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Prolog

Sie hatten sich mit Bedacht an diesem Tag verabredet. Obwohl das Haus einsam stand und niemand in der Nähe war, begrüßten sie sich wie immer nur wortlos, als ob das ganze Dorf zuhören würde. Meist liebten sie sich erst schweigend, bevor sie leise zu reden begannen, immer in der absurden Angst, jemand könne sie belauschen und ihr Geheimnis lüften. Die Farben, mit denen das Feuerwerk an diesem Abend den Himmel bemalt hatte, spiegelten sich auf ihrer Haut wider. Sie hatte in diesem Licht viel jünger ausgesehen, als sie war, und er hatte sich über ihre schnell wechselnde bunte Bemalung amüsiert.

Nachdem sie ihn verabschiedet hatte, ging sie in ihr Badezimmer, zog sich aus, stellte die Dusche an und stieg unter den warmen Strahl. Sie glaubte, als sie sich abseifte, immer noch die Hände des Mannes auf ihrem Körper zu spüren. Er war wieder sehr liebevoll gewesen, sie hatte es genossen, und das warme Wasser schien seine Liebkosungen zu wiederholen und zu verstärken. Sie duschte ausgiebig, erst das langsam kälter werdende Wasser trieb sie aus der Dusche. Sie griff tropfnass nach ihrem Handtuch und stutzte.

Sie überlegte kurz, ob das Geräusch an der Tür ihr bedrohlich vorkommen müsse. Sie hielt sich sechs oder sieben Katzen, die ihr halfen, die Ratten und Mäuse im Zaum zu halten. Wenn die Katzen ins Haus wollten, machten sie sich an den Türen mit leichtem Kratzen bemerkbar. Sie entschied, sich das wohlige Gefühl der Befriedigung, das den ganzen Abend durchzogen hatte, nicht verderben zu lassen durch ein paar scharrende Katzen. Sie öffnete die Badezimmertür und versuchte, die Katzen mit einem lauten Zischen zu vertreiben. Das Geräusch war augenblicklich verschwunden, und erleichtert putzte sich Else Weber die Zähne, strich mit der Haarbürste einmal nachlässig durch ihr Haar und zog ihr Nachthemd an.

Sie verließ das Badezimmer und sah erstaunt auf die gegenüberliegende Tür, die von der Wohnung in den ehemaligen Stalltrakt des alten Bauernhauses führte. Sie presste die Lippen zusammen, so wie sie es immer machte, wenn sie plötzlich Angst verspürte. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Else Weber wunderte sich, denn sie konnte sich nicht erinnern, sie geöffnet zu haben. Im Gegenteil, sie war sich sicher, dass diese Tür geschlossen war, als sie ins Badezimmer gegangen war.

Die Angst ist wie eine Spinne, die in der dunklen Ecke auf ihr Opfer wartet, dachte sie und beschloss, ihr nicht ins Netz zu gehen. Dabei hätte sie allen Grund gehabt für eine ängstliche Reaktion. Sie war geschlagen, gedemütigt und bedroht worden auf eine Art, wie sie es sich nie hätte vorstellen können. Dann kam vor zwei Wochen dieser Brief, in dem sie beschimpft und ihr mit Vergeltung gedroht worden war. Sie hatte sich lange gefragt, wer was vergelten wolle, aber nie eine Antwort darauf gefunden. Aber nun schien dieser Spuk aus ihrem Leben verschwunden zu sein, und sie beschloss, mit forschem Auftreten die Angst aus dem Hause zu jagen. Sie ging mit festem Schritt zu der Tür und wollte sie schließen. Sie erschrak heftig, als ein dicker Kater an ihr vorbei in die Wohnung schoss.

„Komm“, lockte Else Weber ihn erleichtert, als der Schreck nachgelassen hatte. Sie drehte sich um, hatte die offene Tür im Rücken und lockte das fauchende Tier weiter zu sich her.

Als sich der Arm mit großer Gewalt um sie schlang, hatte sie noch nicht einmal Zeit zu schreien. Das Messer fuhr ihr rasend schnell durch den Hals und trennte mit einem Schnitt für immer das Leben aus ihr. Ihr Blut verließ den Körper stoßweise, verebbte schnell. Als der Arm sie losließ, sank ihr lebloser Körper zu Boden.

Das blutige Nachthemd wurde ihr hastig heruntergerissen, ihr nackter und blutiger Leichnam auf eine Schubkarre gelegt und zu einem Graben gefahren. Dort kippte die Karre um. Es war kaum etwas zu hören, als der Körper die Uferböschung hinunter ins Wasser rutschte. Wie plötzlich ist Babel zerschmettert, dachte die in eine gelbe Regenjacke gehüllte Gestalt, die sich die Kapuze so über den Kopf gezogen hatte, dass man aus der Ferne nicht hätte erkennen können, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Sie warf nur einen kurzen Blick in den Graben, nahm die Schubkarre und ging zum Haus zurück. Die Karre wurde achtlos in eine Ecke des Hofes gestellt. Mit gesenktem Kopf ging die Gestalt über den großen Vorplatz und wollte die Haustür schließen, damit die Tat möglichst lange unentdeckt bliebe. Sie stand schon vor dem Haus, die Hand ausgestreckt, die Türklinke zu ergreifen, als sie sich anders entschied. Sie entschloss sich, durch das Haus zu gehen – mit offenen Augen. Sie trat ein, achtete darauf, dass ihre Gummistiefel nicht in die riesige Blutlache traten, die sich vor der Tür ausgebreitet hatte.

Von der Regenjacke tropfte Wasser auf den Fußboden im Schlafzimmer, als sie das Licht anmachte. Sie sah sich um und trat an den kleinen Schreibtisch. Sie hatte keine Angst, entdeckt zu werden, um diese Nachtzeit kam zu der Bewohnerin des Hauses sicher kein Besuch mehr. Etwas Unbestimmtes in diesem Raum hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Als sie näher trat, wusste sie, was es war. Auf der ledernen Schreibunterlage lag ein kleines Buch, fast nur ein Heft. Sie blätterte darin und erkannte sofort, welchen Schatz sie damit gehoben hatte. Präzise standen Namen und Daten nebeneinander. Alle Besuche der letzten Jahre waren darin notiert. Als es umgedreht wurde, fiel ein Brief aus den Seiten. Sie hob den Umschlag auf, nahm das Buch an sich und verließ das Haus. Aus Else Webers Haus wurde sonst nichts entwendet, alles blieb unversehrt. Selbst das Geld, das offen auf dem Schreibtisch lag, wurde nicht gestohlen. Dass etwas fehlte, wurde erst nach vielen Wochen klar.

1

Wollen wir?“, fragte Zannmann müde. Seine Zigarette sprang dabei zwischen den Lippen auf und ab. Hans-Georg Allmers nickte und öffnete die Heckklappe des großen Viehanhängers. Er quetschte sich neben dem angebundenen Tier und der Wand nach vorne und löste den Strick. Es war eine Färse, ein junges weibliches Rind, das nicht tragend geworden war und deshalb geschlachtet werden sollte. Gemeinsam mit seiner Mutter hatte er das Tier am frühen Morgen von der Weide geholt und mit dem Trecker und Viehanhänger zu Schlachter Zannmann gefahren.

„Ich treibe es rückwärts“, rief er dem wartenden Zannmann zu, der das Tier mit handwerklichem Blick abschätzte.

Das aufgeregte Rind, das seit ein paar Stunden auf dem Hänger stand, schüttelte unruhig den Kopf, machte eine heftige Bewegung und riss mit einem Ruck den Strick, mit dem es festgebunden war, los. Vor dem verdutzten Allmers sprang es aus dem Viehanhänger auf den Hof.

„Ruhig, ganz ruhig“, versuchte der Schlachter das Tier mit sanfter, leiser Stimme zu beruhigen. Er bückte sich vorsichtig und bekam den Strick zu fassen, der vom Halfter des Tieres auf den Boden hing. Er machte einen behutsamen Schritt nach vorne, um den Strick durch den Eisenring, der an der Wand eingelassen war, zu ziehen. Hans-Georg Allmers kletterte vorsichtig aus dem Anhänger, um Zannmann zu Hilfe zu kommen.

Plötzlich drehte sich das Rind um und ging auf ihn los. Er konnte dem Tier gerade noch ausweichen. Zwischen seinem Kopf und den Hornspitzen war so wenig Platz, dass er den Luftzug im Gesicht spüren konnte, den der vorbeizischende Rinderschädel verursachte.

Verzweifelt versuchte der Schlachter, den Kopf des wütenden Tieres mit dem Strick nach unten zu ziehen, aber gegen die Kraft des wütend gewordenen Rindes hatte er keine Chance. Der Halfterstrick wurde ihm aus den Händen gerissen, als das Rind losgaloppierte. Zannmann sprang zur Seite, ließ das Tier an sich vorbei und sah mit Entsetzen, wie es zum Sprung über den Zaun ansetzte. Es rutschte aus, und als der Zaun unter ihm zerbarst, richtete es sich panisch auf und rannte ins Dorf. Zannmann und Allmers versuchten ihm den Weg abzuschneiden, aber der herabbaumelnde Strick an der Seite, auf den das Tier immer wieder trat, ließ es so konfus werden, dass sich die beiden mehr als einmal mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit bringen mussten. Schließlich wurde der Abstand zu dem Rind immer größer, und plötzlich war es wie vom Erdboden verschluckt. Allmers und Zannmann trennten sich und machten sich auf die Suche nach der Ausbrecherin.

Am Deich traf Allmers den nach Luft schnappenden Zannmann.

„Wo ist sie?“, fragte Allmers.

„Keine Ahnung“, erwiderte der Schlachter und drehte sich erschöpft eine Zigarette. „Im Dorf ist sie jedenfalls nicht.“

„Die ist wieder ins Dorf zurück, Charly“, sagte ein Radfahrer, der die beiden gesehen hatte.

„Unmöglich“, schüttelte Zannmann den Kopf. „Da komme ich gerade her.“

Am Anleger der Fähre fanden sie schließlich das Tier wieder. Es schwamm durch den Fluss und war gerade in der Mitte angekommen. Der Fluss war an dieser Stelle breit und flach, aber die Strömung war stark. Als das Tier am anderen Ufer aus dem Wasser stieg, machte es einen sehr erschöpften Eindruck. Es stand mit zitternden Beinen an der Böschung und drehte sich misstrauisch um. Zannmann und Allmers sahen sprachlos über das Wasser. Erst als das Tier zu brüllen begann, fanden die beiden Zuschauer ihre Fassung wieder.

„Da müssen wir hin“, sagte Zannmann bestimmt und warf seinen Zigarettenstummel ins Wasser. „Ich nehme das Auto und du den Schlepper mit dem Viehanhänger.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis Allmers und der Schlachter zum Schlachthaus zurückgelaufen waren. Die Schlachterei lag am anderen Ende des verwinkelt gebauten Dorfes. Die Hauptstraße verlief in mehreren engen Windungen zwischen den niedrigen Fachwerkhäusern, aber Allmers hatte keinen Blick für die schönen Gebäude, als er, so schnell er konnte, durch den Ort rannte, dabei erstaunten Fußgängern ausweichen musste und einmal fast gegen ein parkendes Auto geprallt wäre. Er war viel schneller als Zannmann, der mit keuchendem Atem nach ihm an der Schlachterei ankam. Allmers startete den Trecker und fuhr über die nahe gelegene Brücke zum anderen Flussufer. Der Schlachter fuhr nur wenig später mit seinem Auto los und überholte ihn schon kurz nach dem Ortsausgang. Als Allmers die lange Chaussee herabfuhr, die zum Fähranleger führte, war Zannmann schon dort angekommen.

Die Färse erwartete sie. Sie hatte ihren Schwanz steil in die Luft gestellt und brüllte unablässig. Allmers wusste, was das bedeutete: Beim kleinsten Schreck würde das Tier von Neuem die Flucht ergreifen. Sie stand auf dem Flussdeich und spielte mit ihren Ohren, als Allmers und Zannmann sich leise unterhielten und beratschlagten, wie man am besten vorgehen könnte. Aber alle Vorsicht schien umsonst gewesen zu sein: Unvermittelt galoppierte das Rind los. Es durchbrach den Stacheldraht des Zauns, als ob er aus Blumendraht wäre, und lief auf dem Feldweg, der parallel zum Deich führte, den Fluss entlang. Zannmann rannte hinterher, aber damit trieb er das aufgeregte Tier nur vor sich her. Die Färse kletterte schließlich die Böschung hinauf. Als sie oben die Bundesstraße erreicht hatte, wurde es Allmers mulmig.

Zannmanns Frau war ihnen mit ihrem Auto gefolgt, sie hatte von der Brücke alles beobachtet und trieb das Tier zurück. Die Färse stolperte mehr, als sie lief, die Böschung wieder hinunter und lief in einen Maisacker. Sie durchbrach zwei weitere Zäune, sprang über einen Graben und blieb neben einer Pferdekoppel, auf der Stuten mit ihren Fohlen aufgeregt hin- und hertrabten, mit dampfendem Fell stehen.

Jetzt gaben die Verfolger auf. Durch jeden Schritt würden sie das Rind nur noch weiter weg treiben. Es ließ niemanden mehr als hundert Meter an sich herankommen.

„Die schießen wir ab“, bestimmte Allmers.

Zannmann nickte: „Wenn sie die Stuten mit den Fohlen verrückt macht, gibt’s kein Halten mehr. Die Pferde sind noch hundert Mal schlimmer, wenn sie in Panik geraten.“

Allmers sah auf die Uhr. „Halb eins. Hoffentlich ist der Tierarzt zu Hause.“

Zannmann runzelte fragend die Stirn: „Tierarzt?“

„Der soll sie mit dem Narkosegewehr abschießen.“

„Ach so!“, sagte Zannmann gedehnt.

Allmers lieh sich das Auto des Schlachters und fuhr ins Dorf zurück. Zannmann hielt unterdessen Wache. Aber der Tierarzt war unerreichbar.

Statt des Tierarztes kamen der Jagdpächter – ihm gehörten die Pferde – und die Polizei. Er hatte die Aufregung von seinem Hof aus beobachtet und den Beamten alarmiert, der mit seinem Streifenwagen hinter ihm her fuhr.

„Du musst sie erschießen lassen“, meinte Zannmann, nachdem Allmers zurückgekehrt war. „Wir können hier nicht stundenlang auf den Tierarzt warten.“

Der Jagdpächter stimmte zu: „Wenn die Stuten ausbrechen, wird’s richtig teuer.“

Allmers musste nur einen kurzen Moment überlegen. Er betrachtete verärgert das aufgeregte Tier, das erschöpft auf der anderen Weide stand und misstrauisch zu ihnen herüber sah. Dann willigte er ein. Der Jagdpächter sah fragend zu dem Polizisten. Als der zustimmend mit dem Kopf nickte, holte er sein Gewehr aus dem Kofferraum, lud es und sagte:

„Los geht’s.“

Der Schlachter, der Jäger, der Polizist und Allmers quetschten sich in den kleinen Geländewagen des Jagdpächters und fuhren langsam auf der gegenüberliegenden Weide bis auf die Höhe des erschöpften Tieres.

Der Jäger schüttelte den Kopf. „Ich darf von hier nicht schießen.“

Der Polizist verstand sofort: „Meinst du, du schießt Angina aus dem Bett?“ fragte er und lachte. „Beim Vögeln sterben ist vielleicht nicht der schlechteste Tod.“

„Schließlich ist es verboten, in die Richtung eines Hauses zu zielen“, erwiderte der Jäger unbeeindruckt von der Bemerkung. „Außer du erlaubst es.“

„Das geht klar“, sagte der Polizist nach kurzem Überlegen.

Der Jäger legte an, schoss und traf das Tier genau ins Herz. Das Rind wankte, knickte mit den Vorderbeinen ein, fiel zur Seite und versank in einem Graben. Allmers vergrub entgeistert das Gesicht in den Händen. Was heute schiefgehen kann, dachte er verzweifelt, geht schief.

Zannmann hatte als Erster die Fassung wiedergefunden, stürzte aus dem Auto und rannte mit erhobenem Messer über die Wiese.

Allmers sah, wie er in den Graben sprang, das Tier bei den Hörnern packte und den Kopf hochriss, um ihm die Kehle durchzuschneiden, damit es ausbluten konnte. Man sah nur seinen Oberkörper über den Grabenrand herausragen, er schien bis zu den Knien im Wasser zu stehen.

Da begann er unvermittelt zu schreien. Allmers sah den Schrei förmlich, bevor er ihn hören konnte, und er erinnerte sich noch Jahre später daran. Der Wind trieb den Schall in die entgegengesetzte Richtung. Er sah Zannmanns weit aufgerissene Augen, in denen das blanke Entsetzen zu erkennen war.

Allmers sprang aus dem Auto und rannte hinter dem Polizisten und dem Jäger zu dem immer noch schreienden Schlachter, der aus dem Graben kletterte und am ganzen Körper zitterte.

Als sie am Graben ankamen, sahen sie, was Zannmann so entsetzt hatte: Sie starrten auf eine klaffende, blutrote Wunde. Unter dem Rind, das im Graben lag, ragte die nackte Leiche einer Frau hervor. Ihr Hals bestand nur noch aus blutigem Fleisch.

Regungslos verharrten die vier Männer vor dem grausigen Anblick. Zannmann kämpfte mit einem Würgereiz und hielt sich die Hand vor den Mund. Aber er verlor diesen Kampf und musste sich auf der Wiese übergeben. In Wellen pumpte sein Magen das Entsetzen aus seinem Körper, bis der Schlachter schließlich zitternd ins Gras fiel. Er war völlig erschöpft, als er die anderen keuchend fragte: „Wer ist das?“

„Angina“, erwiderte der Polizist tonlos. „Ich glaube, es ist Angina.“ Er schlug die Hände vors Gesicht. „Regelrecht geschlachtet“, sagte er leise.

Fassungslos schüttelte der Schlachter den Kopf und flüsterte: „Ich kann kein Blut sehen“, und übergab sich wieder und wieder.

Ein Schlachter, der kein Blut sehen kann, dachte Allmers.

2

Wieso nannten sie alle Angina?“, fragte der Staatsanwalt. „Diesen Spitznamen hatte Else schon seit ihrer Kindheit“, erwiderte Allmers. Er wunderte sich, dass sein Bruder die Geschichte nicht kannte.

„Nun erzähl schon“, wurde er von Werner Allmers aufgefordert, der sich ächzend und übergewichtig in seinem Stuhl bewegte. „Ich muss alles über sie wissen. Vielleicht ist das kleinste Detail wichtig.“

„Leitest du die Ermittlungen?“, fragte Allmers erstaunt. „Ich dachte, das macht die Kriminalpolizei. Ich hatte erwartet, von irgendeinem Hauptkommissar oder Inspektor vernommen zu werden.“

„Das sind alles Pfeifen hier“, erwiderte der Staatsanwalt. „Ich habe mir vorgenommen, ein bisschen Schwung in den Laden zu bringen. Wenn ich nicht hinter allem her bin, läuft hier nichts.“

Allmers schüttelte erstaunt den Kopf: „Wie haben die nur die ganze Arbeit geschafft, als du noch nicht hier warst?“, meinte er trocken, aber sein Bruder überhörte die Ironie.

„Haben sie eben nicht. Ich hatte dir eine Frage gestellt“, sagte er tonlos.

Allmers begann zu erzählen:

„Anginas Mutter war die Tochter eines reichen Bauern. Sein Hof lag am Deich, kurz vor der Elbmündung. Dort gibt es einen besonderen Bauernschlag. Die Höfe sind alle riesig, und die Bauern stecken gerne ihre Daumen hinter die Hosenträger, wenn sie reden. Die Marschbauern sehen auf alle anderen herab, selbst heute noch, obwohl ihnen manche Moorbauern mit ihren Milchviehherden das Geldverdienen vormachen. Die Höfe wurden früher mit viel mehr Leuten als heute bewirtschaftet, trotzdem gab es im Sommer manchmal Zeiten, da konnte man gar nicht genug Helfer haben. Da luden einige Bauern auch mal die Verwandtschaft ein, in der Hoffnung, dass sie kräftig mithelfen würden. Sonst waren die Anverwandten nicht so gerne gesehen, aber wenn sie mithalfen. . . Anna, so hieß Anginas Mutter, war damals fünfzehn oder sechzehn, ich weiß es nicht genau. Der Hof ihrer Eltern war einer der größten in der Gegend. Man erzählt, dass achtspännig zum Pflügen gefahren wurde. In diesem Sommer sollen unheimlich viele Helfer auf dem Hof herumgeschwirrt sein, darunter auch ihr Vetter, ein Junge vielleicht von siebzehn oder achtzehn.“

Er nahm seine Brille ab und putzte sie langsam, um seinen Bruder etwas auf die Folter zu spannen. Erfreut bemerkte er, dass sein Bruder ungeduldig wurde:

„Mach schon, Hans-Georg!“

Allmers setzte die Brille umständlich auf und fuhr fort: „Das Wetter war wohl nicht gut, und Anna bekam Halsschmerzen. Eine richtige, ausgewachsene Angina. Warum ihr lieber Vetter auch eine bekam, kann man nur vermuten. Da die Mutter eine praktische Frau war und viel zu arbeiten hatte, wollte sie es sich etwas einfacher machen mit der Pflege der beiden Kranken. Sie räumte das Elternschlafzimmer und steckte die beiden ins Ehebett. Schließlich kannten sie sich schon von Kindesbeinen an. Damit aber nichts passierte, stellten sie in die Besucherritze des Bettes eine Tür, die sie irgendwo ausgehängt hatten.“

„Und neun Monate später“, der Staatsanwalt fing an zu lachen, „kam Angina zur Welt. Sehr witzig. Stimmt die Geschichte?“

„Ich glaube schon“, erwiderte Allmers, „jedenfalls wird es so erzählt.“ „Das ist lange her“, meinte Allmers’ Bruder nachdenklich. Dieser Fall war sein erster als verantwortlicher Staatsanwalt, und er hatte sich vorgenommen, die Aufklärung nicht nur der Kriminalpolizei zu überlassen. Es hatte ihn große Mühe gekostet, sich versetzen zu lassen. Nach seinem Studium und seiner Referendariatszeit hatte er lange geschwankt, sich als Anwalt oder Notar niederzulassen, aber die Segnungen des Beamtenstatus wollte er nicht missen. So ging er in den öffentlichen Dienst und bewarb sich schließlich als Staatsanwalt. Nach längerer Wartezeit bekam er diese Stelle. Und er wollte gleich beim ersten Mal zeigen, dass er sie zu Recht bekommen hatte.

„Sechsundvierzig Jahre“, sagte Allmers. „Sie war gar nicht so alt.“

„Die Bauern haben sich sicher nicht daran gestört.“

Allmers wurde rot, aber sein Bruder bemerkte es nicht.

„Was passiert jetzt?“, fragte Allmers und sah in das dicke Gesicht seines Bruders.

„Wie meinst du das?“

„Ich meine, mit ihr, mit der Leiche.“

„Zuerst wird sie obduziert, das ist obligatorisch. Der Todeszeitpunkt muss festgestellt werden, dann sind wir schon ein gutes Stück weiter. Hatte sie Verwandte?“

„Sie ist verwitwet. Ihre Eltern leben nicht mehr, soviel ich weiß. Sie hat noch eine Schwester, die ein paar Jahre später geboren wurde und irgendwo verheiratet ist. Ich kenn sie nicht. Dann gibt es noch eine Cousine. Aber die beiden haben kein Wort miteinander geredet, obwohl sie im selben Dorf wohnten. Fräulein Eckhoff, du kennst sie sicher. Sie arbeitet bei Wohlers, dem Landhändler.“

„Wenn die Mutter sechzehn oder siebzehn war, als sie zur Welt kam“, rechnete der Staatsanwalt nach, „dann wäre sie Anfang sechzig. Da ist man noch nicht automatisch tot!“

„Automatisch nicht“, meinte Allmers, „aber manchmal eben doch.“

„Dass Else Weber die Dorfhure war, wissen doch alle. Seit unserer Kindheit wurde darüber gemunkelt, dass sich alle Bauern in ihr Häuschen schleichen. Angeblich soll es einen Trampelpfad durch die Birken geben, die neben ihrem Haus stehen. Verstehst du? Also hat hier jeder Bauer ein Motiv. Und jede Ehefrau auch. Die Bauern, weil sie vielleicht aus Angst vor ihren Frauen etwas vertuschen mussten, die Frauen aus Eifersucht.“

„Das mit der Dorfhure stimmt so nicht“, sagte Allmers. „Sie war keine Hure. Sie konnte gut zuhören. Dass sie mit dem einen oder anderen ins Bett gegangen ist, kann man ihr als alleinstehender Frau doch nicht verbieten, oder? Geld hat sie nie dafür genommen.“

„Du bist ja gut informiert“, stellte der Staatsanwalt fest. Allmers wurde wieder rot bis unter die Haarspitzen. Diesmal blieb es nicht unbemerkt. Aber sein Bruder ging darüber hinweg.

„Wenn ich es mir genau überlege“, fuhr der Staatsanwalt fort, „kommt eine Frau als Täterin nicht infrage. Obwohl: Sie wurde nicht vergewaltigt, und wir haben auch keinerlei Misshandlungen feststellen können, was für eine Frau sprechen könnte. Aber Frauen vergiften ihre Opfer. Der Schnitt an der Kehle dieses Opfers war mit großer Kraft ausgeführt, genau und zielgerichtet. Der Mord wurde kühl und überlegt durchgezogen. Eher untypisch für eine weibliche Täterin.“

Weibliche Täterin, dachte Allmers. Weibliche Täterin. Sein Bruder hatte ihn schon als Kind mit seinen Ausdrücken genervt, die Überlegenheit ausdrücken sollten, oft aber peinlich daneben gerieten. Außerdem nervte ihn die Ansammlung von Klischees im Frauenbild seines Bruders.

„Und wenn es ein Einbrecher war?“, fragte Allmers mehr rhetorisch. „Jemand, den sie überrascht hat, als er eingestiegen ist?“

„Auf keinen Fall! Ein Einbrecher hätte sich niemals die Mühe gemacht, die Leiche so weit zu transportieren. Der wäre in Panik davongelaufen.“

„Brauchst du mich noch?“ fragte Hans-Georg unvermittelt und stand auf. Sein Bruder hatte ihn in sein Büro gebeten, um ihn zu befragen. Am selben Abend wollte er noch nach Hause auf den Hof kommen, aber da Allmers nun mal ein Zeuge sei, müsse er ihn auch in seinem Büro vernehmen. Er wolle Privates nicht mit Dienstlichem mischen. So hatte er es ihm jedenfalls erklärt, als er ihn zu sich ins Justizgebäude der Kreisstadt zitierte.

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf. „Danke, fürs Erste nicht. Sag Mutter schöne Grüße.“

Allmers schloss die Tür des Büros hinter sich und betrachtete das Namensschild. „Werner Allmers. Staatsanwalt“ stand da, und er wusste, wie stolz sein Bruder auf dieses Plastikding war.

Werner war der Ältere von ihnen und immer das Vorbild. Zunächst war er es tatsächlich für den kleinen Bruder, und dann, als die Schule Hans-Georg nicht mehr interessierte, wurde er ihm immer als Vorbild vorgehalten. Werner schaffte jede Klasse mit Leichtigkeit, wechselte von der Realschule aufs Gymnasium und studierte.

Er dagegen hatte große Mühe mit dem Realschulabschluss gehabt, und es dauerte dann sehr lange, bis er sich entschloss, eine Ausbildung zu machen. Es lag nahe, sich für die Landwirtschaft zu entscheiden, wo er selbst von einem Hof stammte. Aber ihm war schnell klar geworden, dass die paar Hektar, die seine Eltern bewirtschafteten, fürs Leben nicht ausreichten. Die Stelle als Milchkontrolleur, die damals gerade frei wurde, erschien ihm als der Rettungsanker. Es war keine aufreibende Arbeit, sie ließ ihm ausreichend Zeit für seine anderen Interessen. Die kleine Landwirtschaft war vor allem im Sommer nicht anstrengend. Außerdem konnte er viel schlafen, niemand störte ihn bei seinem ausgiebigen Mittagsschlaf, den er meist auf dem Sofa im Wohnzimmer hielt. Schon in der Schule konnte er manchmal gegen Mittag kaum die Augen offen halten, das Bedürfnis, unbedingt ein Nickerchen machen zu müssen, hier und auf der Stelle, brachte ihm von seinem Bruder, der ein paar Klassen über ihm war, und von seinen Mitschülern immer wieder Hohn und Spott ein.

So war auch das frühe Aufstehen das, was ihn am meisten an der Arbeit störte. Aber die meisten Bauern molken morgens schon um sechs Uhr, und er durfte sich nicht verspäten. Trotzdem gefiel ihm dieser Beruf. Man musste sich dabei kein Bein ausreißen und war immer auf dem Laufenden. Auf dem eigenen Hof waren die Milchkühe schon lange abgeschafft, jetzt hielten sie nur noch einige Mutterkühe, die nicht mehr gemolken werden mussten. Ab und zu schlachteten sie ein Rind oder eine Kuh und verkauften das Fleisch an Bekannte. Ein paar Kaninchen hatte Allmers noch. Blaue Wiener. Es waren große Tiere mit einem seidenweichen Fell, dem auch nach der Gerbung die Haare nicht ausfielen.

„Hans-Georg!“ Durch die Tür hörte er seinen Bruder rufen. Er seufzte und ging los. Vielleicht, so dachte er, könne er sich leise davonschleichen. Eine junge Frau kam ihm im langen Flur des alten Justizgebäudes entgegen. Sie war, so schätzte er, Anfang zwanzig, klein und mit einer rundlichen Figur. Der Rock, den sie trug, war zu knapp für ihre Schenkel. Sie gefiel ihm, sie hatte einen freundlichen Blick, mit dem sie die Türen des Ganges interessiert musterte.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Allmers tat, als kenne er sich in diesem Gerichtslabyrinth aus, um sie ansprechen zu können.

„Ich suche Staatsanwalt Allmers“, lächelte sie ihn an. Allmers bekam Herzklopfen. „Die nächste Tür“, stotterte er.

„Hans-Georg!“ Nun hatte Werner Allmers die Tür aufgerissen.

Hans-Georg drehte sich um. „Ja?“, sagte er gedehnt.

„Kommst du bitte noch einmal rein?“

„Eigentlich wollte ich in die Stadt“, antwortete Allmers, „ich habe noch ein paar Sachen zu erledigen. Außerdem bekommst du Besuch.“ Er zeigte mit dem Kopf auf seine Gesprächspartnerin, die wartend hinter ihm stand.

Werner Allmers hob fragend die Augenbrauen: „Ja, bitte?“

„Ich bin Susanne Hansen vom Tageblatt“, begann sie und die Miene des Staatsanwaltes hellte sich auf. „Ich habe ein paar Fragen wegen des Mordfalles. Könnte ich Sie sprechen?“ „Ja, natürlich.“ Der Staatsanwalt war sichtlich guter Laune. Ein Interview mit der Zeitung ließ seine Arbeit in bedeutendem Licht erscheinen, fand er. „Ich bin sofort so weit. Ich habe nur noch einen Vernehmungstermin. Wenn Sie einen Moment warten wollen?“ Damit schob er seinen Bruder in sein Büro.

„Vernehmungstermin? Bist du übergeschnappt?“, fragte Hans-Georg erbost, als die Tür geschlossen war.

„Reg dich nicht auf. Nur so eine Floskel“, beruhigte er ihn. „Du kennst doch alle Bauern in der Gegend?“ Hans-Georg Allmers nickte: „Du doch auch.“ „Ja, aber du kennst sie besser. Du kommst doch jeden Tag auf einen der Höfe.“

Hans-Georg Allmers verstand seinen Bruder sofort: „Ich bin weder Polizist noch Privatdetektiv. Ich bin Milchkontrolleur, sonst nichts.“

„Sonst nichts“, nickte der Staatsanwalt, und Allmers ärgerte sich. Er wusste nur zu genau, wie sehr sein Bruder auf ihn herabsah, wenn es um seinen Beruf ging.

„Spaß beiseite“, fuhr Werner Allmers ungerührt fort, „ich meine, du könntest doch wenigstens deine Augen und Ohren offen halten. Vielleicht erfährst du nebenbei irgendetwas. Du prahlst doch immer damit, dass du alles erfahren würdest.“

Allmers schwieg. Das Verhältnis zu seinem Bruder war nicht so, dass er ihm gerne jeden Wunsch erfüllte. Aber es war tatsächlich so, dass man bei der Milchkontrolle fast alles erfuhr. Die meisten Bauern waren gesprächig. Nicht immer, aber meist erfuhr Allmers im Laufe des Monats die wichtigsten Dinge, die sich in seinem Dorf abgespielt hatten.

„Mir zuliebe“, bat ihn der Staatsanwalt eindringlich.

„Ich kann’s ja mal versuchen. Aber versprich dir nicht zu viel davon.“ Allmers wollte so schnell wie möglich das Büro verlassen.

„Ich wusste, dass du mir helfen würdest“, freute sich sein Bruder und hielt ihm die Tür auf. „Bis heute Abend!“

Allmers verließ das Büro. Susanne Hansen strahlte ihn an, als er vor die Tür trat. Sie hatte sich erhoben und schob sich an ihm vorbei. Er spürte ihren Geruch in seiner Nase und beschloss, ihn als einzige gute Erinnerung an diesen Tag im Gedächtnis zu behalten.

3

Gegenüber dem Justizgebäude stand eine alte Backsteinkirche, die mit ihrer imposanten Wucht das Justizgebäude zu erdrücken schien. Der riesige viereckige Turm war auf sandigem und nassem Untergrund errichtet worden. Die alten Baumeister hatten vor fast tausend Jahren nicht die stete Kraft des Wassers einberechnet, das die Fundamente der Kirche unterhöhlte. So begann sich der Turm nach ein paar Jahrhunderten zu neigen. Spötter meinten voraussagen zu können, dass die Kraft des Christentums selbst im Fallen noch ausreichen würde, Justitia mit ins Grab zu nehmen. Wenn sich der Turm, wie vorausgesagt, in das Justizgebäude bohren würde. Allmers dachte über die Geschichte nach, als er sich auf eine Bank setzte, die im Schatten der Kirche unter Bäumen stand.

Er war unschlüssig, ob er die Journalistin wiedersehen wollte, außerdem war es kurz nach Mittag, eigentlich hatte er für diesen Abend eine Milchkontrolle verabredet. Allmers dachte an die selbst gewählten Orakel, mit denen er sich als Kind Entscheidungen abnehmen ließ, anstatt sie selbst fällen zu müssen. Wenn in den nächsten zwei Minuten ein Fahrradfahrer mit Sonnenbrille vorbeikommt, dann … Oder: Wenn ich die Augen schließe und sie wieder öffne und ich dann kein Auto sehe, dann …

Allmers grübelte über das Orakel, ihm fiel aber kein geeignetes ein. Er überlegte, ob er ein Orakel brauchte, um sich zu entscheiden, ein Orakel zu stellen, als sie aus dem Gebäude kam. Sie entdeckte ihn sofort und winkte ihm zu. Allmers wurde rot. Er stand unschlüssig auf, verlegen, weil er nicht wusste, was er sagen sollte.

„Ich hatte gehofft, Sie würden auf mich warten.“ Die Journalistin begann sofort zu reden, als Sie sich gegenüberstanden. Sie schien nervös zu sein. „Kann ich Sie sprechen? Sie sind doch vernommen worden, Sie haben doch sicher etwas damit zu tun?“

„Womit?“, fragte Allmers verwirrt.

„Mit dem Mordfall Else Weber.“

Allmers nickte, sagte aber nichts.

„Wollen wir einen Kaffee zusammen trinken?“, schlug sie vor.

Wieder nickte Allmers: „In der Eisdiele ist der Cappuccino besonders gut.“

Sie ließen die Kirche hinter sich, durchquerten eine kleine, von hohen Fachwerkhäusern gesäumte Straße und traten auf den freien Marktplatz der kleinen Kreisstadt. Susanne Hansen erzählte während des Weges, dass sie selten einen eingebildeteren Menschen kennengelernt habe als diesen Kerl, den sie gerade interviewt hatte. Er habe die ganze Zeit nur von sich selbst erzählt und mit hohlem Pathos berichtet, wie toll er alles im Griff habe.

Als sie die Eisdiele betraten, ließ er ihr den Vortritt und musste grinsen, als sie vor ihm das Lokal betrat. Ihr Rock war viel zu eng, der Knopf, der über dem Gesäß den Rock hielt, war kurz davor, abzuspringen.

„Zwei Cappuccino“, bestellte Allmers, als sie am Tresen vorbeigingen. Er versuchte den routinierten Begleiter zu spielen. Es gelang ihm gut, fand er.

„Cappuccino war doch richtig, oder?“ fragte er Susanne Hansen.

Sie nickte. „Ich muss etwas dazu essen.“ Sie nahm sich die Speisekarte und studierte sie ausgiebig. Schließlich rief sie zur Theke: „Zwei Coppa speciale.“

Sie lachte: „War doch richtig, oder?“

Er sah sie verwundert an und überlegte, ob er ihr gewachsen war.

Sie tat so, glaubte Allmers, als ob sie seine Unsicherheit nicht zu bemerken schien, und forderte ihn auf: „Jetzt erzählen Sie!“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war dabei, als die Leiche gefunden wurde.“

Die Journalistin bekam große Augen und strahlte. „Das ist super!“, rief sie. „Darf ich das Band laufen lassen?“ Sie kramte aus ihrer Tasche ein kleines Tonbandgerät und begann, an den Knöpfen und Schaltern zu drehen. Es gelang ihr nicht, das Gerät in Gang zu setzen. „Ich habe noch nicht so viel Erfahrung mit so einem Ding“, entschuldigte sie sich und bemühte sich weiter, mit der Technik des Gerätes klarzukommen. „Scheiße“, sagte sie plötzlich und haute mit der flachen Hand auf das Gerät. „So ein Kasten ist nichts für mich.“

Allmers sah ihr zu, und plötzlich fiel ihm die Milchkontrolle wieder ein.

„Haben Sie ein Handy?“, fragte er. Susanne Hansen nickte. Sie holte das kleine Telefon aus ihrer Tasche und überreichte es Allmers.

Allmers wusste die Nummer von Ernst Poppe auswendig. Während er auf das Freizeichen wartete, wurde das Eis serviert. Sie stürzte sich heißhungrig darauf. Allmers hatte einen Löffel Eis im Mund, als das Gespräch zustande kam. „Ernst?“ schlürfte er. „Hier ist Hans-Georg. Ich kann heute Abend nicht kommen. Ich bin auf der Autobahn zwischen Bremen und Hamburg. Ich hab eine Reifenpanne. Von wo ich telefoniere? Von einer Raststätte. Man kann sein eigenes Wort kaum verstehen, so ein Trubel ist hier. Morgen? Nein. Morgen bin ich bei Hella. Übermorgen? Ja, das geht. Halb fünf?“ Er schaltete das Handy ab.

„Haben Sie das etwa aufgenommen?“, fragte er mit Blick auf das Tonbandgerät.

„Möglich, jetzt läuft es wenigstens. Lügen Sie immer so bewundernswert?“, fragte sie. „Und dann noch mit einem Mund voller Eis. Wem haben Sie denn was abgesagt?“

„Ich bin Milchkontrolleur und habe keine Lust, heute Abend zu arbeiten. Wollen Sie noch ein Eis?“

„Nein danke“, sagte sie. „Aber Sie müssen sich beeilen. Sonst wird Ihr Eis kalt.“

Allmers sah sie erstaunt an, und als sie herzhaft über ihren Witz zu lachen begann, wusste er, dass es nicht mehr lange dauern würde, und er war ihr verfallen. Frauen mit Witz waren ihm in seinem Leben zu selten begegnet.

„Sie kontrollieren Milch? Wo denn?“, fragte sie, als sie schließlich aufgehört hatte zu lachen.

Allmers überlegte einen Moment, wie er ihr seinen Beruf erklären könnte, und sah ihr dabei ins Gesicht. Susanne Hansen erwiderte seinen Blick und wartete auf seine Antwort.

„Ich kontrolliere die Milchleistung bei Kühen.“

Die Journalistin sah ihn erstaunt an: „Was es alles gibt! Erklären sie doch mal!“

„Interessiert Sie das wirklich?“, fragte er verständnislos.

Sie nickte heftig und zog einen kleinen Block aus der Tasche.

„Es ist keine schwere Arbeit“, begann Allmers entschuldigend. „Die Bauern wollen gerne wissen, wie viel Milch ihre Kühe geben, damit sie wissen, welches der Tiere sie zur Zucht verwenden können.“

Die Journalistin schrieb mit, und Allmers wunderte sich, nach welchem System sie den Block vollkritzelte. Er hatte vor ein paar Jahren schon einmal ein Gespräch mit einem Journalisten geführt – damals ging es um einen siegreichen Rammler aus seiner Kaninchenzucht – und sich seinerzeit auch darüber gewundert.

„Und wie machen Sie das?“, fragte die Frau, ohne den Blick zu heben.