Adrian Stokar

EINSTÜRZENDE
GEWISSHEITEN

Niedergang in fünfzehn Bruchstücken

DÖRLEMANN

Autor und Verlag danken der Abteilung Kultur der Stadt Zürich und der Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für die Unterstützung



eBook Ausagbe 2016
Alle Rechte vorbehalten
© Copyright 2016 by Dörlemann Verlag AG, Zürich
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-935-5
www.doerlemann.com

Burkharts Erzählung: Vorrede

Zuerst sah es danach aus, als werde dies eine ganz normale Recherche.

Anlässlich des fünfundsiebzigsten Geburtstags von Paul Burkhart, einem mächtigen Schlachtross der Schweizer Industriegeschichte, bekam Steiner vom Chefredakteur den Auftrag, ein längeres Porträt dieses Patrons alter Prägung zu verfassen. Bei seinen Nachforschungen stieß er auf eine Notiz über einen schweren Autounfall, dessen näheren Umständen offenbar bis heute noch niemand auf den Grund gegangen war. Burkhart war, laut dem kurzen Zeitungsartikel vom 13. Oktober 1975, am Berninapass mit seinem Wagen über eine Kurve hinausgerast, dabei ist der Mitfahrer, der neben Burkhart saß, ums Leben gekommen, der Fahrer selbst wurde verletzt. Näheres war aus der Agenturmeldung nicht zu erfahren. Burkhart, der verärgert über Steiners telefonisches Nachfragen bezüglich des Unfalls reagierte, wies ihn an, sich bei Polizist Tschenett, der damals den Hergang untersucht und protokolliert hatte, zu erkundigen, bevor er, Burkhart, ihn zum Interview empfangen würde.

Steiners Hotel lag an der einspurigen Dorfstrasse, die sich längs durch Pontresina zog. Die Zimmer waren rustikal und ordentlich ausgestattet, Einzelzimmer allerdings Mangelware und nur mit Blick auf eine wenig attraktive Ferienhaussiedlung, die sich krakenhaft den Hang hinaufschlängelte, zu haben. Wände und Decke waren erbarmungslos mit Arvenholz getäfelt und durch eine verschlossene Verbindungstür zum Nebenzimmer war der Liebeslärm eines italienischen Paares zu vernehmen. Steiner hatte keine Lust, sich das anzuhören, er ging nach draußen. Pontresinas Dorfkern war alt und beschaulich, die von ihren Touren heimkehrenden Wanderer und Bergsteiger, die die Straßen bevölkerten, bildeten einen Kontrast zu den vornehmen Hotels, die sich auffällig-unauffällig hinter Fassaden verbargen. Steiner verschlug es auf die Terrasse eines dieser Hotels, von der aus er den langsam aufziehenden und unendlich durchsichtigen Abendhimmel hinter der im Schatten versunkenen Sellagruppe betrachten konnte, an dem glühwürmchengleich erste Sterne aufzuleuchten begannen. Ein erfrischender Talwind verdrängte die alpine Sommerhitze, die ohnehin nur bei direkter Einstrahlung der Sonne wirkte, alles, was im Schatten lag, fühlte sich angenehm kühl an. Dies schätzte Steiner an den Alpen, es gab keine Halbheiten.

Der Termin mit dem pensionierten Polizisten Giancarlo Tschenett war am nächsten Morgen, es blieb Zeit. Er versank noch eine lange Weile in der Dämmerung, trank Wein und wechselte, als er zu frieren begann, ins Restaurant.

Tschenett war offenbar nicht nur geistig, sondern auch körperlich noch voll bei Kräften. Als Steiner vor seinem Haus vorfuhr, winkte der alte Mann ihn gleich weiter zu einem nahe gelegenen Parkplatz. Zügigen Schrittes folgte er Steiner dahin.

»Es war ein jahrelanger Kampf mit den Autofahrern. Diese Idioten meinen, überall halten zu können, nur um Sonnenschutzmittel zu kaufen oder ihre Skier zum Service zu bringen, und verstopfen dabei die enge Straße. In der Weihnachtszeit war zeitweise kein Durchkommen mehr, ich musste ein hartes Regime einführen, um dieser Plage ein Ende zu setzen und den Verkehrsfluss aufrechtzuerhalten. Die Marotte, Autofahrer am Parken auf offener Straße zu hindern, konnte ich mir nicht mehr abgewöhnen. – Freut mich, ich bin Giancarlo Tschenett, und Sie müssen Herr Steiner sein. Herr Burkhart hat mich darüber informiert, weshalb Sie hier sind. Fahren wir.«

»Wohin?«

»Na, zum Unfallort natürlich, wohin denn sonst.«

»Der Berninapass ist lang. Wo genau befindet sich die Stelle?«

»Was?«, fragte Tschenett überrascht, »das wissen Sie nicht? Du meine Güte. Was hat Burkhart Ihnen denn erzählt?«

»Nichts. Mein Interview mit ihm folgt erst.«

»Also dann, fahren Sie los, Richtung Passhöhe. Der Unfall geschah in einer Kurve zwischen Morteratsch und Bernina Suot.«

Steiner setzte sein Auto in Fahrt. Sie verließen Pontresina und gelangten auf die Hauptstraße nach Poschiavo. An ein paar gewerbeähnlichen Gebäuden vorbei fuhren sie aus dem Dorf, es blieb vorerst flach und gerade. Nach wenigen Kilometern ging’s in den Wald, die Straße stieg leicht an, rechts zeigte ein Wegweiser Richtung Morteratsch. Erste Kurven kündeten die Passstraße an. Nach einer Haarnadelkurve wurde es abrupt steiler, der Wagen lief hochtourig, und dann ging es schon in die nächste enge Wendung.

»Da unten«, schrie Tschenett.

»Was da unten.«

»Da unten schrammte das Auto haarscharf an einem Baum vorbei und blieb dann stecken.«

»Ich kann jetzt nicht anhalten.«

»Fahren Sie weiter. Um die nächste Kurve und über die Bahntrasse.«

»Was für eine Bahntrasse?«

Und schon holperte das Auto über die Schienen, die quer über die Fahrbahn führten und wie eine Schwelle in der steilen Straße lagen.

»Und jetzt nach rechts, hier in der Montebellokurve können wir kurz parken.«

Steiner blinkte und fuhr nach rechts. Die Aussicht hielt, was der Name versprach. Die Straße machte eine Ausbuchtung und die Touristen konnten aus ihren Autos, Campern und von ihren Motorrädern steigen und ungestört das vor ihnen sich öffnende Tal mit dem Morteratschgletscher, den Bergen der Bellavistagruppe und der Bernina fotografieren. Jetzt erinnerte sich Steiner wieder an diesen Blick, er kannte ihn aus seiner Kindheit, man nannte sie die Ovomaltinekurve, denn auf der Ovomaltinebüchse, aus der er allmorgendlich das Malzpulver für die Milch löffelte, war genau jenes Panorama abgebildet, das sich vor ihnen ausbreitete. Deshalb kam ihm alles so vertraut vor.

Sie stiegen aus und Tschenett begann sofort mit seinen Erklärungen.

»Sehen Sie, das ist das Gefährliche an diesem Abschnitt.«

»Was?«, fragte Steiner.

»Schauen Sie hoch. Da oben«, er zeigte mit dem Finger den Verlauf der Straße nach. »Das Gleis liegt noch parallel zur abschüssigen Fahrbahn, das sind sicher fünf oder sechs Prozent Gefälle, die Bahn macht dann aber im Gegensatz zur Straße einen weiten Bogen und überquert in einem rechten Winkel die Fahrbahn. Wenn Sie von oben her über die Schienen fahren, fühlt sich das an, als seien Sie auf einer kleinen Sprungschanze. Wenn Sie zu schnell diese Schwelle überqueren, riskieren Sie, dass der Wagen einen Hüpfer macht, und auf diesem steilen Gelände verlieren Sie die Kontrolle über das Fahrzeug im Nu. Sie verpassen die leichte Rechtskurve, die zur scharfen Linkskurve hinunterführt, die wir gerade hochgefahren sind. Sie rasseln geradeaus über den Waldboden wieder zurück auf die Straße, die aber, da Sie ja geradeaus gefahren sind und gar keine Kurve genommen haben, im rechten Winkel zu Ihrer Fahrtrichtung verläuft, und landen dann in den Leitplanken. Heute. Damals waren sie noch nicht so robust wie heute. Auch der Belag war ein anderer.«

Steiner ging der Fahrbahn entlang, überquerte das Geleise und stieg zu den darauf folgenden Kurven hinunter. Er machte ein paar Aufnahmen und studierte das Profil, der Bahnübergang sah tatsächlich wie eine kleine Schanze aus.

»Sie müssen sich vorstellen, wie es war, damals im Oktober 1975. Ein schöner Herbsttag, man wanderte, die Beine waren etwas müde, der Kopf hatte vielleicht etwas zu viel Sonne abgekriegt, man trank ein Gläschen Veltliner in der Hütte. Gegen Abend bedeckte sich der Himmel, ein Gewitter kündigte sich an, und ein leichter Regen setzte ein. Die Straße wurde noch rutschiger, vielleicht lagen schon ein paar Lärchennadeln auf dem Boden. Herr Burkhart kam mit seinem Sportwagen vermutlich etwas zu schnell auf den Bahnübergang zugerast, dann versuchte er zu bremsen, glitt aber über die rutschig gewordenen Schienenstränge und den Lärchennadeln weg, rumpelte geradeaus durch den Wald, krachte zurück auf die Straße, überquerte diese und stürzte in die Tiefe. Paff. So schnell geht das. Im Gegensatz zu Herrn Burkhart war der Beifahrer, der ums Leben kam, nicht angeschnallt, eine Pflicht dazu gab’s damals noch nicht. Als ich am Unfallort eintraf, standen drei Autos hier herum und fünf Leute versuchten, die Insassen zu bergen. In diesem unwegsamen Gelände hatten sie keine Chance, es war sehr frustrierend. Wir stellten fest, dass Burkhart noch lebte, er saß bewusstlos auf der dem Berg zugewandten Seite des Wagens, die andere Seite sah wie eine aufgeschlitzte Dose aus. Es war ein entsetzlicher Anblick. Der Beifahrer war sofort tot. Die Ambulanz traf kurz nachher ein, um Herrn Burkhart zu bergen. Später kam auch noch die Feuerwehr, um den Wagen hochzuziehen.«

»Wer war der Tote? Das konnte ich noch nicht herausfinden. Es waren ja Inge und Paul Burkhart im Wagen, und Inge ist vor zehn Jahren gestorben, der alte Burkhart lebt bekanntlich noch. Also, wer war der Dritte?«

»Nein, nein. Inge Burkhart war nicht im Wagen, beim Jaguar handelte es sich um einen Zweisitzer. Neben Paul Burkhart saß ein Deutscher.«

»Ein Deutscher? Und Inge?«

»Inge Burkhart war nicht da. Sicher. Sie haben ja die Zeitungsnotiz gelesen?«

»Deshalb bin ich hier.«

»Burkhart war schon damals kein Niemand. Und es war immer von einem Verletzten und einem Todesopfer die Rede.«

»Schon, aber ich dachte, Inge sei nicht verletzt und deswegen in den Meldungen nicht erwähnt worden.«

»Inge war definitiv nicht dabei, sie fuhr mit dem Chauffeur nach Hause.«

»Mit dem Chauffeur?«

»Das müssen Sie Burkhart fragen.«

»Können Sie mir das Unfallprotokoll besorgen?«

»Wenn wir Frau Caflisch, die Sekretärin, nett fragen, wird sie Ihnen eine Kopie machen. Rücken Sie Ihr Telefon raus.«

Steiner übergab ihm wortlos sein Handy. Tschenett drückte auf der Tastatur herum, sprach ein paar Worte rätoromanisch und gab Steiner das Telefon zurück.

»Kein Problem, Frau Caflisch wird die Unterlagen für Sie noch vor Mittag an der Rezeption hinterlegen.«

»Wer war der namenlose Deutsche?«

»Inges Vater.«

»Aha, der Vater. Der muss also gemäß Inges Mädchenname Kohler geheißen haben.«

»Nein, nein, so hieß er nicht, sein Name war Schulze. Im Pass, den wir sicherstellen konnten, stand Horst Schulze, geboren in Essen, wo er auch gemeldet war. Er war arbeitslos. Burkhart hatte damals darum gebeten, dies nicht öffentlich zu kommunizieren, wie man das heute wohl ausdrücken würde.«

»Warum nicht?«

»Fragen Sie ihn selbst, ich weiß es nicht. Wir haben uns an seine Bitte gehalten.«

»Moment, ist Inges Vater nicht im Krieg umgekommen, bei einer der Bombardierungen von Essen, vermutlich eine jener im Jahre 1944? Man hatte ihre Eltern nicht ausfindig machen können, daher ging man davon aus, dass diese gestorben waren und sie, Inge, wurde zu Pflegeeltern gebracht, eben den Kohlers. Das hab ich aus den Unterlagen zu Inge Burkhart ersehen.«

»Ich kann nur sagen, dass der Mann, den wir geborgen haben und der vorher noch quicklebendig war, am Samstag, den 11. Oktober 1975, starb, und zwar hier unten zwischen den Bäumen. Er war laut Aussage Burkharts der Vater von Inge. Er wurde aus dem Wagen geschleudert.«

»Aber Burkharts Frau führte den Mädchennamen Kohler.«

»Mag sein, wir sind dieser Sache nicht nachgegangen. Wir hatten einen Pass. Es gab keinen Zweifel an dessen Gültigkeit. Und die deutschen Behörden hatten kooperiert und sich nicht genauer dafür interessiert.«

Das Protokoll, das Steiner bei seiner Rückkehr ins Hotel entgegennehmen konnte, bestätigte den Unfallhergang, wie ihn Tschenett geschildert hatte, der alte Mann hatte ein gutes Erinnerungsvermögen. Inges Vater hatte also Horst Schulze geheißen.

Burkhart war sichtlich nervös, als er Steiner zehn Tage später in seinem Haus begrüßte. Für seine Verhältnisse ist das Anwesen bescheiden, dachte Steiner. Burkhart bat Steiner ins Wohnzimmer. Außer ihnen war niemand da.

»Ich vermute, Sie waren erstaunt darüber, was Sie vorletzten Dienstag von Polizist Tschenett in Pontresina erfahren haben. Ich habe gar keine Freude, dass Sie über meinen Werdegang schreiben wollen. Ich konnte es bis jetzt erfolgreich verhindern, dass in meinem Privatleben herumgeschnüffelt wurde, aber heutzutage kommt man wohl nicht mehr darum herum. Ich werde mir Mühe geben, alles zu klären und zu erklären. Ach ja, bei meinen Kindern waren Sie ja schon letzte Woche, wie ich gehört habe.«

»Und in Berlin.«

»Was haben Sie denn dort gemacht?«

»Recherchiert.«

»Worüber?«

»Über die Investitionen Ihrer Söhne im ostdeutschen Immobilienmarkt.«

»Oje, da werden Sie vermutlich nichts Erfreuliches erfahren haben.«

»In der Tat. Aber davon vielleicht später. Fangen wir mit Pontresina an.«

»Fangen wir mit Pontresina an«, wiederholte Burkhart.

Das Band lief.

»Wer war Horst Schulze?«, fragte Steiner.