Milch und Kohle beschreibt ein Ruhrgebietsleben in den 60er Jahren, das geprägt ist von körperlichen Gewalttätigkeiten, geistiger Enge und dem stetigen Wunsch, mit den Verhältnissen zurechtzukommen. Simon, der Ich-Erzähler, findet sich nach dem Tod der Mutter in der Wohnung seiner Jugendjahre wieder, und Erinnerungen an das fragile Zusammenleben von damals steigen in ihm auf. Der Vater tauschte den Melkschemel in Schleswig gegen die aufzehrende Arbeit unter Tage, die vergnügungssüchtige Mutter hat eine Affäre mit dem Italiener Gino, einem Kollegen ihres Mannes. Der 15jährige Simon ist viel zu sehr mit seiner Pubertät beschäftigt, um sich ernsthaft um seine Eltern zu sorgen, doch sein psychisch labiler Bruder reagiert ganz anders auf das Scheitern der elterlichen Beziehung …

»Mit Milch und Kohle ist Ralf Rothmann ein großer Wurf gelungen: deutsche Literatur, die ihr Thema nicht zerredet, sondern – klug, lebensprall und elegant – keinen Vergleich mit ihren angelsächsischen Vorbildern zu scheuen braucht.«

Hartmut Wilmes, Kölnische Rundschau

Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrgebiet, lebt seit 1976 in Berlin. Zuletzt sind von ihm erschienen: Im Frühling sterben (2015), Shakespeares Hühner (st 4434) und Sterne tief unten (IB 1382).

Ralf Rothmann

Milch und Kohle

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 9. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 3309.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Heike Steinweg

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74553-3

www.suhrkamp.de

Seit Tausenden von Jahren

versuche ich zurückzukehren.

Doch unaufhörlich wächst wildes Gras

vor dem Tor des Tempels.

Shitaku Chôrei

Der Anzug war nicht schwarz. Nicht wirklich. Das hätte sie kaum gemocht. Anthrazit, so hieß auch eine Kohleart, die teuerste damals, und wer kann das Wort hören, ohne an die Haufen zu denken, die an manchen Nachmittagen vor den Kellerfenstern der verschneiten Siedlung lagen. Dann war die Enttäuschung groß, und man verstand plötzlich, warum man so wenig Schulaufgaben bekommen hatte. Dann gab es nur Butterbrote oder Linsensuppe, und anschließend wurden Eimer geschleppt bis in die Dunkelheit hinein. Knochenarbeit. Also ließ man sich Zeit mit dem Weg und hoffte, daß zu Hause wenigstens eine leichtere Sorte wartete, Eierkohlen oder Koks.

Um die Haufen herum lag stets feiner Staub, eine hellschwarze, leicht schimmernde Aura, in der es hier und da gestochen scharfe Aussparungen gab: Wo die Hydraulikstempel des Kipplasters oder die Stiefelspitzen des Fahrers gestanden, wo ein Schaufelstiel, eine leere Schachtel Collie oder ein paar Kronkorken gelegen hatten. Und wir schrieben unsere Namen in den Staub, wer doof ist, und wer wen liebt.

Der Anzug war billig gewesen, ebenso Hemd und Krawatte, und als ich aus dem Textilgeschäft trat, drehte ich die unbedruckten Seiten der Tüten nach außen. Immer noch blühte Flieder, überall, doch die Dolden wurden schon braun. Der Himmel war unbewölkt, und zwischen den Reflexen und Spiegelungen auf den Scheiben der Busse, die vor dem Bahnhof hielten, glaubte ich einen Lidschlag lang ihr Lächeln zu sehen, jenes breite, strahlende aus der Zeit, die sie wohl gemeint hatte, wenn sie sagte: »Wir hatten ja auch gute Jahre!«

Es war die Stationsschwester, die mir zunickte, während sie ihrem kleinen, noch etwas wackelig gehenden Sohn auf den Bürgersteig half. Sie trug lindgrüne Hosen, ein orangefarbenes Shirt und war geschminkt, und als wären inzwischen nicht Tage vergangen, als hätte sie mir erst gerade, nach einer flüchtigen Entschuldigung, das Päckchen ausgehändigt, sagte sie mit einem beiläufigen Blick auf meine Plastiktaschen: »Und grüßen Sie Ihren Bruder!«

Flieder auch in Sterkrade, auf dem riesigen, von Baggerketten zerwühlten Gelände der stillgelegten Gute-Hoffnungs-Hütte. Die Erde glänzte ölig in der Sonne, und hinter Ziegelhaufen, Sintergruben und Maschinenschrott spielten Kinder, schossen aufeinander mit bunten Pistolen, brachen zusammen und sprangen wieder auf.

Der Bestatter hatte mich angerufen, nach den Zähnen meiner Mutter gefragt. Als sie in den Dreißigern war, wurden die plötzlich grau, an manchen Stellen auch schwarz, und eines Tages roch sie ekelerregend aus dem Mund, hatte die eingefallenen Wangen und runzeligen Lippen einer alten Frau und aß eine Woche lang nur Brei. Und da sie nicht aufhörte mit dem Rauchen und wie immer unzählige Tassen Kaffee trank, wollten sich die Wunden nicht schließen, spuckte sie dauernd Blut. Doch dann war die Prothese fertig, saß auch gut und schmerzte kaum, und nur in der ersten Zeit, beim Gähnen oder Lachen, verrutschte sie jäh. Und ich, erschrocken, stellte mir jemanden anderes vor im Innern meiner Mutter, eine Fremde hinter ihrem Gesicht.

»Waren denn Goldzähne eingearbeitet?« fragte der Bestatter. »Das macht man ja oft, wegen der Optik. Also, ich würde mir natürlich nie erlauben, auch nur anzudeuten …«

»Ja«, sagte die Krankenschwester, einen Stapel Wäsche im Arm. »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Der Nachtdienst ist total überfordert. Drei Stationen. Wir haben die Zähne hier.« Und sie öffnete den Schrank.

»Sie können alles mit mir machen«, hatte meine Mutter zu Beginn der Krankheit gesagt. »Die können mich von Pontius nach Pilatus karren, mich auf den Kopf stellen und zigmal anstechen am Tag, das halte ich schon aus. Mit Gott geht alles. Aber wenn sie mir die Zähne rausnehmen, vorm Röntgen, vor der Bestrahlung, das mag ich nicht … Dann fühle ich mich hilflos wie ein Kind. Dann bin ich lieber tot.«

Man hatte die Prothese in ein Stück hellbraunen Zellstoff gewickelt und ein Pflaster darumgeklebt, und ich steckte sie in die Tasche meines Wettermantels.

»Und der Ehering?« fragte ich. »Hat sich der inzwischen wiedergefunden?«

»Nicht bei mir«, sagte die Schwester, schon im Davongehen. »Aber ich hatte auch keinen Dienst.«

Mit dem Taxi fuhr ich zum Geschäft des Bestatters in der Beethovenstraße. Die Tür stand offen, im Büro kein Mensch, und auf mein Klopfen und Rufen reagierte niemand, auch nicht die Katze, die in einem der Regale schlief. Ich kraulte ihr den Nacken und legte das Päckchen auf den Schreibtisch, neben einen Quittungsblock; doch in der Sonne wurde der Zellstoff plötzlich durchscheinend, und ich schob es in den Schatten.

Simon!

Ich habe die Mutti geschlagen, mehr Mals, auch ins Gesicht. Ich weis nicht, wie es passieren konnte. Sie ist weggelaufen, und ich hab sie die ganze Nacht überall gesucht kann sie aber nicht finden. Sie will uns nun allein lassen, aber ich muß doch Arbeiten! Paß auf deinen Bruder auf und geht nicht zur Schule, wenn sie heute Früh noch nicht zurück ist.

Papa

Ich fand die Zeilen unter der Matratze, als ich das Ehebett abzog. Sie waren auf die Rückseite eines Kalenderblatts geschrieben, ein Blumenmotiv. Es steckte zusammen mit ärztlichen Bescheinigungen und einem Stilett in einer Klarsichthülle, DIN A4. Maschinenschriftlich bestätigte der Hausarzt meiner Mutter zwei Rippen- und Oberschenkelprellungen und eine Hautabschürfung über dem Jochbein. Den Datumsangaben zufolge lag das über fünfundzwanzig Jahre zurück. Ich setzte mich auf den Bettrand, wog die Waffe mit dem schönen Perlmuttgriff in der Hand, drückte auf den Entsicherungsknopf. Die herausfedernde Klinge war nicht spitz, die Schneide jedoch scharf wie gerade erst geschliffen. Mit dem Daumennagel kratzte ich etwas Schmutz oder geronnenes Öl von der Gravur. Stainless. Italy.

Sonst fand ich nichts. Die Schuhe und Kleider meines Vaters hatte sie gleich nach seinem Tod dem Roten Kreuz gegeben, seine Papiere, das Lehrbuch für den Bergbau, die Unterlagen und Zeugnisse der Landwirtschaftsschule und den Märklin-Katalog, verbrannt. Die Ordnung in den großen Schleiflackschränken, die Akkuratesse, mit der alles gefaltet, gestapelt oder aufgereiht war – ich verstand wieder gut, warum ich schon mal die Socken in den Brotkorb stopfte. Ich öffnete alle Türen, nahm Kleider, Kostüme und Mäntel heraus und warf sie auf das Ehebett. Dann ging ich von Fach zu Fach, langte tief mit dem Arm hinein und schob, was darin war, Pullover, Blusen, Frotteetücher, in große blaue Plastiksäcke. Die runden Stücke Lavendelseife, die dabei zu Boden fielen, kickte ich aus dem Raum.

Unterwäsche und Büstenhalter, seit jeher in der Frisierkommode, rührte ich nicht an. Ich zog die Schubladen heraus und kippte den Inhalt in den Sack, in dem sich schon ein angebrochenes Glas Pulverkaffee und mehrere Rätselhefte befanden. Ich warf noch eine Flasche Tosca, ein Töpfchen Nachtcreme und eine alte Haarbürste hinein und band den Sack mit Klebstreifen zu. Nirgendwo eine persönliche Zeile, weder von ihr noch von meinem Vater, nicht einen Brief oder eine Karte ihrer Söhne hatte sie aufbewahrt, lediglich zwei Fotos aus unserer Kindheit standen neben der Nachttischlampe, und meine fünf oder sechs Bücher lagen zusammen mit zehn Jahre alten Telefonbüchern im Besenschrank. Mein letztes, »Das Studium der Stille«, das ich ihr, da ich in Amerika war, von meinem Verlag hatte schicken lassen, war noch in der Plastikfolie eingeschweißt. Nur ein bibliophiler Sonderdruck, »Assisi«, stand im Regalfach über dem Sofa, zwischen Zinngeschirr und goldglänzenden Buchclub-Ausgaben: Ganghofer, Simmel, Vicki Baum.

Ich legte mich auf das Bett und starrte die Lampe mit den rosa Fransen an. Kühl war es hier, ausgekühlt; im Schlafzimmer wurde nie geheizt, seit vierzig Jahren nicht, es gab gar keinen Ofen. Ich deckte mich mit den Kostümen und Mänteln zu, wollte eine Viertelstunde ausruhen und starrte stumpfsinnig auf die »Galoppierenden Wildpferde« an der Wand; der »Röhrende Hirsch«, den ich früher oft abgezeichnet hatte, war mit den alten Möbeln auf dem Müll gelandet.

Und wenn alles ganz anders gewesen wäre? Wenn die Eltern sich dem Anschein zum Trotz doch geliebt hätten – mit einer Kraft und einer leidenschaftlichen Ausschließlichkeit, die Kinder, auch erwachsene, nie verstehen können?

Im Japanischen, fiel mir ein, heißt sterben: In die Stille gehen.

Das Telefon klingelte, ein gedämpfter Ton unter der Brokathülle, und ich lief ins Wohnzimmer. Doch als ich abhob, war schon niemand mehr in der Leitung. Der Trockenständer hinter dem Haus, eine baumartige Konstruktion, drehte sich im Wind, ein paar Strumpfhosen, die tropfnaß zwischen Geschirrtüchern hingen, glitzerten in der Sonne. Irgendwo krächzten Raben.

Wieder im Schlafraum, bemerkte ich einen Zipfel heller Spitze in einem der oberen Schrankfächer. Dort war sonst die Bettwäsche gestapelt, hart gemangelte Laken, hinter denen mein Vater oft seine Sexhefte versteckt hatte, und ich stellte mich auf die Zehen, langte hoch und zog ein Säckchen aus leicht vergilbtem Schleierstoff hervor. Es war mit einem rosa Band verschlossen und enthielt drei weiß kandierte Mandeln. Zuckermandeln.

»Wir hatten ja auch gute Jahre.«

Mein Vater brachte ihn mit: Gino Perfetto. Ein Arbeitskollege, ein Kumpel. Er kam aus Neapel, war seit ein paar Wochen in Deutschland und wohnte im Ledigenheim, Harkortstraße, einem dreistöckigen Klinkerbau mit Flachdach. Man lebte dort in Sechser-Zimmern, ohne Kühlschrank, und fast das ganze Jahr über lagen Lebensmittel, in Tücher oder Zeitungen gewickelt, außen auf den Fensterbänken. »Polackenwirtschaft«, sagte meine Mutter oft.

Gino war genau zehn Jahre älter als ich, fünfundzwanzig, und nur wenig größer. Ähnlich wie mein Vater hatte er das Haar glatt zurückgekämmt, doch im Nacken war es leicht gelockt, und seine Rasiercreme roch gut, jedenfalls nicht nach Sir oder Tabac. Obwohl es mitten in der Woche war, trug er einen Anzug, ein weißes Nylonhemd und spitze schwarze Schuhe mit einem Wildledersteg obenauf. Als wir uns die Hand gaben, zwinkerte er mir zu.

»Er hat ein Rennrad«, sagte mein Vater.

Die Möbel im Wohnzimmer standen so, daß man nur wenige Schritte machen konnte, und Gino blickte sich um, ging vor dem Aquarium in die Hocke. »Madonna! Scheene Fisch, eh? A colori.« Seine Verlegenheit gefiel mir, war mir aber auch peinlich, das folgende Schweigen machte den Raum noch enger. Und als mein Vater auf das Sofa zeigte und fragte: »Du wollen Bier?« klappte ich die Bravo zu und ging in die Küche.

Meine Mutter putzte die Spüle und blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Im Aschenbecher qualmte eine Zigarette.

»Möchte mal wissen, was das wieder soll!« zischte sie. »Schleppt hier die halbe Zeche an. Als hätte ich nicht Arbeit genug.« Ihre hohen, keilförmigen Sohlen knarrten bei jedem Schritt, und mit einer Kopfbewegung wies sie auf eine Schachtel Mon Cherie. »Mein Mann verehrt mir Pralinen, hast du das schon mal erlebt? Und als ich ihn frage, wie er dazu kommt, sagt er doch glatt, die waren bei Klooß im Angebot.« Sie preßte den Schwamm, bis er ganz verschwunden war in ihrer Faust. »Und warum stehst du hier im Weg? Nichts zu tun?«

Ich fingerte eine Juno aus ihrer Schachtel, steckte sie in meine Hemdtasche, nahm mir Zündhölzer aus dem Schrank und sagte: »Du bringen Bier!«

Sie fuhr herum, drohte mit der flachen Hand. »Sieh zu, daß du Land gewinnst, ja. Wo ist dein Bruder!« – Ich zuckte mit den Achseln, schob mir eine Praline in den Mund und ging in den Keller.

In dem langen dunklen Gang übte ich meinen Marabu-Walk. Ich zog die Schultern hoch, ließ die Hände vor der Brust baumeln und bewegte mich mit herausgestrecktem Hintern und einwärts gekehrten Fußspitzen vorwärts. Dabei mußte man das Gesicht verziehen, als hätte man etwas Faules gerochen. Die Vögel verstummten, als ich die Tür aufstieß, beäugten mich durch das Drahtgeflecht der Voliere. Ich nickte ihnen zu, gravitätisch, zog den einbeinigen Schemel meines Vaters aus dem Regal und setzte mich in die Sonne, den trapezförmigen Flecken, der durch das Fenster fiel. Die Streichholzflamme war fast unsichtbar, und als ich den Rauch zwischen die Nester und Zweige blies, rührten sich die Tiere nicht.

Erst nach einem Händeklatschen, es hallte in dem kahlen Keller, schwirrten sie aufgeregt herum: Gelbe, schwarzgelbe und orangefarbene Kanarienvögel, mehrere Dutzend, meistens Hähne. Die sangen aus voller Kehle, waren robust und brachten Geld. Die wenigen weißen dagegen hielten nichts aus, die starben im Winter, und den Schnabel kriegten sie auch nicht auf. Doch dafür waren sie schön, fast beleidigend weiß.

Das Klappern leerer Kohlenschütten auf der Treppe, das Geräusch von Schlappen auf dem Gang, eine platzende Kaugummiblase: Ruth. Sie öffnete den Nachbarkeller.

»He!« sagte sie durch die Lattenwand hindurch. »Du bist noch keine sechzehn, oder? Laß mal ziehen.«

Ich schüttelte kurz den Kopf, betrachtete die Vögel.

»Aufgeblasener Affe. Du kannst doch gar nicht richtig rauchen. Möchte mal wissen, weshalb die Ellen dich nett findet.«

»Ellen? Wer ist das?«

»Na, meine Freundin. Die mit den Locken.«

»Die schon einen Büstenhalter trägt?«

»Wieso. Tu ich doch auch.«

»Aber bei dir ist Watte drin.«

»Gar nicht! Blödmann. Außerdem ist sie fast ein Jahr älter als ich, dreizehn. Kleben geblieben. Ich hab ihr erzählt, daß du zaubern kannst. Wollte sie nicht glauben. Zeig ihr doch mal den Trick mit den Silberlöffeln, dann hättest du echt Schnitte … He, ich rede mit dir! Wir üben immer Küssen. Zungenschlag.«

Sie hatte Kohlenstaub an der Nasenspitze und drückte das Gesicht gegen die Lattenwand. Dann blies sie eine rosa Blase durch den Zwischenraum und zog sie wieder ein. »Dein Freund ist ganz schön versaut, oder?«

Ich antwortete nicht, und sie füllte die Schütten mit Koks. »Ich meine den Paffer, oder wie er heißt. Den mit der Lee. Der kriegt jede rum, sagt die Ellen. Bis er mal eine dick gemacht hat. Mich würd er nicht rumkriegen, da könnte er noch so toll aussehen.«

Sie steckte die Hand bis zum Gelenk zu mir herüber, bewegte die schmutzigen Finger. Ich schob ihr die Kippe dazwischen. »Danke«, sagte sie. »Ich hab vielleicht Schmacht.«

Mit dem Rauch bildete sie eine neue Kaugummiblase, bis die zerplatzte, leckte sich die Fetzen von den Lippen und lächelte. Und plötzlich war etwas Fremdes in ihrer Stimme, ein heller Raum voller junger Sonnen. »Soll ich dir was zeigen?«

Schon vor der Wohnungstür hörte ich das laute, fast krähende Lachen meiner Mutter. Auf dem Schränkchen der Flurgarderobe lagen ein Paar Gummihandschuhe, umgestülpt, an den Fingern die Abdrücke ihrer Ringe. Ein Schnapspinnchen in der einen, zwei Fotos in der anderen Hand, saß sie auf der Armlehne des Sofas und blickte meinem Vater über die Schulter. Der hielt Gino das Album hin.

»Hier«, sagte er. »Das ist es. Gut Fahrenstedt. Ich arbeiten da. Rabotti. Du verstehen?«

Gino, in dem tiefen Sessel, nickte. »Lavoro, si.« Er zeigte auf meine Mutter. »Con la moglie?«

»Nicht Moni«, sagte mein Vater. »Liesel! Sie und ich: fünfunddreißig Kühe. Jeden Morgen um vier Uhr raus. Samstag, Sonntag, Weihnachten, immer. Und Jungvieh. Und zwei Bullen. Da …«

Er schob den Ausschnitt der Kieler Nachrichten aus dem Jahr 53 über den Tisch. Der preisgekrönte Zuchtstier Mozart. Daneben, in Gummistiefeln und einem gestreiften Arbeitskittel, mein Vater. Er hatte den kleinen Finger in den Nasenring des Bullen gesteckt und lächelte verlegen. Der Name war falsch geschrieben, Weiss statt Wess.

Gino bewegte die Lippen, als er die Unterschrift las. Dann machte er große Augen. »Mozarte? Mùsica? Circo da Kiel?«

»Nein, nein!« Mein Vater trank den Schnaps. »Von wegen Zirkus. Harte Arbeit! Herrgott, wie sag ich das …« Er drehte sich nach mir um. »Was heißt denn Milch auf Englisch?«

Meine Mutter prostete Gino zu, trank selbst aber nichts.

»Ich denke, er ist Italiener«, sagte ich.

»Milk?« fragte er. »Latte?«

»Ja, bravo! Und Käse, Sahne, Butter. Jeden Tag in die Meierei. Den Max angeschirrt, den Jungen auf den Kutschbock, und los. Da, zwischen den Bäumen, das war unser Haus. Mietfrei. Hier mein Garten, Bohnen, riesige Kürbisse, Blumenkohl wie Schnee. Und jedes Jahr kriegten wir Deputat, drei Gänse und ein halbes Schwein.« Er zeigte Gino den Gesellenbrief. »Melker. Mit Auszeichnung. Du verstehen?«

Gino nickte, doch es sah höflich aus. Er roch an dem Korn, trank einen winzigen Schluck, stellte das Glas auf den Tisch, den kleinen Wasserring zurück, und meine Mutter sagte: »Mensch, erklär ihm das doch mal richtig! Woher soll er denn wissen, was ein Melker ist? Herr Perfetto? Haben Sie Kühe in Napoli?«

Gino zog die Schultern hoch. »Kiehe? Che cosa è?«

»Milchvieh«, sagte mein Vater. »Muh, muh! Capito?«

Er streckte beide Arme aus und ballte mehrmals rasch die Fäuste. »Stripp, strapp, stroll, ist die Dicke heute toll? Stripp, strapp, stroll, ist der Eimer noch nicht voll?«

Meine Mutter, schmunzelnd, gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Gino hatte einen Schluck Bier aus dem alten Senfglas mit Henkel getrunken und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. Danach war ein breites Lächeln in seinem Gesicht, so weiß wie der Schaum. Er gluckste vergnügt, streckte die Arme vor, machte dieselbe Melkbewegung über dem Wohnzimmertisch und wiederholte fast singend: »S-trippe, s-trappe, s-trulle? S-trippe, s-trappe, s-trulle! Signora?«

Und meine Mutter warf den Kopf in den Nacken und lachte ihr lautes krähendes Lachen, das die meisten Menschen so erstaunlich fanden wie die großen Hände der zierlichen Frau.

»Ach du Scheiße«, sagte sie. »Signora. Das hat gerade noch gefehlt …« Und kippte ihren Schnaps.

Christiane Schneehuhn hatte mir ausrichten lassen, daß sie mich liebt. Ihre Freundin, die pickelige Barbara Quasny, brachte mir die Nachricht über den Schulhof.

»Schön«, sagte ich.

»Und?« fragte sie.

»Was, und?«

»Was soll ich ihr bestellen?«

»Nichts«, sagte ich, denn mir fiel nichts ein.

»Stark«, murmelte sie und ging wieder hinüber, zu den Mädchen. Während der Wochenendfahrt in die Eifel setzte sich Christiane neben mich und griff nach meiner Hand. Ich entzog sie ihr, weil ich schwitzte. Es war die erste Reise meines Lebens, und mir wurde übel in dem Bus, ich schluckte und schluckte. Doch genierte ich mich, nach einer Tüte zu fragen, starrte immer auf einen Punkt, auf den Hinterkopf des Fahrers oder den Feuerlöscher neben der Tür, und sprach kein einziges Wort.

Noch am selben Nachmittag kam die blonde Anuschka von Prinze in den Tischtennisraum und richtete mir aus, daß Christiane Schneehuhn mich nicht mehr liebt. Ich trocknete mir das Gesicht ab und sagte: »Gut.« Mehr fiel mir auch jetzt nicht ein. Dann öffnete ich ein neues Päckchen Schildkröt-Bälle.

Manchmal ging ich nach dem Unterricht in den Hauptbahnhof. Meine Mutter, die dort aushilfsweise als Buffetkraft arbeitete, schob mir dann ihren Personalbon und ein oder zwei Zigaretten über den Tresen. Ich setzte mich in die sogenannte Winzerstube, einer Nische neben den Spielautomaten, und langte unter das Tuch, das auf dem Korb lag, brach mir ein Stück von den Salzbrezeln ab. Der dicke Kellner in der weißen Jacke nickte mir zu, und ich bestellte ein Krefelder und das Tagesgericht. Bier war mir zu bitter. Krefelder war süß und trotzdem Bier. Die eine Mark, die meine Mutter mir als Trinkgeld für ihn gegeben hatte, legte ich schon vor dem Essen neben den Aschenbecher.

Durch das Weinlaub aus Papier glühten die Lichter der Automaten, und ich betrachtete die Menschen in dem großen, dunkel getäfelten Saal, Reisende, Wartende, die Hände verschränkt auf den fleckigen Tischen. Manchen, besonders den einzeln dasitzenden, glaubte ich die Entfernung anzusehen, die vor ihnen lag. Je größer die war, desto friedlicher die Gesichter.

»Jedem seine eigene Durststrecke«, sagte der Kellner. »Was lernst du in der Handelsschule?« Er steckte die Mark in die Jackentasche, nahm das von mir zusammengestellte Geschirr vom Tisch und betastete das Tuch über dem Brezelkorb.

»Englisch«, sagte ich, und er nickte, als hätte er sich so einen Quatsch schon gedacht. Und murmelte im Davongehen: »I break together.«

Zu Hause roch es verbrannt. Der Kohlenkasten war leer, die Ofenklappe stand offen, der Schürhaken steckte in der Glut. Auf dem Teppich meine alte Schultasche aus Leder, die Bücher, Stifte, Lineale ausgeschüttet unterm Tisch. Zwischen den beiden Messingschnallen glänzte ein frisch eingebranntes T.

Mit einem Handtuch umfaßte ich den Griff und brachte das Schüreisen in die Küche. Winzige Funken sprangen von dem weißglühenden Haken ab, und als ich ihn unter den Strahl hielt, krachte das Wasser. Durch den Rauch hindurch sah ich meinen Bruder auf dem Ehebett sitzen, auf der Seite meines Vaters. Alle Schranktüren und Schubladen standen offen, und er hatte Pullover- und Wäschestapel aus den Fächern genommen und sich angesehen, was dahinter versteckt war: Ein Postsparbuch, auf den Namen meiner Mutter ausgestellt, Guthaben sechsundzwanzig Mark. Ein Karton mit Weihnachtskugeln und eine silberne Baumspitze mit Lamettaschweif. Drei Pariser. Ein schmales, grün eingewickeltes Paket mit roter Schleife.

Er blätterte irgendwelche Papiere durch und beachtete mich nicht. Oder doch nur, indem er sein Bonbon auf die Art lutschte, die mir so widerlich war. Er wartete, bis sich eine Menge süßen Speichels angesammelt hatte, und sog ihn dann laut schlürfend ein.

»Das glaubst du nicht. Das ist nicht wahr. Guck dir das an!«

»Du spinnst wohl!« rief ich. »Was soll das hier werden? Willst du die Wohnung abfackeln?«

»Komm schon!« beharrte er. »Da fallen dir die Augen raus.«

Das tiefschwarz glänzende Haar war zerzaust. Er hatte Tinte an den Fingern und Lakritzränder in den Mundwinkeln, und sein Gesicht, dessen dunkler Teint ihm den Spitznamen Itacker eingebracht hatte, war fahl jetzt, gelblich fast. »Sünde«, murmelte er und meinte es offenbar ernst. »Voll Sünde, guck mal!«

Er hielt einen dicken Stapel Schwarzweißfotos in der Hand, Privataufnahmen anläßlich einer Karnevalsfeier. Luftschlangen an Deckenlampe und Kuckucksuhr, Unmengen von Gläsern auf dem Couchtisch, Steinhäger, Zinn 40. Zwei Kinderteddys zwischen den Kissen. Der Blumenhocker in der Ecke war dasselbe Modell, das wir in den letzten Werkstunden der Volksschule zusammenleimen mußten, und wo die Posierenden, manchmal ein halbes Dutzend, manchmal mehr, keine Masken trugen, hatte man ihre Gesichter, die Augenpartien, mit Nagellacktupfern unkenntlich gemacht. Traska blätterte mir ein Bild nach dem anderen vor und wies mich auf verschiedene Details hin, wobei sein schmutziger Finger zitterte. »Die ficken! Die ficken tatsächlich!« Und er sog den Bonbonspeichel ein.

»Hör auf zu schlürfen! So ist das nun mal. Oder glaubst du, uns haben die Störche gebracht?«

»Aber das hier ist doch Sünde. Guck mal, wo die ihre Zunge hat!«

Die Frau war mir schon auf anderen Fotos wegen ihrer viel zu weiten, verdreht sitzenden Strümpfe aufgefallen. – »Tu nicht so scheinheilig. Mopeds klauen, Automaten knacken und Baubuden aufbrechen ist auch Sünde.«

»Was? Wie kommst’n darauf?«

»Falscher Fuffziger. Weiß doch die halbe Siedlung, daß du mit den Fekete-Brüdern rumziehst. Laß dich nicht vom Alten erwischen.«

»Ach ja? Und du paß auf. Ein Wort von mir, und die Jungs polieren dir die Eier.«

»Nur zu«, sagte ich und zog die Tagesdecke straff.

»Rotzlöffel. Jetzt wird hier aufgeräumt, und du machst deine Schularbeiten. Wo lagen die Bilder?«

»Gib her.« Er nahm sie mir aus der Hand und starrte noch einmal das oberste an. Ich mochte sein Profil, die irgendwie verschlafene Schönheit darin. »Mama mia. Ich glaub, ich krieg ’n Steifen.«

Und plötzlich sprang er auf und lief über das Bett ins Wohnzimmer, zum Ofen. Er grinste mich an und warf erst ein Foto, dann ein zweites und schließlich, bevor ich ihn beim Kragen hatte, den ganzen Stapel ins Feuer, das aus dem Loch loderte und unsere Schatten über die Decke flackern ließ. Momentlang schienen mehr Leute im Raum zu sein.

»Sünde!« rief er, während sich die Bilder, die blassen Nackten, krümmten in der Glut, schwarz wurden und in einer blauen Flamme zu Asche verbrannten. »Sünde, Sünde!« Dabei hüpfte er zwischen den Möbeln herum, schnitt Fratzen und lachte künstlich schrill. Nur mit Mühe schlug ich ihn nicht.

»Was machst du!« murmelte ich und starrte in die Flammen. Hier und da noch ein Papierrest, knisternd verbrannte die Lasur, grauweiße Flöckchen flogen hoch, in den Kamin, und dann war es still im Zimmer, und mein Bruder beäugte mich eine Weile aus der Ecke, in der ein großer Gummibaum stand. Doch da ich nicht auf ihn losging, entspannte er sich wieder und zerbiß sein Bonbon, daß es krachte.

»Na und?« Er raffte die Bücher zusammen, meinen alten Zirkelkasten, die Stifte, steckte sie in die Schultasche und fuhr mit der Hand über das neue Brandzeichen. »Paß doch auf mich auf …«

Niemand auf dem Spielplatz oder vor der Pommesbude, und auch in der alten Ziegelei kein Mensch, der eine Zigarette gehabt hätte. Ein paar Kinder bauten sich Indianerzelte aus Dachpappe und rostigen Stangen, und ich ging die Dorstener Straße hoch, an der Gaststätte Maus vorbei, Richtung Zeche Haniel. Das Rad im Förderturm drehte sich langsam, die Kühltürme qualmten, und ich bog von der Straße ab und ging durch die Ginsterheide auf den Wald zu, der hinter den Kohlehalden begann. Dort, zwischen alten Buchen, hatte ich vor einigen Jahren etwas Geld versteckt und hoffte manchmal immer noch, es wiederzufinden.

Ich war ungefähr in Traskas Alter gewesen, als mein Vater mir die zehn Mark geschenkt hatte, ein Vermögen. Ich mußte ihm versprechen, es zu sparen, dann würde er mir nach und nach mehr dazugeben. Doch meine Mutter, die ohne sein Wissen bei allen möglichen Kleinkrämern und Sofahändlern verschuldet war, hätte es mir weggenommen, um sich Zigaretten, Kaffee oder Nylonstrümpfe zu kaufen, das war schon öfter vorgekommen. Sogar kleinste Beträge nahm sie mir ohne zu fragen aus dem Schreibtischfach. »Kriegst du wieder. Ich rackere mich schließlich genug für euch ab!«