Die Wirkung der philosophischen Gedanken in der Welt ist heute nur möglich, wenn sie die Mehrheit der Einzelnen erreicht. Denn gegenwärtig ist der Zustand: Die Massen der Bevölkerung können lesen und schreiben, ohne doch den vollen Umfang abendländischer Bildung zu gewinnen. Aber sie sind die Mitwissenden und Mitdenkenden und Mithandelnden. Sie können dieser neuen Chance um so mehr genügen, je mehr sie in den vollen Umfang der hohen Anschauungen und der kritischen Unterscheidungen gelangen. Es ist für die Stunden der Besinnlichkeit aller Menschen daher notwendig, das Wesentliche so einfach, so klar wie möglich, ohne Einbuße an Tiefe, mitteilbar zu machen.

Karl Jaspers

Die Aufgabe der Philosophie
in der Gegenwart (1953)

Einleitung

Zu dieser Ausgabe

»Dieses Buch wendet sich nicht an Fachphilosophen. Ihnen vermag es nichts Neues zu sagen. Es wendet sich an die vielen, die – ob akademisch gebildet oder nicht – inmitten der Arbeit und Sorge des Alltags und im Anblick der großen geschichtlichen Umwälzungen und Katastrophen unserer Zeit den Versuch nicht aufgeben, sich im Wege selbständigen Nachdenkens mit den Rätseln der Welt und den ewigen Fragen des Menschseins auseinanderzusetzen, und die die Annahme nicht von vornherein zurückweisen, daß die Gedanken und Werke der großen Denker aller Zeiten dabei Rat und Hilfe geben können.«

Mit diesen Sätzen beginnt die Einleitung zur ersten Auflage dieses Buches, deren Erscheinen jetzt 50 Jahre zurückliegt. Die Aufnahme des Buches in der Öffentlichkeit hat dieser Zielsetzung genau entsprochen: Das Buch hat in deutscher Sprache eine Gesamtauflage von 600 000 erreicht, es ist ins Italienische, Japanische, Niederländische, Spanische, Tschechische, Ungarische übersetzt worden. Ungezählte Leser haben Dank und Anerkennung ausgesprochen; ihre Zuschriften haben mir so manche interessante Bekanntschaft eingetragen.

Gegen Ende dieses Jahrhunderts und meines Lebens schien es mir einer gründlichen Überarbeitung bedürftig, vor allem (aber nicht nur) der Schlußteil, der die Gegenwart behandelt. Der W. Kohlhammer Verlag und der Fischer Taschenbuch Verlag haben das dankenswerterweise ermöglicht.

Vier selbstkritische Vorbemerkungen

1. Philosophie als der Versuch des Menschen, die Rätsel seines Daseins – der ihn umgebenden äußeren Welt wie seines eigenen Innern – mit dem Mittel des Denkens zu lösen, ist älter als alle geschriebenen Zeugnisse, die wir darüber besitzen. Unsere Kenntnis reicht rund 3000 Jahre zurück. Weit jenseits dieses Zeitraums und der uns bekannten Geschichte liegt die Zeit, da der Mensch mit der Annahme des aufrechten Ganges und dem Freiwerden der Hand, mit der Gewinnung und Beherrschung des Feuers, mit der Verwendung und planmäßigen Anfertigung einfachster Werkzeuge sich vom Tierreich abzuheben begann. Sowenig wir über diese Dinge im einzelnen wissen, so wenig wissen wir im Grunde auch über den Vorgang, der den Menschen erst eigentlich zum Menschen machte, den Beginn von Sprache und Denken. Beides ist nicht zu trennen. Denken ist an die Sprache gebunden. An der Entwicklung jedes Kindes läßt sich das von neuem beobachten. Begriffe als Werkzeuge des Denkens gewinnen wir in der Sprache. Für das Kind, das sprechen lernt, hebt sich jedes neue Ding, welches es benennen und ansprechen lernt, wie mit einem Zauberstab berührt aus der bis dahin unverstandenen und ungeschiedenen Vielfalt der umgebenden Welt. So bedeutsam diese beiden Fragenkreise – die Entstehung der Sprache und das Verhältnis von Denken und Sprechen – auch sind (für den Sprachforscher bilden sie eines der interessantesten Themen und immer noch eines der dunkelsten Gebiete), so können wir ihnen an dieser Stelle doch nicht weiter nachgehen.

Festhalten wollen wir aber zwei Gedanken: Die Sprache als das unentrinnbare Medium unseres Denkens, und vielleicht als seine Grenze, ist eines der wichtigsten Themen der Philosophie und wird uns immer wieder begegnen. Und das zweite: Mit dem Beginn der uns bekannten geschichtlichen Entwicklung finden wir die Sprache und die Sprachen bereits als im wesentlichen fertige vor. Was sich an Verwandlungen, Verschiebungen, Umformungen seitdem vollzogen hat, ist gegenüber dem Vorausgegangenen von untergeordneter Bedeutung. Vor dem für uns überblickbaren Bereich liegt also ein schwer zu ermessender, mindestens Jahrzehntausende umfassender Entwicklungsprozeß des menschlichen Denkens, von dem wir fast nichts wissen. Mit dieser Feststellung müssen wir jeden Versuch, die Geschichte des Denkens darzustellen, beginnen, und vielleicht sollte überhaupt zu Beginn jeder Art von historischer Darstellung der Leser, um den richtigen Abstand zum Thema und die nötige Weite der Perspektive zu gewinnen, daran erinnert werden, ein wie winziger Ausschnitt aus der Entwicklung des Menschengeschlechts die uns bekannte Geschichte ist – und ein wie kleiner Ausschnitt diese wiederum aus der Geschichte des Lebens auf der Erde und diese in der Gesamtentwicklung unseres Planeten, und diese im gesamten Universum.

2. Sind uns die Versuche des Denkens nur aus einem gewissen Zeitraum bekannt, so sind uns innerhalb dieses wiederum nur die philosophischen Gedanken zugänglich, die ausgesprochen und aufgezeichnet wurden, sei es vom Denker selbst, sei es von seinen Schülern, sei es, wie leider nicht selten, nur von seinen Gegnern. Es ist nicht gesagt, daß uns damit immer das Beste, Wertvollste und Tiefste überliefert ist.

3. Der Versuch, Vergangenes zu verstehen, stößt fast immer auf Schranken. In Verhältnisse, die uns fernliegen und fremd sind, können wir uns nur unvollkommen hineindenken. Die Werke der Philosophie liegen zwar in den meisten Fällen schriftlich vor – manchmal nur in Fragmenten –; aber wie sind sie zu verstehen, besonders wenn sie in einer Sprache verfaßt sind, die wie z. B. das Chinesische in ihrer Struktur, in der Art, Dinge zu sehen und zu verknüpfen, von der unseren denkbar verschieden ist?

Die Kunst des Verstehens und Auslegens, die Hermeneutik (ursprünglich bezogen auf die Bibel und Texte aus der klassischen Antike, dann erweitert auf alle Texte und Geistesprodukte) spielt deshalb in der Philosophie und ihrer Geschichte eine zentrale Rolle; sie kann sogar in ihrem Mittelpunkt stehen.

Was die Gegenwart anlangt, so hat der Amerikaner Paul Schilpp, mit den Schwierigkeiten beim Verstehen und Auslegen philosophische Texte gut vertraut, eine Buchreihe begründet, die solchen Schwierigkeiten abhelfen soll. Jeder Band ist einem lebenden Philosophen gewidmet, der einleitend in einer »geistigen Autobiographie« den Werdegang seines Denkens schildert. Es folgen Aufsätze anderer Gelehrter mit Bedenken, Zweifeln, Kritik, Fragen zur Auslegung. Am Schluß hat wieder der Philosoph, dem der Band gewidmet ist, das Wort zu einer klärenden Stellungnahme.1

4. Die Werke der Philosophen, nicht gerechnet die Kommentare und Darstellungen oder Widerlegungsversuche der Philosophieprofessoren, füllen riesige Säle der großen Bibliotheken. Eine wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Philosophie, die sich bescheiden als Grundriß bezeichnet, füllt ein ganzes Regal. Dabei ist sie in höchst konzentrierter, nur dem Gelehrten verständlicher Sprache abgefaßt.

Im allgemeinen ist es leichter und schneller möglich, einem vorgebildeten Fachmann einen beliebigen Vorgang zu verdeutlichen als einem Laien. Ein Ingenieur etwa, der einem anderen Ingenieur die Konstruktion einer geplanten Brücke erläutern will, wird diesem stichwortartig Ausmaße, Untergrundverhältnisse, Zweck, Baumaterial und das System nennen, nach dem die Brücke gebaut werden soll, dazu vielleicht einige Formeln aus den erforderlichen Berechnungen, und der andere wird alsbald im Bilde sein. Soll er die Brücke einem Laien erklären, so muß er viel weiter ausholen, er muß zunächst die verschiedenen Systeme, nach denen überhaupt Brücken gebaut werden können, beschreiben, muß die Grundgesetze der Statik erläutern, alle Formeln und Fachausdrücke und so weiter.

Die Geschichte der Philosophie ist ein Gegenstand, der an Umfang und Schwierigkeit wahrscheinlich nicht geringer ist als ein Brückenbau, und dieses Buch ist für Leser ohne Vorkenntnisse gedacht. Es wird also darauf ankommen, aus der kaum übersehbaren Fülle des philosophischen Schrifttums eine Auswahl zu treffen, bestimmt einerseits durch die Geeignetheit des Ausgewählten für ein solches einführendes Werk, andererseits aber durch das Bestreben, dem Leser wenigstens von dem nichts vorzuenthalten, was nach dem übereinstimmenden Urteil der Gelehrten von grundlegender Bedeutung ist, unter Zurückstellung etwa vorhandener besonderer Vorlieben des Verfassers.

Der Gegenstand der Philosophie

Was ist es, dessen Geschichte hier erzählt werden soll, was ist also Philosophie, was sind ihre Merkmale, insbesondere, was ist eigentlich ihr Gegenstand?

Sofern wir diese Frage der Reihe nach an die großen Philosophen richten, werden wir von jedem eine etwas andere Antwort erhalten. Es ist natürlich, daß jeder das, was er als Philosophie betreibt und lehrt, als die Philosophie erklärt.

Wir wollen uns aber von der Beschränkung durch ein bestimmtes philosophisches System freihalten und versuchen daher die Frage so zu stellen: Welche Gegenstände sind es denn, mit denen sich die verschiedenen Philosophen in den verschiedenen Zeitaltern beschäftigt haben? Darauf gibt es nur eine Antwort: mit allem. Es gibt eigentlich nichts, was nicht Gegenstand der Philosophie sein könnte und es auch tatsächlich gewesen ist. Vom Größten bis zum Kleinsten und Unbedeutendsten (freilich: was ist bei tieferem Nachdenken unbedeutend?), von Entstehung und Aufbau der Welt bis zum richtigen Verhalten im täglichen Leben, von den höchsten Fragen nach Freiheit, Tod und Unsterblichkeit bis zum Essen und Trinken – alles kann Gegenstand philosophischer Reflexion sein.

Wir können aber die Aufzählung etwas methodischer vornehmen und zu einem kurzen Überblick über wichtige Teilgebiete der Philosophie in der herkömmlichen Einteilung benutzen: Mit dem Weltganzen (oder auch dem sinnlich nicht Erfahrbaren) befaßt sich die Metaphysik, mit dem Sein in seiner Gesamtheit die Ontologie (diese beiden Gebiete überschneiden sich wie auch andere); die Logik ist die Lehre vom richtigen Denken und von der Wahrheit, die Ethik vom richtigen Handeln, die Erkenntnistheorie vom Erkennen und seinen Grenzen, die Ästhetik vom Schönen. Von der Natur handelt die Naturphilosophie, von der Kultur die Kulturphilosophie, von der Gesellschaft die Sozialphilosophie, von der Geschichte die Geschichtsphilosophie, von der Religion die Religionsphilosophie, vom Staat die Staatsphilosophie, vom Recht die Rechtsphilosophie, von der Sprache die Sprachphilosophie. Es gibt eine Philosophie der Wirtschaft, der Technik, des Geldes usw.

Bei der Betrachtung dieser Zusammenstellung fällt ins Auge, daß die Philosophie diese genannten Gegenstände offenbar nicht für sich allein hat. Für jeden dieser Gegenstände gibt es zugleich eine besondere Wissenschaft, die ihn zu erforschen und zu beschreiben zur Aufgabe hat. Mit der Wirtschaft befaßt sich die Nationalökonomie, mit der Sprache die Sprachwissenschaft, mit dem Recht die Jurisprudenz, mit dem Staat die Staatslehre. Die Geschichtswissenschaft erforscht die Geschichte, die Soziologie die Gesellschaft; Theologie, Religionswissenschaft, Religionsgeschichte die Religion. Das Ganze der Natur ist das Feld zahlreicher Einzelwissenschaften wie Physik, Chemie, Biologie, Astronomie und so weiter. Die Philosophie als Gebiet menschlichen Forschens und Wissens ist also durch Bestimmung ihres Gegenstandes von den Einzelwissenschaften nicht abzugrenzen.

Befaßt sich die Philosophie mit denselben Gegenständen wie die Einzelwissenschaften, ist aber trotzdem von ihnen unterschieden, so tut sie es offenbar auf eine besondere, nur ihr zukommende Weise. Damit erhebt sich die Frage nach einer besonderen philosophischen Methode. Auch hier können wir uns leicht in Einzelheiten verlieren. Viele einzelne Denker bezeichnen ihre eigene Methode als die der Philosophie schlechthin.

Eine Abgrenzung ist aber gleichwohl möglich. Verfolgen wir nämlich noch einmal die oben vorgeführte Aufzählung der Gebiete der Philosophie und ihrer Gegenstände und halten daneben die Reihe der einzelnen Wissenschaften, die die gleichen Gegenstände behandeln, so stoßen wir zuoberst auf das Ganze des Seins als umfassendsten Gegenstand. Hier gibt es offenbar keine Entsprechung unter den Einzelzweigen der Wissenschaft. Den Gesamtzusammenhang allen Seins hat allein die Philosophie zum Thema.

In der Tat ist es dieser Zug aufs Ganze und Umfassende, der die Philosophie von den Einzelwissenschaften unterscheidet: Während diese sich in der Regel die Erforschung und Darstellung eines bestimmten und begrenzten Gebietes, wie eben Staat, Sprache, Geschichte, das organische Leben usw., zur Aufgabe setzen, ist der Philosophie das Bestreben eigen – auch dort, wo sich das philosophische Denken zunächst auf einen bestimmten und begrenzten Gegenstand richtet –, die einzelnen Erscheinungen in einen großen, umfassenden Zusammenhang einzuordnen, einen gemeinsamen Sinn in ihnen aufzufinden und unter anderem auch die Ergebnisse der Einzelwissenschaften in einer Zusammenschau zu einem einheitlichen Weltbild, einer Weltanschauung, zu verbinden.

Damit ist eine gewisse Grenzziehung gegenüber den Wissenschaften gewonnen, nicht aber eine Abgrenzung nach allen Seiten. Denn auch den Zug zur Ganzheit hat die Philosophie nicht für sich allein. Sie teilt ihn mit der Religion und mit der Kunst. Beide richten sich, jede auf ihre Weise, ebenfalls auf das Ganze des Seins. Auch hier sind die Grenzen fließend. Philosophie, sobald sie das Ganze des Lebens und seinen Sinn zu fassen sucht, kann übergehen in religiöse Schau. Tatsächlich sind Religion und Philosophie in langen Zeiträumen der Geschichte untrennbar ineinander verwoben. Ein philosophisches Gedankengebäude kann durch vollendete Form sich dem Kunstwerk, etwa einer Dichtung oder auch einem kunstvollen Bauwerk, annähern. Endlich ragen die Werke der Kunst, mindestens die Gipfel, in den Bereich des Religiösen hinein.

Aber eine befriedigende und für unsere Zwecke genügende Scheidung ist auch hier durchzuführen. Was die Philosophie in diesem Zusammenhang auszeichnet, ist das Denken als ihr eigentliches Mittel. Die Religion appelliert ihrem Wesen nach in erster Linie an den Glauben und an das Gefühl, nicht an den Verstand. Kunst wiederum ist auch nicht Denken, sondern Gestaltung eines Inneren in eine äußere Form, die freilich, wenn sie vollendet ist, das Ganze des Seins zum Ausdruck bringen kann, aber in gleichnishafter, symbolischer Weise, durch ihr Einzelnes hindurch gesehen und immer vorwiegend nicht an den Verstand appellierend, sondern an unser Gefühl für das Schöne und Erhabene.

Die geschichtliche Betrachtung der erörterten Lebensgebiete in ihrem Zusammenhang und ihrer gegenseitigen Wirkung aufeinander zeigt, daß Religion, Kunst, Philosophie und Einzelwissenschaften zu manchen Zeiten vermischt und verbunden, zu anderen getrennt und auch im Gegensatz zueinander aufgetreten sind.

Auf eine rein theoretische, begriffliche Weise, durch Definition also, läßt sich Philosophie und ihr Gegenstand nicht genau abgrenzen und festlegen, einfach deswegen, weil Philosophie nicht ein abstrakter, ein für allemal festzulegender, sondern ein geschichtlich gewordener und ständig sich weiterentwickelnder Begriff ist. Letztlich bezeichnen wir eben bestimmte, in der Entwicklung des menschlichen Geistes aufgetauchte Probleme und die Versuche zu ihrer Lösung zusammenfassend als Philosophie. In sie alle einzudringen und sich von ihnen eine Vorstellung zu machen ist nur möglich, indem man sie sich in ihrem geschichtlichen Werden vergegenwärtigt. Das heißt, Philosophie zu treiben ist nicht möglich, ohne Geschichte der Philosophie zu treiben.

Einige leitende Gesichtspunkte

Der große Immanuel Kant hat im hohen Alter, rückschauend auf sein Lebenswerk, in einem Brief gesagt, daß seine Arbeit auf die Beantwortung von drei Fragen ausgegangen sei:

Was können wir wissen?

Was sollen wir tun?

Was dürfen wir glauben?

In diesen Fragen sind die Dinge angerührt, die jeden denkenden Menschen zu jeder Zeit bewegt haben und bewegen:

Die erste Frage betrifft das menschliche Erkennen. Wie ist die Welt beschaffen, wie habe ich mir sie vorzustellen? Was kann ich von ihr wissen? Und (worauf gerade bei Kant der Nachdruck liegt) kann ich überhaupt etwas Sicheres über sie wissen?

Die zweite geht auf das menschliche Handeln. Wie soll ich mein Leben gestalten? Was kann ich vernünftigerweise und was soll ich erstreben? Wie verhalte ich mich zu meinen Mitmenschen? Wie gegenüber der menschlichen Gesellschaft?

Die dritte Frage betrifft das menschliche Glauben. Sie zielt auf die Dinge, von denen zwar nicht sicher ist, ob wir etwas Genaues über sie ausmachen können, die uns aber trotzdem unabweislich bedrängen, wenn wir unserem Leben einen Sinn geben wollen. Gibt es eine höhere Macht? Ist jeder Mensch frei oder unfrei in seinem Willen? Gibt es eine Unsterblichkeit? Wir sehen, daß die dritte Frage, übrigens auch schon die zweite, in das Gebiet der Religion hinüberreicht. Abgesehen davon, daß viele Philosophen den Versuch gemacht haben, diese Frage mit philosophischen Mitteln zu bearbeiten und zu beantworten, gehört sie mindestens insofern in den Bereich der Philosophie mit hinein, als wir von dieser eine Antwort auf die Frage verlangen können: Lassen sich diese Fragen überhaupt beantworten, auf Grund welcher Gewißheiten und Beweise, und wo liegt die Grenze zwischen den Bereichen des Wissens und des Glaubens, sofern ein solcher neben dem Reich des Denkens besteht?

Fassen wir die geschichtliche Entfaltung der Philosophie unter dem Gesichtspunkt dieser drei Fragen ins Auge, so ist in ganz großen Zügen zu erkennen, daß die Fragen in ihr in umgekehrter Reihenfolge als der von Kant gewählten auftauchen. Es ist wahrscheinlich, daß Geburt und Tod als die Grundtatsachen allen Lebens und damit die Frage nach einem Fortleben nach dem Tode, daß das Walten übermenschlicher, geheimnisvoller Mächte und die Frage nach einem Gott, Göttern und Dämonen die ersten und elementarsten Rätsel waren, die der erwachende Menschengeist vorfand und denen er sich zuerst zuwandte. Und es ist gewiß, daß das Suchen nach den richtigen Grundsätzen des menschlichen Handelns, nach der Erkenntnis des Nützlichen und des moralisch Gebotenen, die Philosophie früher beschäftigt hat als die in aller Schärfe gestellte Frage nach den Möglichkeiten, Mitteln und Grenzen des menschlichen Erkennens.

Bei allen Vorbehalten und Abweichungen im einzelnen kann man sagen, daß in der altindischen Philosophie die Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit und nach dem Sinn des Lebens im ganzen beherrschend sind. Das altchinesische Denken ist von vornherein stärker dem Gebiet des praktischen Handelns und des menschlichen Gemeinschaftslebens, der Ethik also, zugewandt. In der sehr vielgestaltigen griechischen Philosophie kommen alle drei Fragen zur Geltung, mit einer gewissen Bevorzugung des Erkennens und des Handelns. Die abendländische Philosophie des Mittelalters legt das Schwergewicht wiederum auf die ewigen Fragen Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, daneben auf Gut und Böse im menschlichen Handeln. Erst im europäischen Denken der Neuzeit entfaltet sich das Erkenntnisproblem in seinem ganzen Umfang und herrscht in stets zunehmendem Maße, bis in der Gegenwart sich vielleicht eine erneute Verschiebung abzeichnet.

Die Ausrichtung unserer Untersuchung auf die drei Fragen bedeutet negativ gesehen, daß wir davon absehen, alle früher zusammengestellten Teilgebiete der Philosophie in die Betrachtung einzubeziehen. Eine Geschichte der Ästhetik, der Staatsphilosophie, der Rechtsphilosophie usw. würde jeweils ein besonderes Buch erfordern. Positiv gesehen bedeutet es vor allem, daß der Leser gebeten ist, das Dargestellte ständig auf diese Frage hin zu betrachten und zu bedenken. Er wird dann am Schluß erkennen, daß zwar jedes Zeitalter und jeder Denker seine eigenen Antworten auf sie bereithält, daß aber im Grunde die Anzahl der überhaupt möglichen Antworten nicht unbegrenzt ist.

1 Paul A. Schilpp (Hg.): The Library of Living Philosophers, Evanston, Ill., USA. Ausgewählte Bände in deutscher Ausgabe im Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart.

Erster Teil
Die Weisheit des Ostens

Erstes Kapitel
Die Philosophie des alten Indien

Indien ist, geographisch betrachtet und ebenso in geistiger Beziehung, eine ganze Welt für sich. Dieses riesige Land, vom ewigen Schnee des Himalaja im Norden bis zur tropischen Hitze der großen Stromebenen und des Südteils alle Klimazonen umfassend, mit einer Bevölkerung von über 900 Millionen Menschen, Heimat vieler Sprachen, Kulturen und Religionen, mit einer Geschichte von mindestens drei bis vier Jahrtausenden, ist nicht nur das Ursprungsland der ältesten uns bekannten Zeugnisse des philosophierenden Menschengeistes, sondern auch eine der ältesten Wiegen menschlicher Kultur – soweit die Altertumswissenschaft urteilen kann, deren Ausgrabungsergebnisse teilweise stets vom Zufall abhängen. Jedenfalls wird die sogenannte Kultur von Mohenjo-Daro im Industal, deren Überreste in Gestalt mehrerer übereinandergelagerter Schichten von Städten mit festen, mehrstöckigen Häusern, Geschäften und breiten Straßen der Spaten im Jahre 1924 erstmalig ans Licht brachte, von Fachleuten auf das dritte oder vierte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung angesetzt. Die gefundenen Haushaltungsgegenstände, geschmückten Gefäße, Waffen und Schmuckstücke sollen an Kunstfertigkeit nicht nur denen des alten Ägypten und Babylon, sondern auch europäischen an die Seite zu stellen sein.1

Um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends, etwa um das Jahr 1600 v. Chr. – alle Festlegungen von Daten in der frühen Geschichte Indiens sind nur Schätzungen – begann von Norden her die allmähliche Eroberung Indiens durch das Volk, das sich selbst aryas, die Arier, nannte. Das Wort bedeutet nach manchen Erklärungen ursprünglich »edel«, so daß Arier »Edelleute« bedeuten würde.2 Nach anderen meint es »die zu den Treuen Gehörigen«, das heißt die sich zur Religion der Arier Bekennenden; wieder andere leiten es ab von einem Wort für »pflügen«, so daß Arier soviel wie Bauern hieße.3 Als die Sprachwissenschaft – um 1800 – die Verwandtschaft der ursprünglichen Sprache dieser Arier mit den europäischen Sprachen bemerkt hatte, erhielt die Sprachfamilie, welche das Indische, Persische, Griechische, Lateinische, Slawische, Germanische, Romanische, Keltische und Armenische umfaßt, den Namen arische oder indogermanische Sprachen, und man leitete aus der sprachlichen Verwandtschaft die Annahme ab, daß die Indo-Arier mit den eben genannten Völkergruppen von einem indo-germanischen Urvolk abstammten, über dessen ursprüngliche Heimat sich ein langer wissenschaftlicher Streit entspann. In jüngster Zeit ist diese ganze Annahme bezweifelt worden4; doch daß die genannten Sprachen auf eine – freilich nicht durch schriftliche Zeugnisse belegte – gemeinsame »Muttersprache« zurückgehen, gilt als sicher.

Die Eroberung Indiens durch die Arier vollzog sich in drei Etappen, von denen jede Jahrhunderte dauerte und die in einer gewissen Beziehung zu den drei Gebieten stehen, in welche Indien gemeinhin von der Geographie eingeteilt wird: In der ersten, etwa bis zum Jahre 1000 v. Chr. reichenden Periode erstreckte sich ihr Siedlungsgebiet nur auf das sogenannte Pandschab (Fünfstromland) um den Indus im Nordwesten Indiens; in der zweiten, wiederum rund 500 Jahre währenden Periode wurde es, unter fortwährenden Kämpfen gegen die Ureinwohner und auch unter Kämpfen der arischen Stämme untereinander, nach Osten ausgedehnt auf das Gebiet um den Ganges, wohin sich nunmehr der Schwerpunkt verlagerte; in der dritten Periode, ungefähr von 500 v. Chr. ab, wurde der Südteil Indiens, das Hochland von Dekhan, allmählich von den Ariern und ihrer Kultur durchdrungen, wenngleich sich hier bis heute vieles von der Kultur der Ureinwohner, der sogenannten Draviden, erhalten hat, insbesondere auch eine Gruppe dravidischer Sprachen.

Das Denken der Indo-Arier allein bildet den Inhalt der altindischen Philosophie. Von der Geisteswelt der vor-arischen Völker ist kaum etwas bekannt.

I. Das vedische Zeitalter

Die Geschichte der indischen Philosophie in klar abgegrenzte Perioden einzuteilen ist schwer. Das gilt auch für die sonstige Geschichte Indiens und hängt zusammen mit einer Eigenart des indischen Geistes, der von jeher mehr auf das Ewige als auf das Zeitliche und seine Ordnung gerichtet war und es verschmähte, den zeitlichen Ablauf im einzelnen sehr ernst zu nehmen und genau festzuhalten. Es gab darum in Indien keine eigentliche Geschichtsschreibung in unserem Sinne, das heißt keine Aufzeichnung exakter Daten, wie sie zum Beispiel die alten Ägypter vorgenommen haben. So gleicht auch das philosophische Denken der Inder einem Meer, man findet, sobald man darin eintaucht, nur schwer Orientierungspunkte. Für die meisten Werke der indischen Philosophie ist kaum mit Sicherheit das Jahrhundert anzugeben, in dem sie entstanden sind. Und im Gegensatz zum Abendland, wo alle Abschnitte und Wendepunkte in der Entwicklung der Philosophie bestimmt sind durch klar umrissene, historische Denkerpersönlichkeiten, treten in Indien die einzelnen Denker ganz hinter ihren Werken und Gedanken zurück und sind meist zwar dem Namen nach, nicht aber nach ihren Lebensumständen und genauen Lebensdaten bekannt.

Immerhin ist es möglich, nach dem heutigen Stande unserer Erkenntnis – die Durchforschung der indischen Geistesgeschichte ist noch nicht vollendet, noch nicht einmal sind alle diesbezüglichen indischen Werke in europäische Sprachen übersetzt – eine Einteilung in mehrere Hauptperioden vorzunehmen, die stichhaltig und für die Zwecke unserer Einführung ausreichend ist.

Die erste Hauptperiode ist von etwa 1500–500 v. Chr. anzusetzen und wird als vedisches Zeitalter bezeichnet nach dem Gesamtkomplex von Schriften, denen wir die Kenntnis dieser Zeit verdanken, und die mit dem Sammelnamen der Veda, oder in der Mehrzahl die Veden, genannt werden. Es handelt sich dabei nicht um ein Buch, sondern um eine ganze Literatur, aufgezeichnet zu sehr verschiedenen Zeiten und von vielen unbekannten Einzelnen, deren Niederschrift in der Hauptsache jedoch in die genannte Zeit fällt; sie enthalten aber mythisches und religiöses Gedankengut, das noch weit älter ist. »Veda« bedeutet religiöses, theologisches Wissen, was in der ältesten Zeit mit der Gesamtheit des der Aufzeichnung wert befundenen Wissens gleichzusetzen ist. Der Umfang des Veda übertrifft den der Bibel um das Sechsfache.5

Vier verschiedene Abteilungen des Veda, auch einzeln Veden genannt, sind zu unterscheiden:

Rigveda – der Veda der Verse, das Wissen von den Lobeshymnen6,

Samaveda – der Veda der Lieder, das Wissen von den Gesängen,

Yayurveda – der Veda der Opferformeln.

Atharvaveda – der Veda des Atharvan, das Wissen von den magischen Formeln.

Diese Veden sind die Handbücher der alten indischen Priester, in denen diese das für die religiösen Opferhandlungen erforderliche Material an Hymnen, Sprüchen, Formeln usw. aufbewahren. Da bei jeder Opferhandlung vier Priester mitwirken mußten, der sogenannte Rufer, der Sänger, der ausübende Priester und der Oberpriester, gibt es vier Veden, einen für jede dieser priesterlichen Funktionen.

Innerhalb jedes Veda werden vier Abteilungen unterschieden:

Mantras – Hymnen, Gebetsformeln,

Brahmanas – Anweisungen zur richtigen Verwendung dieser Formeln bei Gebet, Beschwörung und Opfer,

Aranyakas – »Waldtexte«, Texte für im Walde lebende Einsiedler,

Upanischads – »Geheimlehren«, diese sind in philosophischer Hinsicht am bedeutsamsten.

Andere Einteilungen sind möglich.

Diesen Schriften schreibt der gläubige Hindu kanonische Geltung zu, das heißt, sie gelten als auf göttlicher Offenbarung beruhend und als unantastbare Wahrheiten.

Die nach dem Veda benannte erste Hauptperiode der indischen Philosophie wird nach der verschiedenen Entstehungszeit der einzelnen Teile desselben in drei Abschnitte unterteilt:

  1. Die altvedische oder Hymnenzeit, etwa 1500–1000 v. Chr.
  2. Die Zeit der Opfermystik, etwa 1000–750 v. Chr.
  3. Die Zeit der Upanischaden, etwa 750–500 v. Chr.

1. Kultur und Religion der Hymnenzeit

Für das Verständnis der späteren Entwicklungen ist eine gewisse Vorstellung von dem geschichtlichen Hintergrund dieser ältesten bekannten Periode des arischen Lebens unerläßlich. Die Hymnen des Rigveda, der den ältesten Teil der Veden und eines der ältesten literarischen Denkmale der Menschheit überhaupt bildet, vermitteln ein anschauliches Bild vom Leben und den religiösen Vorstellungen der Indoarier in dieser Zeit, da ihre Ausbreitung erst den nordwestlichen Teil Indiens erfaßt hatte.7 Sie waren damals ein kriegerisches Volk von Bauern und vor allem von Viehzüchtern, noch ohne Städte und ohne Kenntnis der Seeschiffahrt. Einfache Gewerbe, wie das des Schmiedes, Töpfers, Zimmermanns, des Webers, waren bereits vorhanden. Ihre religiösen Vorstellungen sind dadurch gekennzeichnet, daß die unserem Denken heute selbstverständliche Unterscheidung von Belebtem und Unbelebtem, von Personen und Sachen, von Geistigem und Stofflichem noch nicht vorgenommen wurde.8 Die frühesten Götter waren Kräfte und Elemente der Natur. Himmel, Erde, Feuer, Licht, Wind, Wasser werden, ganz ähnlich wie bei anderen Völkern, als Personen gedacht, die nach Art der Menschen leben, sprechen, handeln und Schicksale erleiden. Der Rigveda enthält Hymnen, Lobpreisungen dieser Götter, etwa über Agni, den Feuergott, Indra, den Machthaber über Donner und Blitz, Wischnu, den Sonnengott, und Gebete an diese Götter um Mehrung der Herden, gute Ernten und ein langes Leben.

Die ersten Keime philosophischen Denkens treten darin zutage, daß die Frage aufgeworfen wird: Liegt in der Vielzahl der Götter ein letzter Weltgrund verborgen? Ist die ganze Welt vielleicht aus einem solchen Urgrund entstanden? Das erste Aufdämmern des Gedankens der Einheit, der später das große und beherrschende Thema der indischen Philosophie wurde, liegt also bereits in dieser frühesten Zeit.

Dieses Suchen nach dem einen Urgrund, der die Welt trägt und aus dem sie entstanden ist, kommt in herrlicher Weise zum Ausdruck in einem Schöpfungshymnus des Rigveda, der in der freien Übertragung durch Paul Deussen lautet:

»Damals war nicht das Nicht-Sein, noch das Sein,

Kein Luftraum mehr, kein Himmel drüber her. –

Wer hielt in Hut die Welt, wer schloß sie ein?

Wo war der tiefe Abgrund, wo das Meer?

Nicht Tod war damals noch Unsterblichkeit,

Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar. –

Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit

Das Eine, außer dem kein andres war.

Von Dunkel war die ganze Welt bedeckt,

Ein Ozean ohne Licht, in Nacht verloren; –

Da ward, was in der Schale war versteckt,

Das Eine durch der Glutpein Kraft geboren.

Aus diesem ging hervor, zuerst entstanden

Als der Erkenntnis Samenkorn, die Liebe; –

Des Daseins Wurzelung im Nichtsein fanden

Die Weisen, forschend, in des Herzens Triebe.

Als quer hindurch sie ihre Meßschnur legten,

Was war da unterhalb, und was war oben? –

Keimträger waren, Kräfte, die sich regten,

Selbstsetzung unten, Angespanntheit droben.

Doch, wem ist auszuforschen es gelungen,

Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?

Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!

Wer sagt es also, wo sie hergekommen? –

Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht,

Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,

Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,

Der weiß es – oder weiß auch er es nicht?«9

Gepaart mit einem tiefen Suchen nach dem Urgrund der Welt, sehen wir in diesem Gedicht am Schluß auch einen radikalen Zweifel am Werke, der für den Ausgang der Hymnenzeit bezeichnend ist, den Zweifel an den Göttern. Die Götter sind »diesseits der Schöpfung«, ruft der Dichter aus, das heißt, auch sie sind geschaffen. Wir haben hier bereits den Beginn des Verfalls der altvedischen Religion vor uns oder, besser, einer entscheidenden Wandlung.

Zweifel und Unbefriedigtsein gegenüber den Göttern verdichten sich zum offenen Spott. So heißt es:

»Bringt schönes Lob dem Indra um die Wette,

Wahrhaftiges, wenn er wahrhaftig ist!

Zwar sagt wohl der und jener: ›Indra ist nicht!‹

Wer sah ihn je? Wer ist’s, daß man ihn priese?«10

Mit dem in diesem Beispiel und in vielen, noch schrofferen Stellen zu erkennenden Verfall des altvedischen Götterglaubens und mit dem Auftauchen des Gedankens der All-Einheit war die Zeit reif für die nächsten Schritte des indischen Geistes, mit denen er bereits einen einzigartigen Höhepunkt erreicht.

2. Die Zeit der Opfermystik – Die Entstehung des Kastenwesens

Die Zeit, in der die Indoarier ihr Herrschaftsgebiet nach Osten bis zum Ganges-Delta ausdehnten und dort eine Herrenschicht über einer andersrassigen Bevölkerung bildeten, ist dadurch bedeutsam, daß sich in ihr diejenigen sozialen Einrichtungen herausbildeten, die von da ab für das gesamte indische Leben am charakteristischsten sind und die dem hinduistischen Indien (im Unterschied zu dem später mohammedanischen Teil, der jetzt mit Pakistan und Bangla Desh eigene Staaten bildet) bis ins 20. Jahrhundert das Gepräge geben: das Kastensystem und die bevorzugte Stellung des Priesterstandes, der Brahmanen.

Den Anlaß zur Ausbildung der Kasten gab die Notwendigkeit, die gegen die Urbevölkerung zahlenmäßig unterlegene arische Herren- und Erobererschicht scharf abzusondern, wenn sie sich rein erhalten und nicht alsbald durch Vermischung in jener untergehen sollte. So entstand zunächst die Trennung in Aryas und Tschudras, wie die unterworfenen Völker, wahrscheinlich nach dem Namen eines ihrer Stämme, genannt wurden, oder richtiger, sie entstand nicht, sondern die gegebene Trennung wurde durch die Ausbildung der Kasten zur dauernden und unübersteigbaren Scheidung.

Dieser Einteilung nach der Rasse – das alte indische Wort für Kaste, varna, bedeutet Farbe, das Wort Kaste ist portugiesischer Herkunft – folgte innerhalb der Arier alsbald eine weitere Sonderung in die drei Hauptkasten.

Brahmanen = Priester,

Kschatriyas = Fürsten, Könige und Krieger (in etwa mit unserem mittelalterlichen Adel zu vergleichen),

Vaischyas = Freie (Kaufleute usw.).

Unter diesen standen die Tschudras, noch unter diesen die Parias oder Verstoßenen, unbekehrte Eingeborenenstämme, Kriegsgefangene und Sklaven, aus denen die sogenannten Unberührbaren hervorgegangen sind11, die noch immer eines der schwierigsten sozialen Probleme darstellen und für die Mahatma Gandhi in seinem Kampf besonders eingetreten ist.

Aus der anfänglichen Kastenscheidung wurde im Laufe der Zeit eine immer weiter gehende Unterteilung in zahlreiche erbliche Unterkasten, die jede streng für sich abgeschlossen lebten. Erst die europäische Technik hat mit Eisenbahn und Fabrikarbeit dieses System erschüttert.

Für die Entwicklung des geistigen Lebens, die uns hier interessiert, wurde besonders wichtig die sich nun herausbildende und festigende Vorrangstellung der brahmanischen Priesterkaste. In der altvedischen Zeit hatte noch die Kriegerkaste der Kschatriyas die führende Stellung in der Gesellschaft inne. Mit dem allmählichen Übergang vom kriegerischen Erobern zu einer friedlichen, festgeordneten, auf Ackerbau und Gewerbe ruhenden Gesellschaftsordnung erhielt in den Augen des Volkes die im Gebet und Opfer liegende Möglichkeit der Einwirkung auf die übernatürlichen Mächte eine immer wachsende Bedeutung. Vom Willen der Götter hing ja, so glaubte man, das Gedeihen der Ernten und damit das Wohl und Wehe der Bevölkerung ab. Nur die Brahmanen besaßen aber das Wissen über die richtige Handhabung des Verkehrs mit den göttlichen Mächten, und sie hüteten es sorgsam und umgaben es mit Geheimnis, auch verbreiteten und unterstützten sie geschickt die Ansicht, daß schon die kleinste Abweichung vom richtigen Ritual den Erfolg vereitele und statt Segen schweren Schaden bringen könnte. Hinzu kam, daß dieses priesterliche Wissen um die alten Formen und Formeln des Gottesdienstes mit der zunehmenden zeitlichen und räumlichen Entfernung von deren Entstehung eine gewisse dunkle Unverständlichkeit und geheimnisvolle Weihe erhalten hatte. Die Brahmanen, außer denen es keine geistige Macht gab, wurden so zu unentbehrlichen Mittlern bei allen wichtigeren Handlungen des privaten und öffentlichen Lebens. Bei Krieg und Friedensschluß, Königsweihe, bei Geburt, Heirat und Tod hing Segen oder Unsegen ab von der richtigen Darbringung des Opfers, die sie beherrschten. Zugleich besaßen sie das Monopol aller höheren Erziehung, die nur in ihren Händen lag.

Völlig verschieden von vergleichbaren europäischen Verhältnissen, beispielsweise der Herrschaft der katholischen Kirche in unserem Mittelalter, ist die Stellung der Brahmanen darin, daß sie niemals eine weltliche Herrschaft erstrebt oder besessen haben und daß sie niemals nach Art einer Kirche eine geschlossene Organisation mit einem geistlichen Oberhaupt bildeten. Sie waren und blieben ein Stand von freien, gleichberechtigten Einzelnen.

Da der Brahmane durch unmerkliche, nur dem Eingeweihten erkennbare Abänderungen des Rituals den Erfolg des Opfers nach seinem Willen fördern oder vereiteln konnte, versteht es sich, daß alle, die den Priester zu irgendwelchen Verrichtungen heranzogen, sich seine Gewogenheit durch Ehrerbietung, reiche Bewirtung und Geschenke zu sichern suchten, was wiederum die Macht der Brahmanen stärkte. – Die aus dieser Zeit stammenden Aufzeichnungen, die sogenannten Brahmana-Texte, beziehen sich demgemäß hauptsächlich und fast ausschließlich auf dieses gehütete Priesterwissen um Opferwesen und Zeremoniell. Sie sind deshalb als philosophische Quellen nur mittelbar zu verwenden. Immerhin lassen sie gewisse Rückschlüsse darauf zu, wie sich die religiösen und philosophischen Vorstellungen – welche beide in Indien stets eine Einheit bilden – inzwischen gewandelt hatten. Wir beschränken uns hier auf die Feststellung, daß die beiden Begriffe, die den Angelpunkt alles weiteren hinduistischen Denkens bilden, sich in dieser Zeit allmählich herausgebildet und in den Vordergrund des philosophischen Interesses geschoben haben: Brahman und Atman. Sie sollen im folgenden Abschnitt näher behandelt werden.

3. Das Zeitalter der Upanischaden

Auf die Dauer konnten die priesterlichen Formelsammlungen und Kommentare der Brahmanas, die eine gewisse Erstarrung und Veräußerlichung erkennen lassen, den suchenden indischen Geist nicht befriedigen. Seher und Asketen in den nördlichen Wäldern forschten und suchten weiter und schufen die unvergleichlichen Upanischaden, von denen Schopenhauer gesagt hat: »Es ist die belohnendste und erhebendste Lektüre, die in der Welt möglich ist. Sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.«12

Auch die Upanischaden sind kein geschlossenes System, sondern Gedanken und Lehren vieler Männer. Es gibt insgesamt über 100 Upanischaden, die von unterschiedlicher Bedeutung sind.

Das Wort Upanischad wird abgeleitet von upa = nahe und sad = sitzen, bedeutet demnach die Lehre für diejenigen, die »in der Nähe (des Meisters) sitzen«, also geheime, nur für Eingeweihte bestimmte Lehre.13

Es sei hier bemerkt, daß eigentlich das ganze indische philosophische Denken einen solchen esoterischen, das heißt nur für einen kleinen Kreis Eingeweihter bestimmten Charakter besitzt. Zahllos sind die Stellen, in denen die Anweisung gegeben wird, den betreffenden Gedanken nur dem nächsten und geliebten Schüler weiterzugeben.

Auch die Verfasser der Upanischaden sind im allgemeinen unbekannt. Hervor ragen unter ihnen eine Frau namens Gargi und der große Yagnavalkya, eine mythische Gestalt, von dem anzunehmen ist, daß er wirklich gelebt hat, wenn auch nicht alle Lehren, die ihm in den Upanischaden zugeschrieben werden, von ihm stammen dürften.

Yagnavalkya führte nach der Sage das Leben eines begüterten brahmanischen Hausvaters und hatte zwei Frauen, Maitreyi und Katyayana. Als er beide verlassen wollte, um in der Einsamkeit nachzudenken und die Wahrheit zu suchen, bat ihn Maitreyi, sie mitzunehmen.

»Maitreyi«, sagte Yagnavalkya, »siehe, ich bin im Begriffe, von diesem Staate forzuwandern. Ich will nun für dich und für Katyayana eine endgültige Regelung treffen.«

Da sprach Maitreyi: »Wenn nun, mein Herr, diese ganze Erde mit allen ihren Reichtümern mein wäre, würde ich dadurch unsterblich sein?« »Nein, nein«, sagte Yagnavalkya, »es gibt keine Hoffnung auf Unsterblichkeit durch Reichtum.«

Da sprach Maitreyi: »Was soll ich tun mit dem, was mich nicht unsterblich machen kann? Was du weißt, Herr – das erkläre mir.«14 Die Frau nahm in jener Zeit Indiens an der Wahrheitssuche und am philosophischen Leben teil.

Die Grundstimmung der Upanischaden ist durchaus pessimistisch und steht damit in grellem Kontrast zu der ganz dem Diesseits zugewandten Stimmung in den Hymnen der altvedischen Zeit. Von einem König wird berichtet, der sein Reich verließ und in die Wälder zog, um das Rätsel des Daseins zu ergründen. Nach langer Zeit nahte sich ihm ein Weiser, den der König bat, ihm von seinem Wissen mitzuteilen. Nach längerem Sträuben sprach der Wissende: »O Ehrwürdiger! In diesem aus Knochen, Haut, Sehnen, Mark, Fleisch, Samen, Blut, Schleim, Tränen, Augenbutter, Kot, Harn, Galle und Phlegma zusammengesetzten, übelriechenden kernlosen Leibe – wie mag man nur Freude genießen!

In diesem mit Leidenschaft, Zorn, Begierde, Wahn, Furcht, Verzagtheit, Neid, Trennung von Liebenden, Bindungen an Unliebes, Hunger, Durst, Alter, Tod, Krankheit und dergleichen behafteten Leibe – wie mag man nur Freude genießen! Auch sehen wir, daß diese ganze Welt vergänglich ist und so wie diese Bremsen, Stechfliegen und dergleichen, diese Kräuter und Bäume, welche entstehen und wieder verfallen ...

Gibt es doch noch andere Dinge – Vertrocknung großer Meere, Einstürzen der Berge, Wanken des Polarsterns, Reißen der Windseile, Versinken der Erde ... In einem Weltlauf, wo derartiges vorkommt, wie mag man da nur Freude genießen! Zumal auch, wer ihrer satt ist, doch immer wieder und wieder zurückkehren muß!«15

Die hier zutage tretende Bewertung alles Daseins als Leiden ist das Grundmotiv des indischen Denkens, das von nun an nicht wieder verschwindet. Wie es zu dieser grundstürzenden Wandlung in der Haltung des Indoariers zum Dasein gegenüber der lebensfrohen und bejahenden Stimmung der Anfangszeit gekommen ist, kann man nur vermuten. Der Einfluß des erschlaffenden tropischen Klimas mag dabei eine große Rolle spielen. Auch ist sowohl im Leben des einzelnen Menschen wie der Entwicklung ganzer Völker und Kulturen der Vorgang immer wieder zu beobachten, daß nach jugendlich-anfänglicher Hingabe an das Dasein und seine Freuden der reif gewordene Mensch die Vergänglichkeit und den zweifelhaften Wert alles Irdischen immer stärker durchschaut. Und schließlich beginnt ja jedes höhere und insbesondere das philosophische Denken eigentlich erst in dem Augenblick, wo Zweifel und Unbefriedigtsein den Denkenden erfassen und ihn veranlassen, die Gesamtheit der unmittelbar gegebenen Erfahrungswelt nicht einfach naiv als etwas Gegebenes hinzunehmen, sondern hinter und jenseits ihrer noch eine andere Welt und die eigentliche Wahrheit zu suchen. Schließlich muß die »mystische« Richtung, die der indische Geist jetzt einschlägt, mit ihrer Konzentration der Denk- und Seelenkräfte nach innen zwangsläufig zu einer gewissen Abwertung alles Sinnlich-Äußeren führen.

Zwei philosophische Hauptgedanken ziehen sich durch die bedeutenderen unter den Upanischaden: die Lehre von Atman und Brahman und der Gedanke von Seelenwanderung und Erlösung.

Atman und Brahman

Diese beiden Begriffe, in der älteren Zeit vorgebildet, erlangen in den Upanischaden eine alles beherrschende Bedeutung. Möglicherweise sind die an sie geknüpften Gedanken anfänglich unter den Kschatriya-Kriegern, nicht bei den Brahmanenpriestern, ausgebildet und überliefert und erst später von letzteren übernommen worden.

Brahman, ursprünglich »Gebet«, »Zauberrede«, dann »heiliges Wissen«16 bedeutend, wurde im Lauf einer langen Entwicklungszeit über mannigfache Zwischenstufen schließlich zu einem umfassenden Begriff, zu einem allgemeinen schöpferischen Weltprinzip, der großen Weltseele, welche in sich selber ruht, aus welcher alles hervorgegangen ist und in welcher alles ruht. So heißt es in einem älteren Text:

»Brahman fürwahr war diese Welt zu Anfang. Dasselbe schuf die Götter. Nachdem es die Götter geschaffen, setzte es sie über diese Welten ...«17

Oder:

»Der Brahman ist das Holz, der Baum gewesen,

Aus dem sie Erd’ und Himmel ausgehauen!

Ihr Weise, euch, im Geiste forschend, meld’ ich:

Auf Brahman stützt er sich und trägt das Weltenall!«18

Wie konnte ein Wort, das ursprünglich Gebet bedeutet, zu einem solchen umfassenden Prinzip werden? (Wer die Sprachgeschichte studiert, wird freilich unzählige verblüffende Beispiele für den Bedeutungswandel der Wörter finden.) Sieht man das Wesen des Gebetes darin, daß der individuelle Wille des Betenden eingeht in ein überindividuelles, allumfassendes Göttliches, so hat man bereits die Brücke vor sich, über die durch Verschiebung des Akzents die indischen Denker zu ihrer Lehre »Das Brahman ist der Urgrund aller Dinge« kommen konnten.

Auch der Begriff Atman machte eine lange Entwicklung und Umformung durch. Ursprünglich wahrscheinlich »Hauch«, »Atem« bedeutend, erlangte er schließlich den Inhalt: »Wesen«, »das eigene Ich«, »dieses Selbst« im Sinne von »das Selbst im Gegensatz zu dem, was nicht das Selbst ist«19. Atman ist also der innerste Kern unseres Selbst, auf den wir stoßen, wenn wir vom Menschen als Erscheinung zunächst die körperliche Hülle wegdenken, von dem verbleibenden lebenshauchartigen Selbst (das wir etwa »Psyche« nennen würden) aber wiederum alles abrechnen, was Wollen, Denken, Fühlen, Begehren ist. Wir kommen dann zu jenem unfaßbaren Innersten unseres Wesens, für das wir kein anderes Wort haben als »Ich«, »Selbst« oder »Seele«, welche aber alle den Inhalt von Atman nur annäherungsweise wiedergeben.

Der entscheidende Schritt, der in den Upanischaden über diese zum Teil schon früher erfolgten Begriffsentwicklungen hinaus getan wurde, bestand nun in der Erkenntnis, daß Brahman und Atman eines sind, in der Gleichsetzung Brahman = Atman. Damit gibt es überhaupt nur eine wahre Wesenheit in der Welt, die, im Weltganzen betrachtet, Brahman, im Einzelwesen erkannt, Atman heißt. Das Weltall ist Brahman, Brahman aber ist der Atman in uns.20 Wir haben hier die Grundlage der indoarischen Religionsanschauung vor uns, die in ausgesprochenem Gegensatz zu den Religionen semitischen Ursprungs, wie dem Islam und dem alten Judentum, steht: Während in diesen Gott als der Herr und der Mensch als sein Diener und Knecht erscheint, betont der Inder die Wesensidentität beider.21

Wenn der Zugang zum Wesen der Welt tief in unserem eigenen Innern liegt und nur durch Versenkung in dieses zu erschließen ist, so kann die Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit für den Weisen keinen Wert besitzen. Die Welt der Dinge in Raum und Zeit ist nicht das eigentliche Wesen, ist nicht Atman, sondern nur Trugbild, Schleier, Illusion, ist Maya, wie der indische Ausdruck lautet. Ihre Kenntnis ist kein wahres Wissen, sondern nur ein Scheinwissen. Insbesondere ist die Vielheit der Erscheinungen nur Maya. In Wahrheit ist nur eines.

»Im Geiste sollen merken sie:

Nicht ist hier Vielheit irgendwie!«22

Aus den Upanischaden spricht die Überzeugung von einer alles durchdringenden geistigen Realität, die Natur, Leben, Körper und Geist gleichermaßen umfaßt. Ein Motiv zur Ausbildung empirischer Wissenschaft im abendländischen Sinne gab es da kaum.

Den Atman muß man kennen, in ihm erkennt man das ganze Weltall. So sagte Yagnavalkya im Gespräch mit seiner schon erwähnten Frau Maitreyi, die seine Belehrung erbeten hatte:

»Das Selbst, fürwahr, soll man verstehen, soll man überdenken, o Maitreyi; wer das Selbst gesehen, gehört, verstanden und erkannt hat, von dem wird diese ganze Welt gewußt!«23

Dieser tiefe Gedanke bedarf noch einiger Erläuterungen. Es wird angenommen, daß er durch Lernen im Sinne verstandesmäßigen Begreifens nicht zu erfassen ist – wir bedenken, daß die Upanischaden ja als Geheimlehren auftraten. »Nicht durch Studium kommt man zum Atman, auch nicht durch Genie und viel Bücherwissen ... Der Brahman soll auf das Lernen verzichten und wie ein Kind werden ... er soll nicht nach vielen Worten suchen, denn das ermüdet nur die Zunge.«24