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ISBN 978-3-492-97523-0
August 2016
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: Favoritbüro, München
Covermotiv: StevanZZ/Shutterstock
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen



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LE PREMIER JOUR

DER ERSTE TAG

Während er keuchend in die Pedale trat und ihm der Schweiß von der Stirn rann, bemühte er sich darum, auf die landschaftlichen Reize zu achten. Das lenkte ab und hinderte ihn daran, ständig an die nächste Pause zu denken. Denn bevor er sich ein schattiges Plätzchen suchen und seine zweite Wasserflasche leeren würde, wollte er mindestens weitere fünf Kilometer bei geschätzten dreihundert Höhenmetern schaffen.

Die Weinberge hatte er schon eine Weile hinter sich gelassen und hangelte sich auf seinem Rennrad nahe an der Waldgrenze entlang. Zwischen den dicht stehenden Nadelbäumen und wucherndem Farn schimmerte es rötlich durch die Zweige: der Buntsandstein, seit Jahrhunderten begehrtes Baumaterial für Burgen und Dörfer, aber auch Rohstofflieferant für die Glasmanufakturen. Inzwischen kannte er sich recht gut aus und wusste um die Besonderheiten der Landschaft. Dank seiner ausgedehnten Radtouren hatte er sich mit Flora, Fauna und geologischen Merkmalen vertraut gemacht – eine willkommene Abwechslung zu den vielen Stunden im Büro. Er hatte den teils rauen, teils lieblichen Charme der Vogesen schätzen gelernt, war Wildtieren begegnet und hatte ihm bislang unbekannte Pflanzen gesehen: die Torfmoose etwa, kleine robuste Stämme mit edelweißförmiger Krone, und sogar den seltenen fleischfressenden Sonnentau konnte er neulich bestaunen.

Er radelte weiter auf der kurvenreichen Piste, mal bergauf, mal bergab. Je größer die Anstrengung wurde und die Kondition nachließ, desto weniger Blicke hatte er für die schöne Umgebung übrig. Seine Energiereserven flossen in die Beine, nicht in den Kopf, und unwillkürlich entfernten sich seine Gedanken vom Hier und Jetzt.

Bald war er sehr weit weg. Über achthundert Kilometer. Jules Gabin dachte an seine alte Heimat an der Westküste Frankreichs. Die sonnenverwöhnten Ostertage hatte er dafür genutzt, um gemeinsam mit Lilou die Düne von Pilat zu erklimmen. Der riesige Sandhaufen vor den Toren von Arcachon faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue. Mit einem Pizzakarton und einer Flasche Bordeaux unterm Arm hatten sie den steilen Anstieg gemeistert und waren dabei bis zu den Knöcheln im puderweichen, warmen Sand versunken. Auf dem Scheitel in gut einhundert Metern Höhe hatten sie ihre Picknickdecke ausgebreitet und sich in der Abenddämmerung zugeprostet. Mit dem Blick aufs Meer, seinen über alles geliebten Atlantik.

Nun war der Ozean so weit weg wie seine Freundin. Sehnsüchtig dachte er an seine zierliche, aber umso temperamentvollere Lilou und die viel zu kurze Zeit, die er mit ihr verbringen durfte. Die Wehmut verursachte ein Ziehen in seiner Brust – oder lag es an der allmählich ausgehenden Puste?

Was konnte er dagegen tun, dass er sie vermisste? Starke Gefühle gehörten nun mal dazu, wenn man eine Fernbeziehung führte. Nichts anderes war es ja, auf das sich Jules eingelassen hatte. Hier und jetzt, zurück als Kommandant der Gendarmerie nationale im elsässischen Rebenheim, musste Major Gabin über diesen Dingen stehen und sich auf die Gegebenheiten seiner neuen Wirkungsstätte einlassen.

Die Erinnerung an das Picknick auf der Düne drang bis zu seinem Magen durch. Der fing fordernd an zu brummen. Da auch seine Beine nicht länger mitspielen wollten und das Gesäß schmerzte, reduzierte Jules seine Zielvorgabe und hielt Ausschau nach einem netten Plätzchen. Dort wollte er rasten, bevor er sich den Hang hinab zurück in sein Winzerörtchen rollen lassen würde.

Jules fand bald eine gemütliche Stelle an einem von Auen umgebenen Weiher. Nachdem er sein Rad an einen Baumstumpf gelehnt, den Helm abgelegt und sich die Fahrradhandschuhe abgestreift hatte, nahm er die Trinkflasche zur Hand und leerte sie bis auf einen kleinen Rest, den er der Vernunft halber für den Rückweg aufhob. Dann setzte er sich so, dass er eine gute Aussicht auf das Tal hatte. Jules öffnete seinen Rucksack und holte eine Brotzeit heraus – liebevoll zusammengestellt von seiner Zimmerwirtin Clotilde. Mit Heißhunger machte er sich über Bauernbrot, hart gekochte Eier und Münsterkäse her. Es schmeckte ihm so gut wie in einem Sternerestaurant. Mindestens! Während er sein casse-croûte genoss, rückten Atlantikküste und Lilou langsam wieder in die Ferne.

Kauend schaute er ins Tal, ließ seine Blicke über die sanften Hügel gleiten, die nahezu vollständig mit Wein bebaut waren. Dazwischen lagen die kleinen Orte der Weinstraße, verschlafene Nester und umtriebige Touristenzentren. Noch weiter entfernt, hinter Feldern und Autobahn, glitzerte das breite Band des Rheins in der Sonne. Die Grenze zum benachbarten Deutschland, wo man die Gipfel des Schwarzwalds erahnte.

Jules wischte sich Brotkrumen aus dem Mundwinkel und wollte gerade seine kurze Rast beenden, als er auf etwas aufmerksam wurde. In der Nähe von Rebenheim, am Fuß einer der Weinberge, tat sich etwas, das er zunächst nicht einzuordnen vermochte. Er war sich nicht sicher, ob es sich vielleicht bloß um einen Dunstschleier handelte. Eine Nebelschwade, die sich zwischen den abfallenden Hängen in den Reben bildete und für einen Frühsommermorgen wie heute typisch war.

Doch dann kam ihm die Idee, dass es auch etwas anderes sein könnte. Denn die Sonne stand inzwischen schon recht hoch und schien kräftig. Die Luft war zu trocken, um zu kondensieren. Sollte es sich um Rauch handeln?

Jules wog gerade noch das Für und Wider ab, da wurde seine Befürchtung bestätigt: Die Wolke breitete sich schnell aus, färbte sich schwarz. Sekunden darauf züngelten erste Flammen über der Kuppe.

»Putain!«, fluchte Jules und sprang auf. Hastig suchte er nach seinem Handy, das irgendwo am Grund seines Rucksacks liegen musste. Er agierte fahrig und nervös, denn Jules wusste sehr wohl, was sich im Tal abspielte: Der Feuerteufel hatte wieder zugeschlagen!

Seit Wochen trieb er sein Unwesen in den Gemeinden rund um Rebenheim. Mal brannte ein Heuschober, mal ging ein Geräteschuppen in Flammen auf. Der Sachschaden hielt sich in Grenzen, und zum Glück gab es bislang keinen Personenschaden. Doch die Leute sorgten sich und machten Jules dafür verantwortlich, dass der Schuldige nach wie vor nicht gefasst werden konnte.

»Salut, Alain«, rief Jules in sein Smartphone, kaum dass sein Adjutant sich gemeldet hatte. »Es brennt! Ich schätze, wieder irgendeine Scheune. Ungefähr einen Kilometer nordöstlich von Rebenheim. Es könnte sich um das Gut von Miguel handeln. Schicken Sie sofort einen Wagen los. Das heißt, nein. Schnappen Sie sich François als Unterstützung und fahren Sie selbst hin! Und alarmieren Sie Claude. Er soll einen Löschzug rausschicken. Ich komme sofort nach.«

Mit Sorge beobachtete Jules, wie sich das Feuer rasch ausbreitete. Offenbar fand es ausreichend Nahrung in Form von aufgeschichtetem Holz oder Stroh. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Jules raffte seine Sachen zusammen und sprang auf sein Rad. Er wusste, dass es eine Weile dauern würde, bis Claude seine Männer zusammengetrommelt hatte. Das kleine Rebenheim hatte natürlich nur eine freiwillige Feuerwehr, die noch dazu an chronischer Überalterung und Nachwuchsmangel litt. Die Überalterung bezog sich leider nicht nur auf Claudes Truppe, sondern auch auf die Rüstwagen der Marken Renault, Peugeot und Iveco. Sie wurden zwar wenig bewegt und hatten daher kaum Kilometer auf dem Tacho, hatten aber durchschnittlich zwanzig Jahre auf dem Buckel. Sie neigten dazu, gerade dann nicht anzuspringen, wenn es dringend nötig war.

Jules trieb sein Rad die Serpentinen herunter. Er nahm in Kauf, dass die schmalen Felgen seiner Rennmaschine Schaden nahmen, denn bei seiner rasanten Talfahrt konnte er unmöglich auf jedes Schlagloch achten. Er sauste an Rebstöcken vorbei, deren Laub in frischem Grün leuchtete, überholte andere Radfahrer, die gemächlich in die Pedale traten, und klingelte Wandergruppen beiseite, die dachten, dass die Wege nur für sie bestimmt wären.

Er hatte seinen eigenen Geschwindigkeitsrekord auf dieser Strecke geschlagen, als er keine Viertelstunde später an seinem Ziel eintraf. In gebührendem Abstand warf Jules sein Rad in die Böschung und versuchte, sich ein Bild der Lage zu machen. Wie vermutet, war eine Scheune in Brand geraten oder vielmehr ein größerer Schuppen. Weinbauer Miguel stellte hier seine Geräte unter, die er für die Lese benötigte. Der Holzverschlag, der etwa fünf mal fünf Meter maß und nicht höher als eine Garage war, brannte lichterloh. Die Flammen schlugen weit in die Höhe und erzeugten ein tosendes Prasseln. Obwohl Jules auf Distanz blieb, spürte er die Gluthitze auf seiner Haut.

Er schaute sich um, in der Hoffnung, Claudes Spritzenautos um die Ecke biegen zu sehen. Fehlanzeige. Es sah ganz danach aus, als würde der Einsatzwagen mal wieder streiken. Auch von Adjutant Lautner fehlte jede Spur. Wo blieb er bloß?

Jules verspürte das dringende Bedürfnis, etwas zu unternehmen. Doch was sollte er tun? Er hatte nichts bei sich, mit dem er das Feuer löschen konnte. Mit bloßen Händen schon gar nicht. So schwer ihm die Einsicht auch fiel, er allein konnte nichts ausrichten.

Er musste tatenlos mit ansehen, wie der Brand bald die ganze Vorderseite des Schuppens umschloss. Funken sprühend und gierig züngelnd fraß sich das Feuer durch die Bretter der Wände, verwandelte den Dachstuhl in ein rauchendes Gerippe. Die Flammen fauchten, das Holz krachte. Ein Höllenlärm!

So laut, dass Jules das andere Geräusch beinahe überhörte. Es handelte sich um eine Art Jaulen. Erst zurückhaltend und von längeren Pausen unterbrochen, dann kräftiger und anhaltend. Jules stutzte, fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Der Hitze zum Trotz wagte er sich näher an das Flammeninferno heran. Versuchte sich auf die Jaultöne zu konzentrieren.

Je näher er kam, desto deutlicher hörte er sie. Es waren jämmerliche Laute. In ihnen schwangen Angst und Leid mit. Jules meinte, dass sein Radlerdress jeden Augenblick auf seiner Haut schmelzen würde. Dennoch kämpfte er sich weiter voran, hielt die Hand zum Schutz gegen die Helligkeit vor die Augen.

Das qualvolle Jammern war nun nicht mehr zu überhören. Mit Einbildung, wie es Jules bis eben für möglich gehalten hatte, konnte das nichts mehr zu tun haben. Hier befand sich jemand in größter Not – und Jules musste ihm helfen.

Noch einmal sah er sich um, suchte die Straße nach heraneilenden Rettungskräften ab. Aber er blieb auf sich allein gestellt. Da es keinen Zweck hatte, sich weiter bis zu der brennenden Front vorzuarbeiten, wollte es Jules von der Seite versuchen. In der Hoffnung, dass der Brand noch nicht den kompletten Bau eingenommen hatte.

»Halten Sie durch!«, schrie er gegen das Dröhnen und Trommeln des Feuers an. »Ich hol Sie da raus!«

Von der Seite kommend stellte er fest, dass die Gerätescheune über einen kleineren Anbau verfügte. Dieser bestand ebenfalls aus Holz, jedoch hatten sich die Flammen noch nicht bis dorthin vorgearbeitet. Da das jämmerliche Heulen von hier aus noch klarer zu hören war, folgerte Jules, dass sich der Eingeschlossene in diesem Anbau aufhielt. Er suchte nach einer Möglichkeit hineinzukommen, entdeckte ein Tor, legte seine Hände auf den Metallbügel des Schlosses und zuckte mit schmerzerfülltem Gesicht zurück.

»Au, verflucht!«, stieß er aus und sah auf seine Handflächen. Wollte er sich keine Brandblasen zuziehen, musste er seine Finger schützen. Kurz entschlossen zog er sein Funktionsshirt über den Kopf und wickelte es sich um die Fäuste. So wollte er einen zweiten Versuch wagen.

Doch er kam nicht dazu. Einer der Balken löste sich aus dem Dachstuhl des Schuppens und sauste auf den Anbau nieder. Wie ein Rammbock durchschlug er die Abdeckung des Holzverschlages und trug das Feuer mitten hinein.

Der Eingeschlossene stieß einen entsetzten Schrei aus. Von Panik erfüllt, geradezu animalisch! Jules, der vor Schreck einige Schritte nach hinten getaumelt war, kam wieder näher.

»Keine Angst!«, rief er. »Ich öffne gleich das Tor!«

Jules nahm all seinen Mut zusammen, rannte gegen das wütend tobende Feuer, steuerte auf das Tor zu. Das tat er beinahe blind, denn er musste seine Augen gegen das gleißende Licht schützen. Seine Hände, jetzt mit dem Stoff seines Trikots geschützt, ertasteten das glühende Metall des Schließmechanismus. Er versuchte, ihn herunterzudrücken. Aber der Hebel klemmte.

Du musst es schaffen, stachelte er sich an. Er versuchte es abermals. Scheiterte. Dann auf ein Neues. Wieder und wieder. Zwecklos. Der Schieber ließ sich nicht bewegen, gab keinen Millimeter nach. Jules musste husten, der Rauch war unerträglich. Doch die kläglichen Töne von drinnen weckten neue Kräfte in ihm. Noch einmal probierte er, den Hebel umzulegen. Mit der Kraft der Verzweiflung schaffte er das Unmögliche, und endlich gab das Eisen nach! Die Blockade der Tür war aufgehoben. Jules zog das Tor auf. Die heiße Luft, die ihm entgegenblies, haute ihn beinahe von den Beinen.

Die Pforte stand jetzt offen. Jules jedoch, schweißnass und rußgeschwärzt, wusste, dass damit nichts gewonnen war. Er musste sich in das Flammenmeer hineinstürzen, das bedrohlich lodernd nur auf ihn zu warten schien. Mit wenigen Blicken sondierte er die Lage, entdeckte eine schmale Flucht, die wie durch ein Wunder nicht vom Feuer erfasst worden war.

»Ich hole Sie jetzt raus! Halten Sie sich bereit!«, rief er.

Jules löste die angesengten Stofffetzen von seinen Handgelenken und hielt sie sich vor Mund und Nase, um den beißenden Rauch abzuwehren. In geduckter Haltung lief er durch den Korridor, der ihn geradewegs zu einem vergitterten Abteil führte. Eine Abstellkammer? Hier musste sich der Unglückselige aufhalten, dachte Jules und versuchte, den Mann ausfindig zu machen.

»Wo sind Sie? Machen Sie sich bemerkbar!«, rief er gegen das Krachen des Gebälks an.

Beim näheren Hinsehen erkannte er, dass er nicht vor einer Abstellkammer stand, sondern einer Art Stall. Die Einsicht traf ihn wie ein Donnerschlag: Als er das Gatter öffnete, stand ihm ein Ziegenbock gegenüber. Verängstigt stieß das Tier seine klagenden Laute aus, die Jules für das Jammern eines Menschen in Not gehalten hatte.

Jules fackelte nicht lang, bekam das eingeschüchterte Tier zwischen den Läufen zu fassen und hob es hoch. Der Bock war nicht besonders schwer und gab sich lammfromm. Jules hatte keine Mühe, ihn aus der Flammenhölle herauszutragen.

Gerade im rechten Moment. Kaum hatte er die Scheune mit der Ziege in den Armen verlassen, brach der ganze Laden hinter ihm zusammen. Es rumste mörderisch, Zehntausende Funken stoben in den Himmel. Jules rang um Atem und dankte seinem Schöpfer dafür, dass er ihn mit heiler Haut davonkommen hatte lassen.

Da er so sehr auf den infernalischen Brand und das schlotternde Tier fixiert war, bekam er erst mit einiger Verzögerung mit, dass er nicht mehr allein war. Als er sich umsah, standen dort nicht nur die Feuerwehrautos mit Claudes einsatzbereiter Mannschaft, sondern auch Vincent Le Claire. Der Reporter der Lokalzeitung Les Nouvelles du Haut-Rhin richtete seine Kamera auf Jules und drückte ab.