2Das Interesse an Begriffsgeschichte und historischer Semantik ist ungebrochen. Dieses Kompendium unternimmt eine umfassende Rekonstruktion der bislang oft isoliert behandelten Beiträge und Debatten in Philosophie, Geschichtswissenschaft, Sozialwissenschaft, Sprachwissenschaft, Wissenschaftsgeschichte und Kulturwissenschaft. Es bietet theoretische und historische Orientierungen und erschließt der Forschungspraxis neue interdisziplinäre Dimensionen und Fragestellungen. Begriffsgeschichte und historische Semantik sind keineswegs, wie es zunächst scheint, neutrale, rein technische Methoden. Sie wurden im Laufe ihrer Geschichte verschiedensten und zum Teil gegensätzlichen Funktionen dienstbar gemacht. Zu den überraschenden Befunden gehört, dass zwar viele ihrer Ansätze das historische Denken befördert haben, sie aber dennoch oft vor den Konsequenzen der eigenen Methode zurückgeschreckt sind. Das Paradigma der Begriffsgeschichte ist bis heute selten ausgereizt worden.

Ernst Müller und Falko Schmieder forschen am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin zur Theorie und Praxis der Interdisziplinären Begriffsgeschichte. Ernst Müller ist Privatdozent am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Falko Schmieder ist Lehrbeauftragter am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität.

3Ernst Müller
Falko Schmieder

Begriffsgeschichte und
historische Semantik

Ein kritisches Kompendium

Suhrkamp

4Das dieser Publikation zugrundeliegende Projekt und die Drucklegung des Bandes wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unter den Förderkennzeichen 01UG0712 und 01UG1412 gefördert.

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2117

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eISBN 978-3-518-73850-4

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5Inhalt

Vorwort

Einleitung

I. Philosophie

1. Begriffskritik und Begriffspolitik der Aufklärung 2. Begriff und Geschichte – Hegel und die Folgen 3. Sprachreinigung in den empirischen Naturwissenschaften 4. Gesellschaftliche Begriffe und ihre Verdinglichung (Ludwig Feuerbach, Karl Marx) 5. Die Entstehung der Begriffsgeschichte aus dem Geist des Antihegelianismus (Friedrich Adolf Trendelenburg, Gustav Teichmüller) 6. Konstellation Rudolf Eucken – Gottlob Frege. Euckens Terminologiegeschichte 7. ›Ein Heer von Metaphern‹ – Sprachkritik um 1900 (Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner) 8. Philosophische Wörterbücher um 1900 (André Lalande, James Mark Baldwin, Rudolf Eisler) 9. Begriffsgeschichte und Problemgeschichte (Wilhelm Windelband, Nicolai Hartmann, Ernst Cassirer) 10. Arthur Oncken Lovejoys Ideengeschichte 11. Erich Rothackers Projekt eines kulturphilosophischen Wörterbuchs 12. Begriffsgeschichte und Kompensation (Joachim Ritter) 13. ›Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangene deuten‹ (Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger) 14. Politische und unpolitische Kontexte der philosophischen Begriffsgeschichte 15. Philosophie als Begriffsgeschichte (Hans-Georg Gadamer) 16. Metaphorologie, Säkularisierungsdebatte (Hans Blumenberg) 17. Sprechakttheorie. Sprachpragmatik – Ludwig Wittgenstein und die Folgen 18. Wessen Geschichte erzählt die philosophische Begriffsgeschichte?

II. Geschichtswissenschaft, Politische Ideengeschichte, Sozialwissenschaft

1. Politische Ideengeschichte in Deutschland 2. Genetische Definition sozialer Begriffe (Max Weber) 3. Historische Bedeutungsanalyse der Wissenssoziologie (Karl Mannheim) 4. ›Wir denken die Rechtsbegriffe um‹ (Carl Schmitt) 5. Begriffsgeschichte und öffentliche Meinung (Wilhelm Bauer) 6. Begriffsaufhebende Bildprägungen (Siegfried Kracauer) 7. Politische Praxis der Begriffsgeschichte (Antonio Gramsci) 8. Mentalitätsgeschichte (Annales-Schule) 9. Historische Semantik in der Zeitenwende (Richard Koebner) 10. Situationsbedingte Begriffe (Otto Brunner, Werner Conze) 11. Reinhart Kosellecks Denkfiguren und Begriffe: Sattelzeit. Verzeitlichung. Kollektivsingulare. Wort – Begriff – Grundbegriff. Erfahrungsraum – Erwartungshorizont. Begriffsgeschichte – Sozialgeschichte. Sprachwandel – sozialer Wandel. Indikator – Faktor. Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Asymmetrische Gegenbegriffe. Pragmatik. Anthropologie und Historik. Politische Ikonologie – Erinnerungskulturen 12. Gesellschaftsstruktur und Semantik (Niklas Luhmann)

13. Archäologische Diskursanalyse als Kritik der Ideengeschichte (Michel Foucault) 14. Cambridge School (Quentin Skinner, John Pocock) 15. Transformationen der sozialhistorischen Begriffsgeschichte: Argumentationsgeschichte, Textpragmatik, Tiefensemantik, Diskurssemantik (Heiner Schultz, Hans Ulrich Gumbrecht, Rolf Reichardt u. a.) 16. Perspektiven der Historischen Semantik in der Zeitgeschichtsforschung 17. Internationalisierung der Begriffsgeschichtsforschung

III. Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Philologien

1. Sprachwissenschaft und Begriffsgeschichte 2. Die traditionelle historische Semantik 3. Onomasiologie. ›Wörter und Sachen‹ (Rudolf Meringer, Hugo Schuchardt, Franz Dornseiff) 4. Romanistische Sprach- und Literaturwissenschaft (Erich Auerbach, Leo Spitzer, Werner Krauss) 5. Synchronistischer Strukturalismus (Ferdinand de Saussure) 6. Krise der Bedeutung. Begriff und Sprachinhaltsforschung (Leo Weisgerber) 7. Wortfeldtheorie (Jost Trier) 8. Diachronischer Strukturalismus (Eugenio Coseriu) 9. Prototypensemantik und Kognitive Linguistik (Eleanor Rosch, George Lakoff) 10. Historische Semantik und linguistische Diskurstheorie (Dietrich Busse) 11. Historische Lexikologie, Korpuslinguistik, Fachsprachenforschung 12. Kommunikationstheoretische Rekonstruktion der Begriffsgeschichte (Clemens Knobloch)

IV. Wissenschafts- und Wissensgeschichte

1. Grundlagenkrise der Physik 2. Historische Epistemologie (Gaston Bachelard) 3. Kategoriengeschichte des neuzeitlichen Weltbildes (Max Horkheimer, Franz Borkenau, Edgar Zilsel) 4. Begriffsentwicklung, Urideen, Denkstil (Ludwik Fleck) 5. Kontinuität, Bruch, Paradigmenwechsel – Thomas Kuhn und die Folgen 6. Epistemologische Historie, Begriffsgenealogie (Georges Canguilhem) 7. Genealogie, Wissensbegriff (Michel Foucault) 8. Praktiken, Materialitäten 9. Zwei-Kulturen-Gegensatz; Hybride 10. Begriffsgeschichte epistemischer Objekte (Hans-Jörg Rheinberger) 11. Zur Bedeutung Reinhart Kosellecks für die Wissenschaftsgeschichte 12. ›Unreine‹ und vage Begriffe, Metaphern in der Wissenschaftsgeschichte

V. Kulturwissenschaft, Cultural History, Cultural Studies

1. Krisenbewusstsein und Kritik traditioneller Historiographien – Motive und Einsätze der Ersten Kulturwissenschaft 2. Psychoanalytische Bedeutungsforschung (Sigmund Freud, Hans Sperber, Adolf Josef Storfer) 3. ›Laboratorium kulturwissenschaftlicher Bildgeschichte‹ (Aby Warburg) 4. Symbolforschung und Verkörperungstheorie (Edgar Wind) 5. Dialektische Bilder (Walter Benjamin) 6. Mentalitätsgeschichte der visuellen Kultur (Siegfried Kracauer) 7. Cultural turn – Motive und Einsätze der Zweiten Kulturwissenschaft, Neuen Kulturgeschichte, (New) Cultural History 8. Begriffsgeschichte als Gesellschaftstheorie (Raymond Williams) 9. Diskursanalyse, kulturelles Unbewusstes (Michel Foucault) 10. Kollektivsymbole, Interdiskurs (Jürgen Link) 11. Historische Semantik als kulturphilosophische Bedeutungsgeschichte (Ralf Konersmann) 12. Semantiken der Unverfügbarkeit (Heinz Dieter Kittsteiner) 13. Von der ›Visualisierung politischer Schlüsselbegriffe‹ zur ikonischen Semantik (Rolf Reichardt, Hans-Jürgen Lüsebrink) 14. Semantik der Gefühlsworte 15. Metaphorologie, Unbegrifflichkeit – Aneignungen, Kontexte, Perspektiven Hans Blumenbergs 16. Die Medien der Begriffsgeschichte – Begriffsgeschichte im digitalen Zeitalter 17. Sprachtransfer und Übersetzung. Begriffsgeschichte im globalen Zeitalter 18. Probleme einer interdisziplinären Begriffsgeschichte

VI. Institutionen, Zeitschriften, große Lexika

1. Journal of the History of Ideas 2. Die Mainzer Akademie und das Archiv für Begriffsgeschichte 3. Die ›Senatskommission für Begriffsgeschichte‹. ›Poetik und Hermeneutik‹ 4. Historisches Wörterbuch der Philosophie 5. Geschichtliche Grundbegriffe 6. Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820 7. Handwörterbuch der musikalischen Terminologie 8. Historisches Wörterbuch der Rhetorik 9. Ästhetische Grundbegriffe 10. Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus 11. Historisches Wörterbuch der Biologie 12. History of Political and Social Concepts Group

Verzeichnis der Abkürzungen

Sachregister

Personenregister

9Vorwort

Als wir vor Jahren diese Monographie in Angriff nahmen, ahnten wir nicht, dass der alte, schon von Hans-Georg Gadamer für die Produktionszeit von Wahrheit und Methode zitierte horazische Grundsatz Nonum prematur in annum, dass nämlich alles Gute neun Jahre zur Reifung brauche, ziemlich genau auch auf dieses Buch zutreffen würde.[1] Das zu bewältigende Maß an Themen und Materialien, vor allem aber auch den Aufschwung, den die Begriffsgeschichtsforschung in und außerhalb Deutschlands in diesem Zeitraum nehmen würde, haben wir nicht vorausgesehen. Wiederholt sahen wir uns in der Gefahr, die Niklas Luhmann für die Ideenhistoriker dargestellt hat: »Forscher, die man mit dem Auftrag, festzustellen, wie es wirklich war, ins Feld jagt, kommen nicht zurück; sie apportieren nicht, sie rapportieren nicht, sie bleiben stehen und schnuppern entzückt an den Details.«[2]

Umso dankbarer sind wir dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), insbesondere seiner langjährigen Direktorin Sigrid Weigel, für die großzügige Förderung des Projektes. Das Buch wäre aber vor allem ohne die Atmosphäre am ZfL, an dem die Begriffsgeschichte seit den Ästhetischen Grundbegriffen einen festen Ort hat, nicht denkbar. Unser Dank geht an Karlheinz (›Carlo‹) Barck, dem 2012 verstorbenen Freund und Kollegen, der das Projekt jahrelang begleitet hat. Danken möchten wir weiter allen Kolleginnen und Kollegen des ZfL, die Teile des Buches mit uns diskutiert und die uns durch ihre Fragen und Anregungen immer wieder neu inspiriert und herausgefordert haben. Darüber hinaus hatten wir das Glück, Themen des Buches mit Gastwissenschaftlern intensiv diskutieren zu können: wir danken Faustino Oncina Coves, Petra Gehring, Clemens Knobloch, Guillaume Plas, Sinai Rusinek und Christian Strub. Anregungen kamen zudem in Ge10sprächen mit Reinhard Blänkner, Petra Boden, Cornelius Borck, Alexander Friedrich, Lucian Hölscher, Gennaro Imbriano, Helge Jordheim, Margarita Kranz, Christian Möckel, Hans-Jörg Rheinberger, Matthias Rothe, Peter Tietze und Rüdiger Zill; ihnen allen gilt unser Dank, natürlich ohne sie für das Ergebnis verantwortlich zu machen.

Wichtig für die Entstehung der Monographie waren für uns auch eine Reihe lehrreicher Workshops und Veranstaltungen zur Begriffsgeschichte. Den Kollegen, die daran teilgenommen haben, danken wir herzlich, ebenso den italienischen und spanischen Kollegen, mit denen wir in dem vom spanischen Wissenschaftsministerium geförderten und von Faustino Oncina Coves geleiteten Forschungsprojekt (FFI 2011-24 473) kooperiert haben. Die aktuelle politische Brisanz von Begriffen ist uns noch einmal bei Workshops mit Adi Ophir und den Mitarbeitern der Gruppe zum Lexikon politischer Begriffe (Zeitschrift Mafte’akh) bewusst geworden. Matthias Bormuth hat das Projekt durch eine Einladung von Falko Schmieder an das Karl-Jaspers-Haus in Oldenburg unterstützt.

Den Mitarbeitern des Universitätsarchivs der Freien Universität Berlin haben wir zu danken. Ermöglicht wurde das vorliegende Buch nicht zuletzt durch die freundlichen und kundigen Kolleginnen der ZfL-Bibliothek Halina Hackert, Ruth Hübner und Jana Lubasch. Wir danken den studentischen Hilfskräften Steffen Bodenmiller, Dominik Erdmann, Moritz Mutter, Moritz Plewa, Carsten Olsen und Rafael Schmauch. Christine Kutschbach hat das ganze Manuskript gelesen, wofür wir ihr sehr danken. Ein besonderer Dank geht an Silvia Pohl, die, früher als ZfL-Mitarbeiterin, seither aber nicht weniger engagiert und selbstlos, diejenige war und ist, die in bewundernswerter Kontinuität das anwachsende Buch mit ihrem Lektorat begleitet hat. Dem Suhrkamp Verlag und seinen Lektoren aus dem Wissenschaftsressort danken wir für die Geduld und für die professionelle und produktive Zusammenarbeit.

Die Autoren der vorliegenden Kollektivmonographie haben die Kapitel einzeln verfasst, dann wechselseitig überarbeitet und schließlich gemeinsam autorisiert. Nicht weiter nachgewiesene fremdsprachige Zitate wurden von den Autoren übersetzt.

Ernst Müller, Falko Schmieder, Berlin, im Herbst 2015

11Einleitung

Ernst: Wovon ich einen Begriff habe, das kann ich auch mit Worten ausdrücken.

Falk: Nicht immer; und oft wenigstens nicht so, daß andre durch die Worte vollkommen eben denselben Begriff bekommen, den ich dabei habe.

Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk, zitiert nach Reinhart Koselleck, Motto zur »Einleitung« der Geschichtlichen Grundbegriffe

Über mangelnde Aufmerksamkeit brauchen sich Begriffsgeschichte und historische Semantik nicht zu beklagen. In den letzten fünfzehn Jahren, also gerade in der Zeit des Abschlusses der großen begriffsgeschichtlichen Lexika der Philosophie, Geschichtswissenschaft, Ästhetik oder Rhetorik, dürfte sowohl im deutschen wie internationalen Sprachraum mehr Literatur und Sekundärliteratur zur Methodik und Geschichte dieser Forschungsrichtungen erschienen sein als in der gesamten Zeit zuvor. Die vor allem in Aufsätzen und Sammelbänden vorgestellten Untersuchungen umfassen Arbeiten zur Geschichte der Begriffsgeschichte und historischen Semantik sowie zur Methodik in verschiedenen Geistes- und Sozialwissenschaften,[1] sie erschließen der Begriffsgeschichte neue Gegenstandsgebiete[2] und weiten sie auf andere Philologien aus. Um Christian Geulens »Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts« hat sich unter Zeithistorikern eine rege Debatte entfaltet.[3] In der gleichen Zeit hat die Begriffsgeschichte, die lange als eine fragwürdige Sonderentwicklung deutscher Geistes- und Geschichtswissenschaft galt, vornehmlich in der von 12Reinhart Koselleck geprägten Form eine erstaunliche internationale Wirkung entfaltet.[4] Dazu kommen neue internationale Organisationsformen.[5] Schließlich eröffnen die digitalen Medien neue Recherche- und Darstellungsmöglichkeiten, von denen die Bearbeiter der großen Lexika nur träumen konnten. Georg Toepfer hat der Begriffsgeschichte allein wegen dieser neuen medientechnischen Möglichkeiten eine große Zukunft attestiert.[6] Zugleich enthalten immer mehr Artikel der Online-Enzyklopädie Wikipedia begriffsgeschichtliche Abschnitte, die von Etymologien bis zu elaborierten Narrationen reichen. Dieser Befund ist wohl ein Zeichen dafür, dass auch außerhalb der Wissenschaften die historische Genese der Begriffe zu deren Selbstverständnis gerechnet wird.

Hans Ulrich Gumbrecht scheint daher eher allein zu stehen, wenn er in seiner verdichteten, im polemischen Verabschiedungsgestus gehaltenen Einleitung zu Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte ein »plötzliches Abebben« des Enthusiasmus für Begriffsgeschichte konstatiert und die großen Wörterbücher als »Pyramiden des Geistes« oder »monumentale Zeugnisse aus einer abgeschlossenen Epoche der Geisteswissenschaften« charakterisiert.[7]

Das anhaltende Interesse an Begriffsgeschichte und historischer Semantik hat sicher unterschiedliche Gründe. Zunächst hat die sich in Lexika und Monographien niederschlagende empirische und detaillierte Arbeit über die einander ablösenden Theoriemoden der Geistes- und Sozialwissenschaften hinweg Bestand. Begriffsgeschichten erscheinen als Alternative zu den ›großen Erzählungen‹. Vor allem aber gibt es eine große Schnittmenge zwischen den jüngeren Kulturwissenschaften und der Begriffsgeschichte. Beide haben es mit Bedeutung und Bedeutsamkeit sowie ihrer Genese zu tun. In beiden wird ›Kultur‹ selbst als ein dynamisches Moment 13in der Realisierung und Veränderung sozialer, ökonomischer und politischer Beziehungen gefasst, ohne diese Handlungsdimension vorschnell auf davon präzise unterscheidbare Interessenlagen zurückzuführen. Wenn ›Kultur‹ nicht als separater Sektor der Gesellschaft neben anderen gesehen wird, sondern als umfassende Praxis der Artikulation und Aktualisierung von Bedeutungen, dann fallen Begriffsgeschichte und historische Semantik nahezu mit den Kulturwissenschaften zusammen. In diese Richtung weist Ralf Konersmann, der unter Historischer Semantik die »Untersuchung kulturell manifester Bedeutsamkeiten im Horizont der Geschichte« versteht.[8]

Zugleich aber thematisieren die Kulturwissenschaften Gegenstände, die in der etablierten Begriffsgeschichte und historischen Semantik bislang weniger zur Debatte standen – vor- und nichtbegriffliche Diskurse, ikonische Semantiken, das Unbewusste, Institutionen, Praktiken, Gefühle, Gesten, Diagramme, Materialitäten. Wenn Begriffsgeschichte und historische Semantik Bedeutungen und ihre Veränderungen im Medium der Sprache untersuchen, dann bieten sie aufgrund ihrer Selbstreflexivität und Selbstexplikation ein hervorragendes, vor allem auch kontrollierbares Mittel der Bedeutungserfassung. Die Sprache ist aber zugleich ein allgemeines Medium, in das andere Bedeutungsformen übersetzt und mit dem diachrone Prozesse dargestellt werden können. Andere mediale Versuche einer Bedeutungsgeschichte, wie Aby Warburgs Bilderatlas, bleiben kommentarbedürftig. Bedeutungen und ihre Bezeichnungen können aber prinzipiell auch nichtsprachlich sein, nicht zuletzt deswegen sind historische Semantik und Begriffsgeschichte methodisch offene Projekte. Ihre universelle Anschlussfähigkeit an andere kulturelle Formen macht sicher einen Teil ihrer Attraktivität in den Kulturwissenschaften aus. Die Kulturwissenschaften haben insbesondere mit ihrem wachen Sinn für zeichentheoretische Komplexitäten und für die historisierende Auflösung jeglicher Substanzialitäten einen kritischeren Blick auf die bislang praktizierte Begriffsgeschichte sowie dafür eröffnet, dass es Wort- und Begriffs14geschichten nicht einfach gibt, sondern dass sie als Interpretationen und (Re-)Konstruktionen narrativen Mustern unterworfen sind.[9]

Doch die Anerkennung, die die Begriffsgeschichte derzeit genießt, ist zugleich auch erstaunlich, weil viele mit ihr verbundene Probleme ungeklärt sind. An diesem wiederkehrenden Urteil historisch prominent mit ihr Beschäftigter (Rudolf Eucken, Erich Rothacker, Joachim Ritter, Reinhart Koselleck, Quentin Skinner u. a.) haben die methodischen Untersuchungen in den letzten Jahren im Kern nur wenig ändern können. Die umstrittenen Fragen beginnen damit, was eigentlich Gegenstand der Begriffsgeschichte sei – Begriff, Bedeutung, Wort, Terminus – und wie dieser sich zu Metapher und Diskurs verhält. Die an einzelnen Begriffen orientierten Untersuchungen schienen nach der sprachwissenschaftlichen Kritik von Dietrich Busse u. a. methodisch geradezu erledigt.[10] Offen ist, welchen Status die Begriffsgeschichte innerhalb der Wissenschaften hat und worin ihr Aufschlusswert eigentlich liegt. Ist Begriffsgeschichte mehr als eine Hilfswissenschaft, die als Instrument auf ihren jeweiligen Erkenntniszweck zugeschnitten werden muss? Wenn die Begriffsgeschichte eine Hilfswissenschaft ist, dann paradoxerweise eine solche, die der Klärung einer Vielzahl grundlagentheoretischer (historiographischer, sprachtheoretischer etc.) Fragen bedarf. Für Hans-Georg Gadamer sollte die Begriffsgeschichte keine bloße Ergänzungsarbeit der philosophischen Forschung sein, »sondern in den Vollzug der Philosophie hineingehören«.[11]

Ungeklärt ist schließlich das Verhältnis von begriffsgeschichtlicher Theorie und Praxis. Auf der einen Seite gibt es den Theorietypus, der gänzlich ohne Beispiele vorgeht und eine vom histori15schen Material unabhängige Komplexität entwirft, die tatsächlich durch keine begriffsgeschichtliche Praxis einzuholen ist. Obwohl die Methodendiskussionen im Umfeld der Geschichtlichen Grundbegriffe (GG) mitunter anregender waren als verschiedene begriffsgeschichtliche Artikel des Lexikons selbst, hat auch der späte Koselleck ernüchtert von den »Flugsanddünen reiner Methodendebatten« und der »theoretischen Zwangsjacke« seiner eigenen Ansätze gesprochen.[12] Auf der anderen Seite prozediert die begriffsgeschichtliche Forschung oftmals als eine Praxis, deren theoretische Voraussetzung nicht oder kaum thematisiert wird. Rolf Reichardt spricht von einem »verbreiteten beliebigen und wenig stringenten Eklektizismus«.[13] Die Mehrzahl der Begriffshistoriker erachtet eine Methodendiskussion nur im Kontext historischer Praxis für sinnvoll. Konersmann hält den »schwachen Theoriebestand der Historischen Semantik einstweilen nicht für korrekturbedürftig […], denn diese Schwäche [ist] offensichtlich ihre Stärke«.[14] Petra Gehring beschreibt die Begriffsgeschichte als vorsichtige und positivistische Praxis ohne theoretischen Hintergrund und konstatiert, dass sich philosophische Begriffsgeschichte ihre Methodologie nicht etwa auf der Basis einer Theorie des Begriffs erarbeitet habe, sondern »eher tastend, im Wege einer Praxis zu sich selbst«.[15] Das zunächst plausible Plädoyer für methodische Pluralität reicht aber zuweilen bis zum Verzicht auf die Reflexion der Methoden.

Das in der Tradition der romantischen Hermeneutik stehende ideographische und zuweilen divinatorische Selbstverständnis der Begriffsgeschichte hat sicher die Gräben sowohl gegenüber den 16Nichtgeisteswissenschaften wie auch gegenüber den (eher quantifizierend verfahrenden) Sprachwissenschaften vertieft. Tatsächlich hat sich statt einer Theorie der Begriffsgeschichte ein Genre durchgesetzt, das theoretische Überlegungen überhaupt nur exemplarisch vorträgt. Doch gibt es ein Reservoir an Problemen, das es, wie bei anderen Methodendiskussionen auch, abseits der engen Materialbindung zu diskutieren lohnt. Es geht dabei nicht darum, Begriffsgeschichte auf eine Methode zu verpflichten, sondern umgekehrt darum, die verschiedenen praktizierten Methoden zu registrieren und zu vervielfachen.

Das vorliegende Buch reagiert auf ein Desiderat. Es gibt bis heute keine monographische Darstellung, die die mannigfaltigen historischen, nationalen und disziplinären Ansätze der Begriffsgeschichte und historischen Semantik komparativ in ihrer ganzen Breite darzustellen versucht. Daraus ergab sich die Idee, in Form eines umfassenderen Kompendiums die theoriegeschichtlichen Debatten nachzuzeichnen, die begriffsgeschichtlichen Projekte in Anspruch und Realisierung zu vergleichen und Fragen der geisteswissenschaftlich dominierten Begriffsgeschichte sowie deren Zukunftsaussichten aus der Perspektive der kulturwissenschaftlichen Wende der Geisteswissenschaften zu thematisieren. Die Voraussetzungen für eine solche Arbeit sind eigentlich erst seit jüngster Zeit gegeben. Die Bestände der größeren Projekte und ihrer Protagonisten sind archiviert und darauf aufbauende Arbeiten publiziert worden.[16] Das vorliegende Buch hat zugleich den Anspruch, solche mitunter sehr ins Einzelne gehenden Untersuchungen auf einer gewissermaßen mittleren Abstraktionsebene zu synthetisieren und die verstreuten vergangenen und gegenwärtigen, deutschen und internationalen Projekte, die im weiteren Sinne der Begriffsgeschichte und historischen Semantik zuzurechnen sind, darzustellen sowie Querverbindungen zu ziehen. Da die Begriffsgeschichte schon in ihrer Entstehungsphase eine internationale Erscheinung war, haben die Autoren sich bemüht, die Entwicklungen im anglo17amerikanischen, französischen, italienischen, spanischen oder holländischen Sprachraum in den Blick zu nehmen. Sie sind sich aber bewusst, dass ihr Fokus auf den Debatten der lange Zeit sehr deutschen Tradition der Begriffsgeschichte liegt.

Wenn im Titel Begriffsgeschichte und historische Semantik als Gegenstände des Buches bezeichnet werden, dann auch deswegen, weil die Abgrenzung beider Gebiete keineswegs klar ist. Die Bezeichnung ›historische Semantik‹ war für die an das Historische Wörterbuch der Philosophie