Kristina Dunker

Helden
der City

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Weitere Titel der Life-Reihe im Arena Verlag:
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Jürgen Banscherus: Das Lächeln der Spinne
Jürgen Banscherus: Asphaltroulette
Jürgen Banscherus: Novemberschnee
Jürgen Banscherus: Davids Versprechen

 

 

 

 

Kristina Dunker,
1973 in Dortmund geboren, studierte Kunstgeschichte und Archäologie
in Bochum und Pisa und arbeitete als freie Journalistin.
Im Alter von siebzehn Jahren veröffentlichte sie ihr erstes Buch.
Seither hat Kristina Dunker zahlreiche Kinder- und Jugendromane verfasst
und erhielt für ihre Arbeit mehrfach Preise und Stipendien, darunter
den Förderpreis für junge Künstler des Landes Nordrhein-Westfalen.
Mehr über die Autorin und ihre Bücher gibt es unter
www.kristina-dunker.de.

 

Zu diesem Buch sind Unterrichtsmaterialien erhältlich
unter www.arena-verlag.de.

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1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2016
© 1999 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung und -typografie: Sibylle Bader
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80527-6

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Kapitel 1

Und Vivi traut sich doch. Leider, denke ich.

Die anderen stehen unten und glotzen und grinsen. Einen halben Meter sind sie schon entfernt. Einen halben Meter nur, aber über den kann ich nicht hinweg, würde ich jetzt einen Rückzieher machen, wäre ich verloren. Mach’s nicht so dramatisch, Vivi, sag ich mir. Du wärst das Gespött deiner Clique, na und? Wenn du das nicht willst, musst du da eben durch. Stolz hat seinen Preis oder wie heißt das noch? Ich reibe die schwitzenden Hände an den Jeans ab. Ruhig bleiben jetzt, die anderen haben’s auch überlebt. Dieser Sprung ist nicht mehr als der erste Hopser vom Dreimeterbrett in der Grundschule. Läppisch, wenn man nicht gerade so blöd ist und ’nen Bauchplatscher hinlegt.

Der Typ mit den Rastalocken sagt etwas Aufmunterndes zu mir. Fun and action steht auf seinem T-Shirt. Normalerweise sind das die zwei Zauberworte, die mich vom Hocker reißen können. Aber in diesem Moment würde ich lieber freiwillig mit meinen Eltern in ein dreistündiges Klassikkonzert gehen und vor Langeweile Löcher in den Sitz pulen, als mit dem Rastalockigen fun and action auszuprobieren.

Hilfe, was macht dieser durchgeknallte Mensch jetzt eigentlich mit mir? Er schnürt mich ein, als wollte er mich als Weihnachtspäckchen verschicken. Mit riesigen Karabinerhaken klickt er mich vorn und hinten fest und da liegt schon das Seil aufgerollt in der Kabine, eine lange weiße Schlange, an der gleich mein ganzes Leben hängt, einfach so. Ich darf gar nicht daran denken und blicke schnell zu meinen Freunden. Oliver sieht’s, hebt kurz den Daumen und wirft mir eines seiner lausigen Lächeln zu. Ich verziehe den Mund. Los, Vivi, frech zurücklächeln, wie Olli es macht, au Mann, ich fahre voll auf dieses Ollilächeln ab, es macht mich elektrisch, obwohl ich es nicht will. Nicht mehr will, denn Oliver war mein Freund. Bis gestern. Das macht ja die ganze Sache so kompliziert, dass er dabei ist, meine ich, wäre er jetzt nicht hier, könnte ich vielleicht in letzter Minute aus diesem Gondelgefährt raushechten und das Weite suchen. Doch vor Oliver blamiere ich mich nicht – nicht, nachdem alle anderen aus meiner Clique schon gesprungen sind. Oh Gott – jetzt ruckelt die Kabine und wir heben vom Boden ab!

Ich klammere mich am Geländer fest und sehe zu, wie meine Freunde unten langsam kleiner werden.

Bestimmt reden sie miteinander, reißen blöde Witze wie vorhin:

»Vivi hat Schiss!«

»Hahaha. Ich hab einfach kein Interesse daran. Was dagegen?«

»Ach Vivi, red doch nicht! Du hast die Hosen voll, ganz klar. Das ist die Gelegenheit, Mann, die kann man doch nicht auslassen. Heute ist der letzte Tag hier, und wenn’s nicht die ganze Woche geregnet hätte, hätten die bestimmt nicht so gute Preise gemacht. Einen Sprung für fünfzig Euro, wo kriegst du den schon?«

»Es geht nicht ums Geld.«

»Wusste ich doch, dass du dich nicht traust!«

»Vielleicht beim nächsten Mal. Mir ist schon in der Achterbahn sauschlecht geworden!«

»Hättest du eben nicht den Döner gegessen! Ich hab euch gleich gesagt, wenn wir heute ’nen starken Tag abziehen wollen, dürfen wir nicht den Magen voll haben.«

»Ist auch egal. Vivi bringt es eben nicht. Wenn sie’s machen wollte, wär sie längst da vorne und hätte ein Ticket gekauft. Jeder weiß doch, dass sie beim Bungee die unter Sechzehnjährigen normalerweise gar nicht springen lassen. Das hier ist die Chance, einzigartig.«

Das war ausgerechnet Mone. Meine beste Freundin. Mone mit ihren schreiend rot gefärbten Haaren, schrill sieht das aus, klar, aber ich habe sie ihr gefärbt, ich hatte tagelang noch die Farbreste unter den Fingernägeln kleben und ich habe das Bad geschrubbt, das aussah, als hätten wir Schweine geschlachtet, während sie seelenruhig unter der Föhnhaube saß und Horrorcomics gelesen hat. Das ist also der Dank für die Mühen, dachte ich sauer und in dem Moment sagte Oliver: »Klar bringt Vivi das nicht. Angst vorm Kick, sag ich euch. Mann, das war so geil, das war cooler als Sex!«

»Als ob du schon mal welchen gehabt hättest«, fauchte ich. Ich dachte, jetzt wird es aber Zeit, sich zu wehren.

»Mit dir nicht.« Er hat gegrinst und plötzlich war es still, keiner hat was gesagt, nur gegrinst haben sie alle, so als wüssten sie was. Als wüssten sie etwas, das sie natürlich gar nicht wissen, das sie sich nur den ganzen Tag ausmalen und ausfantasieren in ihren armseligen Hirnen.

Ich habe Oliver angestarrt, und obwohl ich genau wusste, dass er das nicht ernst meinte, nicht ernst meinen konnte, bin ich dann rüber zum Kran und hab mich angemeldet. Fünfzig Euro der Sprung und zehn für das T-Shirt. Ohne dieses blöde I did it-T-Shirt hätte das ganze Springen ja keinen Sinn gemacht. Mir tat’s leid um die sechzig Euro, schließlich waren sie noch vom Geburtstag, ein Geschenk von Oma Oberhausen und für die neuen Knieschoner gedacht, aber jetzt war’s auch egal. Manche Sachen kann man einfach nicht auf sich sitzen lassen. Besonders nicht, wenn sie von Oliver kommen.

»Aufgeregt?«, fragt mich der Rastalockige und versucht einen Scherz: »Ich hoffe, du hast unten dein Testament gemacht!«

»Ich hab nichts zu vererben«, entgegne ich trocken, und als er lacht, muss ich auch ein bisschen lachen, über mich, worüber sonst. In so einer Situation bleibt einem gar nichts anderes übrig, als über sich selbst zu lachen. Da fahre ich in einer Krankabine sechzig Meter senkrecht rauf in den Himmel, um einmal die Pommesbude und den Autoscooter von oben zu sehen und mich dann im freien Fall runterzustürzen. Ich muss nicht ganz dicht sein. Ich möchte sagen können, diese Höhe jetzt reiche mir schon, ein paar Meter über dem Flachdach der Sparkasse, wenn ich nachts vom Fliegen träume, fliege ich immer so in vier Meter Höhe, so Straßenlaternenhöhe, das würd mir ja schon reichen, möchte ich sagen, ich möchte sagen, dass ich nur zum Gucken hier raufgefahren bin, ich wollte nur mal gucken, wie weit man von hier gucken kann, gucken kann man unheimlich weit, nur meine Freunde kann ich unten nicht mehr erkennen. Ich weiß auch nicht, ob nicht mein Herz schneller schlägt, ich hab das Gefühl, es schlägt jetzt immer zweimal statt nur einmal, ja, ich fange an, alles doppelt zu sehen, den Rastalockigen, das Seil, das liegt da wie eine Schlange, das Seil, an dem gleich mein Leben hängt, die Gondel, den Ruck, mit dem wir ankommen in höchster Höhe, spüre ich doppelt, meine Gedanken sind doppelt, und als ich an den Absprungrand trete, klammern sich meine Hände mit doppelter Kraft am Geländer fest, doppelte Sicherung gegen den Fall, den freien.

Keiner von uns beiden sagt etwas. Metan meinte, sie würden einem oben noch viel Spaß wünschen, bevor’s abgeht, und Mone hat behauptet, wer zu lange rumsteht und zögert, würde einfach geschubst.

Vielleicht muss sich jetzt mein Leben vorm inneren Auge abspielen, genau wie bei den Hollywoodhelden, die können in Zeitlupe noch mal ihre ganzen tapferen Taten sehen, ihre große Liebe, ihr Elternhaus, eben alles, was im Film so wichtig war. Ich warte, aber ich sehe nichts und ich befürchte, es war auch nie irgendwas wichtig bei mir.

Das Einzige, was mir einfällt, ist die rote Uhr, die ich Oliver vorgestern zum Einmonatigen geschenkt habe. Ich wollte sie ihm wieder wegnehmen, weil er genau am nächsten Tag Schluss gemacht hat und mir der Verdacht gekommen ist, er habe noch so lange gewartet, bis er sein Geschenk in der Tasche hatte, und dann Tschüss. Also, das Einzige, was mir einfällt, ist, dass Oliver die doofe Uhr behalten soll. Das heißt aber nicht, dass Oliver meine große Liebe ist. Nein danke, ohne diesen Mistkerl stünde ich jetzt nicht hier oben.

Ich muss gleich springen, der Rastalockige hinter mir wird schon unruhig.

»Bitte nicht schubsen«, sage ich und drehe mich um.

Er zuckt mit den Schultern, grinst.

»Na los, nur fliegen ist schöner!«

Fliegen. Ich breite meine Arme aus.

Im Traum komme ich gerade mal vier Meter hoch und stürze dann wieder ab.

Fliegen.

Und wenn das Seil zu lang ist, zu kurz ist, mich nicht hält?

Dann heißt es nachher technisches Versagen und Oliver kann seine rote Uhr sowieso behalten.

Ich schiebe die Fußspitzen über die Kante.

Ich will eigentlich gar nicht.

Na los, Vivi.

Gut, dass meine Eltern nichts davon wissen.

Augen zu.

Es ist wahnsinnig tief. Ich werde das nie und nimmer überleben, da bin ich mir sicher.

»Und ab!«, sagt er hinter mir und aus Angst, er könne mich schubsen, aus Angst, er könne meine Schultern schnell mit seinen Händen nach vorne drücken, aus Angst, ich könne den Halt verlieren, lasse ich mich lieber selbst los und setze an zu dem einen Schritt nach vorn, aber das ist

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unten nimmt jemand meine Füße, Beine, Hüften, sie könnte meine Mutter sein, diese fremde Frau, Bodenfrau des Bungeestandes, Boden, sie umarmt mich, als sei ich ihr Kind, ihr vom Himmel gefallenes Kind auf weichem Boden, löst mich von meiner langen Nabelschnur, vorsichtig, als sei das gefrorene Lachen auf meinem Gesicht mein allererster Schrei in dieser Welt, und als ich tapsig davontaumele, wundere ich mich, dass keiner fragt, warum ich laufen kann. Die Welt dreht sich noch, als mir jemand das T-Shirt in die Hand drückt, das hätte ich jetzt glatt vergessen. Was, von da oben bin ich runtergesprungen? Oje, wie weich fühlen sich meine Beine an, ich glaub, mir wird schwindelig.

»Na, wie war’s? Gut? Sag schon, Vivi! War das stark? Das ist ein Feeling, was?«

Meine Freunde reden auf mich ein, halten mich fest und schleppen mich zum Getränkestand, wo mir Olli ein Glas Cola in die Hand drückt. Er selbst hat auch eins, stößt mit mir an und erst in diesem Moment beginne ich langsam, die Welt um mich herum wieder wahrzunehmen. Die Musik aus den Boxen über mir, den Geruch nach Bratwurst und Zuckerwatte, die Rufe der Losverkäufer und die schrillen Töne des Schleuderschaukelkarussells nebenan. Drüben am Bungee fährt gerade die Gondel zum nächsten Sprung aufwärts, ich kann meinen Blick nicht abwenden, warte mit angehaltenem Atem, bis ich den Körper sehe, der sich überschlagend in die Tiefe stürzt, aufgefangen und wieder hochgeschleudert wird, um wieder zu fallen.

Das habe ich gemacht, denke ich und es ist der stolze Schauer, der mich erzittern lässt, heiß und kalt wird mir auf einmal, ich fange an zu lachen, ein tosendes Lachen ist es, wie Wasserfontänen sprudelt es aus mir raus und ich könnte meine Freunde umarmen und tanzen und toben, ich lebe, das ist die Erfahrung: Ich lebe. Ich habe den Mut gehabt, ins Leben runterzuspringen, geil, geil, geil, ich tanze und turne und singe und juchze und Olli sagt: »Jetzt weißt du, was ich meine: Das ist der Kick. Ein Feuerwerk, im Schädel zischt’s und knallt’s, ein Haufen von Explosionen. Das ist Leben pur. Das ist wirklich echt.«

»Ja«, antworte ich, »genau so ist es. Genau so.«

Ein paar Stunden später sitze ich zwischen Sven und Metan auf der Absperrung des Autoscooters und werfe noch ab und zu einen Blick zum Bungee hinüber. Der Sprung ist vorbei, aber er hallt noch ein bisschen nach, wie ein toller Fernsehfilm manchmal mit ein paar Bildern in Erinnerung bleibt, obwohl die Werbung längst dran ist und einem in die Ohren dröhnt. Manchmal bleibt etwas haften, zwischen Haarshampoo, Schokolade und Hundefutter glaube ich, den schönen Liebhaber aus dem Spielfilm zu entdecken. Mir ist’s dann so, als würde er gleich mit den Kirschpralinen im Sommergarten erscheinen und die Margarine-Frau beglücken. Trotzdem ist das natürlich schon wieder Realität und alles andere Geschichte, Traum, was weiß ich.

Ich denke überhaupt zu viel. Das liegt bestimmt daran, dass der Sprung in meinem Körper alles durcheinandergewirbelt hat, zuerst konnte ich vor Aufregung keinen klaren Gedanken fassen und jetzt muss sich das Chaos im Kopf erst mal lösen.

Mensch, wenn Oliver nicht ausgerechnet mit Mone in den Autoscooter gestiegen wäre, könnte es der beste Tag meines Lebens sein. Doch wenn ich die beiden so angucke, wie sie jetzt mit Schwung Hendriks Wagen rammen und laut lachen, bleibt mir glatt der Kaugummi im Hals stecken. Da hilft es auch nicht, dass ich so stolz auf meinen Mut bin. Der Kick war klasse, aber genau wie im Fernsehen mit der Werbung das richtige Leben wieder anfängt, fängt im richtigen Leben nach dem Kick die Langeweile wieder an. Die Langeweile ist eine Seuche, die einen überall packen kann, sogar auf der größten Kirmes der Stadt kann die Langeweile lauern, gut, ich weiß, dass sie sich manchmal tarnt, als Frust oder Eifersucht zum Beispiel, aber im Grunde genommen ist es immer nur die Langeweile, die hinter jeder schlechten Stimmung steckt.

Ich liege im Bett und höre mein Lieblingslied über Kopfhörer. Mein Vater hat mir die Stereoanlage so installiert, dass ich vom Bett aus Musik hören kann, ohne aufstehen und alles an- und ausschalten zu müssen. Das ist das Beste an meinem ganzen Zimmer, ich liege im warmen Bett und kann mir vorstellen, dass ich bei meinem Lieblingssong noch mal durch die Luft fliege. Komisch, erst wollte ich um nichts in der Welt auf dieses Ding rauf und jetzt kann ich nur noch daran denken. Den anderen geht’s wahrscheinlich ähnlich, obwohl Hendrik großschnäuzig behauptet hat, Bungee sei auch nicht prickelnder, als einmal Wilde Maus zu fahren. Wilde Maus ist eine Art Achterbahn, bei der die Wagen so komisch auf den Schienen liegen, dass du bei jeder Kurve denkst, sie würden abstürzen. Als ich mit Mone Wilde Maus gefahren bin, haben wir uns die Kehle aus dem Hals geschrien. Ob ich beim Sprung auch geschrien habe, weiß ich gar nicht. Wie kann ich das einfach vergessen? Ich muss mal die anderen fragen.

Ich kuschele mich zusammen und stelle mir vor, durch die Luft zu fliegen. Ein Partnersprung wäre schön.

Mit Oliver?

Nein, bloß nicht. Oliver kann mir ein für alle Mal gestohlen bleiben. Ich fliege lieber allein. Dafür wähle ich aber nicht die bekannte Kulisse der Kirmes, sondern lasse mich von einer hohen Brücke in ein Tal stürzen, ein weites Tal mit einem gewundenen Fluss und grünen Wiesen mit Kühen drauf, oder ich falle aus einem Flugzeug auf das Meer hinab, unter mir das endlose Blau, die Luft so warm, dass ich kopfüber ins Wasser eintauche, um mich zu erfrischen.

Ich drehe mich im Bett hin und her, und je müder ich werde, desto schwindeliger wird mir, das blaue Meer verwandelt sich zurück in meine Stadt: leere Plätze mit Blumenkübeln, S-Bahn-Brücken, Beton-Schulhöfe, Fußballfahnen, Wäscheleinen, türkisfarbene Balkone, alte Kühlschränke, Rost, Regen, Pfützen, Öl und Erbrochenes, und ich sehe Olivers rote Uhr in der Menschenmenge aufblitzen, sein Gesicht, das er mir noch mal zudreht, bevor ich nach oben schwebe, sein Lächeln, seinen Mund, die Lippen, die immer etwas rissig und aufgesprungen sind, aber trotzdem schön, nicht perfekt und trotzdem zärtlich, und ich purzele hinab, falle durch das Dach in unsere Gartenlaube, lande auf der schmalen Holzbank mit den orange-grünen Blumenkissen, liege in seinen Armen, unbequem und frierend, weil es draußen in Strömen gießt und der Regen auf das Wellblechdach prasselt, dann werde ich wieder hochgeschleudert, fort von seinen vorsichtigen Fingern unter meinem Sweatshirt, fort in den Himmel, in dem Mone auf einer zuckerwatterosa Wolke sitzt und sich die Haare föhnt. »Wie findest du meine neue Haarfarbe?«, ruft sie, die hat Sorgen, ich schieße nach oben und stürze nach unten, bis mir ganz mau davon ist und ich mir schwöre, nie wieder fliegen zu wollen, nie wieder mich nach Olli zu sehnen, nie wieder was weiß ich, Gott sei Dank ist jetzt das Lied zu Ende und ich muss nur noch auf einen einzigen Knopf drücken, um schlafen zu können.

Kapitel 2

Heute ist Bungeespringen Thema Nummer eins vor der Schule. Alle reden davon.

Mone, die die ganze Nacht von dem Sprung geträumt hat und ihn bestimmt hunderttausendmal neu gesprungen ist, Olli, der so begeistert ist, dass er sich von seinem Onkel schon ein Buch über extreme Sportarten ausgeliehen hat, sein jüngerer Bruder Sven, der rumquengelt, Olli solle dieses Buch nun auch endlich rausholen, es würde im Rucksack sowieso nur verknicken, Metan, dem der Nacken wehtut, und Hendrik, der sich ärgert, weil seine Mutter entdeckt hat, dass er ihr für den Sprung Geld aus dem Portemonnaie genommen hatte.

»Sie hat gesagt, ich würde wie mein Vater werden.« Er lacht. »Wie soll ich wie der werden, wenn ich ihn kaum sehe?«

»Das sind die Gene. Die arbeiten in dir«, antwortet Olli und sie grölen los.

Hendrik heißt bei Mone und mir nur der »Lippenfresser«. Kein Mensch kaut derart heftig auf seiner eigenen Haut herum wie er. Hendrik scheint immer zu grübeln oder Hunger zu haben.