Brigitte Blobel

Kein Weg zu weit

Ein Mädchen zwischen
Flucht und Hoffnung

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1. Auflage 2016
© 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Gedicht S. 5 aus: Najet Adouani, Meerwüste,
übersetzt von Leila Chammaa, Lotos Werkstatt, 2015.

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik &Typografie, Andrea Hollerieth unter
Verwendung eines Motives von © plainpicture/Onimage/Christer Andreason
ISBN 978-3-401-80583-2

www.arena-verlag.de
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Hier wurde ich geboren
von hier aus habe ich mich aufgemacht
mit den Augen eines Falken
mit den Flügeln einer Taube
mit einer Kehle aus Messing

Najet Adouani, tunesische Dichterin, floh 2012
aus ihrer Heimat nach Deutschland

1

Verdammt!« Assoud schlägt mit der Faust gegen das Autoblech. »Ich nehme doch keine Kinder mit!«

Azmeras Herz klopft. Assoud, dieser kleine, schmächtige Mann mit dem wilden Blick, ist ihre einzige Chance: Er ist der Fahrer, dem sie ihr Leben, ihre Zukunft anvertrauen will. Der sie mit seinem klapprigen VW-Bus über die Grenze bringen soll. In ihrer Vorstellung dehnt sich Eritrea bis zum Horizont, wird immer größer. Die Grenze zum Sudan rückt in unendliche Ferne. Und das Mittelmeer? Europa? Wie soll sie das je erreichen?

Assoud zieht sein rechtes Bein nach, das irgendwie kürzer als das linke wirkt. Sein Hemd ist nass. Ob vom Regen, der seit heute Morgen in Strömen vom Himmel fällt, oder von Schweiß, kann Azmera nicht erkennen. An seinem Hemd fehlen einige Knöpfe und der Saum der Hosenbeine hat sich aufgelöst. Dieser Mann muss entweder arm sein oder er hat eine Frau, die nicht für ihn sorgt. Sein Van, dieses alte, zerbeulte Ding, mit dem er sie über die Grenze bringen soll, parkt in einer Schlammlache am Straßenrand. Aus dem Wageninnern starren sie fremde Männer an. Sie klopfen wütend gegen die Scheibe, sie wollen, dass es weitergeht.

Nicht hinsehen. Einen Schritt nach dem anderen tun. Zuerst also dieser Assoud. Wenn sie sich mit ihm beschäftigt, muss sie nicht an zu Hause denken. Azmera weiß, dass sie zusammenbrechen wird, wenn sie diese Gedanken zulässt.

Pater Umberto stellt sich neben sie. In den letzten Wochen und Monaten war der junge Priester eine große Stütze für Azmera und ihre Familie. Er ist zwar erst Anfang zwanzig, aber in der christlichen Gemeinde sehr beliebt, er kennt viele Leute und hat gute Kontakte. Er hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit Azmera diese Reise, diese Flucht, antreten und ihrem Vater ins ferne Schweden folgen kann. Ohne ihn wäre sie niemals bis an diesen Punkt gekommen.

Sie zittert. Pater Umberto legt ihr eine Hand auf den Kopf. Ein Schauer durchläuft sie, aber sie versucht, weiter unbeeindruckt geradeaus zu schauen, doch das gelingt nicht. Heute trägt der Pater nicht seine schwarze Soutane, sondern Jeans, ein gestreiftes Hemd und Sandalen. Er sieht auf einmal ganz anders aus, fast wie ein Filmstar in den Liebeskomödien, die Azmera so gerne geguckt hat, als es in ihrer Wohnung noch regelmäßig Strom gab. Sie kann nicht aufhören, ihn anzuschauen, und hat gleichzeitig Panik, er könnte es bemerken und die Dinge in ihren Augen lesen, die sie ihm so gerne sagen würde, aber nicht kann und nicht darf. Plötzlich wünscht sie sich, mit diesem coolen Typen in Jeans und Sandalen einfach ins Auto zu steigen und durchzubrennen.

»Sie ist kein Kind mehr, Assoud«, sagt Pater Umberto eindringlich, »sie ist eine kluge junge Frau, die sehr gut alleine zurechtkommt.«

»Und woher soll einer wie du so was wissen? Was für eine Ahnung hast du von Frauen? Von Mädchen? Du darfst ja nicht einmal heiraten.« Assoud wendet sich mit einer verächtlichen Handbewegung von ihnen ab.

Azmeras Kopf glüht, aber der Pater bleibt ruhig. »Gut, wenn du sie nicht mitnehmen willst, bringe ich sie wieder nach Hause.«

»Nein! Bitte! Nicht wieder zurück!«, presst Azmera mit erstickter Stimme hervor. »Ich kann nicht …« Doch dann stellt sie sich vor, wie sie wieder vor ihrem Haus steht. Drinnen würde ihr ihr kleiner Bruder bestimmt schon auf der Treppe mit ausgestreckten Armen entgegenpurzeln. Oh Hawi … Ob er wohl inzwischen aufgewacht ist und bemerkt hat, dass seine große Schwester fehlt? Hawi ist erst fünf und darf nichts von Azmeras Flucht wissen. Die Gefahr ist zu groß, dass er sich vor den Nachbarn verplappert – oder, noch schlimmer, auf dem Markt. Dort gibt es viele Ohren … Als Azmera heute Morgen fröstelnd und mit pochendem Herzen das Haus verließ und zu Pater Umberto in den Wagen stieg, hatte sich Hawi noch in einem unruhigen Traum auf der Matratze hin und her geworfen. Sie hatte ihn nicht aufgeweckt und sich nicht verabschiedet. Der Gedanke versetzt Azmera einen Stich. Sie atmet tief durch und denkt trotzig: Gut, dann fahre ich eben zurück. Dann geht es eben nicht. Es ist, als würde eine Last von ihr abfallen, doch ihre Mutter vertraut darauf, dass sie stark ist – und ihr Vater auch. Aber sie, Azmera, weiß nicht wirklich, ob es stimmt. Egal, sie hat keine andere Wahl. Für ihre Familie muss sie stark sein.

Pater Umbertos Stimme reißt sie aus ihren Gedanken. Er streckt Assoud seine flache Hand hin und fordert: »Gib mir das Geld zurück. Alles. Sofort.«

Assoud starrt ihn an. Das Weiße in seinen Augen ist gelblich verfärbt und die Iris seines rechten Auges getrübt. Azmera weiß, dass er zweihundert Dollar dafür bekommen hat, sie in den Sudan zu bringen. Zweihundert Dollar. So viel Geld. Gutes Geld, von dem sie zu dritt ein ganzes Jahr lang hätten leben können. Ihr Hals wird trocken. Sie schluckt.

»Siebzehn also«, brummt Assoud.

»Ich werde bald achtzehn.«

»Ach!« Assoud macht eine wegwerfende Handbewegung und wendet sich wieder an den Pater. Sein Ton ist noch schärfer: »Ich kann nicht auf sie aufpassen, ist das klar? Ich fahre sie an die Grenze und dann muss sie selber zurechtkommen. Genau wie alle anderen auch. Das ist alles. Dafür werde ich bezahlt. Verstanden? Ich bin nicht ihre Kinderfrau. Ich kann sie nicht beschützen.«

»Behandle sie anständig, mit Respekt«, sagt der Pater sanft. »Denk an deine Frau. Denk daran, was Jabila von dir erwarten würde. Sie hält dich für einen Mann, der Frauen beschützt, oder?«

Assoud senkt mürrisch den Blick.

Da erscheint der Kopf eines Mannes in der Tür von Assouds Wagen. Azmera kann erkennen, dass außer ihm noch zwei andere Männer im Auto warten. Zwar zeichnen sich nur ihre Umrisse im Fenster ab, aber sie spürt ihre Blicke wie Pfeile. Was sie wohl von ihr denken? Sie trägt ihren dunkelgrünen knielangen Faltenrock, die weiße Bluse, gewaschen und gebügelt, und die rote Strickjacke mit den grünen Knöpfen. Dazu Schnürschuhe aus braunem Leder, die ihr gerade noch passen. Es ist die Schuluniform, die sie mit fünfzehn bekommen hat und die ihr immer noch ganz gut passt. Kurz bevor sie in Pater Umbertos Auto gestiegen ist, hat sie sich noch eine blaue Hibiskusblüte vom Strauch aus dem Nachbargarten in einen ihrer Zöpfe gesteckt. Ein zartes Souvenir, das welken wird, bevor der Tag alt ist. Nun tasten Azmeras Finger ein wenig beschämt nach der Blüte. Doch der fremde Mann beachtet sie nicht weiter.

»Hey, Assoud«, schimpft er, »haben wir dich dafür bezahlt, dass du hier Wurzeln schlägst?«

Assoud lässt Azmera und den Pater stehen und humpelt auf den Wagen zu. Er fuchtelt wild mit den Armen. »Ihr regt mich auf, hört ihr? Ihr mit eurer verdammten Ungeduld. Ihr kommt schon noch früh genug ans Ziel. Setz dich wieder hin.«

Der Mann schüttelt den Kopf. »Nein, erst wenn du deinen verdammten Hintern wieder hinter das Steuerrad bewegst.« Er deutet auf Azmera. »Was ist mit ihr? Weshalb halten wir hier?«

»Das geht dich nichts an«, ruft Assoud herrisch. Dann nickt er Azmera zu: »Komm, steig ein. Du sitzt vorne neben mir.«

»Gleich«, erwidert sie heiser und wendet sich noch einmal Pater Umberto zu, doch sie weiß nicht recht, was sie sagen soll. Stattdessen presst sie die Lippen aufeinander. Ich werde nicht weinen, sagt sie sich. Ich werde keine Angst haben. Ich bin stark und mutig. Und klug. Papa sagt immer, dass ich klug bin. Und die Lehrer. Sogar die Direktorin hat es gesagt. Mir wird nichts passieren.

»Assoud ist ein guter und respektabler Mann«, sagt der Pater und bricht damit das Schweigen, das einen Moment lang zwischen ihnen hing. »Ich vertraue ihm.« Und nach einer Atempause fährt er fort: »Er kennt sich aus. Er hat schon viele Leute über die Grenze gebracht, auch deinen Vater.«

Azmeras Gesicht hellt sich auf. »Auch Papa? Das wusste ich nicht!« Sie fasst neuen Mut und es gelingt ihr, sich ein wenig zu entspannen.

Der Pater lächelt aufmunternd. »Azmera, mein Plan funktioniert. Hab keine Angst. Du wirst sehen: Alles wird gut.«

Sie mag es, wenn er ihren Namen sagt. Ein warmes Gefühl breitet sich in ihrer Magengrube aus, das jedoch sofort wieder verschwindet, als sie sich ins Bewusstsein ruft, dass sie Pater Umberto gleich für immer hinter sich lassen muss. Ihn und alles, was sie jemals gekannt hat. Azmeras Kopfhaut zieht sich zusammen.

»Pater, ich …«, setzt sie vorsichtig an, bricht jedoch wieder ab. Sie will ihm sagen, dass sie ihn liebt, dass sie für immer bei ihm bleiben und nicht mit diesen fremden Männern in Assouds baufälligen Wagen steigen möchte.

Sie legt sich die dunkelblaue Umhängetasche, die ihr die Mutter letzte Woche gekauft hat, über die Schulter, wendet sich ab und will auf das Auto zugehen.

Sie zieht den Bauch ein, damit ihre Gürteltasche unter der Strickjacke nicht auffällt. In diesem Täschchen hat sie ihre Wertsachen verstaut: ihren Schülerausweis, der längst ungültig geworden ist, das letzte Zeugnis mit den vielen guten Noten, eine Bild, das Hawi für sie gemalt hat, das Madonnenbildchen von der Konfirmation und den kleinen blauen Stein, den die Mutter von ihrer Mutter geerbt hat. Niemand weiß, wie viel der Stein wert ist. Vielleicht gar nichts. In einer wasserfesten Hülle ist das Geld. So viele Nakfa- und Dollarnoten, dass Azmera bei ihrem Anblick ganz schwindlig wurde. Ihre Mutter hat dafür Papas Motorrad auf dem Schwarzmarkt verkauft, das immer noch unter dem Vordach stand, als würde der Vater jeden Augenblick zurückkommen. Einen Pass oder Personalausweis besitzt Azmera nicht.

»Sie sitzt vorne neben mir«, ruft Assoud den anderen zu. »Und ihr bleibt hinten, ist das klar?«

Pater Umberto ist auf einmal wieder an Azmeras Seite. »Alles wird gut«, sagt er, »vertraue mir. Ich kenne Assoud. Er regt sich schnell auf, aber er ist ein guter Mann. Du bist bei ihm sicher.«

Azmera nickt. Der Kloß in ihrem Hals ist so groß, dass er sie am Sprechen hindert. Bevor sie einsteigt, dreht sie sich zum Pater um und blickt zu ihm auf. Er sieht sie beinahe zärtlich an. »Schick mir eine Postkarte von Stockholm«, sagt er, »sie bekommt einen Ehrenplatz an der Wand hinter meinem Schreibtisch.«

Azmera ringt sich ein Lächeln ab.

Plötzlich nimmt sie der junge Mann in den Arm und drückt sie fest an sich. »Hoffentlich tun wir das Richtige«, murmelt er.

Die Tasche rutscht ihr aus den Händen, sie umklammert den Pater, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Seine Arme fühlen sich gut an, so warm und so fremd und vertraut zugleich. Sie spürt, wie ihr das Blut in die Wangen schießt.

»Gott segne deinen Weg«, murmelt Pater Umberto ganz nah an ihrem Ohr. Dann ist es vorbei. Seine Arme lösen sich von ihr. Sie greift wortlos nach ihrer Tasche und klettert auf den Beifahrersitz.

Assoud humpelt noch einmal prüfend um seinen alten VW-Transporter herum und steigt auch ein. Er startet den Motor und legt einen Gang ein. Azmera will aus dem Fenster schauen und dem Pater winken, aber sie sieht nur Schlieren. Sie kann noch spüren, wo seine warmen Arme sie gerade noch berührt haben. Fröstelnd schlingt sie die Arme um ihre Taille und schließt die Augen.

Stundenlang fahren sie über holprige Staubpisten und passieren Orte, die Arata heißen, Senafe und Adi Key. Der Regen hat nicht nachgelassen und manchmal sind die Schauer so stark, dass es aussieht, als würde ihr Auto auf dem Wasser schwimmen.

Draußen hält ein Gemüsekarren dem Sturm nicht mehr stand und kippt um. Eine blaue Plastikplane hat sich aus ihrer Halterung gelöst und segelt durch die Luft, was die Tiere auf dem Eselsmarkt in Panik versetzt. Sie versuchen, in verschiedene Richtungen zu flüchten, obwohl sie aneinandergebunden sind. Immer wieder ertönen verzweifelte Rufe der Händler, die hilflos dabei zusehen mussten, wie ihre Ware mit dem Sturm davonflog, bevor der Regen einsetzte. Doch nun prasseln die schweren Tropfen wie Schüsse aus einem Sturmgewehr auf das Wagendach und übertönen den Straßenlärm.

Azmera zieht den Kopf zwischen die Schultern und hält sich die Ohren zu. Es ist ihr egal, wenn die Männer auf dem Rücksitz sie deshalb auslachen. Dennoch wirft sie scheu einen schnellen Blick über die Schulter, bevor sie die Augen schließt. Was ihre Mutter jetzt wohl macht? Und Hawi? Ihre Gedanken ziehen an ihr vorüber wie die Wasserschlieren am Fenster und bleiben schließlich an Pater Umberto hängen. Ob er wohl gerade seine Soutane anzieht und sich auf den Gottesdienst vorbereitet? Er verbreitet Hoffnung in der Gemeinde und spendet Trost. Plötzlich spürt Azmera wieder die Wärme seiner Umarmung. Es war das erste Mal, dass sie einem fremden Mann so nahe war. Sein Geruch war fremd, aber nicht unangenehm und seine Arme so fest, so anders.

»Verdammt, pass auf!«, ruft einer der Männer auf der Rückbank Assoud zu und holt Azmera ins Hier und Jetzt zurück. In der Savanne kann sie eine Bewegung ausmachen. Eine dunkle Masse kommt auf die Straße zu.

Assoud tritt ruckartig auf die Bremse, gerade noch rechtzeitig, bevor direkt vor ihrem Wagen eine Herde honigfarbener Gazellen in großen Sprüngen die Straße überquert. Sie werden von einem Rudel hungriger Schakale mit nassem Fell und gierig geöffneten Mäulern gehetzt. Eine junge, zartgliedrige Gazelle prallt gegen die Kühlerhaube und eine Sekunde lang sieht Azmera die Panik in den großen sanften Augen des Tieres, bevor es von einem kräftigen Schakal zu Boden gezerrt wird. Sofort wirft sich die Meute auf das verletzte Tier. Azmera schließt die Augen und betet. Assoud reißt das Steuer herum und gibt Gas.

»Warum hast du nicht angehalten?«, ruft einer der Männer. Azmera kann ihre Mitfahrer noch nicht unterscheiden, sie hat sich kein einziges Mal getraut, offen nach hinten zu schauen. »Das wäre eine gute Mahlzeit gewesen. Es gibt nichts Zarteres als das Fleisch einer jungen Gazelle.«

Azmera hält die Luft an und bildet sich ein zu spüren, wie sich die Blicke der Männer in ihren Nacken bohren.

»Ach, ich streite mich nicht mit Schakalen«, erwidert Assoud. »Die haben Kiefer und Zähne wie Löwen. Einer hat meinem Vater die Hand abgebissen.« Die Männer auf der Rückbank lachen, doch Azmera will sich der Witz nicht recht erschließen. Sie kriecht immer tiefer in ihre Strickjacke, die sich mit Feuchtigkeit vollgesogen hat. Alles ist feucht und dampft. Die Fensterscheiben sind beschlagen. Immer wieder beugt sich Assoud vor und wischt mit dem Ärmel über die Scheibe. Azmera würdigt er keines Blickes. Er sieht durch sie hindurch, als wäre sie gar nicht da.

Irgendwann hört der Regen auf, die Scheiben werden wieder klar. Vor ihnen liegt ein Ort mit Häusern aus Sandstein, viereckig wie Bauklötze. Rechts und links gehen schmale Wege von der Schotterpiste ab. Eine verschleierte Frau treibt ihre kleinen Kinder vor sich her, als wären es Zicklein. Die Kinder springen lachend um sie herum. Azmera muss an Hawi und ihre Mutter denken und tastet unwillkürlich nach ihrer Umhängetasche. Darin ist alles, was ihr von zu Hause geblieben ist: ihre rosa Flip-Flops, ein Kapuzenshirt aus weichem Fleece, ein geblümter Sommerrock, der ihr früher bis zu den Füßen und jetzt nur noch zu den Waden reicht, die praktische lange Hose mit den drei Taschen, die ihre Tante Ifeoma für sie gekauft hat, eine federleichte Regenjacke aus Kunststoff, drei T-Shirts, ihre beste Unterwäsche, Binden, ein Handtuch und ein Stück Seife. Doch tausendmal wichtiger als all diese Dinge ist das gewebte Tuch mit einem Muster in den Farben ihrer Heimat, Rot und Grün und Blau. Darin hat sie Hawi auf dem Rücken getragen, als er noch ein Baby war und ihre Mutter den ganzen Tag auf dem Markt arbeiten musste. Zärtlich streicht sie über den bunten Stoff und vor ihrem geistigen Auge sieht sie ihren schon etwas älteren kleinen Bruder, der auf wackeligen Beinen und mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zuläuft. Ein schmerzliches Lächeln breitet sich auf Azmeras Lippen aus. Ihr Vater hat einmal gesagt, dass Hawi seine Schwester mehr liebe als seine Eltern. Hawi ist eigentlich gar kein Name, sondern einfach das tigrinische Wort für Bruder. Azmera schiebt das Tuch zurück in die Tasche und schüttelt den Gedanken ab, bevor er zu schmerzhaft werden kann.

»Ist das da vorne Barentu?« Zwischen den beiden Vordersitzen ist der Kopf eines Mitfahrers erschienen. Aus dem Augenwinkel sieht Azmera, dass dem Mann Zähne fehlen. »Können wir da anhalten und was trinken?«, fragt er.

»Nicht nötig«, erwidert Assoud knapp, »ich habe Wasser dabei.«

»Ist es denn sauber?«, fragt ein anderer.

»Denkt ihr, ich fahre verdrecktes Wasser in der Gegend herum?«, knurrt Assoud. »Glaubt ihr wirklich, ich will die Scheißerei kriegen?«

»Wir könnten was zu essen kaufen«, schlägt der dritte vor, »mir hängt der Magen durch.«

Assoud reagiert nicht. Das kann Ja oder Nein heißen.

Essen. Azmera ist sich nicht sicher, ob sie etwas essen könnte, doch auch sie wäre dankbar für eine Pause. Sie war noch kein einziges Mal auf der Toilette, seit sie unterwegs sind. Ihre Blase ist zum Platzen voll, doch es ist ihr peinlich, etwas zu sagen – und vor lauter Männern an den Straßenrand pinkeln? Undenkbar.

Vor ihnen auf der holprigen Straße staut sich der Verkehr, als sie sich der Stadt nähern. Ein Laster versperrt die Sicht. Neben der Straße tragen Frauen geflochtene, bis an den Rand gefüllte Körbe auf dem Kopf. Ihre Röcke sind bis zu den Knien nass vom Regen und schlammverkrustet, aber die meisten machen dennoch ein fröhliches Gesicht und lachen, als ihnen einer der Männer aus dem Auto etwas zuruft.

Assoud schwitzt, er steckt immer wieder den Kopf aus dem Seitenfenster und versucht, an der Autoschlange vorbei nach vorn zu sehen.

Azmeras Kehle ist wie ausgetrocknet, aber sie traut sich nicht, Assoud um etwas Wasser zu bitten oder ein Stück von dem getrockneten Rindfleisch in ihrer Tasche abzubrechen, um beim Kauen wenigstens wieder etwas Speichel zu produzieren. Keiner der Männer hat bisher etwas gegessen oder getrunken.

Zäh schiebt sich der Verkehr voran.

»Hup doch mal«, sagt einer der Passagiere, »vielleicht passiert dann was.«

»Meine Hupe geht nicht«, knurrt Assoud.

Azmera spürt, wie die Männer unruhig werden.

»Und was funktioniert noch nicht an dieser Karre?«, ruft ein anderer.

Assoud gibt keine Antwort.

»Wir haben dir viel Geld gegeben für diese Fahrt, fünfmal so viel, wie eine Busfahrt gekostet hätte.«

Assoud wirft dem Mann einen wilden Blick durch den Rückspiegel zu. »Ach ja?«, höhnt er. »Gibt es neuerdings einen Bus, der bis in den Sudan fährt?«

Schweigen.

Assoud reckt seinen Kopf wieder weit aus dem Fenster. Als er ihn zurückzieht, ist seine Miene noch finsterer. »Da ist eine Sperre«, sagt er.

Sofort werden die Männer unruhig, rücken hin und her, kurbeln auch ihre Seitenfenster herunter. »Fenster zu!«, brüllt Assoud. »Habe ich gesagt, ihr sollt die Fenster öffnen?«

Wenige Augenblicke später heult hinter ihnen eine Polizeisirene auf. Assoud steuert wie die anderen vor ihm seinen Wagen ganz nah an den Stacheldrahtzaun, der an der Straße entlangläuft, und schon überholt sie ein Militärlaster. Auf der offenen Ladefläche sitzen grimmig blickende Soldaten mit Maschinengewehren. Azmera erstarrt in ihrem Sitz und wagt es weder zu atmen noch aus dem Fenster zu schauen. Es kommt ihr vor, als würden die Soldaten nur auf sie blicken. Dabei ist dieser Anblick nichts Neues für sie. Wenn sie morgens das Haus verließ, um zur Schule zu gehen, lehnten oft zwei Soldaten an dem breiten Stamm des Mangobaumes auf der anderen Straßenseite. Der Baum war in dem Jahr der großen Dürre eingegangen, und er bot niemandem mehr Schatten. Sie taten nichts, schauten nicht einmal zu ihr hin, sie lehnten am Mangobaum und reinigten ihre Gewehre oder erzählten sich Witze. Manchmal waren sie nicht da, aber am nächsten Tag stand da ein Auto mit getönten Scheiben, und Azmeras Herz pochte, als sie einen Bogen um das Auto machte und nicht wusste, was passieren würde. Aber es war noch nichts passiert. Noch nicht.

»Scheiße«, knurrt Assoud.

»Was soll das bedeuten, Mann?«, ruft einer der Männer. Seine Stimme ist jetzt hoch und schrill. »Was ist hier los?«

»Bin ich ein Hellseher?«, brüllt Assoud zurück. »Hört auf mit euren verdammten Fragen. Abgesehen davon: Autofahren ist nicht verboten, oder? Nicht einmal in Eritrea«, schiebt er noch herausfordernd hinterher.

»Noch nicht«, meint einer der Männer und schweigt einen Moment, bevor er zu erzählen beginnt. Von seinem Bruder, der drei Jahre im Gefängnis war, ohne zu wissen, warum. »Er hat in einer Kiste gelegen, die kaum größer war als er selbst, an Händen und Füßen gefesselt, drei Jahre lang. Und dann haben sie ihn plötzlich freigelassen, und er wusste wieder nicht, warum. Jetzt ist er zu Hause, aber er redet kaum und geht nicht aus dem Haus. Er hat Angst, dass sie ihn wieder einsperren.«

»Ich habe gehört, die Gefängnisse sind alle voll«, sagt ein anderer. »Sie heben jetzt in der Wüste einfach Gruben aus und legen sie da rein.«

»Lebendig?«, fragt Assoud. Er wendet den Blick nicht von der Straße ab, aber Azmera sieht aus dem Augenwinkel, dass er blass geworden ist.

»Ja, am Anfang schon, aber das dauert nicht lang.«

Die Worte verhallen und es kehrt betroffenes Schweigen ein. Darauf weiß niemand etwas zu erwidern.

Azmera starrt nach vorn, ihre Augen brennen, als klebten Sandkörner unter ihren Lidern, und ihre Blase schmerzt immer deutlicher. Sie versucht, sich auf ihren Körper zu konzentrieren, um nicht über die Gefängnisse nachdenken zu müssen, doch es gelingt ihr nicht. Drei Jahre lang hatte man ihren Vater im Geheimgefängnis in Alla Bazit eingesperrt und gefoltert. Drei lange Jahre, in denen Azmeras Mutter ihn nur ein einziges Mal sehen durfte, und als sie von diesem Besuch nach Hause kam, sah sie aus, als wollte sie sterben. Er sollte Dinge gestehen, die er nie begangen hatte. Mehr wollte er seiner Familie nicht erzählen. Lediglich die Peitschenhiebe auf die Nieren, die ihm wohl ein Leben lang zu schaffen machen werden, konnte er nicht verschweigen. Folter und Hunger hatten ihn ausgezehrt. Er sah aus wie ein Gespenst, als er nur zwei Monate nach seiner Entlassung fliehen musste, weil die Milizen einfach nicht von ihm ablassen wollten.

Zwei Jahre ist das nun alles her.

Azmeras Vater hatte von Anfang an Vorkehrungen getroffen: Er hatte ein Loch in die Wand zum Stall des Nachbarhauses geschlagen und es war ihm sogar noch gelungen, einen Scherz zu machen, als er mitten in der Nacht durch ebendieses Loch in der Wand verschwand. So entkam er seinen Verfolgern, während vorne die Schergen der Regierung die Haustür einschlugen.

Sie muss an etwas anderes denken. Sofort. An irgendetwas Schönes.

Die Erinnerung an den Tag, als die Milizen ihre Wohnung verwüsteten und alles, was dann geschah, will ihr die Kraft aus den Knochen ziehen. Aber diese Kraft braucht sie jetzt für ihre eigene Flucht …

»Wenn jemand fragt, was wir vorhaben«, sagt Assoud, »dann sagen wir, wir sind auf dem Weg zu einer Familienfeier, in Ordnung?«

»Und was soll das bitte für eine Feier sein?«, ertönt es von der Rückbank.

Assoud überlegt und deutet schließlich auf Azmera. »Eine Hochzeit. Seht ihr? Sie hat eine Blume im Haar. Sie ist die Braut.«

Azmera erschrickt, weil sie so unvermutet angesprochen wird. Sie ringt sich ein schmales Lächeln ab, doch ihr kriecht kalte Angst über den Rücken.

»Und wer ist sie?«, fragt der Mann, der älter klingt als die anderen.

Assoud stößt sie mit der Schulter an. »Los, sag ihnen deinen Namen.«

Sie schluckt. Ihre Kehle schmerzt, weil sie so trocken ist. »Azmera Teferi«, flüstert sie.

»Wie? Lauter!«, ruft einer der Männer.

Sie wiederholt ihren Namen. Und wie heißt ihr?, denkt sie, aber die Worte kommen ihr nicht über die Lippen.

Es ist ihr zuwider, dass sie die Braut spielen soll. In Gedanken verflucht sie die Blume in ihrem Zopf, an die sie schon gar nicht mehr gedacht hat. Für ein Mädchen aus Eritrea ist die Hochzeit meistens kein Freudentag. Azmera ballt die Hände zu Fäusten. Erst vor einer Woche wurde ihre beste Freundin Makeda verheiratet. Sie will gar nicht daran denken … Makedas Eltern habe eine Ehe mit einem regierungstreuen Geschäftsmann arrangiert. Er ist dreißig Jahre älter und leidet an einem nässenden Hautausschlag. Die Familie muss sich jetzt keine Sorgen mehr machen, sie werden immer genug Fleisch für ihr Tsebhi haben und genug Benzin für ihr Auto, aber um welchen Preis?

Azmera konnte sich nicht einmal von ihrer Freundin verabschieden. Es wäre zu gefährlich gewesen. Ihr Ehemann ist zu eng mit der Regierung verbunden und könnte ihrer Familie große Schwierigkeiten machen. Und wenn Azmera von einem schon genug hat, dann sind es Schwierigkeiten.

»Gut. Und wo findet diese verdammte Hochzeit statt?«, fragt der Mann mit der lauten Stimme, die immer ein bisschen aggressiv klingt. Azmera wüsste gerne, wie er aussieht, um sich von ihm fernzuhalten, wenn sie aussteigen.

Assoud überlegt. »In Teseney«, sagt er schließlich. »Bei meinem Cousin.«

»Du hast einen Cousin in Teseney?«

»Nein, aber das geht die verdammten Hurensöhne nichts an, oder?«

»Das ist doch ganz nah an der Grenze, oder?«

»Ja, am Fluss Gash.«

»Kennst du dich da wenigstens aus?«

Assoud nickt. »Ein bisschen. Es gibt da ein Hotel. Teseney Tilyan. Die Hochzeit findet in dem Hotel statt.«

Plötzlich rennt ein Soldat an der Wagenreihe vorbei, er fuchtelt mit den Armen und ruft ihnen etwas zu.

»Was sagt er?«

»Nichts verstanden«, entgegnet Assoud, »die reden hier einen anderen Dialekt.« Aber der Stau gerät langsam in Bewegung. Aus dem Auspuff des Lasters vor ihnen quillt dicker, stinkender Qualm. Erst als Azmera husten muss, schließt Assoud das Autofenster. Sofort wird es stickig und heiß im Auto, aber niemand beschwert sich. Die Autokolonne bewegt sich langsam vorwärts.

Mitten auf der Straße steht ein Laster mit gebrochener Achse. Aber es ist kein gewöhnlicher Lkw. Er ist dunkelgrün und hat kleine vergitterte Fenster. Ein Gefangenentransport.

Polizisten haben das Fahrzeug umstellt und richten drohend ihre Gewehre darauf.

Hat ihr der junge Polizist mit den kastigen Schultern und dem geschorenen Schädel gerade einen Blick zugeworfen? Ein kaltes Prickeln zieht Azmeras Hirnhaut zusammen. Krampfhaft starrt sie auf ihre Tasche. Am liebsten würde sie sich unsichtbar machen. Sie weiß, dass die Milizen vom Geheimdienst nur darauf warteten, sie oder ihre Mutter unter irgendeinem Vorwand abzuholen, um sie in eines der gefürchteten Foltergefängnisse zu werfen. So wollen sie die Flucht ihres Vaters rächen. Keine Woche ist vergangen, ohne dass düster dreinblickende Männer mit Sonnenbrillen auf offenen Lkws durch ihre Straße brausten und wie zum Spaß die Kalaschnikows auf ihr Haus richteten. Aber hier? Kann sie hier wirklich jemand erkannt haben? Nein. Langsam beruhigt sich Azmera wieder und ihr hochgeschossener Puls wird flacher.

Niemand interessiert sich für die Autoschlange, die an dem Hindernis vorbeiwill. Genauso wenig wie für die neugierigen Gaffer am Straßenrand, von denen manche etwas rufen, einige lachen oder winken. Azmera versteht nichts.

Sie fahren im Schritttempo um den gestrandeten Gefangenentransporter herum. Azmera sieht glühende Augen, die sich durch die vergitterten Fenster zu bohren scheinen. Sie sieht Finger, die sich um die Gitterstäbe krallen. Rufe ertönen. Die Soldaten schlagen mit ihren Stöcken gegen die metallenen Wände des Transporters und brüllen Befehle. Andere fuchteln wild mit den Armen und winken die Autos vorbei.

Niemand hält sie an, niemand stellt Fragen.

Assoud sitzt vorgebeugt, sein Kopf berührt beinahe die Windschutzscheibe. Er klebt förmlich mit der Kühlerhaube am Auspuff des Lasters vor ihm. Doch dann weitet sich die Straße und der Laster gibt Gas. Der Verkehr rollt immer schneller und die Schotterpiste geht in Asphalt über. Rechts und links erkennt Azmera die ersten Palmen und auf einem Hügel die Kuppel einer Moschee mit drei Minaretten.

Auf einmal sind die Häuser nicht mehr strohgedeckt und aus Lehm, sondern aus verputztem Beton mit sandfarbenen oder ockergelben Wänden und Dächern aus blauem Wellblech oder roten Ziegeln. Für Azmera, die ihr Dorf nur selten verlassen hat, ist das aufregend und neu. Aufmerksam beobachtet sie, wie die bunten Häuser vor dem Autofenster vorbeiziehen.

Auf der Rückbank räuspert sich der Mann mit der sanften Stimme, der Azmera nicht so sehr einschüchtert wie die beiden anderen. Er beugt sich vor und Azmera kann die Spitze seines Kinns sehen. »Was glaubst du«, fragt er Assoud, »was waren das vorhin für Leute?«

»In dem Transporter? Gefangene«, erwidert Assoud.

»Ja, Mann, schon klar. Aber was für Gefangene, meinst du, waren das?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Die hatten keine Sträflingskleidung an«, sagte der Mann. »Glaubst du, das sind Leute, die gegen die Regierung demonstriert haben?«

Genau wie ihr Vater. Azmeras Herz pocht so laut, dass sie heimlich zu Assoud blickt, um in seinem Gesicht zu lesen, ob er es wohl hören kann. Doch Assoud schaut ausdruckslos auf die Straße. Azmera weiß, dass sie sich beruhigen muss, und stellt sich vor, was ihr Vater jetzt wohl gerade in Stockholm macht. Da ist jetzt auch Tag, denkt sie, obwohl es so weit weg ist. Aber dort ist es bestimmt nicht so heiß wie in Eritrea. Vielleicht regnet es in Stockholm sogar – das ist in dieser fremden Stadt hier schon lange nicht mehr vorgekommen. Trockener Staub bedeckt die Straßen und hat sich auf die Autos gelegt, auf die Blätter der Bäume und den Garten des dreistöckigen Hauses im alten Stil, das sie gerade passieren. Zu gerne würde Azmera einen Blick in den Garten werfen, aber sie sind schon vorbei.

Assoud fährt erst langsamer, als sie den Stadtkern hinter sich gelassen haben. Die Häuser werden kleiner und Eselskarren und stinkende Mopeds beherrschen das Straßenbild. Er bremst vor einem niedrigen, weiß gestrichenen Haus mit einer Veranda, die von zwei Säulen getragen wird. Die Säulen sind in der unteren Hälfte blau wie die Eingangstür und oben weiß. Auf den Stufen der Veranda schläft ein Hund, als wäre er tot.

»Warum hältst du?«, fragt einer der Männer.

»Das ist ein Café«, sagt Assoud. »Ich halte hier oft. Der Laden ist sauber, keine Spitzel. Ich lade euch auf einen Kaffee ein. Essen müsst ihr selbst bezahlen.«

Als er den Wagen geparkt hat, hebt der Hund den Kopf und im gleichen Augenblick fliegt die blaue Tür auf und drei kleine Kinder, alle barfuß, rennen mit fröhlichen Rufen dem Auto entgegen.

Azmera lächelt. Sie denkt an Hawi, der auch immer so neugierig auf alle Fremden zuläuft. Immer hoffte er, dass sie ein Geschenk für ihn haben.

Assoud geht um den Wagen herum. Er öffnet Azmera die Tür und flüstert ihr mit gedämpfter Stimme zu: »Es gibt dort eine Toilette, weißt du, im Hinterhof. Rede nicht mit den Männern, frag die Frauen.«

Azmera atmet erleichtert auf. Sie spürt ein Brennen in ihrem Unterleib, weil sie schon so lange auf die Toilette muss. Verstohlen prüft sie, ob ihre Gürteltasche noch fest auf dem Bauch sitzt. Dann steigt sie aus, ganz steifbeinig vom langen, angespannten Sitzen. Als sie auf die hellblaue Holztür blickt, spürt sie plötzlich einen fast unbeherrschbaren Druck auf ihrer Blase. »Kann ich schon …?« Sie schaut Assoud fragend an. Er nickt.

»Sie wissen Bescheid, dass ich Gäste mitbringe«, sagt er, »geh ruhig schon rein.«

In dem Café, dessen Wände im selben Blau gestrichen sind wie die Eingangstür, ist es angenehm dämmrig und kühl. Stimmengemurmel, im Hintergrund die Rufe von Frauen, Lachen. An der Decke dreht sich träge ein Ventilator. Es gibt eine Sitzbank mit rot gemusterten Polstern, drei Holztische und Stühle. An einem der Tische spielen Männer Domino. Ihr Gespräch verstummt, als Azmera eintritt. Alle schauen sie an.

Azmera senkt den Kopf und durchquert hastig den Raum. Sie gelangt in einen Flur, in dem es noch dunkler ist. Küchendämpfe stehen in der Luft. Es riecht nach einem Hammelgericht. Sie folgt den weiblichen Stimmen und steht plötzlich in der Küche. An einem Tisch schälen zwei Frauen Yamswurzeln.

»Salam alaikum«, sagt Azmera, weil die Frauen sie noch gar nicht bemerkt haben.

Jetzt schauen sie auf und eine der Frauen lässt vor Schreck ihr Messer fallen. »Ich hab dich gar nicht kommen hören«, ruft sie.

»Ich bin mit dem Bus gekommen«, sagt Azmera, »mit Assoud.«

»Ah«, ruft eine Frau lachend, »Assoud ist wieder da. Wie schön!«

»Darf ich die Toilette benutzen?«, fragt Azmera.

Die Frau nickt, wischt ihre Hände am Rock ab und streckt sie Azmera entgegen. »Komm, ich zeig es dir. Wie heißt du? Woher kommst du? Wo fahrt ihr hin?«

Bevor Azmera auf alle Fragen antworten kann, steht sie schon vor einer mit Sackleinen abgetrennten Kammer. Die Frau deutet auf den Vorhang. »Da ist das Klo. Spülen kannst du mit dem Wasser aus dem Eimer da, aber sei sparsam.«

»Und wo kann ich mir hinterher die Hände waschen?«

»Komm dann in die Küche«, sagt die Frau, »ich zeig es dir.«

Die Toilette ist ein einfaches Brett, in das jemand ein Loch gesägt hat. Azmera versucht wegen des Gestanks, so leicht wie möglich zu atmen, aber trotzdem ist sie glücklich. Endlich ist sie einen Augenblick für sich. Ganz allein, unbeobachtet. Sie schließt die Augen. Das Brennen in ihrer Blase lässt nach. Auf dem Blechdach über dem Klo zanken sich zwei Katzen. Dann hört sie schlurfende Schritte und ein Räuspern. Hastig zieht sie ihren Slip wieder hoch. Gießt etwas von dem Wasser aus dem Eimer in das Loch und schließt es mit einem Blechdeckel, der aussieht, als habe er mal zu einem Kochtopf gehört.

Schon als sie vorsichtig den Sackvorhang beiseiteschiebt, ist das Brennen in ihrem Unterleib wieder da, doch Azmera beißt die Zähne zusammen.

Vor dem Vorhang steht ein alter Mann schwer auf seinen Krückstock gestützt. Seine Augen sind milchig gelb. Wahrscheinlich ist er blind.

Azmera grüßt und schiebt sich an ihm vorbei, bevor er die Hand nach ihr ausstrecken kann. Er ruft ihr etwas nach, aber sie hört nicht hin. Bei den Frauen in der Küche wäscht sie sich in einer Schüssel die Hände. Eine der Frauen reicht ihr ein Stück Seife, das nach Sandelholz duftet.

»Assoud und die Männer haben etwas zu essen bestellt. Hast du auch Hunger? Es gibt gebratene Hühnerbeine und Reis. Aber das dauert noch ein bisschen. Wir haben den Reis gerade erst aufgesetzt.«