Im Alter von vierzehn Jahren flieht ein Junge aus dem süddeutschen Dorf Heiligsheim. Vierzig Jahre später kehrt er als Ludwig »Luggi« Dragomir zurück: Alkohol, Drogen und alle gegen sich und die anderen ausgefochtenen Kriege in Berlin verhinderten nicht das ständige Nacherleben des Missbrauchs seiner Spielkameraden und seiner selbst durch die Honoratioren von Heiligsheim. Die Schuldgefühle, diese Jungen nicht beschützt zu haben, treiben ihn an: »Je mehr Zeit ich im Dorf verbrachte, desto mehr Kinder kamen zurück und scharten sich in meinem Kopf ums schwarze Brot der Erinnerung.«

Seit seiner Anwesenheit verschwinden gleich mehrere ältere Herren, einige werden tot aufgefunden – ob durch Unfall oder Mord, das versucht Kommissarin Anna Darko herauszufinden. Dabei gerät auch Ludwig ins Visier, da er ein Verhältnis hat mit der Ehefrau eines der Vermissten, den er als Gefangenen im eigenen Haus malträtiert. Denn in Ludwig Dragomir hatte Wut die Oberhand erlangt, und nun »durfte sie brennen«: »Da stand ich, am Rand der Nacht, zum Morden geboren, zum Sterben bereit und starb nicht und mordete noch lang nicht genug.«

Wie aus Opfern Täter werden, in welcher Weise dieser unaufhaltsame, alle Grenzen der Grausamkeit sprengende Prozess abläuft – dies erzählt Friedrich Ani, der Meister des Noir, einfühlsam, überraschend und bis ins kleinste Detail und auf eine Weise, die ihresgleichen nicht hat.

Friedrich Ani, geboren 1959, lebt in München. Er schreibt Romane, Gedichte, Jugendbücher, Hörspiele und Drehbücher. Sein Werk wurde mehrfach übersetzt und vielfach prämiert, u.a. mit dem Deutschen Krimi Preis, dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis. Sein erster Roman im Suhrkamp Verlag, Der namenlose Tag, wurde mit dem Deutschen Krimi Preis und dem Stuttgarter Krimipreis ausgezeichnet und belegte Platz 1 der Zeit-Krimi-Bestenliste.

FRIEDRICH ANI

NACKTER MANN,
DER BRENNT

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlagfoto: James Wragg / Trevillion Images

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

eISBN 978-3-518-74798-8

www.suhrkamp.de

1

Gelobt sei Jesus Christus, dachte ich, bekreuzigte mich und öffnete die Tür zur Abstellkammer, in der mein Gast geduldig seine Angst ausbrütete. Er starrte mich an, und ich schloss die Tür wieder. Der Tag versprach mir zu gefallen.

Als ich das Haus verließ, läuteten – zu Ehren des verstorbenen Apothekers Eduard Rupp – die Glocken der SanktMichael-Kirche. Das bedeutete, ich hatte mich verspätet. Niemand im Dorf erwartete mich bei der Zeremonie, aber wegen der alten Zeiten und der Sache im Wald fühlte ich mich verpflichtet hinzugehen.

Ich hatte meinen einzigen schwarzen Anzug und ein dunkles Hemd angezogen und eine schmale schwarze Krawatte umgebunden. Ich schaute in den Spiegel und kam mir vor wie ein Rockstar der sechziger Jahre. In einem Anfall kindischen Übermuts lief ich ins Wohnzimmer und holte meine marode Fender. Ich hängte mir die Gitarre um, posierte vor dem Spiegel, schlug mit dem Zeigefinger auf die Saiten, minutenlang, E-Dur, G-Dur, D-Dur, F-Dur – als probte ich einen Song, strumpfsockig, stumpfsinnig, stumm und mit verzerrtem Gesicht. Einer meiner Anfälle von gut geübter Lächerlichkeit.

Tatsächlich hatte Regina mich gefragt, ob ich nicht ein Stück auf der Beerdigung spielen wolle. Ich zierte mich eine Weile, um glaubwürdiger zu erscheinen. Dann verneinte ich und erklärte, der Respekt vor den Toten verbiete dilettantisches Klampfen am offenen Grab. Vermutlich war Regina die Einzige, die mich in der Kirche vermisste.

Den Kopf gesenkt, die Hände vor dem Bauch gefaltet, schloss ich mich der Trauergemeinde beim Verlassen des Gotteshauses an, nachdem ich eine halbe Stunde durch die Gräberreihen geschlendert war, in Erinnerungen schwelgend.

Von all den Gesichtern, dem Gebrüll der Stimmen, den Ausdünstungen der Körper, den peitschenden Händen und zutretenden Füßen, den triefenden Augen und sabbernden Mündern waren nur noch Namen übrig, teilweise verwaschen und verblasst, auf einem grauen, schwarzen, weißen oder braunen Stein, durchweg gepflegt, genau wie die unkrautlosen, gleichförmigen Vergissmeinnicht-Rabatten – ein Paradies der Menschenlosigkeit.

So war mir dieser Friedhof schon als Kind vorgekommen, und ich liebte und verehrte diesen Ort. Deshalb empfand ich es immer als eine Schande, dass der Vatikan mir seinerzeit keine Urkunde anlässlich meines zehntausendsten Besuches verliehen hatte.

»Da bist du endlich.« Die Stimme schrammte an meinem Nacken entlang. »Wieso bist du nicht in der Messe gewesen?«

Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Der Geruch ihres Parfüms reichte aus, um mir ihr von verkrampfter Erwartung gezeichnetes Gesicht vorstellen zu können. Ihre Nähe am Tresen vermittelte mir jedes Mal eine Aura von Altersarmut. Wenn Regina mir das Glas hinschob oder ihr eigenes nahm und mir zuprostete, wirkten ihre knochigen Finger wie eingehüllt in gebrauchte Haut, die schon alt war, als Regina geboren wurde. Angeblich war sie vierundfünfzig. Neben der mindestens siebzigjährigen Witwe des alten Rupp ging sie als deren ältere Schwester durch – zumindest in meiner Vorstellung und dem schäbigen Tageslicht.

Während der Priester den aufgebahrten Sarg mit Weihwasser segnete und einer der beiden Ministranten das Weihrauchfass schwenkte – das Geräusch der Kette klang vertraut in meinen Ohren –, warf Regina mir Blicke zu, die sie unter ihrer schwarzen Schirmmütze für unauffällig hielt.

Wir waren in Heiligsheim. Jeder der dreitausend Dorfbewohner war mit Augen größer als Flutlichtscheinwerfer auf die Welt gekommen. Einige hatten sogar – Furunkel ihres verhunzten Erbguts – unsichtbare Nachtsichtgeräte auf der Stirn. Jeder hier sah alles.

So funktionierte die Schicksalsgemeinschaft in der Senke unterhalb des tausendvierhundertzweiundfünfzig Meter hohen Felsenkellers. Das erste Blinzeln eines Neugeborenen landete automatisch in der geheimen Datenbank eines jeden Mitbürgers, auf dass diesem kein Wimpernschlag entging, kein unerlaubtes Zucken eines Lids, keine Träne, kein verschämter Blick.

Regina mühte sich umsonst. Ungeniert beobachtet von Johanna Geiger, die von der anderen Seite des Erdhügels unter ihrem Hutschleier herüberschaute, wandte sie mir halb den Kopf zu und berührte mich mit der Schulter.

Ich stand reglos da, scheinbar versunken in das allgemeine Vaterunser, ließ meine Lippen die Worte formen, als müsste ich mir Gebete von der Seele murmeln.

Reginas Parfüm umwaberte mich.

»Kommst du mit in den Postillion?«, flüsterte sie. Ich zögerte, bevor ich nickte. »Wir setzen uns an einen Tisch.« Weil ich nicht antwortete, fügte sie hinzu: »O. k., du?«

Ihr Mann war seit fast drei Wochen spurlos verschwunden, und sie flirtete auf einer Beerdigung.

Vom Balkon im ersten Stock meines Hauses konnte ich auf den bewaldeten Felsenkeller schauen. In einer inzwischen wiederaufgebauten Berghütte hatte angeblich König Ludwig II. heimlich Lesungen mit dem Schauspieler Josef Kainz veranstaltet, mit einem einzigen Zuhörer: ihm selbst. Dort rezitierte er auch seine ohne Wissen der Familie eigenhändig verfassten und von den Werken Sacher-Masochs inspirierten Verse, vor einem Publikum, das ebenfalls nur aus einer Person bestand: dem jungen österreichisch-ungarischen Mimen.

In den drei Jahren seit meinem Einzug war ich praktisch nie draußen gewesen, um mich einer Art Ausblick hinzugeben. Ich genoss andere Dinge. Die Stille im Haus. Den allmählich schwindenden Tag. Eine bestimmte Sorte von Erinnerungen. Das Bier in der Pumpe und das damit verbundene Anschwellen des Ekels, der – wenn ich den Absprung verpasste und Reginas Hand mich berührte – in den sackleinenen Hass des Büßers überging, der ich in meiner Jugend zu oft gewesen und den zu vernichten ich nach Heiligsheim zurückgekehrt war.

In diesen Momenten – allein daheim oder mit der Wirtin in der Kneipe – empfand ich eine beinah heilende Ruhe in mir. Als wäre alles, was geschah, im Einklang mit dem einen Traum, der mir noch blieb.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gehörte mein Leben wieder ausschließlich mir – und ich holte mir noch einen Löschzwerg aus dem Kühlschrank oder bestellte bei Regina ein Chriesiwasser.

Allerdings war ich in der Nacht vor der Beerdigung des alten Apothekers tatsächlich für ein paar Minuten auf den Balkon hinausgetreten. Ich hatte mir eingebildet, in der Ferne einen ungewöhnlichen Lichtschein gesehen zu haben.

Wahrscheinlich hatte ich mich getäuscht. Da stand bloß wieder, wie ein aus der Dunkelheit gequollener Schatten, das mindestens einen Meter hohe Tier und glotzte reglos zu mir her. Alle paar Tage tauchte es auf, meist, bevor die Nacht begann. Streckte seinen langen Hals in die Gegend, hob seinen Hintern, damit die Welt den weißen Fleck besser sehen konnte, verharrte mit seinen vergilbten Haxen wie festgetackert im Gras, zerstörte mit einem einzigen bellenden Laut meine Stille und galoppierte dann zurück ins Unterholz. Keine Ahnung, wieso das Vieh nicht längst zu Wildbret mutiert war.

Eine Zeitlang beschäftigte mich meine Beobachtung noch. Dann legte ich mich im Bett mit dem Gesicht zur Wand und horchte.

Kein Mucks aus der Kammer meines Gastes.

Am nächsten Morgen erwachte ich wie von kalten Träumen innerlich geduscht, munter und zu Mitleid entschlossen.

Ich zog mir eine saubere Unterhose und ein erst zwei oder drei Mal getragenes schwarzes T-Shirt an. Im grauen Licht des Morgens begutachtete ich den Anzug, der seit drei Jahren unbenutzt im Schrank hing. Ich entdeckte keinerlei Auffälligkeiten, wählte das dunkelblaue, fast schwarz aussehende Hemd, zog es an und ging, barfuß und in Unterhose, in die Küche, um die Kaffeemaschine anzustellen.

Auf dem Herd stand der Topf mit dem Rest der Gemüsesuppe, die ich vorgestern gekocht hatte. Unsere beiden Teller und die Löffel hatte ich noch nicht weggeräumt.

Während ich den Kaffee trank, betrachtete ich genügsam das schmutzige Geschirr und die zerknüllten, grünen Papierservietten. Viel mehr gab es nicht zu sehen. Nach Möglichkeit vermied ich jede Form von Unordnung. So was regte mich auf, zerstörte die Anmut des freien Raums.

Zugegeben, auf solche Feinheiten achtete ich erst, seit ich das Haus gekauft hatte und praktisch ohne Möbel eingezogen war. Vorher hatte ich wie ein gewöhnlicher Großstadtsingle in einem preiswerten Apartment gehaust, wo es vor allem darum ging, die Toilette, das Waschbecken und die Dusche einigermaßen sauber zu halten. Das war mir in all den Jahren auch gelungen. Ich hatte gelernt, das Leben eines Mannes zu führen, der nicht weiter auffiel – außer im Geschäft. Da hatte ich das Sagen, und die Angestellten wussten, dass ich laut werden konnte, wenn die Abläufe durcheinandergerieten.

Ich wollte nicht mehr laut werden.

Ich wollte in keiner lauten Stadt mehr wohnen. Die Zeit der Besinnung und der Abgeschiedenheit war angebrochen. Fast ein Jahr hatte ich benötigt, um zu begreifen, was zu tun war.

In der Nacht vor meinem fünfzigsten Geburtstag hatte die lautlose Erschütterung begonnen, ein Aufstand der Geräusche aus dem Maschinenraum meiner eisern behaupteten Existenz.

Tag um Tag, Monat um Monat hatte ich dabei zugesehen, wie alles in mir zum Stillstand kam. Wie die Motoren, die ich über die Jahrzehnte gewissenhaft geölt und poliert hatte, allmählich verreckten und einen ausgelaugten, erkalteten Kadaver zurückließen, den die Leute weiter für den Besitzer der Le-Chok-Bar in Charlottenburg hielten, anstatt zu erkennen, wer er ihn Wahrheit war: ein Schatten ohne Jugend.

Zum Glück behandelten mich Gäste und Angestellte wie immer.

Als ich die Geschäfte meinem Partner Emil Paulsen übergab, richteten sie ein großes Fest für mich aus. Hätte mich beinah aus der Fassung gebracht.

Manchmal, an einem sehr stillen Morgen, bei einem Haferl Kaffee in der Küche, dachte ich an Berlin.

Dann wurde mir wieder bewusst, weswegen ich hier war. Ich scheuchte die Bilder aus meinem Kopf, zog mir eine Hose an und machte mich ans Werk.

Heute Bibelstunde.

»Herr Jesus Christus …«

Ich wartete.

Wir saßen in der Kammer, er auf dem Bett, ich auf dem Stuhl vor der offenen Tür, ich mit dem in braunen Kunststoff eingebundenen Schulheft in den Händen, er ordnungsgemäß die Hände hinter dem Rücken. Vom Flur zog kühle Luft herein.

Die Kammer hatte kein Fenster.

Im Gegensatz zu mir trug mein Gast einen blauen Trainingsanzug. Von der Sorte besaß ich zwei weitere, identische Exemplare, die ich aus Berlin mitgebracht hatte.

Was uns einte, war die Barfußhaftigkeit.

»Wenn ich mich wiederholen muss«, sagte ich, »kannst du dein Wasser heut vergessen.« Ich legte einen geliehenen Tonfall in meine Stimme, erinnerte mich aber nicht an den Schauspieler und die Figur, bei der ich mich bediente.

»Du bist auf der Erde genau wie ich …«

»Du bist hier auf Erden einmal genauso alt gewesen, wie ich es heute bin.«

Ich sah ihn an. Er sprach den Satz fehlerfrei nach.

Das unwesentlich vergilbte Papier knisterte bei jeder Bewegung. Die blaue Schrift stolzierte in geschwungenen Buchstaben aufrecht und stolz über die Linien, grammatikalisch einwandfrei.

»Hilf mir«, las ich, »dass alles, was ich heute hier in der Schule, draußen auf der Straße und daheim bei meinen Eltern rede und tue, Deinem göttlichen Willen entspricht. Lass auch mich zunehmen an Alter, Wissen und Gnade vor Gott und den Menschen.«

Natürlich musste ich ihm, wie meist, mehrmals mit der Faust gegen die Stirn schlagen, weil er sich verhaspelte oder die simplen Sätze umstellte.

Schließlich erreichten wir das Ende des Absatzes.

»Amen«, murmelte er.

Nach der fünften Wiederholung stimmte die Lautstärke.

Sein Bauch beulte die Trainingsjacke aus. Es kam mir vor, als hätte er seit seinem Aufenthalt im Haus noch kein Gramm verloren. Das war unwahrscheinlich, denn ich servierte ihm nichts als Wasser, schwarzen Tee, Gemüsesuppe und eine Scheibe Brot am Tag. Daran starb man nicht.

Vermutlich hatte ich sein Übergewicht anfangs geringer eingeschätzt oder nicht beachtet, was eher zutraf.

Jedes Mal wenn ich die Kammer betrat, starrten seine blaugrauen Augen mich an. Wegen des Geschirrtuchs, mit dem ich ihn geknebelt hatte, blieben seine Kommunikationsmöglichkeiten begrenzt. Mittlerweise hatte er sich daran gewöhnt. Er strampelte nicht mehr mit den Beinen oder schlug mit dem Kopf auf die Matratze, aus Angst, er würde ersticken.

Ihm war klar geworden, dass er vorerst hier war, um zu überleben, mein Leben mit mir zu teilen, ein paar Dinge zu klären und mit mir zu beratschlagen, ob es eine Zukunft geben könnte. Für uns beide.

Ich ließ ihn an den Füßen gefesselt ins Badezimmer trippeln, passte auf, dass er sich ausgiebig wusch und die Zähne putzte, ließ ihm Zeit für seinen Stuhlgang und servierte ihm anschließend seinen Tee.

Innerhalb von drei Wochen hatte er die Regeln begriffen und verinnerlicht.

Wir tauschten uns über alles Mögliche aus – die Ereignisse im Dorf und in der Welt, Politik und Religion, Heimat und Frauen, Fußball, Einsamkeit und alte Freunde.

Ich erhob mich. »Lass uns für Tobi beten.«

Seine Augen verrieten Ahnungslosigkeit. Das ärgerte mich. Ich schlug ihm zwei Mal mit der Faust gegen die Stirn. Der Kopfteil des Metallbetts gab ein dumpfes Geräusch von sich. Mein Gast kippte zur Seite und blieb reglos auf der einen Meter zwanzig breiten Matratze liegen.

»Was ist los?«, fragte ich.

Sein Brabbeln war nicht zu verstehen.

»Gebet für Tobi«, sagte ich.

Das Hemd war mir aus der Hose gerutscht. Ich stopfte es unter den Gürtel und nahm das Heft, das ich auf den Stuhl gelegt hatte.

»Herr Jesus Christus …«

Wie alt ich war, als ich die Übungen aus dem Religionsunterricht niedergeschrieben hatte, wusste ich nicht mehr. Unübersehbar stammte die Schrift von einem gelehrigen, gehorsamen Schüler, der dem Lehrer keinen Anlass geben wollte, ihn zu tadeln.

»Mach unseren Ferdl wieder lebendig. Wir bitten dich, Herr. Wir bitten dich von allem Herzen. Mach auch unseren Boxer bald wieder gesund. Mach auch, dass der Arzt ihm helfen kann.«

»Von allem Herzen« hatte ich geschrieben.

Ich dachte über die Formulierung nach, während das Stöhnen im Bett in das Winseln eines angeschossenen Hundes überging.

»Von allem Herzen«, wiederholte ich. »Du weißt, wen ich mit Boxer meine. Wen?«

Er antwortete nicht.

Das Geschirrtuch, das ich ihm aus dem Mund genommen hatte, hing über der Stuhllehne. Als ich aufstand und danach griff, fuhr sein Kopf herum. Aus seinem Mund drang ein Schnauben. Seine Augen sabberten.

»Was ist los?«, fragte ich erneut. Wieder einmal war die Situation aus dem Ruder gelaufen. »Wir wollten beten«, sagte ich, »und du benimmst dich nicht.«

Seine Erwiderung erstickte ich mit dem Geschirrtuch. Wesentlich früher als geplant verknotete ich die Schnur seiner gefesselten Hände wieder am Metallgestell.

Nachdem ich die Knoten am Fußende überprüft hatte, schob ich den Stuhl zurück in den Flur, schloss die Tür und sperrte ab.

Augenblicklich kehrte die Stille ins Haus zurück.

In der Kanne war noch ein Rest Kaffee. Ich setzte mich an den Küchentisch und las in meinem alten Religionsheft.

Lange Zeit hatte ich die katholische Kirche – das Gebäude ebenso wie die Geschichten der Bibel – als einen Zufluchtsort empfunden, eine Bleibe außerhalb der Dunkelheit, erfüllt vom magischen Zauber des Tabernakels und der Unbeirrbarkeit des Ewigen Lichts. Bis ich begriff, dass der Priester mit dem Talar auch sein Kirchengesicht ablegte und als ein Mann in den Sonntag hinaustrat, dem außer seinem Ansehen und der Unterwürfigkeit alter Frauen nichts heilig war.

»Gott hat uns die Sünden nachgelassen«, ließ er uns schreiben. »Wenn er so gut gegen uns war, wollen auch wir gern gut sein und anderen Gutes tun. Dazu gibt es viele Gelegenheiten.«

Ich dachte an Ferdl und die Gelegenheit, die Herr Rupp nutzte, als der Junge in die Apotheke kam und Schmerztabletten für seine Mutter verlangte.

Frau Ballhaus litt unter Kopfschmerzen und ständiger Übelkeit. Das erzählte meine Mutter, als ich sie fragte, warum Ferdls Mama bleich wie der Tod aussehe. Ein ums andere Mal hatte ich sie beobachtet, wie sie auf dem Bürgersteig schwankend stehen blieb und sich an einem Baum oder einem am Straßenrand geparkten Auto abstützte. Ferdinand, ihr Sohn, war ein paar Jahre jünger als ich. Ich kannte ihn aus der Kirche, wo er im Chor sang und unbedingt Ministrant werden wollte. Pfarrer Schubert hielt ihn für noch zu klein.

Anders Herr Rupp.

Ein freundlicher Mann in einem weißen Kittel, der jedem Kind, das in seine Apotheke kam, ein Bonbon schenkte. Ab und zu stellte er sich auch vor die Tür, rauchte eine Zigarette. Wenn einer von uns zufällig vorbeiging, griff Herr Rupp in seine Kitteltasche und holte einen Lutscher hervor.

Lutscher und in durchsichtiges Cellophan eingewickelte, pappig schmeckende Bonbons gehörten zu ihm wie die Brille, sein dünner Schnurrbart, sein zerknitterter Kittel und der schiefe Zahn, der seinem Grinsen eine besonders komische Note verlieh.

Später begriff ich, dass nichts an ihm komisch war, sondern seine gesamte Person ein Verbrechen auf zwei Beinen. Damit war er nicht der Einzige im Dorf. Aber er hatte Ferdl auf dem Gewissen, er allein.

An der Ermordung der anderen Kinder waren noch weitere Männer und Frauen beteiligt, obwohl ich nicht beeiden würde, dass Herr Rupp einer der Drahtzieher war.

In der schönen Übung stand: »Manche Gelegenheit, Gutes zu tun, müssen wir erst entdecken. Mach die Augen auf und tue dann das Gute sogleich. Jesus hilft dir dabei.«

Das war schon damals mein Gedanke, dachte ich am Küchentisch und trank den letzten Schluck Kaffee und vergaß die Zeit.

Wohin wir auch gingen, was immer wir taten, Herr Jesus blieb an unserer Seite. Er hatte, wie so viele im Dorf, das Geschehen bei Tag und Nacht im Blick. Er ließ uns nicht allein, den Herrn Hofherr ebenso wenig wie den Herrn Geiger, die Frau Lange nicht und den Herrn Lange nicht und den praktischen Arzt, Dr. Stein, erst recht nicht.

Und von Herrn Rupp nahm Jesus sogar einen Lutscher an, obwohl er kein Kind mehr und kein Einheimischer war. ER war da. Ich betete zu ihm, kniete vor dem Altar, schwenkte das Weihrauchfass, las die Verse des Evangeliums öffentlich vor, trug ein weißes Gewand und ließ mich vom Pfarrer Schubert umarmen, wie er es mit allen Ministranten machte.

Wir waren die Gemeinschaft des Herrn, sagte der Herr Pfarrer oft und küsste uns auf die Wangen, um uns zu segnen. Im Haus der Liebe, sagte er, würden wir ein und aus gehen und hätten die Pflicht, zu singen und zu schweigen. Denn was im Haus der Liebe geschehe, sei für die Liebenden allein bestimmt, für niemanden sonst.

Zu Ehren von Pfarrer Schubert hatte ich Gedichte geschrieben und sie wie Fürbitten vorgetragen.

»Gutes tun macht Freude«, las ich zum Flur hinaus.

Aus der Kammer kam andächtiges Schweigen.

»Der Nächste freut sich. Du selber wirst froh, und vor allem Gott hat Freude daran. Der Mutter sagen: Kann ich dir etwas helfen? Teller spülen. Die Türe leise schließen. Für die Eltern täglich beten. Abtrocknen helfen. Die Schuhe für die ganze Familie putzen. Holz und Kohlen aus dem Keller holen. Schauen, welche Arbeit du den Eltern abnehmen kannst.«

Einen Moment überlegte ich, ob ich meinem Gast die bunten Zeichnungen zeigen sollte, die ich im Auftrag des Pfarrers zu seinen diktierten Sätzen angefertigt hatte – unvergilbte Buntstiftbilder von Gotteshäusern, Altären und Erwachsenen. Jesu irdische Heimat.

Einmal, an einem Wintertag im Dezember, sah ich die bleiche Frau Ballhaus auf dem Bürgersteig. Sie ging mit schleppenden Schritten und gesenktem Kopf, Hand in Hand mit ihrem Ferdl.

Dann blieben sie gleichzeitig stehen und umarmten einander. Sie beugte sich zu ihm hinunter, und ihr Sohn schlang seine Arme um sie wie um den Baum des Lebens.

Da wusste ich, dass im Haus der Liebe alles Lüge war.

»Tschüss«, rief ich von der Haustür in den Flur.

Niemand antwortete.

2

Neben mir am Kopfende saß ein siebzigjähriger Mann und weinte.

Vor der Tür des Gasthauses hatte er sich als Freund des Verstorbenen vorgestellt und seinen Namen genannt, den ich mir gut merken konnte, weil er zur Situation passte. Fromm. Seinen Vornamen hatte er mir verschwiegen.

Er löffelte, wie die meisten Trauergäste, seine Suppe mit gutem Appetit, ohne innezuhalten und ein Wort zu sprechen, was ich ihm gleichtat. Ich schwieg. Es kümmerte mich nicht, dass Regina, die sich rechts neben mich gesetzt hatte, ununterbrochen an meiner Hose zupfte.

Elf Frauen und sechs Männer gehörten zum engsten Kreis. Wir saßen am langen Tisch unter dem Gebirgsgemälde, im Nebenraum des Postillions, in den Barbara Rupp eingeladen hatte.

Für die übrigen Gäste blieben die kleineren Tische. Insgesamt waren wir ungefähr dreißig Personen, die dem Apotheker bei Bier, Schnaps, Suppe und Braten die letzte Ehre erwiesen. Ich war als Reginas Anhängsel dabei.

»Hab Ihren Namen vergessen.« Fromm wischte sich den Mund ab. Dann faltete er die Serviette ordentlich zusammen und legte sie neben die Terrine.

»Dragomir«, sagte ich. »Ludwig Dragomir.«

»Sie sind aber nicht von hier.«

»Nein.«

»Woher kennen Sie die Frau Rupp?«

»Als Kind war ich mit meinen Eltern regelmäßig im Dorf. Wir haben hier Urlaub gemacht. Und ich war oft krank und brauchte Tabletten.«

»Und jetzt leben Sie bei uns.«

»Das tue ich.«

»Gefällt’s Ihnen?«

»Sehr.«

»Gute Wahl, Herr Dragomir. Einen schönen Flecken Erde hat der Herrgott uns geschenkt.«

Ich kramte nach Ironie in seinen Sätzen. Da war keine.

Also hob ich mein Bierglas. »Auf Eduard Rupp selig.«

Fromm nahm sein Weißbierglas, nickte mir zu, und wir tranken.

Regina zupfte wieder an meiner Hose. Ohne hinzusehen, schüttete ich ihr mein Bier ins Gesicht.

Die Fantasie dauerte nur eine Sekunde. Aber als ich mich der Wirtin zuwandte und mir ihr fiebriger Blick entgegenschlug, verspürte ich ein noch stärkeres Bedürfnis danach.

Fromm war betrunken und erklärte mir die Welt. Seiner Ansicht nach zählten die Hügel und Hänge im Südosten des Koglfelds zu den tückischsten Plätzen im gesamten Landkreis. Ungeübte Wanderer würden dort schnell mal die Balance verlieren und von den ungesicherten, glitschigen Wegen in die Schlucht stürzen.

»Hast mich?«, sagte er und deutete mit der flachen Hand auf den Boden neben seinem Stuhl. »Das sind Schluchten, nicht bloß Abhänge, wo man schon mal runterkugeln kann. Dann bleibst du in einer Wurzel hängen oder schlägst gegen einen Baum, brichst dir ein paar Knochen, und das Leben geht weiter. Die Leute überschätzen sich, wie im Meer, wie in den Bergen, kraxeln den Felsenkeller hoch und denken, das ist ein Spaziergang. Ist aber Hochleistungssport, wenn man’s richtig betreibt. Verstehst du, Ludwig?«

»Ja«, sagte ich.

Mir war aufgefallen, dass vor einigen Minuten hinter mir eine Frau in einem dunkelblauen Mantel den Raum betreten hatte. Ich drehte mich nicht zu ihr um, nahm aber wahr, dass sie von Tisch zu Tisch ging und leise ein paar Worte wechselte. Einige der Anwesenden kannten sie offenbar.

Als sie an unseren Tisch kam, nickte sie der Witwe, die in der Mitte unter dem Gemälde saß, mit ernster Miene zu. Dann warf sie einen Blick in die Runde und ging wieder nach hinten, wo sie sich irgendwo dazusetzte.

»Hübsches Wesen«, sagte Fromm.

Mir war die Frau egal. Ich wollte nur lieber mit dem Naturexperten reden als mit Regina, deren Aura mittlerweile elektrostatische Ausmaße annahm.

Wie ich sie einschätzte, dachte sie an nichts anderes als an das Zimmer im zweiten Stock des Postillions, wo sie, wenn ihr Mann auswärts zu tun hatte, mich zu Handlungen zwang, die mir nicht nur Freude bereiteten. Andererseits überanstrengte ich mich nicht dabei.

Außerdem war ich in einem Alter, in dem ich zu einer vorzeigbaren Erektion plus vollständigem Samenerguss mehr liefern musste als labbrige Videos aus dem Internet oder gut abgehangene Fantasien.

Reginas Ledertasche mit ihren Lieblingsspielzeugen stellte daher eine echte Alternative dar.

In den Augen der Hotelbesitzer, die auch das Gasthaus im Parterre betrieben, brauchte ich als Künstler, Musiker, Komponist gelegentlich die Anonymität eines Hotelzimmers, um kreativ auszuspannen. Ich bezahlte im Voraus und tauchte immer allein auf. Von Reginas Anwesenheit wussten sie nichts. Ich schleuste sie ein, und sie verschwand auf leisen Pfoten wie ein geprügelter Hund.

So was klappte auch in einem Dorf aus Augen, wenn man den Fokus entsprechend verschob.

Der Fokus war ich. Und sie war genau genommen eine geprügelte Hündin.

Gleichzeitig nach der Bedienung Ausschau haltend und den neuen weiblichen Gast begutachtend, neigte der Naturversteher Fromm den Kopf in meine Richtung.

»Kennen Sie die Dame? Mir kommt die verdächtig vor. Wer hat die eingeladen? Weg mit der!« Seine vom Alkohol und einem verschwörerischen Unterton überforderte Stimme klang lauter als von ihm beabsichtigt. Die zwei alten Frauen uns gegenüber bedachten ihn mit Blicken, die einen Scheiterhaufen entzündet hätten.

Unbeeindruckt hob Fromm den Arm und schwenkte sein leeres Weißbierglas.

Wie schon die ganze Zeit saß ich mit dem Rücken zum Lokal. Ich hörte zu, schaute mich am Tisch um und erwiderte gelegentlich den Augenkontakt mit der schwarz gekleideten Frau am anderen Ende. Sie war um die achtzig, hatte eine hagere Gestalt und ein von hervorstehenden Wangenknochen geprägtes, wächsernes Gesicht mit hellen, wachen Augen, denen nichts entging. Beim Reden neigte sie den Kopf und tat, als würde sie zuhören. Aber – und das war nie anders gewesen – sie hörte nur mit halbem Ohr zu. Nichts, was um sie herum geschah, blieb ihr verborgen.

Etwas an mir schien sie zu irritieren. Während ihre Nachbarin ihr etwas erzählte, ließ sie mich nicht aus den Augen – so lange, bis Regina mich wieder am Bein zupfte, die Stirn runzelte und allen Ernstes zwischen mir und der Frau hin und her sah.

»Was ist?«, fragte ich.

»Was will die denn von dir? Wieso starrt die dich so an?«

»Frag sie.«

»Kennst du die Frau?«

»Ich kenne niemanden im Dorf.«

Sie verzog den Mund und schnaubte, wie jemand, der alles besser wusste. Dann trank sie einen Schluck ihrer abgestandenen Weinschorle. Sie schüttelte den Kopf, klopfte mit dem rechten Zeigefinger aufs Tischtuch und griff nach ihrer Handtasche, die sie an die Stuhllehne gehängt hatte. Sie kramte darin herum, holte eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug hervor.

Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme – ein Verhalten, das den beiden Alten auf der anderen Seite sichtlich missfiel. Ihre Mundwinkel zuckten. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern spiegelte ewige Verdammnis. Vielleicht waren sie Geschwister, katholisch vereint in Keuschheit und bedingungsloser Hingabe an das Wort des Herrn.

Pfarrer Segmüller saß, wie ich, mit dem Rücken zum Raum, rechts außen, neben der hageren Frau, die mich ins Visier genommen hatte. Angeblich hatte er – wenn es stimmte, was Regina mir berichtet hatte – in seiner Predigt den Verstorbenen zu einem Ehrenbürger der Menschlichkeit erklärt. Sein Leben habe Eduard Rupp dem Wohlergehen seiner Mitbürger gewidmet, Jungen wie Alten, Kindern und Kranken. Niemals habe er strikte Öffnungszeiten gekannt. Vielmehr seien seine Apotheke wie auch sein Herz Tag und Nacht für die Not anderer geöffnet gewesen.

Ich glaubte kein Wort. Regina schwor, sie sage die Wahrheit. Sie sei so ergriffen gewesen, dass sie sich jedes Wort gemerkt habe.

Der Pfarrer war in Schwarz gekleidet – schwarze Hose, schwarzer Rollkragenpullover, schwarzes Sakko. Er hatte schwarze, kurz geschnittene, scheitellose Haare und dunkle Bartstoppeln unter der Nase und um den schmalen Mund. Auf mich machte er den Eindruck eines Mannes in den Fünfzigern, dem sein Alter keine Sorgen bereitete. Der auf seinen Körper achtete und den jungen Leuten in der Schule ebenso entspannt die Lehren der Bibel nahebrachte, wie er den Alten Trost und Vergebung vermittelte.

Wie ich gehört hatte, lebte er mit einer Haushälterin zusammen, die nicht viel älter war als er und eine vierzehnjährige Tochter hatte.