass die Glut genau die richtige Temperatur erzeugte.

Laura ließ sich schwer auf einen Sitz fallen.

»Wie fühlt sich das Leben ohne Ehemann für Sie an?«, fragte sie und drückte Nenna ein großes Glas Gin in die Hand. »Das frage ich mich oft.«

»Vielleicht möchtest du noch etwas Eis holen«, sagte Richard. Es war mehr als genug da.

»Ach, verlassen hat er mich nicht. Wir sind nur jetzt gerade nicht zusammen.«

»Sie müssen’s ja wissen, aber was mich interessiert, ist: Wie kommen Sie ohne ihn aus? Kalte Nächte natürlich, keine Sorge, Richard ist das nicht peinlich, ist ja auch ein Kompliment für ihn, wenn man es recht bedenkt.«

Nenna sah vom einen zum anderen. Darüber zu reden war wirklich eine Erleichterung.

»Die Sachen, die Frauen nicht schaffen, schaffe ich nicht«, sagte sie. »Ich kann die Times nicht so umblättern, dass die Seiten flach liegen; wenn ich eine Landkarte zusammenfalte, kann ich nicht die richtigen Knicke treffen. Ich kann keine Korken ziehen, keine Nägel gerade einschlagen, ich kann nicht in eine Bar gehen und mir einen Drink bestellen, ohne mich zu fragen, was die Leute von mir denken, und ich kann ein Streichholz beim Anzünden nicht über die Reibfläche zu mir hinziehen. Ich bin nicht ungebildet, und ich habe zwei Kinder, und ich komme ganz gut zurecht, es gibt eine Menge viel wichtigerer Dinge, mit denen ich gut umgehen kann, aber diese Sachen schaffe ich nicht, und wenn ich es trotzdem versuchen muss, könnte ich mich totweinen.«

»Wie man eine Landkarte faltet, könnte ich Ihnen bestimmt zeigen«, sagte Richard. »Das ist gar nicht schwer, wenn man den Dreh einmal raus hat.«

Lauras Augen sahen aus, als wären sie enger zusammengerückt, so intensiv konzentrierte sie sich.

»Hat er Sie auf dem Boot sitzenlassen?«

»Die Grace habe ich, während er weg war, gekauft, mit ungefähr allem Geld, das wir noch hatten, ich musste ja irgendwo mit den Kindern unterkommen.«

»Mögen Sie Boote?«

»Ich kenne mich aus damit. Ich bin in Halifax aufgewachsen. Mein Vater hatte ein Sommerhaus am Bras d’Or Lake. Da hatten wir Boote.«

»Ich hoffe, Sie haben keine Probleme mit Reparaturen«, sagte Richard.

»Manchmal kommt Regen rein.«

»Ah, die Durchlässe in der Verschalung. Sie können versuchen, eine Persenning über das Deck zu spannen.«

Richard gab sich zwar Mühe, aber es gelang ihm trotzdem nicht, zu verstehen, wie jemand mit Dingen leben konnte, die nicht funktionsfähig waren.

»Ich persönlich habe so meine Zweifel, ob es klug ist, diese sehr alten Kähne endlos zu flicken. Ich würde sagen, man sollte sie als verfallenden Vermögenswert betrachten. Sie jedes Jahr weiter abnutzen, daran denken, wie wenig Kosten man hatte, und sie nach ein paar Jahren abschleppen und verschrotten lassen.«

»Ich weiß nicht, wo wir dann wohnen sollen«, sagte Nenna.

»Oh, haben Sie nicht gesagt, Sie wollten eine Wohnung am Ufer suchen? So habe ich Sie verstanden.«

»Ach so, ja, ja, das haben wir vor.«

»Ich wollte Ihnen keine Angst machen.«

Laura, die diesen Bemerkungen ohne viel Aufmerksamkeit lauschte, hatte unterdessen Zeit gehabt, mehr Alkohol zu schlucken. In diesem Zustand war sie eher neugierig als feindselig.

»Wo hast du deinen Guernsey-Pullover her?«

Beide Frauen trugen die dicken blauen Segelpullover der Marine, die an den Seiten unten etwa einen Zentimeter lange Schlitze haben. Nenna hatte sich wegen der Wärme im Raum die Ärmel hochgekrempelt, so dass man ihre runden, mit feinen goldenen Härchen bedeckten Unterarme sah.

»Ich hab meinen in dem Schnäppchenladen am Ende der Queenstown Road gekauft.«

»Der ist nicht so dick wie meiner.«

Laura beugte sich vor, griff nach dem Pullover und rieb das dicht gestrickte Material zwischen Zeigefinger und Daumen.

»Ich hab Sinn für Qualität, ich merke, dass er nicht so dick ist wie meiner. Richard, möchtest du mal fühlen?«

»Ich kann leider nicht behaupten, dass ich viel von Strickwaren verstehe.«

»Na gut, dann heiz’ ein. Heiz’ ein, du Idiot! Nenna friert!«

»Mir ist warm, danke, es ist genau richtig so.«

»Du musst es wärmer haben! Richard, sie ist dein Gast!«

»Ich kann den Ofen anders einstellen, wenn du willst«, sagte Richard erleichtert, »ich kann was mit dem Regler machen.«

»Ich will nicht, dass irgendwas geregelt wird!«

Nenna wusste, dass Richard sie gern gebeten hätte, etwas zu sagen oder zu tun – aber das verbot ihm seine Loyalität.

»Bei uns drüben benutzen wir ungefähr alles zum Feuern«, begann sie, »Treibholz und angeschwemmte Kohle, alles, was brennt. Maurice hat mir erzählt, dass er sich letzten Winter eine Kerze von Dreadnaught leihen musste, um das Schloss an seinem Holzlager aufzutauen. Und einmal, als er einen seiner Freunde bei sich hatte, konnte er seinen Ofen nicht richtig zum Brennen bringen und musste das Feuer mit Streichhölzern und Käsestangen in Gang halten.«

»Es ist nicht gut, den Holzvorrat an Deck aufzubewahren«, sagte Richard.

Laura hatte aus irgendeinem Grund mit brennendem Interesse zugehört. »Kann man Käsestangen verfeuern?«

»Maurice meint ja.«

Laura verschwand. Nenna konnte gerade noch sagen: Ich muss gehen –, da kam sie schon wieder, auf unsicheren Beinen in einer Würde wahrenden Schräglage, mit einer großen Dose Käsestangen.

»Fortnums.« Sie machte einen Bogen um Richard, der sofort aufsprang, als er sah, dass es etwas zum Tragen gab, steuerte den Arctic-Ofen an, stieß den Deckel weg und warf Händevoll goldene Käsestangen in die Glut.

»Heiß!«

Die Flammen sprangen hoch, und ein überwältigender Gestank nach brennendem Käse breitete sich aus.

»Schön! Heiß! Ich hab noch viel mehr. Die Küche ist voll davon! Richard soll sie ins Feuer werfen. Wir alle!«

»Da kommt jemand«, sagte Nenna.

Schritte über ihnen auf dem Deck, wie eine Rettung für Belagerte. Nenna erkannte das entschlossene Stapfen ihrer jüngeren Tochter, aber auch ein anderer, gewichtigerer Schritt war zu hören. Ihr stockte der Atem.

»Ma, hier riecht es verbrannt.«

Nach einem kurzen heftigen Kampf hatte Richard den Messingdeckel auf den Arctic-Ofen zurückgeschoben. Nenna ging zur Kajütsleiter.

»Wer ist da oben bei dir, Tilda?«

In der offenen Luke tauchten Tildas sechsjährige Beine in dreckverschmierten Gummistiefeln auf.

»Pater Watson ist es.«

Eine Sekunde lang blieb Nenna stumm, und Tilda rief schrill:

»Ma, das ist der freundliche alte Priester. Er ist zur Grace gekommen, da hab ich ihn mit hierher gebracht.«

»Pater Watson ist überhaupt nicht alt, Tilda. Bring ihn bitte hier herunter. Das heißt, …«

»Selbstverständlich«, sagte Richard. »Trinken Sie doch einen Whisky mit uns, Pater.« Er wusste nicht, mit wem er sprach, glaubte aber, dass römisch-katholische Priester, wie in den Filmen, die er gesehen hatte, Whisky tranken und lange Geschichten erzählten; das konnte in diesem Augenblick nützlich sein. Richard sprach mit ruhiger Autorität. Nenna bewunderte ihn dafür und hätte ihn am liebsten umarmt.

»Nein, herunterkommen möchte ich nicht, aber trotzdem vielen Dank«, rief Pater Watson, dessen flatternde Hosenbeine jetzt vor einem quadratischen Stück Himmel neben Tildas Gummistiefeln in der Luke zu sehen waren. »Nur ein kurzes Wort mit Ihnen, Mrs James, ich kann gut warten, wenn Sie mit Ihren Freunden beschäftigt sind oder wenn es sonst gerade nicht passt.«

Aber Nenna war schon die halbe Treppe hochgestiegen, einigermaßen zur Überraschung des Kaplans, der nur selten den Eindruck hatte, ein tatsächlich willkommener Gast zu sein. Es hatte angefangen zu nieseln, und sein langer Regenmantel war übersät mit Regentropfen, in denen sich das Licht der Lampen am Ufer und der Ankerlaternen spiegelte.

»Ich fürchte, die Kleine wird nass.«

»Die ist wasserdicht«, sagte Nenna.

Kaum standen sie am Kai, da begann Pater Watson in gemessenem Ton zu sprechen. »Es geht um die Kinder, das wissen Sie sicherlich. Ich habe eine Botschaft von den Nonnen zu übermitteln, von den Sisters of Misericord.« Manchmal fragte er sich, ob er die unangenehmen Botengänge, die man ihm auftrug, vielleicht besser erledigen könnte, wenn er einen irischen Akzent hätte oder irgendwas liebenswürdig Verschrobenes in seiner Sprechweise.

»Die Mädchen, Mrs James, Ihre Tilda hier und die Zwölfjährige.«

»Martha.«

»Ein sehr schöner Name. Martha kümmerte sich um den Haushalt, wenn Gott der Herr zu Besuch kam. Aber der Name einer Heiligen ist es nicht, glaube ich.«

Vermutlich führte Pater Watson solche Reden ganz automatisch. Dass er den langen Weg von seinem unwohnlichen Presbyterium bis zum Reach gegangen war, nur um über Marthas Namen zu sprechen, konnte nicht sein.

»Bei der Firmung wird sie einen anderen Namen erhalten, nehme ich an. Damit sollte man nicht länger warten. Ich schlage Stella Maris vor, Meerstern, da Sie sich für eine Wohnung auf den Wassern entschieden haben.«

»Pater, kommen Sie, um mich zu mahnen, weil die Kinder nicht in der Schule waren?«

Sie waren an dem äußerst schlecht beleuchteten Teil des Kais angekommen. Die Brauer, denen er gehörte, hatten sich eingebildet, wie alle Bierbrauer in den sechziger Jahren, sie könnten die angebliche Fröhlichkeit des achtzehnten Jahrhunderts wieder aufleben lassen, und die Genehmigung beantragt, ihn in einen schicken Biergarten umzuwandeln. Aber allein die Vorstellung davon widersprach dem durchweichten, melancholischen und trotzdem beharrlichen Charakter des Reach. Nachdem die Pläne zu den Akten gelegt worden waren, hatte man das Gelände an verschiedene Kleinunternehmer verpachtet; die verfallenen Schuppen und Lagerhäuser mussten immer noch jemandem gehören, genauso wie die Kistenstapel, deren Beschriftung längst verblichen war.