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Virginia Boecker

WITCH HUNTER

Johns Geschichte

Aus dem amerikanischen Englischen
von Alexandra Ernst

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Virginia Boecker

© Emily Scott

Virginia Boecker hat ihren Abschluss in Englischer Literatur an der University of Texas gemacht. Sie lebte vier Jahre in London, wo sie sich auf jedes kleinste Detail zur mittelalterlichen Geschichte Englands gestürzt hat, die die Grundlage für ihre ›Witch Hunter‹-Romane bildet.

 

 

Alexandra Ernst, 1965 geboren, studierte Literaturwissenschaft. Seit 2000 arbeitet sie als Übersetzerin von historischen Romanen, Fantasy und Jugendliteratur. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis.

Über das Buch

John Raleigh ist einer der jüngsten, aber auch einer der begabtesten magischen Heiler in ganz Anglia. Doch seit seine Schwester und seine Mutter als Hexen auf dem Scheiterhaufen starben, verbringt er die Nächte mit Albträumen und die Tage in tiefer Trauer.

Bis zu dem Tag, an dem er zu Nicholas Perevil gerufen wird, dem größten Zauberer des Landes, der an einer seltsamen Krankheit leidet. John erkennt auf der Stelle, dass Nicholas verflucht ist. Und der einzige Hinweis zur Heilung ist ein Name: Elizabeth Grey.

Wer ist dieses Mädchen und was hat sie mit diesem Fluch zu tun? Als Elizabeth aus dem Gefängnis zu ihm gebracht wird, scheint sie mehr tot als lebendig. Und John muss all seine Kräfte aufbieten, um sie und Nicholas zu retten. Aber vielleicht bekommt auch sein eigenes Leben durch dieses Mädchen eine neue Hoffnung …

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2015 Virginia Boecker

Published by Arrangement with Virginia Boecker

Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›The Healer – A Witch Hunter Novella‹, 2015 erschienen bei Little, Brown and Company, a division of Hachette Book Group, Inc., New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

© für die deutschsprachige Ausgabe:

2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins

Stigma design based on art by Tricia Buchanan-Benson

Stigma design © Virginia Boecker

Lektorat: Britt Arnold

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

eBook ISBN 978-3-423-42998-6 (epub)

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423429986

   1   

Es fing wie aus dem Nichts an, wie immer.

Aber es war nicht »Nichts«. Es war alles. Und es war alles so wie immer: der Scheiterhaufen mitten auf dem Platz in Tyburn. Aufgeschichtete Holzscheite auf einer Plattform, die nur einem einzigen Zweck dient. Ein Pfahl in der Mitte. Leiber, mit Ketten gefesselt, nicht mit Seilen, denn die können verbrennen. Eine Fackel, die in das ausgestreute Heu niedersank, das mit Torf vermischt ist, damit es schneller Feuer fängt. Ein Flammenmeer, das man noch auf der anderen Seite des Platzes fühlen konnte. Aber ich war nicht auf der anderen Seite. Ich war nicht irgendwo in der Stadt oder hundert Schritte entfernt, nicht einmal zehn.

Ich war dort.

Ich rannte zu dieser Plattform, wollte zu ihnen. Zu meiner Mutter und meiner Schwester. Ich weiß noch, dass ich nach ihren Gesichtern suchte. Ich konnte sie nicht gleich sehen, erkannte sie nicht, weil man ihnen die Haare bis zur Kopfhaut abrasiert hatte, ohne dabei allzu behutsam vorzugehen; Schnitte und Wunden spielten ja keine Rolle, weil sie sowieso bald tot waren.

Man packte mich. Zwei schwarz und rot gekleidete Wachen mit dieser verfluchten Rose auf dem Ärmel, der Wappenblume des Königs. Sie zerrten mich weg und in dem Moment sah ich sie. Jane. Sie sah mich auch. Ihr Blick war aufgewühlt, panisch. Ihre Augen voller Tränen. Sie schrie meinen Namen, doch ihr Schrei brach ab, gleichzeitig hörte man einen dumpfen Schlag und das Stöhnen aus zwei Kehlen, aus ihrer und aus meiner, und vielleicht auch aus den Kehlen der Menschen, die mit einer Mischung aus Schrecken, Faszination und Mitleid zuschauten.

Mit dem Gesicht nach unten fiel ich in den Dreck. Staub und Asche sammelten sich in meinem Mund und mir wurde warm von der Hitze, übel von dem Gestank des brennenden Fleischs. Ich rollte mich auf den Rücken. Und sah ihre Gesichter, erst rot, dann gelb, dann weiß, dann schwarz, eine Alchemie des Wechsels vom Leben zum Tod, vom Vorher zum Danach, von hier nach dort.

Keuchend stemmte ich mich hoch, ihren Namen auf den Lippen. Jane. Meine Schwester. Zwei Jahre älter als ich. Mit losem Mundwerk, einem Hang, in Schwierigkeiten zu geraten, aber lustig und wild. Niemand hat mich je so zum Lachen gebracht wie sie. Sie war mein bester Freund.

War.

Heute, am 2. November, ist es ein Jahr her. Heute ist Allerseelen, der Tag, an dem man für die Toten betet. Ich würde an dieser Ironie ersticken, wenn ich nicht immer noch an meinem Kummer würgen müsste. Mein Herz hämmert so laut, dass ich es beinahe hören kann. Ich atme schnell, aber ich kriege keine Luft. Meine Hände zittern. Ich will rennen, nichts als rennen, so weit weg, wie es geht. Aber ich kann nirgends hin. Der Schrecken ist in meinem Kopf und dem kann ich nicht entkommen.

Ich springe aus dem Bett, gehe zum Fenster und reiße es auf. Die Nachtluft ist kühl, und der Position des Mondes nach zu urteilen, der hoch steht, aber nicht mehr im Mittelpunkt des Himmels, ist es etwa drei Uhr morgens. Ich weiß nicht, was so bedeutsam an dieser Uhrzeit ist, aber ich wache jede Nacht um die gleiche Stunde auf.

Jede Nacht.

Ich strecke den Kopf aus dem Fenster, atme tief ein und aus, so wie sie es mir beigebracht hat.

Beim Einatmen bis vier zählen.

Vier Schläge lang halten.

Beim Ausatmen wieder bis vier zählen.

Ich schaue nach unten in den Apothekergarten, der sich gerade für den Winterschlaf bereit macht. Nur ein paar Pflanzen sind übrig, Koriander, Taubnessel, Rosmarin und Geißblatt. Sie wachsen noch immer, trotz der zunehmenden Kälte und des Dauerregens, obwohl es um vier Uhr nachmittags schon dunkel wird und erst um neun Uhr morgens wieder hell. Meine Schwester hasste den Winter. Sie war hellhäutig, genauso wie meine Mutter, mochte aber dennoch den Sommer lieber, weil sie meinte, im Winter sähe sie so bleich aus wie ein Geist, wie eine Tote.

Wieder muss ich würgen.

Der warme, süße Duft des Geißblatts weht mit einer verirrten Brise zu mir ans Fenster. Diese Pflanze ist zu nichts nütze, sie sieht nur hübsch aus und riecht angenehm. Eigentlich hat sie in einem Apothekergarten nichts zu suchen, aber meine Mutter pflanzte sie trotzdem, denn wenn alles andere stirbt, erwacht sie zum Leben.

Ich stoße mich vom Fenster ab. Marschiere in meinem Zimmer auf und ab, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Ich zittere, als hätte ich Schüttelfrost. Ich gehe zum Schreibtisch, krame durch die Bücherstapel und Pergamentrollen, durch die verstreut liegenden Schreibfedern und Tintenfässer, bis ich finde, wonach ich gesucht habe. Das Tagebuch.

Loren, eine Heilerin und die beste Freundin meiner Mutter, gab es mir. Es sollte mir helfen, ihren Verlust zu verarbeiten, sollte mir einen Weg weisen durch die Albträume, die Schuldgefühle und den Schock, einen Weg in die Zukunft, wo das Vergangene hinter einem liegt. Sie meinte, ich solle meine Gefühle aufschreiben und dann würde ich lernen, sie zu kontrollieren. Dann kämen sie mir nicht mehr so übermächtig vor, so riesengroß. Ich könnte mich von ihnen befreien und wäre nicht länger ein Gefangener meines eigenen Elends.

Ich komme nicht besonders gut voran.

Ich ziehe das Tagebuch zu mir. Darunter rutscht ein Brief heraus und segelt zu Boden. Schneeweißes Pergament mit einem blutroten Wachssiegel in Form eines Herzens. Ich rieche Zypresse – eine der grundlegenden Zutaten bei Liebeszaubern – vermischt mit Zimt, der die Zypresse überdecken soll. Ich hebe den Brief auf, wobei ich darauf achte, das Siegel weder zu lösen noch zu lockern, was die Magie freisetzen würde, und lege ihn wieder auf den Tisch. Dann schlage ich das Tagebuch bei einer leeren Seite auf, was nicht schwer ist, denn alle Seiten sind leer.

»Über meine Gefühle schreiben …« Ich packe die Feder, tauche die Spitze in Tinte und lasse sie über der leeren Seite schweben. »Das bringt doch nichts.« Ich werfe die Feder auf den Tisch, schaue ihr nach, wie sie über die Platte rollt und dann auf dem Boden landet. Ich hab’s versucht, ganz ehrlich. Aber ich kann es einfach nicht. Ich weiß auch nicht genau, wovor ich so viel Angst habe. Es sind doch nur Worte. Tod. Schmerz. Folter. Vorbei. Allein.

Aber es sind Worte, vor denen ich mich fürchte.

Ich stehe auf und gehe wieder zum Fenster. Ich atme jetzt langsamer, aber mein Herz hämmert immer noch so kraftvoll gegen meine Rippen, dass mein Hemd zuckt. Erst da fällt mir auf, dass ich immer noch die Kleidung trage, die ich gestern tagsüber anhatte. Verdammt noch mal, ich kann mich nicht einmal so weit zusammenreißen, dass ich mich anständig kleide. Ich zerre mir das Hemd über den Kopf, ohne es auch nur aufzuknöpfen, und werfe es in eine Ecke. Kaum liegt es auf dem Boden, da höre ich die Stimme meiner Mutter.

John, sagt sie, Hemden waschen sich nicht von selbst, weißt du? Dann fuhr sie mir immer durch die Haare, hob das Hemd auf und reichte es mir. Wie auf Kommando muss ich wieder nach Luft schnappen.

Einatmen, bis vier zählen.

Vier Schläge halten.

Ausatmen, bis vier zählen.

Ich weiß nicht, wie ich das überstehen soll. Darüber zu schreiben hilft mir nicht. Ich sehe keinen Sinn darin. Ich muss mir nicht selbst vorbeten, dass ich in Stücke breche, das weiß ich bereits. Melancholie heißt das bei den Heilern. Fifer bezeichnet es als »Phase«. Aber wie immer man es nennt, die Bedeutung bleibt gleich.

Ich verliere den Verstand.

Ich gehe zum Bett und lege mich auf die Decken. Achte auf meine Atmung, nur darauf. Ich weiß nicht, wie lange ich so daliege, bevor ich spüre, dass ich mich allmählich entspanne. Ich ziehe kein neues Hemd an. Es spielt keine Rolle.

Nichts spielt mehr eine Rolle.

   2   

Wie Paukenschläge hämmert es an der Tür. Mit einem Satz bin ich aus dem Bett.

»Zum Teufel noch mal«, murmele ich. »Ich komme ja schon.« Dann reiße ich die Tür auf. Mein Vater steht auf der Schwelle, vollständig angezogen, in einer Wolke aus Tabak und Brandy. Der Kragen seines weißen Leinenhemds ist ausgefranst, ein Knopf fehlt, am Aufschlag ist ein Fleck. Ich muss unbedingt daran denken, es für ihn zu waschen und zu flicken.

»Was soll der Lärm?«, frage ich. »Du kannst doch einfach hereinkommen.«

Mein Vater zieht seine dunklen Augenbrauen hoch. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du mich das letzte Mal, als ich einfach eintrat, nachdrücklich gebeten, in Zukunft zu klopfen.«

Ich zucke bei diesem Tadel zusammen, denn er hat recht: Als er das letzte Mal ohne zu klopfen in mein Zimmer kam, habe ich ein Buch nach ihm geworfen.

Ich stöhne auf und reibe mir über das Gesicht.

»Schlimme Nacht?« Er betrachtet mich von oben bis unten. Bemerkt das Fehlen meines Hemdes, meine zerknitterten Hosen. Ich brauche keinen Spiegel, ich weiß auch so, dass meine Haare nach allen Seiten abstehen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie das letzte Mal habe schneiden lassen. »Willst du darüber reden?«

»Mir geht’s gut«, sage ich und zucke mit den Schultern. »Ich war bloß lange auf. Hab gearbeitet.« Ich wedele mit der Hand zu den Büchern auf dem Schreibtisch.

Seine Miene wechselt rasch, aber ich bemerke es. Er runzelt kurz die Stirn zum Zeichen, dass er es satthat, mich zu fragen, weil ich immer behaupte, es ginge mir gut, dass er es satthat, mir seine Hilfe anzubieten, weil ich sie immer ablehne. Ich weiß nicht, wann ich aufgehört habe, mit ihm zu reden, aber es geschah mit Sicherheit aus demselben Grund, aus dem ich nicht in das Tagebuch schreiben will. Ich habe Angst vor dem, was ich sagen würde.

»Aha.« Er lächelt, spielt mir etwas vor, so wie ich ihm etwas vorspiele. »Der ewige Student. Tja, wenn du schon nicht mehr weißt, wie man schläft, dann kannst du dich hoffentlich noch daran erinnern, wie man isst, oder? Du siehst ein bisschen mager aus.« Wieder betrachtet er mich von oben bis unten.

Ich nicke.

»Unten gibt’s was zu futtern. Vielleicht wäschst du dich vorher. Wir brechen bald auf.«

»Aufbrechen?« Wieder reibe ich mir das Gesicht. Gestern Nacht, als ich Schlaf brauchte, konnte ich nicht schlafen, und jetzt, wo ich schlafen will, darf ich nicht. »Wo gehen wir denn hin?«

»Zu Nicholas Perevil.«

Nicholas Perevil. Der mächtigste Zauberer in Anglia und der Anführer der Reformisten, wie wir, die wir Magie praktizieren und unterstützen, uns selbst nennen. Vater trat den Reformisten vor zwei Jahren bei und seitdem ist er ständig in Nicholas’ Auftrag unterwegs: Er erledigt Botengänge, nimmt an geheimen Treffen teil, konspiriert mit anderen Magiern. Aber er tut es immer allein, mich nimmt er dabei nie mit. Ich will ihn schon fragen, warum das diesmal anders ist, als er mir zuvorkommt und sagt: »Eigentlich bist du es, den Nicholas zu sehen wünscht.«

»Ich?«, frage ich. »Warum?«

»Er braucht einen Heiler.«