Über das Buch:
Washington 1891.
Kate Livingston ist begeistert, als ihr eine Stelle in der Forschungsabteilung eines renommierten Krankenhauses angeboten wird. Doch dann erfährt sie, dass sich hinter dem weltberühmten Arzt Dr. T. M. Kendall, ihrem zukünftigen Chef, kein anderer verbirgt als ihr einstiger Widersacher Trevor McDonough. Ausgerechnet für den Mann, der ihr einst das ersehnte Collegestipendium wegschnappte und damit ihre einzige Chance zu studieren nahm, soll sie jetzt arbeiten?
Als Kate die Stelle wider besseres Wissen antritt, ahnt sie nicht, dass dieser Schritt ins Ungewisse ihr Leben komplett auf den Kopf stellen wird …

Über die Autorin:
Elizabeth Camden ist eine preisgekrönte Autorin von fünf Romanen, darunter Against the Tide (2012), für den sie den RITA Award, den Christy Award und den Daphne du Maurier Award bekam. Camden studierte Geschichte und Bibliothekswissenschaft und arbeitet tagsüber als Bibliothekarin, bevor sie sich abends an den Schreibtisch setzt. Sie wohnt mit ihrem Mann in Florida. Weitere Informationen über Elizabeth Camden auf www.elizabethcamden.com.

Kapitel 7

Trevor griff nach dem ledernen Halteriemen, als die Straßenbahn in die H-Street abbog. Um diese Zeit war die Bahn fast leer, doch Trevor stand lieber, wenn er nervös war. Die Operation hatte länger gedauert als geplant, aber dem Patienten ging es gut. Trevor liebte die intellektuelle Herausforderung einer Operation. Das war so viel einfacher als das ziellose Geplauder, das Kate von ihm heute erwartete.

Aber sie hatte recht. Er brauchte Verbündete, weil die Situation viel schlimmer war, als Kate vermutete. Zusätzlich zu den Verrissen in den Zeitungen bekam er neuerdings Drohbriefe an seine private Adresse. Die Zeitungsartikel waren harmlos im Gegensatz dazu. Und die anonymen Briefe stammten von jemandem, der viel über seine persönliche Geschichte wusste. Es steckten zu viele Details darin, als dass es sich um einen Zufall handeln konnte. Wer auch immer hinter der Schmutzkampagne steckte, wurde vom Hass auf ihn persönlich angetrieben. Irgendjemand wollte ihn in den Ruin treiben.

Trevor festigte seinen Griff um den Riemen. Die Medizin war das Einzige, was er hatte. Er hatte ihr sein Leben verschrieben und seinen Kopf mit jedem Schnipsel medizinischen Wissens vollgestopft, dessen er habhaft werden konnte. Er hatte sein eigenes Leben dabei aufs Spiel gesetzt, um den Drachen namens Tuberkulose zu finden, zu stellen und wenn möglich niederzustrecken.

Als die Bahn zum Halten kam, sprang er ab und fragte sich, wie lange Kate von ihm erwartete, heute Abend den zuvorkommenden Arzt zu spielen. Er kam gerade aus einer dreistündigen Operation, nach seinem langen Tag in der Klinik, und er wollte eigentlich nur noch in sein Bett fallen und schlafen.

Kate wohnte in einer sauberen Straße, gesäumt von Häusern aus weißem Granit und Bäumen entlang der Bürgersteige. Elegante, schwarze Laternen waren bereits angezündet und tauchten die Straße in ein warmes Licht. Das Logierhaus Norton war ein vierstöckiges Haus mit Erkerfenstern. Im Erdgeschoss brannte Licht und durch die Eingangstür konnte man eine lebendige Unterhaltung vernehmen.

Sollte er klopfen? Trevor pochte an die Tür, aber als niemand antwortete, öffnete er selbst und trat ein.

Der Duft von Braten und heißem Apfeltee umfing ihn. Er folgte den ausgelassenen Stimmen in einen Speisesaal, der voller Menschen war. Einige Herren saßen in einer Ecke und waren in ein ernstes Gespräch vertieft. Andere saßen am Tisch und verspeisten riesige Apfelkuchenstücke, während ein Mann mit starkem russischem Akzent die Krönung des russischen Zaren beschrieb. Von Kate fehlte jede Spur.

Trevor stand unbeholfen im Eingang des Speisesaals. Es war sehr warm und er wusste nicht, was er mit seinen Händen machen sollte. Es war ein Fehler gewesen hierherzukommen.

Eine hübsche junge Frau mit blonden Haaren entdeckte ihn. „Sie müssen Dr. Kendall sein!“

Alle Gespräche verstummten und zwanzig Köpfe drehten sich zu ihm um. Die junge Frau schlängelte sich um den Tisch herum und streckte beide Hände aus. „Kate ist noch in der Küche, aber sie hat mir gesagt, ich soll nach Ihnen Ausschau halten. Ich bin Irene Bauman.“ Sie deutete mit dem Kopf auf einen der Männer in der Ecke. „Der Herr mit dem weißen Bart ist mein Vater. Er ist Richter am Obersten Gerichtshof.“

Was sollte er darauf erwidern? Er räusperte sich und trat von einem Bein aufs andere. „Wie schön.“ Vielleicht sollte er dem Richter sagen, dass sie bessere Gesetze brauchten, um bösartige Reporter an die Leine zu nehmen?

Die junge Frau zog ihn am Ärmel in Richtung Tisch. „Wir haben extra einen Platz für Sie frei gehalten. Das ist Tom Wilkerson; er arbeitet im Patentamt. Und Charlie Davies, Kongressabgeordneter aus Pennsylvania. Und das ist Harvey Goldstein; er ist Journalist bei der New York Times.“ Die Formalitäten zogen sich hin, bis Irene ihm mindestens ein Dutzend Herren vorgestellt hatte, die sich in seinem Kopf schon wieder vermengten.

„Du bist gekommen!“

Endlich trat Kate in Erscheinung und Erleichterung machte sich in Trevor breit. Sie trug zwei Teekannen und trat durch die Schwingtür, die hinter ihr zurückklappte. Sie gab die Teekannen an eine Dienstmagd weiter und eilte um den Tisch, um ihn zu begrüßen.

„Ich dachte schon, du schaffst es nicht mehr.“

„Die Operation dauerte länger als erwartet. Eine Resektion des oberen Lungenflügels. Sehr kompliziert.“

Kate schien tatsächlich froh zu sein, ihn zu sehen. Sie führte ihn zu einem freien Stuhl und bat die hübsche junge Frau, ihm etwas Luft zum Atmen zu lassen. Dann holte sie ihm eine Schüssel mit Rindfleischtopf, was gut war, weil er fast umfiel vor Hunger. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Der erste Löffel war eine Geschmacksexplosion – geschmortes Rindfleisch in einer Brühe, süß und scharf zugleich.

Alle anderen waren bereits fertig und plauderten wild durcheinander. Trevor war froh, in Ruhe essen zu können und bis auf ein gelegentliches Nicken vom Gespräch befreit zu sein. Es fiel ihm immer so schwer, sich Dinge aus den Fingern zu saugen, über die er mit Fremden reden konnte, aber Kate dabei zuzuhören war ein Vergnügen. So, wie sie mit der um den Tisch gedrängten Meute schäkerte und herumstritt, kam nie peinliche Stille auf. Der Mann aus Russland beschwerte sich, dass der neu installierte Boiler ein Reinfall sei.

„Er funktioniert einwandfrei“, erwiderte Kate. „Mein Vater hat ein Vermögen in die Rohre investiert, aber das heiße Wasser reicht nur für fünfzehn Minuten. Und so soll es auch sein.“

Der Russe war nicht zufrieden, bis Kate ihn irgendwann wegschleppte, um ihm den Heißwasserspeicher zu zeigen. Sofort schlüpfte die blonde junge Frau auf den freien Stuhl neben Trevor.

„Ich finde es ja so aufregend, dass Sie Arzt sind“, hauchte sie. „Der Arzt, zu dem wir immer gehen, ist mit Sicherheit schon neunzig Jahre alt und ein richtiger Kauz. Sie sind bestimmt viel schlauer.“

Trevor wollte erwidern, dass viele der schlausten Menschen alte Männer waren und junge Frauen mit glitzernden Haarschleifen das wohl nicht begreifen konnten, aber Kate würde das wahrscheinlich für unhöflich halten, also hielt er sich zurück.

„Meine Hände sind immer kalt“, sagte die Blonde mit ihrer hauchigen Stimme. „Ist das normal?“ Sie berührte ihn mit einem eisigen Finger am Handgelenk und strich dann über seinen Handrücken.

Trevor räusperte sich und zog den Arm weg. „Kalte Hände sind im Normalfall kein Grund zur Besorgnis.“

„Aber ich habe auch kalte Füße.“ Seide raschelte, als das Mädchen auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. Irgendetwas berührte sein Bein und dann spürte er ganz deutlich kalte Zehen, die unter seine Hosennaht krochen.

„Sehen Sie? Ist das normal?“

An diesem Mädchen war überhaupt nichts normal. Trevor rutschte bis zur gegenüberliegenden Stuhlkante, aber weiter zurückweichen konnte er nicht. Es war schon schlimm genug, wenn ihm die Schwestern ständig im Krankenhaus nachliefen, aber dieses junge Ding belästigte ihn, während ihr Vater keine fünf Meter entfernt war! Er warf einen verzweifelten Blick auf den Mann in der Ecke, der noch immer in die politische Debatte vertieft war, und fragte sich, wie er sich die Richterstochter vom Leib halten konnte.

Die Schwungtür ging auf und eine Wirtin mit leicht verblassten rotbraunen Haaren und einem Auftreten wie Attila der Hunnenkönig trat an den Kopf der Tafel. Kates Mutter?

„Letzte Gelegenheit“, bellte sie. „Danach wird die Küche geschlossen. Und wen ich dann dort erwische, wird einen Kopf kürzer gemacht. Wer will noch was zu essen?“

Jetzt wusste er, wo Kate ihre herrische Art herhatte. Der Kongressabgeordnete meldete sich und bat höflich um einen Nachschlag. Ein paar Männer wollten noch einen Tee. Mrs Norton nickte und blieb plötzlich mit ihrem Blick an ihm hängen.

„Sie! Ich bringe Ihnen ein Stück Apfelkuchen. Sie können wohl kaum operieren, wenn Sie aussehen wie eine Bohnenstange. Und dann wird geredet! Irene, Finger weg von Dr. Kendall, bevor du wegen unsittlichem Verhalten eingesperrt wirst.“

Mrs Norton marschierte zurück in die Küche. Allmählich löste sich die Runde auf. Irene verzog sich schmollend ans andere Tischende, aber als es zunehmend stiller wurde, zeigte sich auf einmal der Abgeordnete aus Pennsylvania gesprächsinteressiert.

„Kate hat mir erzählt, dass Sie als Kind bei Senator Campbell gewohnt haben.“

Trevor erstarrte innerlich und spielte nervös mit seiner Gabel herum. „Das ist richtig.“

„Ich habe Senator Campbell während meiner ersten Amtszeit im Kongress kennengelernt. Wir waren zusammen im Ausschuss für die Versorgung der Kriegsveteranen. Campbell hatte stets ein großes Herz für die Verwundeten.“

Trevor nickte und überlegte fieberhaft, wie er das Gespräch auf ein anderes Thema lenken konnte. Senator Campbell hatte ein großes Herz, aber nur für seine Rennpferde. Sie waren ihm wichtiger als Frau und Kinder. Für das schottische Streunerkind, das ihm aufgedrängt worden war, hatte er erst recht nichts übrig gehabt.

Glücklicherweise erschien Mrs Norton mit dem Essen. Der Apfelkuchen sah hervorragend aus, aber ihm war der Appetit vergangen. Kate kehrte ohne den russischen Diplomaten zurück.

„Ich habe jetzt zehn Minuten versucht, Mr Zomohkov die Gesetze der Physik zu erklären. Er will einfach nicht glauben, dass man sich auch bei modernen Sanitäreinrichtungen an die Grenzen der Wärmeübertragung halten muss. Er möchte unbegrenzt heißes Wasser haben.“

Mrs Norton setzte sich Trevor gegenüber und goss sich eine Tasse Tee ein. „Mein Mann nimmt ein Darlehen über dreitausend Dollar auf, um dieses Haus mit Warmwasser zu versorgen, und das ist der Dank.“

„Ihre treu ergebenen Stammgäste werden Ihnen auf ewig dafür dankbar sein“, sagte Charlie Davis. „Zurück zu Senator Campbell. Wie war es, bei ihm aufzuwachsen? Das Herrenhaus am Lafayette Square muss ein ziemlicher Schauplatz gewesen sein.“

Mrs Nortons Blicke hinter dem Tassenrand durchbohrten Trevor und sogar Kate ließ ihre Gabel sinken und wartete gespannt auf seine Antwort.

„Ja, es war ein schönes Zuhause.“ Das war auch kein Wunder angesichts der horrenden Summe, die sein Vater Senator Campbell gegeben hatte, damit er sich des unerwünschten Kindes entledigen konnte.

„Er war Ihr Vormund, richtig?“, wollte Mr Davis wissen. „Ich vermute, Sie konnten das politische Theater dieser Stadt aus nächster Nähe erleben.“

Trevor hatte den Senator höchstens ein- bis zweimal pro Monat zu Gesicht bekommen, womit beide Seiten zufrieden waren. Mrs Kendall war diejenige gewesen, die ihn aufgezogen und ihm beigebracht hatte, was man zum Überleben in dieser Welt brauchte.

Er spießte den Apfelkuchen mit der Gabel auf, trennte ein Stück ab und kostete. Bei seinem Appetit hätte es auch Sägemehl sein können. „Schmeckt ganz hervorragend.“

Kate setzte eine freundliche Miene auf und räusperte sich. „Trevor … Dr. Kendall betreibt eine überaus interessante Forschung. Ich bin mir sicher, er könnte noch viel mehr bewirken, wenn er nur ein paar mehr Leute in der Stadt kennen würde“, sagte sie und trat ihn unterm Tisch gegen das Schienbein. „Warum erzählst du uns nicht von deiner innovativen Herangehensweise, um ein Heilmittel gegen Tuberkulose zu finden?“

Glaubte sie wirklich, dass dieses alberne Geplauder ein effektives Mittel gegen die Hetzartikel der Washington Post war? Oder dass er auf diese Weise herausfinden konnte, wer ihm die widerlichen Drohbriefe schrieb?

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier jemand über Tuberkulose reden will“, wich er aus. „Nicht beim Essen.“ Das Gespräch war abgewürgt. Sogar er wusste, dass Löcher in der Lunge oder infizierte Blutkörperchen nicht gerade taugliche Gesprächsthemen für ein Dinner waren.

„Und warum haben Sie Ihren Namen geändert?“, fragte Mrs Norton unverblümt. „McDonough ist doch ein trefflicher Name und es erscheint seltsam, dass Sie ihn nicht behalten haben. Oder nicht?“

Ein Stück Apfelkuchen klemmte plötzlich in Trevors Rachen und er griff nach seinem Glas, um es hinunterzuspülen. Dazu gab er sich Mühe, einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren. Niemand sollte wissen, wie nervös ihn diese Frage machte. „Ich habe ihn geändert, als ich aufs College ging“, sagte er kurz und bündig.

„Ja, aber warum?“

Die blonde Nervensäge beugte sich vor. „Sie haben Ihren Namen geändert? Wie aufregend! Ich wette, es gibt einen ganz und gar romantischen Grund dafür. Sie müssen es uns sagen!“

Es war heiß im Speisesaal und alle Augen waren auf ihn gerichtet. Warum glaubten all diese fremden Leute, in seinem Privatleben herumschnüffeln zu dürfen? Trevor legte die Gabel hin, schob den Stuhl zurück und stand auf.

„Vielen Dank für das Essen.“ Damit verließ er den Saal, ohne sich noch einmal umzudrehen.