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Analytische Psychologie C. G. Jungs in der Psychotherapie

Herausgegeben von Ralf T. Vogel

Claus Braun

Die therapeutische Beziehung

Konzept und Praxis in der Analytischen Psychologie C. G. Jungs

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029322-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029323-6

epub:    ISBN 978-3-17-029324-3

mobi:    ISBN 978-3-17-029325-0

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Für Katia

Danksagung

 

 

 

 

In diesem Buch stütze ich mich neben der eigenen psychotherapeutischen Erfahrung hauptsächlich auf die Arbeiten deutscher und englischsprachiger jungianischer Kolleginnen und Kollegen, die über Jahre an der Entwicklung der intersubjektiven Perspektive der Analytischen Psychologie gearbeitet haben.

Mein besonderer Dank für inhaltliche Anregungen gilt Gustav Bovensiepen, Mario Jacoby, Jean Knox, Roman Lesmeister, Lilian Otscheret und Andrew Samuels.

Meine psychotherapeutische Haltung wurden in vielen Jahre nicht nur im Sprechen und Schweigen mit meinen Analysanden erweitert, sondern auch bereichert und vertieft im Gespräch mit Kurt Höhfeld, Renate Höhfeld, Wolfram Keller, Regine Lockot, Susanne Philipp und Anne Springer.

Angelica Löwe danke ich für ihre wertvollen Hinweise und die kritische Durchsicht des Manuskripts.

Ralf Vogel danke ich für die sorgfältige und inspirierende editorische Begleitung.

Geleitwort

 

 

 

 

Dieser Buchreihe gebe ich sehr gerne ein Geleitwort mit auf den Weg. Dies geschieht heute an einer Station in der psychotherapeutischen Landschaft, von der aus man fast verwundert zurück blickt auf die Zeit, in der sich Angehörige verschiedener »Schulen« vehement darüber stritten, wer erfolgreicher ist, wer die besseren Konzepte hat, wer zum Mainstream gehört, wer nicht, und – wer, gerade weil er nicht dazu gehört, deshalb vielleicht sogar ganz besonders bedeutsam ist. Unterdessen wissen wir aufgrund von Studien zur Psychotherapie, dass die allgemeinen Faktoren, wie zum Beispiel die therapeutische Beziehungsgestaltung, verbunden mit der Erwartung auf Besserung, wie die Ressourcen der Patienten, wie das Umfeld, in dem die einzelnen leben und in dem sie behandelt werden, eine größere Rolle spielen als die verschiedenen Behandlungstechniken. Zudem – und das zeigen auch Forschungen (PAPs Studie, Praxisstudie Ambulante Psychotherapie Schweiz) – werden heute von den Therapeutinnen und Therapeuten neben den schulspezifischen viele allgemeine Interventionstechniken angewandt, vor allem aber auch viele aus jeweils anderen Schulen als denen, in denen sie primär ausgebildet sind.

Gerade aber, weil wir unterdessen so viel gemeinsam haben und unbefangen auch Interventionstechniken von anderen Schulen übernehmen, wächst auch das Interesse daran, wie es denn um die Konzepte der »jeweils Anderen« wirklich bestellt ist. Als Jungianerin bemerke ich immer wieder, dass Theorien von Jung als »Steinbruch« benutzt werden, dessen Steine dann in einer neuen Bauweise, beziehungsweise in einer neuen »Fassung« erscheinen, ohne dass auf Jung hingewiesen wird. Das geschah mit der Jungschen Traumdeutung, von der viele Aspekte überall dort übernommen werden, wo heute mit Träumen gearbeitet wird. Dass C.G. Jung zwar auch nicht der erste war, der mit Imaginationen intensiv gearbeitet hat, Imagination aber zentral ist in der Jungschen Theorie, wurde gelegentlich »vergessen«; die Schematheorie kann ihre Nähe zur Jungschen Komplextheorie, die 100 Jahre früher entstanden ist, gewiss nicht verbergen.

Vieles mag geschehen, weil die ursprünglichen Konzepte von Jung zu wenig bekannt sind. Deshalb begrüße ich die Idee von Ralf Vogel, eine Buchreihe bei Kohlhammer herauszugeben, bei der grundsätzliche Konzepte von Jung – in ihrer Entwicklung – beschrieben und ausformuliert werden, wie sie heute sich darstellen, mit Blick auf die Verbindung von Theorie und praktischer Arbeit. Ich bin sicher, dass von der Jungschen Theorie mit der großen Bedeutung, die Bilder und das Bildhafte in ihr haben, auch auf Kolleginnen und Kollegen anderer Ausrichtungen viel Anregung ausgehen kann.

Verena Kast

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. Danksagung
  2. Geleitwort
  3. 1 Einführung
  4. 2 Das jungianische Modell der psychotherapeutischen Begegnungssituation
  5. 2.1 Von der Psychoanalyse Sigmund Freuds zur Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs
  6. 2.1.1 Ödipuskomplex und Große Mutter
  7. Exkurs Geist und Gehirn: neurowissenschaftliche Gesichtspunkte zur therapeutischen Beziehung
  8. 2.1.2 Die komplexe Psyche
  9. 2.1.3 Die Funktion des Träumens
  10. 2.1.4 Typologie: Orientierungsfunktionen und Einstellungstypen
  11. 2.1.5 Archetypen und Symbole des kollektiven Unbewussten
  12. 2.1.6 Psychotherapie und Alchemie
  13. 2.1.7 Selbst, Identität und Individuation
  14. 2.1.8 Das psychische Leben als symbolische Bühne
  15. 2.2 Übertragung und Gegenübertragung in der Analytischen Psychologie
  16. 2.2.1 Die Wechselseitigkeit der unbewussten Übertragung
  17. 2.2.2 Übertragung und reale zwischenmenschliche Beziehung
  18. 2.2.3 Die einzigartige Begegnung der Subjekte: Intersubjektivität, Wechselseitigkeit und Eigenständigkeit des Intrapsychischen
  19. 2.2.4 Psychotherapie: ein Dialog zwischen Verständnis und Erkenntnis
  20. 2.2.5 Amplifizieren: ein jungianischer Weg der psychotherapeutischen Sinnsuche
  21. 2.2.6 Zum Verhältnis von Amplifizieren und Deuten
  22. 3 Der jungianische Psychoanalytiker
  23. 3.1 Ethik psychotherapeutischen Handelns und Anforderungen an die Persönlichkeit
  24. 3.2 Das archetypische Bild des verwundeten Heilers und die Selbstheilungskräfte des Analysanden
  25. 3.3 Welche Therapeuten passen zu welchen Patienten?
  26. 3.4 Zielsetzungen im psychotherapeutisch-analytischen Prozess
  27. 4 Psychopathologische Konzepte der Analytischen Psychologie
  28. 4.1 Psychopathologie und Probleme der Realitätsanpassung
  29. 4.1.1 Die energetische Betrachtungsweise der Libido
  30. 4.1.2 Neurosentheorien
  31. 4.2 Krankheitsmodelle der Analytischen Psychologie
  32. 4.2.1 Krankheitsverursachende Faktoren
  33. 4.2.2 Neurotische Konflikte, strukturelle Eigenschaften, Psychosen
  34. 4.3 Psychopathologie und Individuation
  35. 4.3.1 Ich und Selbst
  36. 4.3.2 Regression und Progression
  37. 4.3.3 Symbole der Wandlung
  38. 5 Psychotherapeutische Behandlungsziele der Analytischen Psychologie
  39. 5.1 Heilung durch Selbsterkenntnis: das Paradigma der Individuation
  40. 5.2 Uroboros und Drachenkampf: die Integration der Elternkomplexe
  41. 5.3 Die Integration des Schattens
  42. 5.4 Die Entwicklung der transzendenten Funktion, Begegnungsmomente
  43. 5.5 Arbeiten an der Ich-Struktur
  44. 5.5.1 Die Integration transgenerationaler Einflüsse und Traumata
  45. 5.5.2 Die Bearbeitung lebensgeschichtlicher Traumata
  46. 5.5.3 Die Arbeit an Defiziten der Mentalisierung
  47. 5.5.4 Bindungsstörungen
  48. 6 Der therapeutische Raum
  49. 6.1 Begegnung und Setting
  50. 6.1.1 Sitzen oder Liegen
  51. 6.1.2 Rahmen und Regeln
  52. 6.1.3 Die heilsame Asymmetrie der psychotherapeutischen Beziehung
  53. 6.2 Der Fokus der aktuellen Konflikte
  54. 6.3 Diagnostische Perspektiven
  55. 7 Psychotherapie: Verstehen, Erkennen, Lernen
  56. 7.1 Einführungen in das Behandlungsbeispiel
  57. 8 Begegnung, Kontrakt, Beginnen
  58. 8.1 Erstkontakt, Diagnostik, Indikation und Auftrag
  59. 8.1.1 Aktuelle Symptomatik
  60. 8.1.2 Belastungen aus der Lebensgeschichte
  61. 8.1.3 Typologische Überlegungen
  62. 8.1.4 Störungsrelevante Komplexe, Ich-Komplex, Archetypisches
  63. 8.2 Indikationsfindungen im dialogischen Prozess
  64. 8.3 Therapeutische Ziele und Arbeitsbündnis
  65. 9 Die kontextgeleitete Behandlungspraxis
  66. 9.1 Die individualisierte Behandlungsmethode der Analytischen Psychologie
  67. 9.2 Sprachlicher Dialog – Körperlichkeit – Handlungsdialog – Szene
  68. 9.3 Symbolische Einstellung und Rêverie
  69. 10 Die Hebammenmethode der Analytischen Psychologie
  70. 10.1 Struktur und Funktionen des Selbst, Konflikte des Ich
  71. 10.2 Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand
  72. 10.3 Schattenerkenntnis und Schattenintegration
  73. 10.4 Zur Emergenz von Wandlungspotentialen
  74. 11 Die Bewusstheit des Unbewussten
  75. 11.1 Koordinaten jungianischer Traumarbeit
  76. 11.1.1 Einzeltraum und Traumserie
  77. 11.2 Die Intersubjektivität der Träume im analytischen Feld
  78. 11.2.1 Traumserie und analytische Beziehung
  79. 11.3 Die Integration schöpferischer Gestaltungen
  80. 12 Abschied ins Leben
  81. 12.1 Zusammenfassung des Behandlungsverlaufs
  82. 12.2 Kassenleistungen und Therapieende: So viel wie möglich? So viel wie nötig?
  83. 12.3 Dimensionen heilender Individuationsprozesse
  84. Literatur
  85. Stichwortverzeichnis
  86. Personenverzeichnis
  87. Verzeichnis der Abbildungen

1          Einführung

 

 

 

 

Das Verstehen der therapeutischen Beziehung hat in der psychotherapeutischen Behandlungspraxis der Analytischen Psychologie nach Carl Gustav Jung von Anfang an größte Bedeutung.

Jung hatte früh erkannt, dass in der psychotherapeutischen Begegnung nicht nur der Analysand eine Übertragungsbindung an den Psychotherapeuten eingeht, sondern dass auch die unbewusste Psyche des Psychotherapeuten durch die Induktionswirkung der Übertragungsprojektionen angeregt, beeinflusst und soweit verändert werden kann, dass er sogar von einer möglichen »Übertragung der Krankheit auf den sie Behandelnden« spricht (Jung, 1946, GW 8, § 365). Analysand und Analytiker treten neben der bewussten Beziehung auch in ein Verhältnis gegenseitiger Unbewusstheit.

Die Mitteilungen im Behandlungsraum finden deshalb nicht nur auf der Ebene der bewussten Begegnung statt, es kommunizieren auch die unbewussten Seiten der Psyche aktiv, wenn auch subliminal, miteinander. Dies äußert sich zum Beispiel in Sympathien und Antipathien, in der wechselseitigen Körpersprache, in vegetativen Befindlichkeiten, in Verständnisschwierigkeiten und im Widerstand, in der Aktivierung oder Abschwächung von Abwehroperationen, in Begegnungsmomenten (Stern, 2005) und Verlassenheitsgefühlen, im Erleben eines ungedacht Bekannten (Bollas, 1997, S. 287 ff.), in der Möglichkeit, Deutungen zu geben und diese anzunehmen, in den Traumgestaltungen, in der Übertragung und in der Gegenübertragung.

Zwischen Analysand und Analytiker baut sich im Verlauf der Behandlung eine energetische Verbindung auf, für deren Beschreibung der Begriff eines intersubjektiven Feldes geeignet erscheint, in dem sich die Wandlungsenergie entfalten kann, welche der Analysand für seine Entwicklung benötigt (McFarland Salomon, 2013).

Die Behandlungspraxis der Analytischen Psychologie stützte sich früh auf ein interpersonales und intersubjektives Beziehungsmodell, wie es später von der Säuglingsforschung als Grundvoraussetzung jeglicher Kommunikation untersucht und beschrieben wurde.

Da sich Jung nach der Trennung von Freud überwiegend den Inhalten des Unbewussten und dessen symbolischen Ausdrucksformen zuwandte, kam die Untersuchung des intersubjektiven Geschehens in der Analytischen Psychologie erst in jüngerer Zeit theoretisch und praktisch mehr zur Geltung. Jungianische Psychotherapeuten beachten heute in hohem Maße die Umstände der frühen Entwicklung ihrer Analysanden und arbeiten deshalb auch mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, um deren Entwicklungschancen zu verbessern.

Durch die Arbeiten der entwicklungspsychologisch orientierten Forscher der Analytischen Psychologie wurde es möglich, Befunde der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie, der Säuglingsforschung, der Mentalisierungstheorie und der Bindungsforschung in Beziehung zu setzen zu jener intrapsychischen Beziehungsdynamik, die Jung als transzendente Funktion bezeichnet hat (Knox, 2011, S. 421 ff.). Die transzendente Funktion beschreibt die Fähigkeit, Inhalte des Bewusstseins mit Inhalten des Unbewussten in Verbindung zu bringen. Sie ist als ein dynamischer Abgleichungsprozess zu verstehen, bei dem einerseits explizite, bewusste Informationen mit den Erinnerungen und Engrammen verglichen werden, die in unseren unbewussten inneren Arbeitsmodellen als allgemeines Beziehungswissen gesammelt sind und die Basis unseres Selbstgefühls ausmachen. Andererseits überführt die transzendente Funktion Wandlungsenergie in Symbolbildung und macht sie auf diesem Weg erfahrbar und wirksam.

Der Prozess des Filterns, Abgleichens, Bewertens, Evaluierens von realer und symbolischer Erfahrung wird in der Analytischen Psychologie als Vorgang der Sinnfindung verstanden. Dieser dient der Selbstregulation der Psyche und beinhaltet die Vorstellung einer zielgerichteten, funktionalen und ausgleichenden Erweiterung der bewussten Einstellung durch Inhalte des Unbewussten.

Die psychotherapeutische Arbeit im Geiste C. G. Jungs versteht sich eher als gemeinsamer Prozess des Nachdenkens im Dialog und weniger als dogmatische deutende Anwendung von psychoanalytischem Erklärungswissen. Jungianische Psychotherapie und Psychoanalyse ist sich stets bewusst, dass hinter und in den Beschwerden des Analysanden ein Wunsch nach Integration und Persönlichkeitsentwicklung oder Individuation wirksam ist, welcher im eigenen Selbst wurzelt. Gewollt ist auch, dass sich die persönliche Perspektive des Analysanden auf die kulturellen und historischen Zusammenhänge seiner persönlichen Lebensgeschichte hin erweitert und er eine größtmögliche Freiheit seines Denkens und Fühlens entwickeln kann.

Die Geschichte der Psychoanalyse kann als eine Geschichte der sich verändernden Beziehungsgestaltung im psychotherapeutischen Prozess beschrieben werden.

In der klassischen Standardtechnik Freuds und seiner Nachfolger wird die analytische Situation wie eine naturwissenschaftliche Untersuchung konzipiert. In ihr gibt es nur Objekte: der Analytiker als Spiegel ist das Objekt der Übertragung, der Patient und dessen Material das Objekt der Beobachtung und Deutung.

Im späteren Modell der freudianischen Objektbeziehungstheorie, einer Zwei-Personen-Psychologie, nimmt der Analytiker die Rolle eines realen Gegenübers ein. Der Analysand kann nun mit dem Analytiker neue emotionale Beziehungserfahrungen machen, indem sich der Analytiker in unterschiedlicher Weise nicht spiegelnd verbirgt, sondern sich als menschlicher Gesprächspartner sichtbar macht. Die Deutungstechnik wurde durch eine Beziehungstechnik ergänzt, die Modifizierungen von Setting und Interventionsformen erlaubt.

Seit ungefähr 20 Jahren prägt das Paradigma der Intersubjektivität zunehmend unser Verständnis des psychotherapeutischen Prozesses, welcher nun als fluktuierendes interaktives geistiges Feld gesehen wird. Subjektivität und reale Beziehung als Ereignis- und Entwicklungsraum jenseits von Übertragung und Gegenübertragung werden wichtige Bezugsgrößen des analytischen Geschehens. In diesem Feld oder in dieser Matrix realisieren sich gemeinsame geistige Schöpfungen des analytischen Paares als intersubjektives Drittes. Das intersubjektive oder analytische Dritte ist jene neue kognitive und emotionale Qualität, welche das jeweilige analytische Paar einzigartig hervorbringt. Jenes Dritte ist nicht als etwas Gegenständliches zu verstehen, sondern als Medium der psychotherapeutischen Wandlungs- und Heilungsprozesse. Im intersubjektiven Feld des psychoanalytischen Vorgangs wachsen sowohl die interaktionell-kommunikativen Kompetenzen, als auch die Möglichkeiten des Blickes nach innen und der Verbindung mit dem eigenen Selbst.

Voraussetzung für die bessere Bewältigung intrapsychischer und interpersoneller Konflikte sind auch Veränderungen im Integrationsniveau der psychischen Struktur. Konfliktbewältigungskompetenz und Persönlichkeitsentwicklung gehören untrennbar zusammen und sollen sich über die psychotherapeutische Einsichts- und Beziehungsentwicklung entfalten. Die psychotherapeutische Erfahrung soll der Individuation des Analysanden dienen und Modellcharakter für seinen Alltag bekommen.

In diesem Sinne bleibt eine jungianische Psychoanalyse nie tendenzlos, sie ist gegenwarts- und zukunftsorientiert und steht in der Überzeugung, dass die Wahrnehmung und Annahme der Entwicklungslinien, welche tief in der persönlichen Psyche verwurzelt sind, die Grundlage seelischer Heilungsprozesse bilden.

Nach den Erfahrungen meiner eigenen psychotherapeutischen Praxis und derjenigen anderer Kolleginnen und Kollegen (Otscheret & Braun, 2004) gibt es weder den Standardpatienten noch die psychotherapeutische Standardmethode. Jede psychotherapeutische Begegnung ist so besonders und einmalig, dass sie nicht nur einen individuellen Verlauf nimmt, sondern dass Analysand und Analytiker auch eine jeweils unterschiedliche Methode der Heilsamkeit erzeugen und entwickeln. Ob dies geschehen kann, hängt in erster Linie von der professionellen Haltung des Analytikers ab und von seinem beharrlichen Bemühen, sich in die Lebenserfahrung und Beziehungsgeschichte des Analysanden verstehend einzufühlen. Gleichzeitig muss er realisieren können, dass der Analysand auch ein fremd bleibender Anderer ist, den es trotzdem warmherzig anzuerkennen gilt.

Der vorliegende Band hat zwei Hauptteile. Der erste Teil (image Kap. 2–6) widmet sich den theoretischen Grundlagen der therapeutischen Beziehung aus jungianischer Sicht. Es werden wichtige theoretische Unterschiede gegenüber der auf Sigmund Freud aufbauenden Psychoanalyse beleuchtet. Danach erläutere ich die begrifflichen Koordinaten der jungianischen Theoriebildung, welche für das Verständnis der psychotherapeutischen Beziehung und für die Ziele eines analytischen Prozesses von Bedeutung sind. Ein Exkurs stellt die wichtigsten neurowissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Ergebnisse vor, welche für das Entstehen von Bewusstsein und zwischenmenschlicher Bezogenheit entscheidend sind.

Danach formuliere ich Anforderungen an die Persönlichkeit und Ethik des Analytikers und Überlegungen zur Passung Analysand – Analytiker.

Kapitel 4 beschreibt psychopathologische Konzepte der Analytischen Psychologie, Kapitel 5 die psychotherapeutischen Behandlungsziele und Kapitel 6 den therapeutischen Raum und die Regeln, das Setting der Behandlung.

Den zweiten Hauptteil (image Kap. 7–12) habe ich der psychotherapeutischen Behandlungs- und Beziehungspraxis gewidmet. Anhand einer ausführlichen, anonymisierten Behandlungsgeschichte werden Anfangsphase, Verlauf und Beendigung einer jungianischen analytischen Psychotherapie unter Beziehungsgesichtspunkten und – wie ich hoffe – argumentationszugänglich (Körner, 2003) beschrieben.

Mein besonderes Augenmerk gilt dabei der Wechselseitigkeit unbewusster Einflüsse auf das Geschehen und Vorgängen der Differenzierung symbolischer Inhalte aus dem persönlichen und kollektiven Unbewussten. Der Traumarbeit und der jungianischen Methode des Amplifizierens habe ich dabei hervorgehobene Beachtung geschenkt.

Den Band beschließen Überlegungen zum Verfahren der versicherungsfinanzierten Psychotherapie in ihrem Verhältnis zu verschiedenen Dimensionen heilender Individuationsprozesse.

Das Behandlungsbeispiel habe ich gewählt, um wichtige Änderungs- und Integrationsschritte im Zusammenhang der intersubjektiven Dynamik von Analysand und Analytiker eingebettet in die sozialen Beziehungen und die soziale Lebenswirklichkeit gewissermaßen feinkörnig darstellen zu können. Obwohl ich beispielhaft eine analytische Psychotherapie als Langzeitbehandlung gewählt habe, gelten alle wesentlichen inhaltlichen und psychodynamischen Gesichtspunkte auch für die anderen Formen von tiefenpsychologischen Psychotherapien mit Erwachsenen, also auch für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Kurzzeitpsychotherapie. Die unterschiedlichen Einstellungen des Analytikers in der Durchführung analytischer und tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapien werden im Kapitel 8.2 Indikationsfindungen im dialogischen Prozess beschrieben.

Die Besonderheiten der psychotherapeutischen Beziehung in der Gruppenpsychotherapie kann ich in diesem Band wegen ihrer Komplexität nicht in der erforderlichen Ausführlichkeit darstellen. Sie bleiben einer gesonderten Arbeit vorbehalten.

Im Text benutze ich durchweg die männliche Form, indem ich von Analysand und Analytiker oder Psychotherapeut spreche. Sie soll selbstverständlich für beide Geschlechter stehen, wobei ich es für richtig hielt, aus meiner Perspektive als Psychoanalytiker zu schreiben. Mögliche Beschränkungen meines Textes, die sich aus der Genderperspektive ergeben, bitte ich zu berücksichtigen und zu entschuldigen.

Anstelle von eher passivierenden Bezeichnungen wie Klienten oder Patienten spreche ich durchgehend für alle Psychotherapieformen von Analysanden, um die gemeinsame Aufgabe des Untersuchens und Verstehens im psychotherapeutischen Werk zu betonen. Ich verwende die Begriffe Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Analytiker aus demselben Grund synonym und bezeichne auch den Behandler in der tiefenpsychologisch fundierten und in der Kurzzeitpsychotherapie als Analytiker, da er ebenso zusammen mit dem Analysanden versucht, die unbewusste Psychodynamik seiner Leiden zu erforschen und auf der bewussten Ebene zugänglich zu machen.

An manchen Stellen des Textes verwende ich Verben wie »sollen« oder »müssen« und dies besonders auf Aktivitäten des Analytikers bezogen. Ich möchte mit dieser Begrifflichkeit keine Handlungsaufforderungen oder Praxisrichtlinien geben, sondern herausstellen, dass ich bestimmte Haltungen und Einstellungen für günstig und für erprobenswert halte.

Die Literaturhinweise sollen eine erweiterte Lektüre der jeweiligen Terminologie und der inhaltlichen Zusammenhänge ermöglichen. Die Schriften C. G. Jungs werden nach den Gesammelten Werken in 20 Bänden (GW 1–20) zitiert. Aus Gründen der Vergleichbarkeit verschiedener Ausgaben der Gesammelten Werke und der englischsprachigen Collected Works sind die gesamten Texte mit Randparagraphen durchnummeriert. Die zitierten Textstellen werden deshalb nicht über die Seitenzahlen, sondern über das Jahr der Erstveröffentlichung, den jeweiligen GW-Band und die entsprechenden Paragraphen zugänglich gemacht (Beispiel: Jung, 1946, GW 8, § 365).

Das Buch wendet sich in erster Linie an psychotherapeutische Fachkollegen sowie an Aus- und Weiterbildungskandidaten aller psychotherapeutischen und psychoanalytischen Fachrichtungen. Darüber hinaus habe ich mich bemüht, alle wesentlichen Zusammenhänge so darzustellen, dass der Text auch für andere Berufsgruppen und für interessierte Laien verständlich und inhaltlich zugänglich ist.

*

Für das Vertrauen und die Zustimmung von Herrn M. zur Verwendung seines Traumaterials und seiner kreativen Schöpfungen bin ich ganz besonders dankbar.

2          Das jungianische Modell der psychotherapeutischen Begegnungssituation

 

 

 

2.1       Von der Psychoanalyse Sigmund Freuds zur Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs

Die tragische Entwicklung der Entzweiung Sigmund Freuds und seines »Kronprinzen« Carl Gustav Jung, von der beide zutiefst betroffen waren, soll hier nicht näher aufgerollt werden. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, die zur Trennung Freuds und Jungs führte, stand eine Kontroverse über das Wesen der seelischen Wandlungsenergie oder Libido. Jung wollte die Libido nicht auf das sexuelle Streben eingeengt sehen, er wollte die Libido als allgemeine psychische Energie oder Lebensenergie definiert wissen.

Diese Kontroverse markiert auch den Unterschied der Modelle des menschlichen Geistes, die Freud und Jung vertraten. Für Freud war die unbewusste Psyche der Ort der Verdrängung der inzestuösen Begierden und Wünsche, die für die bewusste Einstellung peinlich und unakzeptabel waren. Für Jung war das Unbewusste »… die ewig schöpferische Keimschicht, die sich zwar alter symbolischer Bilder bedient, darin aber durch und durch neuen Geist meint.« (Jung, 1930a, GW 4, § 760).

Persönlich bekannt miteinander waren die beiden psychoanalytischen Forscher seit dem Jahre 1907, nachdem Jung seine Monographie »Über die Psychologie der Dementia Praecox: ein Versuch« (Jung, 1907, GW 3) an Freud gesandt hatte. Bereits 1900 war Jung auf Freuds »Traumdeutung« aufmerksam gemacht worden. Danach hatte er Freuds Theorien über psychische Traumata und deren Verdrängung bei seinen Untersuchungen mit dem Wortassoziationsexperiment (image Kap. 2.1.2) angewandt.

Die beiden Männer verstanden sich auf Anhieb. Der intensive Briefwechsel zwischen Freud und Jung zwischen 1906 und 1913 zeigt, bis zu welch hoher Intimität und Vertrautheit sich die Freundschaft zwischen dem zu Beginn der Korrespondenz 50-jährigen Freud und dem 30-jährigen Jung entwickelt hatte (McGuire & Sauerländer, 1974).

Bei der ersten offiziellen Versammlung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1910 wurde Jung zu ihrem Präsidenten gewählt und zum Herausgeber des ›Jahrbuchs für Psychoanalyse‹ ernannt. Jung wurde danach dreimal als Präsident wiedergewählt, bis er 1913 zurücktrat. Nach einer langen Phase des Rückzugs, der Introversion und der Selbstanalyse gebrauchte Jung 1918 erstmals den Begriff »Analytische Psychologie«, um seine Psychologie von der Freud’schen Psychoanalyse abzugrenzen. Seit jener Zeit stehen sich die Schüler und Anhänger Freuds und Jungs bis heute oft noch distanziert gegenüber (Kirsch, 2007, S. 21 f.).

Entsprechend ihrer entgegen gesetzten Auffassungen über die Funktion des Unbewussten und über die Bedeutung von Symbolen unterschieden sich Freud und Jung vor allem durch ihre Methode, Produkte des Unbewussten wie Träume und Phantasien zu interpretieren (Plaut, 2004, S. 156 ff.).

Nach Freud sollte der Analysand durch Aufhebung der Verdrängung und nach verbesserter Anerkennung der Realität freier darin werden, sein Leben erfüllter genießen zu können. Freuds Forderung an den Analysanden war dabei lediglich, dass dieser einige peinliche Wahrheiten über sich selbst zu akzeptieren hat.

Auch Jung hielt es für äußerst wichtig, dass sich der Analysand zuerst seines persönlichen Beitrags zu den geklagten Leiden, seines Schattens, bewusst werden muss. Im Zuge der Analyse soll der Analysand dann aber auch mit den Reichtümern seines unbewussten Geistes bekannt gemacht werden. Es sollen sich ihm darüber hinaus kulturelle Schätze der Menschheit erschließen als Quelle von Energie und Kreativität, welche seinem persönlichen Leben Sinn und Bedeutung verleihen können.

Lesmeister (vgl. Lesmeister, 2011 für die beiden folgenden Abschnitte) beschreibt die Geschichte der Jung-Freud-Beziehung als die Geschichte eines gescheiterten Kampfs um Anerkennung. Er zitiert Jung, der in einem seiner letzten Briefe an Freud schreibt: »Ich leide nur hier und da am bloß menschlichen Wunsche, intellektuell verstanden zu werden, ohne am Maßstab der Neurose gemessen zu werden.« (McGuire & Sauerländer, 1976, S. 583).

Der zwischen Freudianern und Jungianern abgebrochene Dialog ist zu keinem späteren Zeitpunkt trotz zahlreicher theoretischer Annäherungen wieder aufgenommen worden. So findet sich beispielsweise Jungs Konzept der gemeinsamen Unbewusstheit und der unbewussten Kommunikation wieder in den Modellen von projektiver Identifizierung und Containment der kleinianischen Schule der Psychoanalyse, das Postulat eines gemeinsamen, relationalen Unbewussten wird heute von den psychoanalytischen Intersubjektivisten vertreten. Jung begann auch früh, die Gegenübertragung nicht mehr als Störung der analytischen Rezeptionsfähigkeit zu sehen, sondern sie als höchst wichtiges Erkenntnisorgan (Jung, 1929, GW 16, § 163) zu nutzen, wie von freudianischer Seite später Paula Heimann (1950) und Heinrich Racker (1959/1988).

Psychoanalytisch diskurswürdig wäre besonders Jungs Theorie der autonomen Komplexe als Teil eines multifunktionalen Modells der Persönlichkeit und der Gesamtpsyche. Das Komplexmodell ist gut mit dem Konzept einer Netzwerkorganisation der Gehirntätigkeit ohne permanente zentrale Steuerung kompatibel, wie es heute von Hirnforschung und Neuropsychologie vertreten wird. Die Archetypentheorie, mit der Jung auf den Instinktcharakter von Erfahrungsbereitschaften abzielte, findet empirische Belege in Ergebnissen der Säuglingsforschung und der vergleichenden Verhaltensforschung, welche bereits Säuglinge als aktive Interaktionspartner und kooperativ Handelnde im sozialen Miteinander anerkennt.

Miteinander zu reden, in einen Dialog einzutreten, macht nur Sinn, wenn sich beide Seiten etwas davon versprechen. Freudianer und Jungianer müssten in neuer Weise wieder »neu-gierig« aufeinander und auf ihre unterschiedlichen »models of mind« werden. Anzubieten hätten wir Jungianer unter anderem unsere Vorstellung, dass neben der begrenzten individuellen Psyche auch ein gemeinsam geteilter, die Subjekte mit anderen Subjekten und selbst mit der Materie verbindender Geist wirksam ist. Dass es ein historisches kollektives Bewusstsein wie den Geist einer Zeit gibt, ist ebenso unbestreitbar, wie die Existenz kollektiver, von großen Gruppen geteilter Unbewusstheit. Die Belege sind umfangreich und überzeugend, nach denen sich die universellen Formen des Geistes aus der Interaktion und Kommunikation mit anderen geistbegabten Wesen ergeben. Das, was wir von der Welt wissen, scheint eher eine Sache der gesellschaftlichen Konstruktion zu sein als eine Widerspiegelung von Naturtatsachen. Hinweise auf die essenziell relationale und intersubjektiv determinierte Natur der sogenannten Realität kommen immer mehr auch aus nicht-psychologischen Forschungsrichtungen wie der Medizin, Physik, Biologie und selbst der Wirtschaftswelt (Lloyd Mayer, 2002).

2.1.1     Ödipuskomplex und Große Mutter

In einem tieferen Sinne lässt sich die Trennung von Jung und Freud darauf beziehen, dass beide nicht in der Lage waren, ihre entscheidenden Grundannahmen bezüglich der menschlichen Hauptentwicklungsaufgaben als sich eventuell ergänzend zu sehen.

Freudianer legen bis heute größtes Gewicht auf die Ausarbeitung der Bedeutung der Überwindung des Ödipuskomplexes bzw. der ödipalen Situation, der inzestuösen Bindung an das gegengeschlechtliche Elternteil.

Demgegenüber meinen Jungianer, Freud habe den Inzestwunsch viel zu konkretistisch gesehen. Es gehe für den Knaben nicht um den konkreten Wunsch, sich mit der Mutter zu vereinen oder die Mutter zu heiraten. Es gehe vielmehr um ein kindliches Bestreben, sich weiter von der Mutter verwöhnen zu lassen, also um die Sehnsucht, unbewusst zu bleiben, anstatt bewusst zu werden und die Heldenfahrt in die Welt anzutreten. Mit der Phantasie des Mutterinzests sei im übertragenen Sinne auch gemeint, als Subjekt und Individuum aus eigener Veranlassung noch einmal neu geboren werden zu wollen.

Beziehungsdynamisch, in jungianischer Begrifflichkeit objektstufig, meint die Heldenmetapher: zu bestehen gegen die übermächtige Mutter-Imago, die Große Mutter, den Mutterdrachen. Subjektstufig oder intrapsychisch geht es um die Aufgabe des Bewusstseins, gegen die Macht des Unbewussten anzukämpfen.

Die archetypische Rolle des Vaters besteht in der Verkörperung der Welt der moralischen Gebote und Verbote. Er dient als moralische Orientierungsfigur, um dem Sohn den Weg aus Trieb und Regressionslust zu zeigen (Meier, 2015, S. 13 ff.).

Der Jungianer Erich Neumann liest den Ödipusmythos aus der Perspektive seines Misslingens und eines Mangels an Bewusstseinsfähigkeit dieses Heros. Er sieht Ödipus als einen steckengebliebenen halben Helden, der ins Stadium des Sohnes regrediert und das Opferschicksal des Sohngeliebten erleidet.

Für die notwendige Entwicklung, die Individuation, sehen Jungianer andere Mythologien als zutreffender: zum Beispiel den Perseus-Mythos und die Geburt des kreativen, aufsteigenden Pegasus aus dem Haupt der toten Gorgo. Oder auch die Osiris-Legende: die Reise durch die Unterwelt, die Nachtmeerfahrt durch Tod und Wiedergeburt, die zur Bewusstseinsentwicklung, zum Selbstbewusstsein führt. Der mühsame Weg der Individuation und zum Kontakt mit den eigenen schöpferischen Möglichkeiten und Fähigkeiten muss von jedem Einzelnen neu durchgekämpft werden (Löwe, 2014, S. 314 ff.).

Exkurs Geist und Gehirn: neurowissenschaftliche Gesichtspunkte zur therapeutischen Beziehung

Der neuronale Code scheint heute den griffigsten Zugang zu der Frage zu bieten, wie sich Bewusstsein und Unbewusstes, Individuelles und Kollektives aufeinander beziehen. Daneben scheinen der genetische Code (C. Levy-Strauss) und der archetypische Code (C. G. Jung) als andere wissenschaftliche Mythen an Bedeutung zu verlieren (Bahner, 2002).

Wir können im Einklang mit führenden kognitiven Neurowissenschaftlern (Wilkinson, 2010, S. 307 ff.; Gallese, 2015) den Menschen als »Geist-Hirn-Körper-Wesen« definieren, das aus dem Erleben der frühesten und fundamentalsten Beziehungserfahrungen mit den primären Bezugspersonen hervorgeht. Die Psyche als Totalität aller psychischen Prozesse kann nicht vom Körpererleben getrennt werden. Die früheste Form einer geistigen Organisation scheint das image scheme, das Gefühl einer verkörperten Bedeutung, eines embodied meaning zu sein (Johnson, 1987). Das Image- oder Abbildschema wird als emergente geistige Gestalt gesehen, die sich aus körperlichen Erfahrungen entwickelt und die Grundlage für die Fähigkeit bereitstellt, abstrakte Bedeutungen sowohl für die physische, als auch für die Welt der Phantasie und der Metapher zu erfassen und somit Erfahrung zu organisieren (Knox, 2004, S. 69).

Erfahrungen werden in inneren Arbeitsmodellen gespeichert, welche der Fähigkeit zur Imagination und der Entwicklung der Denkfunktion dienen einschließlich des Gefühls für einen inneren psychischen Raum und des Gefühls des eigenen Selbst. Der sich entwickelnde Geist entfaltet sich aus dem sich entwickelnden Gehirn. Neue neuronale Verbindungen entstehen als Ergebnis von Interaktionen mit bedeutsamen Anderen das ganze Leben hindurch.

Die neuronalen Netzwerke durchlaufen während der frühen nachgeburtlichen Entwicklung bis zum zweiten Lebensjahr kritische Perioden, in denen sie besonders empfänglich für äußere Einflüsse sind und durch welche ihre Verknüpfungsstruktur stark verändert werden kann (Roth & Strüber, 2014, S. 155 ff.). Die heranwachsenden Hirnstrukturen bleiben darüber hinaus bis weit in die Pubertätszeit gegenüber Umwelteinflüssen psychosozialer und stofflicher Art, wie z. B. für Drogen, besonders empfänglich und vulnerabel.

Hirnzellen reifen unter einer schubartigen Herstellung von Synapsen an jeweils unterschiedlichen Orten des Nervensystems. Während solcher Schübe entstehen weit mehr Verbindungen, als letztendlich benutzt werden. Umwelteinflüsse bestimmen, welche Verbindungen aktiviert und überleben werden und welche nicht. Nicht genügend aktivierte Synapsen werden aus der reifenden Struktur eliminiert (Solms & Turnbull, 2004, S. 234).

Bewusste geistige Akte erfordern die implizite Anwesenheit eines geistigen Subjekts, eines Selbst. Ob dieses als primäres Selbst bereits angelegt oder ausschließlich sozialen Ursprungs ist, scheint schwer zu entscheiden zu sein. Gewiss ist aber, dass das Selbst in der Lern- und Sozialgeschichte einer Person geschaffen und geformt wird. Dabei sind insbesondere vielfältige und lebenslang fortbestehende soziale Spiegelungsvorgänge entscheidend, die uns dazu verhelfen, ein dauerhaftes geistiges Selbst aufzubauen (Prinz, 2013, S. 71; Gallese 2015, S. 101 f.). Neurophysiologisch scheinen hier sogenannte Spiegelneuronen in bestimmten Hirnarealen eine wichtige Rolle zu spielen (Rizzolatti & Craighero, 2004), welche einen Teil der Hintergrundaktivität für Nachahmung und Empathie sowie für Übertragungs- und Gegenübertragungsvorgänge bereitstellen.

Auch für die Wiederherstellung oder Stabilisierung eines verunsicherten, infrage gestellten, labilisierten geistigen Selbst sind Spiegelungsvorgänge entscheidend, wie sie auch im Zentrum der Interaktion in der psychotherapeutischen Beziehung stehen.

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