TANITH LEE

 

 

Lycanthia oder:

Die Kinder der Wölfe

 

Tanith Lee-Werkausgabe, Band 1

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Die Autorin 

Das Buch 

Schnee im Harem des Archimedes: Vorwort von Christian Dörge 

 

Erster Teil: UNBEKANNTES LAND: 

1. Kapitel: DIE ANKUNFT 

2. Kapitel: DER SALON 

3. Kapitel: DER HUND 

4. Kapitel: DAS SCHLAFZIMMER 

5. Kapitel: DER AUSFLUG 

6. Kapitel: DER WALD 

 7. Kapitel: DER TEUFEL 

8. Kapitel: DAS FESTMAHL 

9. Kapitel: DIE VERFÜHRUNG 

 

Zweiter Teil: VERLORENE KINDER 

10. Kapitel: DAS BEGRÄBNIS 

11. Kapitel: DAS GEWEHR 

12. Kapitel: DAS GESPRÄCH 

13. Kapitel: DIE DIENSTBOTEN 

14. Kapitel: DER SCHNEE 

15. Kapitel: DER BESUCH 

 

Dritter Teil: DIE AUGEN DERER, DIE MICH LIEBEN 

16. Kapitel: DAS DELIRIUM 

17. Kapitel: DER MORGEN 

18. Kapitel: DIE PRÜFUNG 

19. Kapitel: DIE LIEBHABER 

20. Kapitel: DIE LIAISON 

21. Kapitel: DIE WARNUNG 

22. Kapitel: DIE VERDAMMTEN 

23. Kapitel: DIE VERGEWALTIGUNG 

24. Kapitel: DAS FEST 

 25. Kapitel: DER HIMMEL 

26. Kapitel: DIE HÜTTE 

27. Kapitel: DIE ABREISE 

 

Die Autorin

Tanith Lee.

(* 19. September 1947, + 24. Mai 2015).

 

Tanith Lee war eine britische Horror-, Science Fiction- und Fantasy-Schriftstellerin und Verfasserin von Drehbüchern. Sie wurde viermal mit dem World Fantasy-Award ausgezeichnet (2013 für ihr Lebenswerk) und darüber hinaus mehrfach für den Nebula- und British Fantasy-Award nominiert.

Im Laufe ihrer Karriere schrieb sie über 90 Romane und etwa 300 Kurzgeschichten. Sie debütierte 1971 mit dem Kinderbuch The Dragonhoard; 1975  folgte mit The Birthgrave (dt. Im Herzen des Vulkans) ihr erster Roman für Erwachsene, der zugleich auch ihren literarischen Durchbruch markierte.

Tanith Lees Oevre ist gekennzeichnet von unangepassten Interpretationen von Märchen, Vampir-Geschichten und Mythen sowie den Themen Feminismus, Psychosen, Isolation und Sexualität; als wichtigsten literarischen Einfluss nannte sie Virginia Woolf und C.S. Lewis.

Zu ihren herausragendsten Werken zählen die Romane Trinkt den Saphirwein (1978), Sabella oder: Der letzte Vampir (1980),  Die Kinder der Wölfe (1981), Die Herrin des Deliriums (1986), Romeo und Julia in der Anderswelt (1986), die Scarabae-Trilogie (1992 bis 1994), Eva Fairdeath (1994), Vivia (1995), Faces Under Water (1998) und White As Snow (2000).

1988 gelang ihr mit Eine Madonna aus der Maschine (OT: A Madonna Of The Machine) ein herausragender Beitrag zum literarischen Cyberpunk; eine Neu-Übersetzung der Erzählung wird in der von Christian Dörge zusammengestellten Anthologie Cortexx Avenue enthalten sein.

Ihre wichtigsten Sammlungen von Kurzgeschichten und Erzählungen sind: Red As Blood/Tales From The Sisters Grimme (1983), The Gorgon And Other Beastly Tales (1985) und Nightshades: Thirteen Journeys Into Shadow.

Tanith Lee war seit 1992 mit dem Künstler John Kaiine verheiratet und lebte und arbeitete in Brighton/England.

Sie verstarb im Jahre 2015 im Alter von 67 Jahren.

 

Der Apex-Verlag widmet Tanith Lee eine umfangreiche Werkausgabe.

Das Buch

 

 

 

Christian Dorse – ein junger Pianist aus Paris mit einer Vorliebe für Rachmaninow -  kehrt zurück in das Schloss seiner Familie. Durch die Schuld seines Großvaters war dieser Besitz einst verloren gegangen und wurde erst jetzt an die Familie Dorse zurückgegeben. Der neue Besitzer glaubt sich im Griff einer tödlichen Krankheit und erwartet nicht, das Leben im Schloss allzu lange genießen zu können.

Christian empfindet seine neue Heimat als perfekte Kulisse für seinen Verfall und seinen Tod – wie auch das weitläufige Anwesen seit Jahren dem Verfall preisgegeben wurde. Es ist den vier Dienern nicht gelungen, mehr als einen kleinen Teil des Gebäudes zu erhalten. Das isolierte Schloss hat einen verderblichen Einfluss auf Christian.

Obwohl er von sich selbst zunächst als Eindringling denkt, genießt Christian bald seine Rolle als lokaler Seigneur, genießt den Luxus und verführt eines der Dienstmädchen.

Christian hat – neben den rückständigen, abergläubischen Bauern im nahegelegenen Dorf – noch weitere Nachbarn: Die Geschwister de Lagenay, Luc und Gabrielle, die tief im Wald in einer Hütte wohnen. Beide werden gefürchtet und von den Dorfbewohnern gemieden. Jener Wald, in dem sie leben, ist auch die Heimat von Wölfen, und die Bauern sind überzeugt, dass die Wölfe und die de Lagenays ein und dasselbe sind. Es ist die Rede von einem alten Fluch - ein Fluch, für den Christians eigene Vorfahren verantwortlich sind. Ein Fluch, mit dem Christian untrennbar verbunden ist...

 

Der Apex-Verlag startet seine umfangreiche TANITH-LEE-Werkausgabe mit dieser klassischen, im Jahre 1981 erstmals veröffentlichten Gothic Novel, die viele trügerische Fährten legt und die den Leser wiederholt mit seitenverkehrten Spiegelbildern genre-typischer Muster überrascht. DIE KINDER DER WÖLFE – ein in Deutschland zu Unrecht lang vergessenes Meisterwerk der britischen Autorin.

 

 

Frühe Ausgaben von Lycanthia oder Die Kinder der Wölfe: 

Schnee im Harem des Archimedes

Vorwort von Christian Dörge

 

 

»Eines Tages würden auch sie vielleicht wie die

dreihundertjährigen menschlichen Aristokraten

an Langeweile sterben.«

 

- Tanith Lee, TAGTRAUM UND NACHTLICHT

 

 

 

 

  Schnee. Denke ich an Die Kinder der Wölfe, so denke ich an: Schnee. Und dies nicht nur aus dem Grund, weil es in diesem Roman jede Menge davon gibt. Vielmehr findet sich die Ursache für diese Assoziation darin, dass meine Liaison mit Tanith Lee gewissermaßen im Schnee begonnen hat, damals, im Dezember 1984, in den österreichischen Alpen. Und ganz im Gegentum zur Bedeutung des Wortes Liaison wurde aus der Begegnung nicht nur eine Affäre oder eine vorübergehende Schwärmerei; diese – freilich literarische – Liebesbeziehung erwies sich als intensiv genug, um ein Leben lang Bestand zu haben.

  Was also war geschehen?

  Nun, im Winter 1984/85 – ich war fünfzehn Lenze jung – befand ich mich im Ski-Urlaub in einem Örtchen namens Berwang, irgendwo in den tief verschneiten – ich sagte es bereits – österreichischen Alpen. Offenkundig (und konträr zu meinen üblichen diesbezüglichen Gepflogenheiten) hatte ich das Ausmaß an benötigter Reise-Lektüre grob fahrlässig unterschätzt: Frank Herberts erstaunliches Epos Der Wüstenplanet hatte ich bereits nach zwei Tagen alpinen Aufenthalts gewissermaßen verschlungen. Was darauf hindeutet, wie langweilig dieser Urlaub abseits der Pisten war – boring, wie es Sherlock Holmes (Cumberbatch, nicht Cushing) vortrefflich auf den Punkt gebracht hätte. Und wer mich kennt, der weiß: Ich werde ernstlich unruhig, wenn kein Lesestoff in greifbarer Nähe ist.

  Dem Himmel sei’s gedankt: In Berwang gab es nicht nur ungezählte Pisten, die man auf Skiern herabzusausen die Stirn hatte, sondern auch einen (einen!) Buchladen, in welchem man mittels Schilling (ja, auch sie war damals noch unter uns: die österreichische Währung) Literatur unterschiedlichster Couleur erwerben konnte: Ich war in meinem Element.

  An einem drehbaren Ständer – jenem der sogenannten Schund-Literatur vorbehaltenen Ort – entdeckte ich eine ganze Reihe von Büchern des Münchener Heyne-Verlags; diese Reihe firmierte unter dem finster dreinblickenden Stichwort Die unheimlichen Bücher.

  Es ging also schon mal in die erwünschte (ach was: ersehnte!) Richtung.

  Also blätterte ich hier, staunte ich da (besonders über manches Cover-Motiv) und entschied mich schließlich für folgende Romane: Halloween II von Jack Martin, Die Geliebte des Mönchs von Leonard Bishop, Raga Six von Frank Lauria, Kinder der Hölle von John Shirley sowie – der aufmerksame Vorwort-Leser wird’s erraten haben – Die Kinder der Wölfe von Tanith Lee.

  Einstweilen war der Urlaub gerettet.

  Ich muss gestehen: Jeder der vorgenannten Schreiberlinge war mir vollkommen unbekannt; und weil’s damals – wie gesagt, es waren die 80er – zwar schon Duran Duran aber eben noch nicht das Internetz gab, war der blinde Kauf von gleich fünf Büchern mindestens gewagt. 

  Immerhin: Der Film Halloween war mir ein Begriff (woran ohne Zweifel der liebenswerte Ronald M. Hahn ein gerüttelt‘ Maß an Schuld trägt...) – nicht schlecht für einen Junker der Provinz. Allein: Halloween II und Die Geliebte des Mönchs hinterließen – nach erfolgter Lektüre – keinen allzu bleibenden Eindruck in meiner linken und meiner rechten Großhirn-Hemisphäre (file under Limbisches System). Aber: Tanith Lee, John Shirley und Frank Lauria hingegen brannten sich ein in meinen visuellen Cortex. Oder volkstümlicher ausgedrückt: Ich war hin und weg. Nie hatte ich bis zu jenem Zeitpunkt Vergleichbares gelesen – ein Tor war aufgestoßen worden, das sich bis heute nicht mehr verschließen ließ (nicht, dass ich es jemals hätte verschließen wollen...!).

  An diesem denkwürdigen Tag im Dezember 1984 (dem Schluss-Akkord des Orwell’schen Jahres) entdeckte ich demnach drei Autoren (korrekter: eine Schriftstellerin, zwei Schriftsteller), die mein Leben als Leser (und ja: auch als Schriftsteller) nachhaltig beeinflussen sollten. Über zwei Drittel dieses literarischen Triumvirats – namentlich Shirley und Lauria – wird noch an anderer Stelle eingehender Berichtet zu berichten sein.

  Tanith Lee hatte mich schneller als das Licht in ihren Bann gezogen: Die Kinder der Wölfe sparte nicht an stilistischer Wucht, und die Geschichte selbst rührte manch‘ selten vernommene Saite an. Es darf also nicht verwundern, dass dieser (von ihr bereits 1981 verfasste) Roman für mich zum Inbegriff des perfekten Romans wurde, zum Maß nicht aller, aber vieler Dinge. Hilfreich für diesen Eindruck waren ohne Frage die enormen Mengen alpinen Schnees, von dem ich mich damals umgeben fand.

  Ich weiß nicht, welcher Roman (oder welche Kurzgeschichte) von Tanith Lee auf Die Kinder der Wölfe folgte – ich vermute, Trinkt den Saphirwein oder Die Herrin des Deliriums standen seinerzeit auf meiner Lese-Liste. Sicher ist: Im Laufe der Jahre (der Jahrzehnte!) las ich gut und gern 70 Romane und ungezählte Kurzgeschichten aus der virtuosen Feder jener Lady, die bis heute meine Lieblings-Autorin ist – und ich darf sagen, es war nicht ein einziger schwacher oder uninteressanter Text unter den vorgenannten Werken.

  Erstaunlicherweise jedoch verschwanden gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Bücher schleichend und nahezu geräuschlos vom deutschen Markt. Ich vermag nicht zu erklären, warum dies geschah, wirft man jedoch einen Blick in die einschlägigen Angebots-Regale der Buchhandlungen des Jahres 2016, so bekomme ich zumindest eine gewisse Ahnung von eben diesem Warum.

  Und heute, nahezu 32 Jahre, nachdem ich erstmals dem Zauber von Die Kinder der Wölfe erlegen bin, obliegt es mir, eine angemessene, in jeder Hinsicht gründlich editierte Werk-Ausgabe von Tanith Lee zusammenzustellen und in meinem Apex-Verlag zu veröffentlichen – eine Herkules-Arbeit, vor allem jedoch: ein Privileg. Und eine tiefe, dankbare Verbeugung vor einer Frau, deren Werk mein Leben und meinen Blick auf die Literatur verändert und entscheidend bereichert hat.

  Insbesondere danke ich John Kaiine, dem Witwer von Tanith Lee, für seine Güte, seine Unterstützung und seinen Enthusiasmus – ohne ihn wäre das ambitionierte Projekt einer Tanith-Lee-Werkausgabe nicht zu realisieren.

 

 

 

  Christian Dörge, 

  München, im Juni 2016.

 

 

FREFF gewidmet -

Er vermag Sonnenlicht selbst

im dunkelsten Wald

zu finden.

 

  

 

 

Erster Teil:

UNBEKANNTES LAND

 

 

  

  1. Kapitel: DIE ANKUNFT

 

  Der Zug, der unter einem Hammerkopf aus Rauch und Dampf nach Norden fuhr, war zu früh für die Jahreszeit in das Land des Winters eingedrungen, als habe er ein großes, reines, stilles Tor durchfahren.

  Wie kalt, wie verändert lag die Welt in dem weißen Morgen, als das stille weiße Licht sich zu verbreiten begann!

  Eine Welt nasser Wälder und schemenhafter Hügel. Am Horizont schlossen die Kiefern das Land wie mit Tinte ein. Die Gegend war scheinbar vollkommen menschenleer. Nichts stand neben den Gleisen oder war zwischen den Ästen sichtbar, keine von jenen dichtgedrängten Städten oder weitläufigen Dörfern, keine von den Schuppen, Hütten, Häusern und Bauernhöfen, die am Vortag, nachdem der Zug aus der großen Stadt abgefahren war, kein Ende nehmen wollten. Heute gab es nichts zu sehen, bis endlich der Bahnhof auftauchte, um den Zug hochwirbelte, als wolle er ihn mühsam und sinnlos festhalten. Um den Bahnhof herum war noch ein Überrest des Herbstes verborgen; hier und da hing an einem Busch noch ein nasses gelbes Blatt, oder ein anderes leuchtete rot an einem Ast: Flüchtlinge. 

  Als er ausstieg, war die Luft so scharf wie ein Messer. Sie drang sofort in seine Lungen ein, und er hustete beiläufig, ohne es wirklich zu registrieren. Seine Kiste und seine Koffer wurden um ihn herum versammelt. Er stand bei ihnen, eine kleine dunkle Insel in dem Albino-Morgen, als der Zug davon fuhr. In einer halben Meile Entfernung gab er einen einsamen Schrei von sich und rief ihm über die Schulter ein herzloses Lebewohl zu.

  Der Bahnhof war baufällig und sah verlassen aus.

  Als der Zug verschwunden war, schien es ihm, als sei er ausgesetzt worden oder habe mitten in einer Wildnis Schiffbruch erlitten. Christian musterte sein Gepäck ohne Hoffnung. Es war zu viel, um es zu tragen. Er wollte es nicht tragen. Man hatte ihm versichert, er wurde hier abgeholt werden, und für ein Transportmittel sei gesorgt.

  Er wollte keine Entscheidungen treffen. Der Gedanke daran, die Vorstellung, er müsse jetzt planen, was als nächstes geschehen solle, deprimierte ihn und ließ in ihm Gefühle von Einsamkeit und Erschöpfung aufkommen. Er setzte sich auf die Kiste. Er hatte im Zug nicht schlafen können. Die ständige Bewegung hatte ihn betäubt, ihn aber zur gleichen Zeit auch wachgehalten. Ohne Hut in seinem schweren Astrachan-Mantel passte er sich in seiner Vorstellung der Landschaft an und verschmolz mit ihr.

  Schwarz und weiß wie der Wintermorgen und die Wälder.  

  Schwarzes Haar, schwarzer Mantel; das Gesicht weiß.

  Bis auf die beiden Falten, die unter den Augen eingegraben waren, war es ein junges Gesicht. Die Augen... welche Farbe hatten sie? Schwarz und weiß gemischt; ein Grau, leuchtend, aber bleiern.

  Merkwürdig.

  Er stellte sich nun sich selbst vor. An ihm waren nicht einmal die letzten roten Farbtupfer des Herbstes. Bis er an Blut dachte, und alle Blätter an den Büschen um die Bahnhofsmauer pulsierten und brannten, als lebten sie, und er die schreckliche, unreflektierte, ungläubige Angst spürte, und dann –

  Und dann trat ein Mann aus dem Bahnhofsgebäude. Er war groß, hatte einen Umhang übergeworfen, und der an ein Begräbnis erinnernde Zylinder stieg wie ein Kamin von seinem Kopf auf. Er schien nur aus Kleidern zu bestehen und kein Gesicht zu besitzen

  »Monsieur?«, fragte er, »Monsieur Dorse?«

  Christian stand auf und beantwortete damit die Frage.

  »Der Wagen wartet unten auf der Straße auf Sie, Monsieur. Peton holt ihr Gepäck ab.«

  »Ja.«

  Unentschlossen standen sie da, der junge Mann und der Neuankömmling mit dem Zylinder, als wären sie zwei Schauspieler, die plötzlich das Gedächtnis verloren hatten.

  Was würde nun folgen? 

  »Ich bin Sarette, Monsieur.«

  Der Fahrer. Es blieb also nichts anderes übrig, als von seinem Gepäck wegzugehen, es stehenzulassen und mit leeren Händen ins Leere vorzustoßen.

  Sarette hielt ihm zwei Türen auf, und dann ein Tor. Zwischen Erdbanketten führten Stufen nach unten. Auf der anderen Seite einer schmalen, geschotterten Straße standen Bäume eng zusammen, wo der große Wagen wie ein seltsam verlängerter und mit einem Dach versehener, tiefschwarzer Rollstuhl wartete.

  »Es ist sehr kalt, Monsieur«, sagte Sarette, als er die Tür des Wagens öffnete. Ein weiterer Mann war von irgendwoher aufgetaucht und in den Bahnhof gegangen, und nun kam er mit der Kiste zurück. Peton. Er war kräftig, hutlos wie Christian, aber ohne das füllige Haar des jungen Mannes. Dünne Strähnen waren wie Pinselstriche über Petons Kopfhaut gekämmt. Er lud die Kiste in den hinteren Teil des Wagens ein.

  Sarette hantierte mit einer Reisedecke, während Peton die Treppe hinauf trabte und bald darauf mit dem Rest des Gepäcks zurückkehrte.

  Peton sah Christian nicht einmal direkt an.

  Als Peton seine Aufgabe erledigt hatte, brach zwischen ihm und Sarette ein Streit aus, der in dem lokalen Dialekt ausgetragen wurde – praktisch unverständlich. Die Unverständlichkeit entzog ihn Christians Zuständigkeitsbereich, und er war froh darüber. Die eiskalte Luft hatte begonnen, ihm unter die Haut zu gehen und ihm Schmerz zuzufügen.

  Dann entfernte Peton sich plötzlich.

  Sarette warf den Wagen an und kletterte auf den Fahrersitz. Der Wagen schüttelte sich kurz und glitt vorwärts.

  »Ich fürchte, Monsieur...«, begann Sarette. Es folgte eine Pause. »...wir sind im Schloss nur zu viert. Ich glaube, Monsieur Hamel hat Ihnen das bereits geschrieben.«

  »Ja.«

  »Die Lage ist unangenehm. Es ist jedoch unmöglich, zu dieser Jahreszeit Personal einzustellen. Bis zum Frühjahr...«

  »Ich verstehe.«

  »Hier draußen, Monsieur. Der Styx. Die Wüste

  Die Straße bog von den Geleisen ab, und nun kam der Kiefernwald auf sie zu. Es war der Wald einer Kindergeschichte. Nichts brauchte über ihn gesagt oder gedacht zu werden. Irgendwann hatte ein Geschichtenerzähler schon alles darüber gesagt.

  Das Gefühl, als würde in seiner Kehle eine Klaue kratzen, verstärkte sich, und Christian hustete wieder leicht, ohne sich dabei dem Husten hinzugeben. Der sollte warten. 

  Der Fahrer sagte: »Sehr gesunde Gegend hier, Monsieur!«

  Christian betrachtete die dunkelgrünen und schwarzen Pagoden der Bäume.

  Er war achtundzwanzig Jahre alt. Bevor der Frühling kam, war er vielleicht schon tot. Das war ein interessanter Gedanke. 

  Er fühlte sich ziemlich krank, ausgehöhlt, aber das war nicht unangenehm, solange er sich in dem Plüschsitz zurücklehnen konnte. Er fragte sich, ob Sarette ihn wohl für gutaussehend hielt und wünschte, er könne sich auf einer rein väterlichen Ebene um ihn kümmern. Das war bisher schon recht oft vorgekommen. War Sarette ein lokales Produkt? Christian war eigentlich an die Tradition von Dienstboten, die Vorstellung von Hintersassen nicht gewöhnt, die in diesem wilden Winterland zwar verwischt und verschönert worden war, aber sicher trotzdem noch existierte. Die Dienstboten seiner Kindheit und im Haus seines Cousins in der Stadt waren vertraulich, ohne Stolz und beleidigend gewesen.

  Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis er das Schloss sah, und wie er darauf reagieren würde. Seine Mutter hatte dort gewohnt, aber nur bis sie sieben oder acht Jahre alt gewesen war. Wegen der Schulden seines Großvaters hatten sie dann fast alles verloren, und das Haus war verkauft worden. Die Familie war zu Großstadtbewohnern geworden, und eine vorteilhafte Heirat mit einem Provinz-Hotelier von ausländischer Herkunft hatte seine Mutter eingefangen und ihn gebracht. Durch einen glücklichen Zufall und kluge Familienpolitik war das Schloss vierzig Jahre nach seinem Verkauf wieder in Christians Besitz gekommen. Er hatte nie gedacht, er würde es irgendwann einmal besitzen, und nicht einmal der Wunsch danach war bei ihm aufgekommen.

  Das Leben hatte ihm systematisch all die Dinge genommen, die er sich am meisten

 

gewünscht hatte.

  Das Schloss war eine Art glänzendes Schmuckstück, das ihm hingeworfen worden

war, als er gestrandet war und vor Verzweiflung weinend am Boden gelegen hatte.  Wie ein Kind, von Schmerzen und Ruin abgelenkt, hatte er es aufgehoben.

  Man sah der Landschaft ihr Alter an. Die Römer hatten einst ihre Forts in ihr gebaut. Die Straße stieg zwischen Palisaden und Vorhängen aus Bäumen steil an. Dann und wann enthüllten Lichtungen tiefe Weiten, die sich erstreckten, Kiefer um Kiefer, dazwischen immer wieder bläulich und glühend eine Tanne und der verjüngte Kontrapunkt von Lärchen. Darüber ragten aus den Hängen manchmal Felsen wie Balkons aus dem Wald heraus.

  Einmal verriet eine Rauchfahne eine isolierte menschliche Behausung oder eine Köhlerhütte. Der Geruch des Rauchs und der nassen, zusammengedrückten, herabgefallenen Blätter erfüllte den Wagen, schokoladenähnlich und zeitlos. Solche Gerüche, wie der von gebratenem Fleisch, des Safts einer Knospe, oder dem Duft eines Frauenhaars gab es schon seit den Anfängen – ursprünglich, zeitlos, permanent. 

  Er dachte geradezu zwangsläufig in solchen Bahnen

  Das Dorf tauchte fast ohne Vorwarnung auf. Ein Meilenstein am Straßenrand, dann ein Bauernhof, der sich mit seinem groben Teppich von Stoppelfeldern und einem langen Zaun zwischen die Bäume schob. Plötzlich hing eine Kirche über ihnen, an ihrem Standort seitlich am Hang fast horizontal geneigt, wie es schien. Häuser tauchten auf. Sie sahen sehr alt aus. In Gips versenkte eiserne Kreuze waren trunken zur Seite gesunken, und die Fenster und Eingangstreppen standen voller brauner Lehmtöpfe. Dächer neigten sich einander zu. Immer näher. Mauern standen schräg. Ein Bild aus dem Mittelalter. Frauen in Schwarz liefen umher, und von der

Schmiede stieg gefärbte Luft auf. Ein Kind rannte die Straße hinunter auf den Wagen zu, und ein Hund trabte bellend hinter ihm her, aber Sarette fuhr sehr langsam.

  Christian erwartete, dass Gesichter wie Blumen aufblühen würden, um ihn anzustarren, und er spannte sich in Vorbereitung darauf an. Diese Leute aber schenkten dem Wagen kaum einen Blick. Auf dem Marktplatz befanden sich eine Art Denkmal und ein Brunnen, der anscheinend noch benutzt wurde. Sie fuhren um den Platz, an dem Denkmal, dem Brunnen und der Kirche vorbei, und danach wieder langsam in den Wald dahinter hinein.

  Fünf Minuten später zeigten sich zwei Steintiere auf beiden Seiten der Straße, heraldische Hunde, aufsteigend, mit Schildern. Nach einer weiteren Minute begann die Mauer – die Mauer des Schlosses, ein riesiger Festungswall, der stellenweise schon zerfiel. Zwei weitere Steinhunde starrten ihnen durch das offene Tor entgegen.

  Der Grund war geräumt; er war wahrscheinlich irgendwann einmal teilweise als Park angelegt worden. Für Christian hatte das Bild keine vertraute Form. Er trug es zwar noch in sich, und undeutlich rührte sich in ihm eine Erinnerung, die sich kurz bemühte, zu assimilieren und zu erkennen: eine Allee mit blattlosen Linden, eine Zypresse, die den Gipfel eines Hügels beherrschte, ein Haufen Steine, die vielleicht früher einmal Teile eines Gebäudes gewesen waren.

  Doch – nein, das Land um das Schloss entzog sich weiter seinem Zugriff und blieb ebenso wenig scharf umrissen wie alles, was er vom Zug aus gesehen hatte.

  Die Straße verlief mitten durch das Gelände und überquerte schließlich auf einer Brücke, die aussah, als sei sie aus grauem Marzipan gebaut, einen Burggraben.   Christian konnte nicht erkennen, ob der Graben noch Wasser enthielt.

  Das Schloss ragte auf der anderen Seite auf. Es war wirklich groß. Wie der geräumte Grund entzog es sich der Akzeptanz. Er sah es müde an und ließ ihm den Willen, denn er war zu müde, um sich dagegen zu wehren. Die kleinen Stadthäuser und die Wohnungen seiner Vergangenheit mit ihrer beruhigenden Klaustrophobie, die Suite in dem Stuck-Hotel seines Vaters, deren Fenster ewig auf die See hinausschauten, als gehörten sie zu einem in einer Flaute festliegenden Schiff – die Heime und Wohnungen hatten mit dem Schloss nichts gemeinsam. Es schien unbewohnbar. Felsen-ähnliche Bastionen, fleckige, verputzte Mauern, Fensterläden, Zinnen, Balustraden, alles miteinander verbunden und wie eine riesige versteinerte Gemüsepflanze miteinander verwachsen.

  Die Straße endete unter einer großen grauen Terrasse neben einer von Beton-Urnen flankierten Freitreppe, wo auch der Wagen anhielt.

  Sarette betätigte die Hupe.

  Sie saßen still in dem Wagen, der leise Geräusche von sich gab, und warteten.

  Plötzlich kam ein junger Mann aus dem Schloss heraus, rannte über die Terrasse und die Treppe hinunter. Er war ungefähr neunzehn und hatte rote Wangen. Christian verspürte eine schreckliche apathische Verachtung für die Gesundheit und Energie des jungen Mannes.

  Christian wartete nicht ab, bis man ihn freiließ, sondern öffnete die Tür des Wagens. Er stieg aus und sah nach der Treppe und auf den jungen Mann, der sie herabrannte.

  Der junge Mann nickte ihm besorgt zu – ein kurzes Neigen des Kopfes, das Urbild der Unterwürfigkeit. Er setzte sich sofort in Bewegung und begann, Christians Kiste und die Koffer auszuladen

  Sarette stieg aus dem Auto.

  »Renzo«, sagte Sarette und zeigte auf den jungen Mann. »Madame Tienne wird sich um den Haushalt kümmern, und dann kommt natürlich noch eine Frau aus dem Dorf zum Kochen. Weiter ist da noch ein Mädchen, das hier wohnt und die Zimmer sauber hält. Das ist natürlich unbefriedigend, aber bis zum Frühjahr...«

  »Ja«, entgegnete Christian. Er betrachtete die Treppe und versuchte, die Stufen zu zählen. Vierzig, oder waren es zweiundvierzig? 

  »Ein großer Teil des Schlosses ist noch verschlossen. Madame Tienne hat die große Suite im ersten Stock für Sie geöffnet, und die große Halle und der Salon sind in gutem Zustand. Falls jedoch noch weitere Räume... ich glaube, Sie hatten sich für das Musikzimmer interessiert, Monsieur, nicht wahr?«

  »Nicht vor der Ankunft des Klavierstimmers.«

  »Aber ja, gewiss. Monsieur Hamel hat jemanden aus der Stadt beauftragt. Das ist schon letzte Woche erledigt worden. Haben Sie den Brief nicht bekommen?«

  Christian erinnerte sich, dass der unverwechselbare letzte Brief des Anwalts Hamel im Haus seiner Cousine eingetroffen war, als er gerade zum Bahnhof aufbrach. Seine Cousine war in Tränen gewesen, und ein Taxi hatte vor der Tür gewartet. Christian hatte den Brief in die Tasche gesteckt und ihn vergessen, weil er von seiner pedantischen Unwichtigkeit überzeugt gewesen war.

  Er betrachtete weiter die Treppe. Der junge Mann schleppte, wie Peton allein, die Kiste auf die Terrasse zu.

  »Ich nehme an, ich soll jetzt hinaufgehen«, sagte Christian.

  »Ja, Monsieur. Madame erwartet im Salon Ihre Anweisungen.«

  Christian stieg langsam die Stufen hinauf. Auf der zwanzigsten blieb er stehen. Er sah zurück, als wolle er noch einen Blick auf die Aussicht werfen, und stützte sich dabei beiläufig an den Sockel einer Urne.

  Sarette, der ihm keinerlei Hilfe angeboten hatte, stand an den glänzenden Wagen gelehnt und beobachtete ihn. Von Anfang an hatte Christian einen Eindruck von – was? – gehabt. Eigentlich nicht Unfreundlichkeit, eher Gleichgültigkeit.

  Ich bin ein Eindringling, dachte Christian. Sie erwarten instinktiv, dass ich komme und gehe, genau wie die Belästigung durch den kommenden Winter. Ankunft, und unausweichlich danach wieder Abreise. Und wie recht sie damit haben! 

  Hinter dem Mann und dem Wagen, hinter der Kurve der Straße und der Brücke stieg das Land sanft an. Eine verkrüppelte Linde sah einen Augenblick lang eigenartig vertraut aus.

  Es waren fünfundvierzig Stufen.

  Renzo, der junge Mann, kam zweimal an ihm vorbei, um das Gepäck hoch zu transportieren. Renzo war gut gelaunt. Er ignorierte Christians langsameren Aufstieg.

  Christian spürte die trockene Blässe seines Gesichts so konkret, als sei sie ebenso wie die abblätternde Fassade des Schlosses aufgemalt. Er blieb schwer atmend auf der Terrasse stehen. Seine Beine waren wie Wasser, aber er musste sich Madame stellen. In seiner Vorstellung erschien ein Bild einer puppenhaften Gestalt mit einer ländlichen, weißen Schürze, aber zur gleichen Zeit wusste er, dass es nicht stimmen würde.

  Noch immer hörte er die Stimme seiner Cousine: »Geh nicht, verlass uns nicht, mein Lieber, Du bist nicht gesund, nicht kräftig...«

  Vom Frost mumifizierte Überreste von Blumen lauerten noch in den Urnen an beiden Seiten der Tür, die weit offenstand, um den neuen Herrn zu empfangen.

  Er hörte, wie der Wagen um die Seite des Gebäudes zu den alten Stallungen gefahren wurde, die nun zu einer großen Garage degradiert worden waren.

  Er hustete und ging durch die Tür – hinein in das absurde Heim seiner Vorfahren.

 

 

  

  2. Kapitel: DER SALON

 

  Wie der Wald war die große Halle des Schlosses das exakte Produkt einer Romanze. Geschnitzte Holzpaneele wechselten sich mit Brokatbehängen ab. Samtvorhänge verhüllten die Bilder, die sich durch die Fenster zeigten. Zwei riesige Leuchter tropften von der hohen Decke. Zwei riesige Kamine klafften wie Höhlen in den Wänden. Ein langer Tisch aus blutrot poliertem Mahagoni erwartete vierzig oder mehr Personen.

  Eine Innentreppe schwang sich zum Himmel hoch, deren mit grotesken Schnitzereien verzierte Geländer weit genug voneinander entfernt waren, dass auch zwei Reifröcke aneinander vorbei kommen würden.

  Renzo ging nun mit dem Gepäck auf ihr nach oben.

  Hoch über einer Balustrade zeigte ein rundes Fenster mit Scheiben in einem üppigen, eiskalten Blau, dass der Himmel bereits erreicht war.

  Der Salon, kleiner Bruder der Halle, war links durch eine offen stehende Flügeltür zu erreichen und ähnlich mit einem langen Tisch, Leuchtern und Wandbehängen geschmückt. Ein Feuer brannte in dem einzigen Kamin, aber der Raum war dennoch kalt.

  Madame Tienne stand vor dem Kamin. Es war dumm von ihm gewesen, anzunehmen, dass sie nicht so sein würde, wie er sie sich vorgestellt hatte. Wie ein Gebilde seiner Phantasie verschränkte sie ihre puppenhaften Hände vor ihrer weißen Schürze. Ihr Puppengesicht war das einer strengen Matrone aus Porzellan. Er fragte sich, ob sie wohl schon dagewesen war, als der Trunkenbold, der das Schloss Christians Großvater abgekauft hatte, hier seiner Gier nach Nippen und Schlucken zum Opfer gefallen war.

  Sie stellte sich mit einer steifen, sehr leichten Verbeugung vor, und der mittelalterlich anmutende Ring mit Schlüsseln an ihrer Hüfte klimperte und klapperte. Sie erzählte ihm von den Wohnräumen weiter oben, in die sein Gepäck gebracht worden war. Renzo würde für ihn auspacken. Renzo würde als Butler, Träger und Diener fungieren, wenn Christian ihn brauchen sollte. Sie sprach von dem Feuer im Kamin. Sie erkundigte sich, welche Wünsche Christian für den Augenblick wohl hätte. Wollte er Kaffee? Wann wollte er speisen? Würde noch jemand kommen? Wäre er es zufrieden, den Speiseplan und ähnliches ihren Händen zu überlassen? 

  Manchmal war sein Appetit ungeheuer, zu anderen Zeiten dagegen existierte er nicht. Heute - existierte er nicht. Er dankte ihr und sagte, er wolle einen Kaffee trinken, und als sie gegangen war, setzte er sich in einen Sessel am Kamin. Er wusste, dass er darauf würde warten müssen, bis er allein war.

  Zuerst kam Renzo, um ihm über das Schicksal seines Gepäcks Bericht zu erstatten. Dann kam Madame selbst mit dem Kaffeegeschirr zurück. Eine schlanke Karaffe mit Cognac und ein Glas waren dazugestellt worden, und außerdem gab es noch einen kleinen Teller mit Keksen. Nachdem sie ihm den Kaffee eingegossen hatte, verließ sie den Salon.

  Renzo kam zurück, um sich um das Feuer zu kümmern. Während er das erledigte, erschien Sarette. Ohne seinen Mantel und den seltsamen Bestattungsunternehmer-Hut hatte er sich in einen Soldaten verwandelt, verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und drückte seine Brust vor. Brauchte Monsieur den Wagen heute noch einmal? 

  Nachdem Renzo und Sarette sich zurückgezogen hatten, erschien ein Mädchen, um das Tablett mit dem Kaffeegeschirr wegzuräumen. Als sie sah, dass seine Tasse unberührt war, leerte sie diese und goss ihm neu ein.

  Das schwere weiße Licht von den Fenstern und das primelfarbige Feuer schienen nicht sonderlich gut zu beleuchten. Der Raum war düster, und er konnte das Mädchen kaum sehen. Sie hatte ihr Haar wie eine Wurst aufgerollt und sah gesund und ziemlich nichtssagend aus. Sie blickte unter halb geschlossenen Lidern zu ihm herüber, und er fragte sich bei läufig, ob sie es wohl sein würde, die ihn verwöhnte und sich um ihn kümmerte. Sie registrierte seinen Blick und wurde rot, aber das kam eher von Schüchternheit als von Anziehung.

  Als sie hinausging, bemerkte er: »Sagen Sie bitte Madame Tienne, dass ich sonst nichts brauche. Ich kann mich selbst um das Feuer kümmern und mir Kaffee eingießen. Ich will weder den Wagen, noch ein Essen oder sonst irgendetwas. Wenn

noch jemand in dieses Zimmer kommt, werde ich mich gezwungen sehen, es zu räumen.« Er machte eine Pause, und das Mädchen verarbeitete ihr Erstaunen - oder was es auch sonst sein mochte. »Würden Sie ihr das ausrichten?«

  »Ja, M'sieur«, sagte sie und war verschwunden.

  Er trank den frisch gekochten, heißen Kaffee, nahm einen Biss von einem der Kekse und warf den Rest verschwenderisch in das Feuer. Er fühlte sich dabei im Stich gelassen. Verstört und ohne Energie lief er in dem Zimmer umher, betrachtete Ornamente, Bilder, wich einem Spiegel aus, war aber nicht in der Lage, etwas aufzunehmen.

  Das Zimmer schien noch düsterer zu werden. Lilien-förmige Gaslampen stiegen aus der Holzverkleidung über dem Kamin auf und waren in Abständen an den Wänden verteilt.  

  Er würde nie im Dunkeln sitzen müssen.

  Vielleicht sollte er hinauf ins Musikzimmer gehen und sich das Klavier anschauen. Als ihm dieser Gedanke kam, durchlief ihn eine Welle von Freude, der passend und unausweichlich eine tiefe Müdigkeit - ein farbloser Wunsch, sich nicht zu rühren - folgte.

  Er setzte sich wieder in den Sessel. Es musste jetzt ungefähr elf Uhr sein.

  Er sah in das Feuer; das Zimmer war jetzt wärmer, und er wurde schläfrig. Wie der Hunger floh auch der Schlaf oft vor ihm, oder aber er überwältigte ihn vollständig.

  Er schloss seine Augen und sah seine hübsche Cousine vor sich. Annelise war mit ihren dreißig Jahren schon verheiratet und hatte drei Kinder, aber sie war trotzdem in Christian verliebt.

  Oder sie war in das verliebt, was er darstellte.

  Die Aura von etwas Sterbendem konnte faszinierend sein und war für manche ungeheuer anziehend, aus komplexen Gründen, die im Unterbewusstsein zu suchen waren.

  Er hatte seinen Mantel aufgeknöpft, aber nicht ausgezogen. Nun kam ihm der Gedanke, er könnte genau das tun. Auf eine merkwürdige Weise war damit auch die Entfernung der un- passenden Erscheinung von Annelise verbunden. Er stand

auf, und als er den Astrachan ablegte, fiel ihm Hamels letzter Brief, der irgendwo herausgerutscht war, in die Hand.

  Christian setzte sich wieder hin.

  Er betrachtete den Brief eine Weile, weil er keine Lust hatte, ihn zu lesen. Es war eine törichte Unentschlossenheit, unter der er ständig litt. Der Brief würde natürlich nichts anderes enthalten als einige kleinliche, rechtliche Details, die vergessen worden waren.

  Auf der anderen Seite könnte er für Christian auch die Belastung eines Antwortbriefs bringen, irgendeine neue Anfrage oder ein Ereignis, das ihn betraf.       

  Bei diesem Gedanken verspürte eine deutlich wahrnehmbare Angst.

  Er saß mit dem Brief in der Hand da und ließ sich von der Apathie überwältigen. Die Wärme und Düsterkeit schmolz ihm seine Sinne, und sie begannen, ihm angenehm zu schwinden.

  Ein Holzscheit bellte im Kamin und weckte ihn auf.

  Es schien, als sei ein Jahr vergangen, aber das Feuer brannte noch hoch, und seine gelben Sterne sprangen in den Kamin.

  Falls jemand hereingekommen war, um ihn wie ein Kind zum Mittagessen abzuholen, war er davon nicht aufgewacht. Hatten sie ihn voll Mitleid betrachtet? Mit - Verachtung? 

  Hamels Brief knisterte unter seiner Handfläche. Geistesabwesend hob er ihn auf und schnitt den Umschlag auf. Wegen des dürftigen Lichts, das durch das Fenster hereinfiel, war er fast unleserlich, und was unleserlich war, brauchte nicht ernst genommen zu werden. Ein Abschnitt mit juristischen Belanglosigkeiten. Ein Abschnitt über den Klavierstimmer. Ein Abschnitt über finanzielle Dinge. Ein guter Wunsch.

  Christians Augen wollten nicht an dem Papier haften. Er lehnte sich in dem Sessel zurück und hielt den Brief so, dass das Feuer durch ihn leuchtete und die Worte tanzten.

  »Was die de Lagenays anbetrifft, so würde ich Ihnen äußerste Vorsicht empfehlen. Ihr Wohnort ist mehr oder weniger unbekannt, und, wie Sie sich vorstellen können, gibt es an einem solchen Ort zahlreiche Gerüchte. Die Familie ist exzentrisch, und irgendwelche Ansprüche, die sie auf den Besitz erheben, sind bestenfalls hypothetischer Art. Ich möchte jedoch mit aller Deutlichkeit darauf bestehen, dass Sie das Schlossgelände nicht ohne Begleitung verlassen. Ich möchte Sie damit nicht erschrecken, sondern alle Eventualitäten in Betracht ziehen, so abwegig diese auch sein mögen.« 

  Christian war noch nicht richtig wach, und dieser Unsinn passte perfekt und fast elegant zu seinem Geisteszustand. Er hatte nicht die leiseste Erinnerung daran, dass Hamel schon vorher in seiner Kanzlei in der Stadt den Namen de Lagenay erwähnt hätte. Ein Anspruch auf den Besitz? Auch an etwas Derartiges konnte sich Christian nicht erinnern. Hingegen hatte er in Hamels Plüschsessel gesessen und einen wachen und intelligenten Eindruck gemacht, in den richtigen Abständen genickt und geknurrt, die Dokumente, die ihm vorgelegt wurden, unterschrieben, kaum etwas gehört und noch weniger verstanden. Es war Christian immer schwerer gefallen, solche Dinge ernst zu nehmen, und seine Konzentrationsfähigkeit, manchmal geradezu manisch groß (die Untersuchung eines Nachtfalters auf einem Fensterladen, eines Mannes an einer Straßenecke, eines Musikstücks), war inadäquat.

  Er senkte seine Lider, bis das Feuer zu einem Bankett aus goldenem Gras wurde. Er sah die de Lagenays vor sich, ungefähr zehn stämmige Bauern, wie sie sich zwischen den Kiefern versammelten. Sie trugen Stöcke, Messer, eine uralte Muskete. Er lachte bitter und schlief wieder ein.

  Und er träumte von einem blonden, liliengleichen Mädchen, das ihre Arme vor ihrer Kehle gekreuzt hatte und ihn anstarrte.

  »Monsieur«, sagte jemand behutsam, aber immer wieder. »Monsieur, Monsieur!«

  Christian stieg aus einem Grab aus schwarzem Velours und Opium-Mohn auf. Für einen Moment sah er Renzo anscheinend in der Luft stehen, von einer Blüte aus schattenhaftem Licht beleuchtet. Das Licht fiel jedoch durch das Fenster herein, und Renzo stand auf dem Boden.

  Das Feuer war fast erloschen.

  Es war kalt, und der nördliche Nachmittag neigte sich zu einem windigen nördlichen Abend hin. Christian lächelte Renzo zu, und der junge Mann stockte, festgenagelt von dem überwältigenden Charme des Lächelns.

  »Ich bin hier, um die Lampen anzuzünden, Monsieur«, sagte Renzo. »Sylvie war vorher schon einmal hier, aber da haben Sie noch geschlafen.«

  »Da habe ich noch geschlafen«, wiederholte Christian. Er bekam plötzlich keine Luft und begann, erbärmlich zu husten.

  Der Hustenanfall ging immer weiter, hob ihn zuerst in eine aufrechte Haltung und beugte ihn dann vor. Als er vorbei war, hatte Renzo, der ihn sorgfältig ignoriert hatte, endlich am Kaminfeuer einen Fidibus angesteckt, den er nun einer

der Gasleuchten entgegen hielt. Das blaue Zischen des Gases endete mit dem erwarteten leisen Knall. Die grünliche Flamme erwachte flackernd zum Leben. Davon ermutigt trug der junge Mann Feuer in die zweite lilienförmige Lampe.

  »Madame lässt fragen, ob Sie das Abendessen in der Halle oder im Salon serviert haben möchten? Madame lässt fragen, ob Sie um vier Uhr englischen Tee serviert haben möchten? Madame sagt, das war zu Zeiten Ihres Großvaters so üblich. Der Tee. Chinesischer Tee.«

  »Ich habe angeordnet«, sagte Christian, und seine Stimme war ein leises, deutliches Raspeln, »ich habe angeordnet, dass niemand in diesen Raum kommen soll!«

  »Aber die Lampen, Monsieur.«

  »Keinen chinesischen Tee«, sagte Christian. »Kein Abendessen.«

  Renzo schnappte nach Luft.

  Christian stand von seinem Sessel auf und bewegte sich auf den Korb mit Holzscheiten neben dem Kamin zu. Renzo kam ihm hastig zuvor. Holz flog mit einem Krachen in die ersterbende Glut

  »Madame lässt Ihnen ausrichten«, sagte Renzo, »dass es bisher üblich war, das Abendessen um acht Uhr zu servieren.«

  »Dann servieren Sie es«, sagte Christian. »Ich werde zwar nichts davon essen, aber ich möchte Madame Tienne nichts verderben.«

  Er stand zitternd an den Kamin gelehnt und sah zu, wie das Licht unter die Holzscheite kroch. Auf der anderen Seite des langgestreckten Zimmers war das Mädchen namens Sylvie wie ein Geist hereingekommen und hatte die Vorhänge zugezogen.

  Das Gelände um das Schloss war in einem undeutlichen silbernen Zwielicht versunken und hätte ebenso gut nicht existieren können.

  Als Renzo an Sylvie vorbeiging, um weitere Lampen anzuzünden, murmelte er etwas in dem lokalen Dialekt. Christian spannte sich in der Erwartung an, die Worte Krankheit oder Wahnsinn zu vernehmen.

  »Erzählen Sie mir etwas«, sagte er zu dem Feuer, »von einer Familie namens Lagenay.«

  Renzos Gemurmel war abgebrochen. Stille senkte sich über das Zimmer.

  Christian lauschte dem Zischen und dem leisen Knallen der Gasleuchten. Als es nicht kam, drehte er den Kopf um und sah die beiden Dienstboten an. Sylvie stand mit gesenktem Kopf unbeweglich vor dem zugezogenen Vorhang.

  Renzo war gerade dabei, sich ungeschickt zu bekreuzigen.

  »So schlimm?«, fragte Christian.

  »Nein, Monsieur. Ich wollte nur...«

  »Monsieur«, sagte Sylvie knapp, ohne ihn anzusehen. »Es gibt in dieser Gegend eine Familie de Lagenay. Aber nicht im Dorf.«

  »Im Wald.«  

  »Oh nein, Monsieur.«

  Renzo machte einen verängstigten Eindruck. Er warf Sylvie einen wilden Blick zu. Der Fidibus flackerte in seiner Hand.

  »Mein Anwalt Hamel hat angedeutet, dass die de Lagenays im Wald leben und mich gewarnt, ich solle mich vor ihnen hüten. In welcher Verbindung stehen sie zu dem Schloss?«

  Der Fidibus beleuchtete Renzos Gesicht satanisch von unten. »Sie stehen mit nichts und niemand in Verbindung, diese de Lagenays.«

  »Schweig!«, sagte Sylvie scharf.

  Sie standen in einer Reihe, Renzo wie von seinem Fidibus hypnotisiert, Sylvie von dem Perserteppich, und beide trugen heftig ihren Dialog vor.

  »Ich werde sprechen«, sagte Renzo. »Einmal muss es ja heraus. Das lässt sich nicht aufhalten.«

  »Still! Er will es nicht wissen.«

  »Er hat mich doch gefragt, oder? Also sage ich es ihm.«

  »Sag' kein Wort! Ich werde zu Madame gehen!«

  Es wurde Christian klar, dass er für sie nur eine Illusion ihres persönlichen Bewusstseins war, wie sie das für ihn ja auch waren. Er hätte ebenso gut nicht anwesend sein können. Gespannt beobachtete er sie, wie sie sich auf die Lippen bissen, brodelten, wieder in den Dialekt verfielen, so dass er die Bedeutung, aber nicht die Stimmung ihrer Unterhaltung verlor.

  Als Madame sich mit knapper Stimme von der Tür aus meldete, zuckte auch er zusammen.

  »Was gibt es denn hier?«

  Eine bedeutungsschwere Pause.

  Die beiden unartigen Kinder zitterten vor der Lehrerin in ihrer weißen Schürze.

  »Und auch noch vor Monsieur! Verschwindet hier, beide!«

  Gehorsam eilten sie hinaus. Renzo hielt noch immer den Fidibus in der Hand, der im Wind ihres Abgangs erlosch.

  »Bitte entschuldigen Sie die beiden, Monsieur«, sagte Madame Tienne zu Christian. »Sie sind noch sehr jung - typische ländliche Jugendliche. Sie müssen über ihre Pflichten im Haus noch viel lernen.« In dem halb beleuchteten Salon sah sie finster und grausam aus.

  Er sah Renzo und Sylvie vor sich, wie sie nackt wie gerupfte Hühner von einem Balken herabhingen, während die Frau mit einem Bündel zusammengeknoteter Zweige auf sie einschlug

  »Es ist schon nach vier«, sagte sie. »Möchten Sie Tee trinken?«

  »Nein. Madame.«

  »Ihr Essen ist Ihnen serviert worden, aber Sie haben es unberührt wieder forttragen lassen.«

  Sie waren also um ihn herumgeschlichen, während er schlief. Ihr Gesicht hatte vielleicht auf ihn herabgeschaut.

  Wenn er mit Frauen schlief, weckten ihn manchmal ihre unwiderstehlichen Küsse, die ihm auf Wangen oder Augenlider gedrückt wurden. (»Mein Engel...«) Aber nicht Madame! Keine Spur von Mitleid oder Begierde

  »Ich bin zu müde. um zu essen, Madame.«

  Ah, jetzt hatte er zum ersten Mal eine Ausrede bei ihr benutzt. 

  »Ich glaube, Sie sind krank, Monsieur.»

  »Wirklich? Wie interessant

  »Möchten Sie zu Abend essen?«

  »Nein, danke. Madame. Ich nehme aber an, dass es hier einen gut bestückten Keller gibt. Eine Flasche Wein. Nach oben. Die Wahl überlasse ich Ihnen. Etwas...« - er zögerte - »...Trockenes.«

  Ein winziger Funke glühte in ihren Augen auf. Sie und der Trunkenbold hatten sich wahrscheinlich oft auf subtile, verstockte Art gestritten.

  Er nahm seinen Mantel auf. Er hielt Hamels Brief noch in der Hand, und er steckte ihn in die Manteltasche. Er ging auf die Tür zu, und Madame Tienne trat zur Seite. um ihn vorbei zu lassen.

  »Oh, Madame... - diese de Lagenays... wer sind sie?«

  Sie reagierte mit keiner erkennbaren Emotion. Das war nur natürlich, denn er hatte ihr lange Zeit gelassen, in der sie sich eine Antwort hatte zurechtlegen können.

  »Kümmern Sie sich nicht allzu sehr um Gerüchte, Monsieur Dorse. Die Dorfbewohner sind auf ihre Art ausgezeichnet, und sie werden Ihnen gut dienen. Aber ungebildet, ohne Wissen. Die de Lagenays? Nun, das sind gesellschaftlich Ausgestoßene, Monsieur. Ihre Familie hat vor langer Zeit wahrscheinlich irgendetwas getan, was die Dorfbewohner verurteilen oder fürchten. Solche Menschen vergessen nie. Also werden die de Lagenays Generation um Generation wie Leprakranke behandelt.«

  »Und aus welchem Grund«, sagte er, »warnt man mich wohl vor ihnen?«

  »Wer hat Sie gewarnt?«

  Das kam sehr schnell und wachsam.

  »Mein Anwalt, Madame. Monsieur Hamel.«

  »Es sind gewiss ungehobelte Menschen. Vielleicht -«

  »Ja, Madame?«

  »Es gibt da eine Geschichte über Blutbande zum Schloss, Monsieur, aber das liegt schon Jahre zurück. Ein Mädchen ist vergewaltigt worden. Ein illegitimes Kind war

die Folge. Aber an solch feudal geprägten Orten gibt es derartige Geschichten immer.« Sie sagte dies mit einer gewissen Kühnheit, und ihre Augen blitzten.

  Er dankte ihr und ging auf dem Weg in die große Halle an sich selbst in einem Spiegel vorbei. Das bunte Glasfenster in der Nähe der Decke hatte sich nun Indigo verfärbt. Gaslampen beleuchteten die Wände und die geschwungene Treppe.

  Sie war ihm aus dem Salon nachgegangen und beobachtete ihn, wie er sich anschickte, hochzusteigen. Die Stufen waren niedrig; es war nicht unerträglich. Er erinnerte sich anhand des Plans, den Hamel ihm geschickt hatte, wo sich die große Suite befand: an der Balustrade entlang hinter einem weiteren Gang.

  Als er die Spitze der Treppe fast erreicht hatte, veranlasste ihn ein Klimpern von Kristall dazu, sich umzudrehen und den nächsten der beiden Kronleuchter anzusehen. Irgendein Luftzug musste ihn erwischt haben, denn er zitterte an seiner

Oberfläche wie bewegtes Wasser.

  Madame Tienne stand in der Halle, eine seltsam starre und bedrohliche Gestalt in ihrer makellosen Schürze.

 

 

  

  3. Kapitel: DER HUND

 

  Der Wein war ein herber Roter, der aber eine resonante Schwere besaß, wie sie bei herben Weinen gewöhnlich nicht sehr verbreitet ist. Die Winzerei war kaum zwanzig Kilometer weit entfernt und hatte früher einmal dem Schloss gehört. Auch der Name auf dem Etikett war ungewöhnlich: Sang-de-Seigneur.

  Er trank zwei Gläser davon, während er sich die große Suite ansah. Sie bestand aus fünf Zimmern, eines davon war ein riesiges, eiskaltes Bad, in das allerdings das Wasser vom Kupferkessel in der Küche hergeschleppt werden musste. Im Schlafzimmer hing ein zwei-mal-drei Meter großer Wandteppich. Auch das Bett war riesig und - wie sollte es anders sein - mit einem Baldachin ausgestattet. Wahrscheinlich war es der Schauplatz zahlloser Empfängnisse, Geburten und Tode gewesen.

  Endlich stellte sich Christian vor den großen Spiegel, der den Toilettentisch aus Mahagoni beherrschte, und betrachtete sich selbst. Wie andere war auch er nicht von seinem Erscheinungsbild unberührt. Er musterte sich selbst mit objektiver Sinnlichkeit und Bestürzung. Die Klarheit seiner Augen und seiner Haut, sein fülliges Haar, das elegante Gegengewicht einer rein männlichen Schlankheit. Er war für sich selbst eine Quelle schwermütiger Faszination, denn er war Künstler genug, um physische Vollkommenheit zu erkennen und ihren Verlust zu beklagen. All das sollte verschwendet werden.gesteigert