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Nach einem Praktikum in Moskau kehrt Patja in ihren Heimatort nach Dagestan zurück. Mit fünfundzwanzig gilt sie hier schon fast als alte Frau. Auch Marat, ein in Moskau praktizierender junger Anwalt, der aus demselben Ort stammt, muss nach Meinung seiner Eltern unbedingt heiraten: Der Hochzeitssaal ist gebucht, künftige Schwiegertöchter stehen Schlange. Patja versucht, sich vor den Nachstellungen Timurs in Sicherheit zu bringen, mit dem sie sich fünf Monate lang auf Facebook geschrieben hat und der sie, zur Freude ihrer Eltern, partout heiraten will.

Die Präsentation der Kandidaten führt quer durch die Milieus. Während des Vorstellungsmarathons kreuzen sich die Wege von Patja und Marat, die sich heftig ineinander verlieben. Romeo und Julia auf dem kaukasischen Dorf? Die Sache geht in der Tat nicht gut aus. Doch nicht die Eltern haben dabei ihre Finger im Spiel, sondern ein mafiöser Krimineller, der zur falschen Zeit aus dem Gefängnis entlassen wird.

Alissa Ganijewa erzählt diese Liebesgeschichte in zarten, rebellischen, zornigen Sätzen. In komischen, oft skurrilen Szenen zeichnet sie das Bild einer Gesellschaft, in der globalisierte Lebensformen und traditionell geprägte Familienstrukturen, Archaik und Moderne aufeinanderprallen, während Korruption und Terrorgefahr ihr buchstäblich die brüchigen Fundamente wegzusprengen drohen.

Alissa Ganijewa, 1985 geboren, wuchs in Machatschkala/Dagestan auf und lebt seit 2003 in Moskau. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen einer neuen russischen Schriftstellergene-ration. Ihr erster Roman, Die russische Mauer (2014), wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Eine Liebe im Kaukasus stand auf der Shortlist des russischen Booker-Preises 2015.

Christiane Körner lebt als Übersetzerin, Publizistin und Dozentin in Frankfurt am Main. Sie hat Tatjana Tolstaja, Dmitri Prigow, Lew Tolstoi, Vladimir Sorokin, Pawel Salzman, Lidia Ginsburg u. a. übertragen und Anthologien russischer Erzählungen herausgegeben, zuletzt Das schönste Proletariat der Welt (es 2637).

Alissa Ganijewa

Eine Liebe im Kaukasus

Aus dem Russischen und
mit einem Nachwort
von Christiane Körner

Suhrkamp Verlag

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regine Göllner.

Umschlagabbildung: Thomas Dworzak / Magnum Photos /Agentur Focus

eISBN 978-3-518-74779-7

www.suhrkamp.de

Der Wein des Fremden

Während wir klatschnass den halbleeren Waggon erstürmten und uns auf die Sitzbank fallen ließen, konnte Artur nicht aufhören zu lachen:

»Ihr seid ja verrückt! Politversammlungen! Im einundzwanzigsten Jahrhundert!«

Der Regen trommelte gegen die Fenster der Vorortbahn. Wir fuhren auf die Datscha, zu Freunden von Marina, meiner Arbeitskollegin, mit der ich im Kellergeschoss eines Moskauer Gerichts Unterlagen kopierte und abheftete. Das Gehalt war lächerlich, vom Abschreiben taten uns die Finger weh, die Hände waren voller Tintenflecke. Aber aus irgendwelchen Gründen hielten wir diese Folter für Berufspraxis – besser als nichts.

Artur, ein Freund von Marina, lauschte neugierig unseren Erzählungen über die Gepflogenheiten bei Gericht. Er war ganz schön aufgedreht, obwohl er meines Wissens noch nichts getrunken hatte, dauernd stellte er Fragen und schlug sich vor Begeisterung auf die Schenkel:

»Das ist ja ein Kracher, ein richtiger Kracher!«

»Ja, Artur, das ist kein Witz«, versicherte Marina kokett. »Seit dieser Woche kommen wir eine halbe Stunde früher, um im versammelten Kollektiv auf der Planungssitzung das Weltgeschehen zu diskutieren. Und uns fester gegen den Feind zusammenzuschließen.«

»Gegen welchen Feind?«

»Den Feind mit dem fauligen Rachen«, deklamierte Marina, »der davon träumt, unsere Fundamente zu untergraben.«

»Ah, unsere berühmten geistigen Fundamente?«

»Du sagst es, Arturtschik.«

Die Tür zum Vorraum öffnete sich knarrend, und herein kam ein ungehobelt aussehender Mann mit Akkordeon und in Gummistiefeln. Er spielte etwas Sentimentales, die Melodie kam mir bekannt vor, und fast hätte ich mich zu Marina runtergebeugt und nachgefragt. Aber dann war mir meine Unwissenheit peinlich, und ich überlegte es mir anders.

»Sind Sie schon lange in Moskau, Patja?«, wandte sich Artur über die Akkordeonklänge hinweg an mich.

»Ein Jahr!«, schrie ich ihm ins Ohr. »Mein älterer Bruder hat mir vorgeschlagen, in Moskau einen Job zu suchen.«

Ich hielt es nicht für nötig hinzuzufügen, dass man mich nur für ein Jahr geholt hatte, dass dieses Jahr gerade rum war und dass ich wohl demnächst nach Hause in meine Siedlung zurückmusste.

Die Melodie, die ich bis zum Schluss nicht zuordnen konnte, entschwand durch den Gang in den Nachbarwaggon; hinter den Scheiben jagte, in Regenspritzern auf und ab hüpfend, die Stadt dahin und wollte uns nicht weglassen. Für Sommer – immerhin hatten wir Juni – war es ziemlich kalt. Marina kuschelte sich in ihre Jacke und erklärte Artur:

»Denk dran, deinen Sambuca wird Patja nicht trinken. Sie trinkt keinen Alkohol. Bei ihr im Land sind sie, wie heißt das noch, muslimischen Glaubens. Stimmt’s, Patja?«

Marina konnte sich einfach nicht merken, dass ich überhaupt keine Ausländerin bin und auch nicht auf Alkohol verzichte. Aber ich beschloss, sie nicht zu unterbrechen.

»Und anmachen darfst du sie auch nicht«, fuhr Marina fort, »sonst lassen ihre Verlobten sie sitzen.«

»Hast du viele Verlobte?« Artur zappelte vor Begeisterung.

»Nein, überhaupt keinen!«, antwortete ich empört.

Marina meinte natürlich die paar Pfeifen, mit denen ich mich mal getroffen hatte. Einer hatte mich im Netz entdeckt und überschüttete mich mit Zitaten aus Büchern über Erfolgsstrategien und Populärpsychologie. Inszenierte sich als großer Denker. Als ich erfuhr, dass der Sprücheklopfer aus derselben Gegend kam wie ich, streckte ich die Fühler aus und stimmte aus Neugier einem Treffen zu.

Ein fataler Fehler! Der Kavalier war zwar groß, aber ein Quadratschädel mit unangenehm kleinen Augen. Ich wäre am liebsten gleich vom Treffpunkt weggelaufen, aber er hatte mich schon von weitem entdeckt und winkte mit einer zusammengerollten Zeitschrift, ich glaube, dem »Vermögen«. Offenbar hatte er mich nach meinem Foto erkannt.

»Und was betreibst du so?«, stellte er gleich eine ziemlich komische Frage.

»Nichts, ich bin ja kein Betrieb«, gab ich gereizt zurück.

Wir waren schon ein paar Schritte gegangen, ehe er reagierte:

»Klar, Humor ist menschlich. Wie Oscar Wilde sagte, die Menschheit nimmt sich selbst zu ernst.«

Ich fand es lächerlich, dass er schon wieder damit anfing. Als würde er tagelang Zitatsammlungen auswendig lernen.

»Liest du das ›Vermögen‹?«, fragte ich, mit einer Kopfbewegung zur Zeitschrift hin, um irgendwas zu sagen.

»Nein, ich mache eins«, grinste er von oben herab, sichtlich zufrieden mit seinem Witz.

Und blieb, wie um sich selbst zu widerlegen, vor dem billigsten, brechend vollen Fast-Food-Restaurant stehen:

»Ich lade dich ein!«

Es folgten vierzig quälende Minuten in der Schlange vor der Kasse und dann an einem gemeinsamen Tisch mit jugendlichen Skatern. Quadratschädel bombardierte mich mit Aphorismen, musterte mich mit seinen Schweinsäuglein und schob seinen quietschenden Papp-Kaffeebecher auf dem verschütteten Zucker herum. Er beteuerte, in seinem Heimatdorf würden die Mädchen ihn um jeden Preis heiraten wollen und allesamt Blödsinn reden von wegen, dass er sie in einer Tour anrief. Die aufgebrachten Eltern würden dann zu seiner Familie rennen und sich beschweren, nach dem Motto, euer Bursche hat unsere Tochter mit Anrufen kirre gemacht, jetzt soll er sie heiraten. Aber Quadratschädel war gewitzt und ging ihnen nicht auf den Leim. Na ja, manchmal flößte er den Mädchen tatsächlich ein bisschen Hoffnung ein, aber wie schon Darwin gesagt hat, nur ein Narr macht keine Experimente …

Schließlich ließ er sich zu einer königlichen Geste herab: Er verkündete, gönnerhaft wie schon die ganze Zeit, wir würden uns jetzt unverzüglich in ein Einkaufszentrum begeben und ihm eine Hose kaufen. Als würde er zu einer heiligen Handlung einladen. Ich sprang auf und murmelte, ich könne nicht mit, ich müsse mich beeilen, um noch rechtzeitig zu einem Geschäftstermin zu kommen. (Ich und Geschäftstermin!) Und rannte, ohne mich noch einmal umzusehen, davon. Er schrieb mir später: »Wie hab ich dir gefallen?«, dann sofort hinterher: »Du bist sehr komisch. Du hast einen echt grässlichen Charakter«, dann: »Wie gehen die Geschäfte? Zu Fuß?«, und dann verstummte er endgültig.

Ich hatte mich noch nicht von dieser lächerlichen Episode erholt, als mein Bruder, bei dem ich wohnte, mich zu sich zitierte. Er erklärte, sein Chef im Chemiewerk, ein Landsmann von uns, wollte mich mit seinem Enkel oder Neffen oder so bekanntmachen. Das war sonderbar, aber natürlich sagte ich nicht nein.

Abends wurde ich vorm Gericht abgeholt. Am Steuer saß ein Chauffeur, und der Chef meines Bruders machte es sich neben mir auf dem Rücksitz bequem – ein munterer älterer Mann, der aussah wie Mitte sechzig, tatsächlich aber schon über achtzig war. Er taxierte mich mit listigen Blicken, fragte mich nach meiner Arbeit aus und schwadronierte dann mit Wonne von seiner eigenen. Man hätte denken können, dass er nicht dem Chemiewerk eines Konzerns vorstand, sondern einem Zauberwald mit Einhörnern.

Später im Restaurant, während er mir ein fürstliches Mahl auftischen ließ (unter Käsehaube gebackene Zunge, in Kognak gekochtes Kalbfilet, Stör in Fladenbrot und so weiter), wurde der Alte plötzlich vertraulich:

»Mit meinen dreiundachtzig Jahren war ich noch nie verliebt.«

»Noch nie? Aber Sie haben doch eine Frau, Enkelkinder!«

»Na und?« Er blinzelte verschlagen. »Ich habe nur geheiratet, weil meine Mutter mich inständig bat, eine Familie zu gründen, und sogar damit drohte, ihr Tuch abzunehmen, wenn ich es nicht täte. Sie wissen ja, was für eine Schande es für einen Gebirgsbewohner ist, wenn die Mutter in seiner Gegenwart ihr Tuch abwickelt.«

Ich wusste es nicht, doch er fuhr fort:

»Ich fand mich ab und heiratete. Aber was musste meine Frau nicht alles ertragen! Und vor ihr habe ich auch schon viele Affären gehabt.«

Er offenbarte mir, dass er als junger Mann Kampfpilot war und an einem militärischen Konflikt zwischen Arabern und Israelis teilgenommen hatte. Offiziell hatte die UdSSR nichts damit zu tun, und um ihre Intervention zu tarnen, wurden Piloten aus verschiedenen Sowjetrepubliken mobilisiert. Damit sie über Funk in ihrer Muttersprache redeten und von der Abwehr der anderen Seite für Araber gehalten wurden.

»Wie haben Sie sich denn untereinander verständigt?« Ich wunderte mich über dieses unsinnige Arrangement. »Ihr Lakisch zum Beispiel hat doch bestimmt kein anderer Pilot beherrscht. Und wenn Sie Russisch gesprochen haben, worin bestand dann die Tarnung?«

Doch der Alte hörte nicht, er berauschte sich an seinen Erinnerungen. In der Kantine ihrer Militärbasis arbeitete eine gewisse Mascha, eine bildschöne Russin. Mascha hatte einen einheimischen Verlobten, aber ihr reichte ein einziger Walzer mit meinem Alten – damals noch ein wackerer Pilot –, um den Verlobten vollständig zu vergessen. Sie folgte ihm auf den Fersen, bestrickte ihn mit ihrer Schönheit, doch er gab nicht nach.

»In der letzten Nacht vor meiner Demobilisierung kam Mascha zu mir und lag – jetzt kann ich ruhig darüber sprechen – stundenlang nackt auf meinem Bett, während sie mich anflehte, ihr die Unschuld zu nehmen. Doch das ist immer ein Tabu für mich gewesen. Ich habe niemals ein Mädchen verdorben. Sie wusste, dass sie mich zum letzten Mal sah, weinend, auf Knien bat sie mich darum, ihr zur Erinnerung dieses Geschenk zu machen. Morgens habe ich sie im ursprünglichen Zustand aus meinem Zimmer geschickt.«

»Aber Sie haben sie schrecklich gekränkt!«, entfuhr es mir. »Wenn man so zurückgewiesen wird – das hinterlässt doch sicher eine schreckliche Wunde.«

»Genau das hat sie mir auch gesagt.«

»Haben Sie sie wiedergetroffen?«

»Zwanzig Jahre später in der Moskauer Metro. Ich fahre Metro, und mir gegenüber sitzt eine massige, vom Leben gezeichnete Unbekannte, schaut mich unablässig an und weint. Die Tränen laufen ihr in Bächen über die Wangen. Der Zug hält, sie steht auf. Und ich muss auch aussteigen. Wir verlassen beide den Waggon und gehen in dieselbe Richtung, zur Rolltreppe. Betreten sie nacheinander, erst sie, dann ich. Und da dreht sie sich um und schließt mich stumm in die Arme. So standen wir bis ganz oben.«

»Das war Mascha?«

»Ja, im Vergleich zu mir hatte sie sich stark verändert. Wir gingen in ein Café und plauderten lange. Sie erzählte, wie sie sich damals mit ihrem Verlobten traf und wie der mich hasste. Bis er nach der Hochzeit entdeckte, dass seine Frau noch Jungfrau war. Er war ja wie alle überzeugt gewesen, dass ich mit ihr eine Affäre gehabt hatte. Nun schätzte er mich sehr, weil ich seine Braut für ihn aufgespart hatte, und gedachte meiner hin und wieder mit einem freundlichen Wort. Doch Mascha hatte kein gutes Leben. Keine Liebe, keine Freude. Schwere Arbeit, der Haushalt. Ihr Mann trank. Und wenn die Ärmste damals diese Nacht gehabt hätte, wenn ich nachgegeben hätte, wer weiß, vielleicht wäre sie viel glücklicher geworden.«

Während ich dem Alten zuhörte und aß, dachte ich, dass er natürlich übertrieb, mir blauen Dunst vormachte. Was übrigens ziemlich komisch war, wenn man seine Rolle als Großvater und Brautwerber in Betracht zog. Und wo war nun eigentlich der Enkel oder Neffe? Niemand kam.

»Wie alt sind Sie?«, fragte der Alte plötzlich.

»Fünfundzwanzig.«

»Sehr schade, sehr schade.« Er verzog das Gesicht, blickte auf den Teller. »Ich wollte Sie mit meinem Enkel bekanntmachen, aber Sie sind älter als er.«

Ich empfand heftigen Ärger, über den taktlosen Alten ebenso wie über meinen Bruder, der dieses Detail nicht früh genug geklärt hatte.

»Eigentlich lebt mein Enkel schon lange mit einer Freundin zusammen. Das gefällt mir nicht, und ich wollte mich einschalten. Aber Sie sind leider ganze zwei Jahre älter. Sie haben zu lange herumgetrödelt.«

Am nächsten Tag erzählte ich meinem Bruder davon, und er fiel auch gleich über mich her:

»Er hat völlig recht! Bald guckt dich keiner mehr an!«

»Mach bloß nicht deine Mutter nach«, mischte Ljussja sich ein.

Ljussja ist die russische Frau meines Bruders, was meine Eltern bis heute Nerven kostet. Vor der Hochzeit hatten sie bis zum letzten Moment mit dem Verschicken der Einladungen gewartet – vielleicht würde ihr Sohn sich doch noch eines Besseren besinnen. Mama hat die Vorstellung, dass von Frauen aus anderen Ethnien nichts Gutes zu erwarten ist. Dass man ihren geliebten Sohn verlassen, schröpfen, aussaugen, schikanieren könnte. Und obendrein bekam Ljussja kein Kind. Sie und mein Bruder waren zu allen möglichen Ärzten gerannt, die hatten im Chor verkündet, beide Eheleute seien kerngesund, aber schwanger wurde Ljussja trotzdem nicht. Papas Mutter, meine Oma, rief deshalb extra in Moskau an und erklärte, man müsste sich den Zar des Himmels gewogen machen; wenn man beim Scheich ein Sabab-Amulett besorgte, würde er sich vielleicht bequemen … Mein Bruder lachte nur.

Die Bahn hielt an unserer Station: ein einsamer Bahnsteig an einem nassen Wäldchen. Der Regen hatte aufgehört. Wir liefen runter zum Weg und überlegten, wohin wir gehen mussten. Unter einem Baum stand ein Mann um die fünfzig, unauffällig, bis auf seinen grünen Regenmantel, und beobachtete uns aufmerksam. Marina bemerkte ihn und rief:

»Entschuldigen Sie, bitte, wie kommen wir zur Datschenkooperative?«

»Zu den Datschen? Ich erklär’s Ihnen«, rief der Mann freundlich zurück und lief durchs schmatzende Gras auf uns zu. »Sie gehen den Weg geradeaus hoch, dann nach links, und an der Schranke, noch vor dem Zaun, biegen Sie wieder ab, diesmal nach rechts. Können Sie sich das merken?«

»Geradeaus, links, rechts«, ratterte Artur.

»Möchten Sie vielleicht Wein bei mir kaufen? Ich mache ihn selbst.«

Aus einer alten Plastiktüte, die er plötzlich in der Hand hielt, zog der Mann eine große Flasche mit einem handgeschriebenen Etikett heraus – man konnte ein H erkennen, der Rest war unleserlich.

»Nein, danke, nett von Ihnen, aber wir nehmen keinen Wein von Unbekannten«, wehrte Marina ab.

»Wieso denn nicht?«, protestierte Artur. »Lass uns welchen kaufen, ich bezahle.«

»Es geht nicht ums Geld«, sagte Marina finster, doch der Mann im grünen Regenmantel hatte Artur schon lächelnd die Flasche überreicht.

Den Rest des Weges, bis wir bei der Datscha ankamen, schwiegen wir und zogen die Köpfe ein, als hätten wir Streit gehabt. Auf der Vortreppe rauchten ein paar Typen mit Filzmelone und gepiercten Lippen. Artur blieb bei ihnen stehen, Marina und ich betraten die knarrenden Holzbohlen der verglasten Veranda: ein mit Schnapsgläsern vollgestellter großer Küchentisch, ein alter Herd, ein gedrungener Kühlschrank und jede Menge seltsamer Matten, auf denen Leute saßen oder lagen und sich angeregt unterhielten, ohne von uns Notiz zu nehmen. Ich überlegte schon, in welche Ecke ich mich verdrücken könnte, als ein rothaariger Riese auf Marina zustürzte, sie in die Luft hob und schrie:

»Gattersäge ist da!«

Ich wunderte mich, aber bevor ich nach dem Spitznamen fragen konnte, stellte Marina mich schon als ihre Freundin vor.

»Sie ist Tschetschenin!«, brüllte Artur, der uns nachgestürmt kam.

»Bin ich nicht«, stellte ich richtig.

»Tscherkessin?«, erkundigte sich ein lattendürrer Brünetter in sackartigem Strickpulli affektiert.

»Juri, eine bekannte Person des öffentlichen Lebens«, stellte der rothaarige Riese ihn vor.

»Dort, wo der Terek mächtig strömt, eine Tscherkessin ich erblickt’, des Mädchens Aug’ mein Herz bestrickt …«, deklamierte Juri.

»Fast erraten, könnte man sagen.« Ich winkte ab. »Das ist in etwa die Gegend, aus der ich komme.«

»Und ich habe im Kaukasus gekämpft. Ich wurde sogar verwundet«, äußerte Juri im gleichen affektierten Ton.

Wir wurden plötzlich von Marina und dem Rothaarigen getrennt und fanden uns, wie die anderen Gäste, auf einer Matte sitzend wieder.

»Das war in den Neunzigern … Sie werden es nicht glauben, ich war russischer Offizier, doch ich sympathisierte mit den Gebirgsbewohnern, mit ihrer Freiheitsliebe.«

»Anscheinend verwechseln Sie die Neunziger mit dem neunzehnten Jahrhundert«, lachte ich – er trug einfach zu dick auf.

Der Brünette war gekränkt. Er hob sein Glas mit Likör, ich glaube, aus Preiselbeeren, an die roten Lippen und warf mir einen schiefen Blick zu.

»Sie kichern, dabei haben Sie jetzt die reale Chance, der russischen Elite zu vermitteln, was der Kaukasus will«, sagte er ölig. Mit Elite meinte er eindeutig sich selbst.

»Das sind ja große Worte. Was er will? Dasselbe wie alle andern wahrscheinlich. Ein System, das funktioniert.«

»Also Gesetze?«

»Unter anderem. Was vernünftige Gesetze sind, sieht allerdings jeder anders …«

»Wissen Sie, Sie haben etwas Aristokratisches an sich …« Er nahm meine Hand und küsste sie unvermittelt. »Stellen Sie sich vor, was das für ein Aufsehen gäbe, wenn wir die Ehe eingingen.«

»Wieso Aufsehen?«

»Eine berühmte Person des öffentlichen Lebens und eine Tschetschenin.«

»Dagestanerin.«

»Dann erst recht! Aber vermutlich sind Sie noch unschuldig …«

Ich musste über seine Unverfrorenheit lachen.

»Sie werden beaufsichtigt, überwacht? Jeden Monat zur Kontrolle beim Gynäkologen?«

Beinahe hätte ich gefaucht: »Woher haben Sie das denn?«, aber dann biss ich mir auf die Zunge und beschloss zuzustimmen, um mir keine Blöße zu geben.

»Ja, im Prinzip gibt es Kontrollen.«

»Und Ihre Brüder sind streng?«

»Sehr streng«, echote ich und dachte daran, dass mein Bruder mich einfach mit Marina hatte weggehen lassen.

Juri lehnte sich seufzend zurück. Ich sah mich um. Die Leute hier waren alle jung, kamen aber aus ganz verschiedenen Ecken. Auf dem Küchentisch saßen beinebaumelnd und mit Energy-Drinks anstoßend zwei mädchenhafte Jungs in leichten Leinenjacketts. Daneben, die Ballonflasche zwischen die Beine geklemmt, die er vorhin dem Gelegenheitshändler abgekauft hatte, gestikulierte Artur. Marina saß etwas weiter weg neben dem rothaarigen Riesen und einer reglos dahockenden Braunhaarigen mit altmodischem weitem Rock und Puppengesicht. Leute liefen rein und raus. Über Tellerchen mit Snacks steigend, kam ein Mann mit Halbglatze und dünnem Zöpfchen zu uns.

»Juri«, raunte er, kniete sich hin und legte dem dürren Juri beide Hände auf die Schultern. »Stell dir vor, die sagen, dieser Kitschin wäre hier.«

»Na und?«

»Dem Typen kann man nicht die Hand geben. Wer mit einem Funken Verstand im Internet unterwegs ist, würde ihm am liebsten die Fresse einschlagen. Ein käuflicher Dreckskerl ist das. Scharwenzelt herum, macht einen Kotau vor der Generallinie, trägt das Kirchenbanner. Mich hat er denunziert, weil ich die doppelte Staatsbürgerschaft habe. Dabei hätte ich die Selbstbezichtigung auch so eingereicht – ganz nach Vorschrift«, keckerte der Zopfträger.

»Ich habe keine Angst vor ihm!« Juri ließ seine Handkante durch die Luft sausen.

»Ich auch nicht, das ist ein ganz Stiller, drückt sich mit seinem Wodka in die Ecke und sitzt nur da. Aber er hat ein paar Linke um sich, die kennen überhaupt keine Hemmungen.«

Tatsächlich gab es Neuankömmlinge auf der Veranda. Ein farbloser, leicht schielender Jüngling mit zerzaustem dunklem Haar und zwei überaus friedlich wirkende Knaben in Jeansjacken und bunten T-Shirts mit Hammer-und-Sichel-Aufdruck.

»Die sehen aber ganz ungefährlich aus«, bemerkte ich.

»Wie bitte?« Der Zopfträger wurde auf mich aufmerksam.

»Ich bin Patja.«

»Die reizende Amazone aus den Bergen«, warf Juri ein und küsste mir wieder die Hand.

Auf der anderen Seite tauchte Artur mit einem vollen Weinglas auf:

»Patja, wieso trinkst und isst du nichts? Wozu hab ich den Wein gekauft? Er ist köstlich.«

Ich nahm das Glas. Die Ballonflasche ging herum. Ich sah, dass auch Marina sich eingoss. Unterdessen brach vor den trüben Fenstern schon die Dämmerung an.

Plötzlich schüttelte die junge Frau im Rock ihre Reglosigkeit ab. Sie stellte sich mitten auf die Veranda und sagte laut:

»Kommt, wir wollen Geister beschwören! Das ist witzig, ihr werdet sehen!«

»Und auch nicht gefährlich?«, fragte Juri skeptisch.

»Na los, kommt!«, rief einer der Linken mit tiefer Stimme.

Irgendwer, die Linken oder der Rothaarige, schlug bereits vor, Stalins Geist zu beschwören, die Jungs im Leinenjackett hatten einen großen Bogen Papier aufgetrieben und bemalten ihn mit Buchstaben. Die junge Frau, die den Aufruhr angezettelt hatte, machte sich mit einem der Raucher von der Treppe auf die Suche nach einem alten Teller für die spiritistische Sitzung.

»Was für ein Schwachsinn«, empörte sich der Zopfträger, »soll Kitschin doch selbst seinen Stalin beschwören!«

»Was hast du, das kann doch interessant werden.« Juri bewegte die Brauen. Er hatte sein Glas Preiselbeerlikör gegen Arturs Wein eingetauscht.

»Wir müssen uns im Kreis hinsetzen und an den Händen fassen«, kommandierte Marina. Als sie meinem Blick begegnete, zwinkerte sie und winkte mich zu sich.

»Gleich geht hier die Post ab«, raunte sie mir ins Ohr, »wenn die fragen, wie es mit Russland weitergeht, wer an die Macht kommt, ob es eine Revolution gibt, was der Sinn des Lebens ist. Wenn sie alle in Streit geraten und sich anschreien.«

»Und wozu soll das gut sein?«, fragte ich verwundert.

»Damit man sich totlacht, wozu sonst. Übrigens, wieso hast du den Gastgeber noch nicht begrüßt?«

»Wer ist denn der Gastgeber?«

Marina zeigte auf einen braungebrannten jungen Mann, dessen Gesicht ein wenig an ein Pferd erinnerte. Er saß im Schatten auf einer Matte und sah den Vorbereitungen zu. Wie hatte ich ihn nur übersehen können – wo wir uns doch kannten! Er hieß Rinat, war Baschkire oder Tatare und hatte Marina und mich mal nach der Arbeit irgendwohin gefahren. Ich hatte sogar den Eindruck gehabt, dass er sich für sie interessierte. Ein sehr netter Typ.

»Ich geh ihn begrüßen«, sagte ich beschwingt. Ich hatte keine Lust, weiter bei Juri zu sitzen.

»Wenn ein Geist erscheint, beichte ich ihm meine Sünden«, lachte Artur neckisch, als ich an ihm vorbeiging.

»Das kann nichts schaden. Aber bitte nicht hier, sondern in der Kirche«, maßregelte ihn der Typ, den der Zopfträger Kitschin genannt hatte. »Ich werde an dieser schwarzen Messe nicht teilnehmen.«

»Dann geh doch und zeig alle an, die mitmachen!«, schrie der Zopfträger, der im Kühlschrank kramte. Ein Rätsel, wie er dort etwas hören konnte und warum er dauernd seine Meinung änderte.

Kitschin antwortete nicht.

»Richtig, sag nichts!« Juri stakste mit spitzen Knien wie ein Pinocchio zu ihm hinüber. »Bloß nicht den Konflikt anheizen. Das spielt den Feinden Russlands in die Hände.«

»Juri, auf wessen Seite bist du?« Der Zopfträger knallte wütend die Kühlschranktür zu.

»Leise«, forderte Marina, als wäre sie allen Ernstes besorgt, »sonst funktioniert es nicht! Die Geister haben ihren eigenen Kopf, die sind schnell beleidigt.«

Rinat stand auf, als ich zu ihm ging, und sagte:

»Ich wusste, dass du kommst. Lass uns irgendwohin gehen, wo es nicht so laut ist.«

Wir gingen durch einen engen Flur, an einem Badezimmer mit leeren Türangeln vorbei; aus dem stählernen Gasboiler ragten Rohre. Rinat stieg, ohne sich umzudrehen, die Treppe hoch. Ich hinterher.

Oben kamen wir in ein düsteres Kämmerchen, die uralten Tapeten rochen nach Schimmel. An einer Wand stand traurig ein kalter Ofen, gegenüber ein ausgeblichenes blaues Sofa aus der Breschnew-Zeit.

Wir setzten uns stumm und starrten den Ofen an. Rinat hielt ein Glas mit Arturs Wein in der Hand.

»Warum sagt man, im Wein liegt die Wahrheit?«, brach er endlich das Schweigen.

»Weil sie bitter ist?«

»Weil man alles im richtigen Licht sieht, wenn man trinkt«, antwortete Rinat leise.

»Na, ich weiß nicht …«

Unten ertönten Rufe:

»Er hat sich bewegt! Er hat sich bewegt!«

»Dich zum Beispiel«, fuhr Rinat fort, den Blick auf den Ofen geheftet, »kenne ich genau.«

»Wegen des Weins?«

»Nein, wegen eines Traums. Ich hatte einen Traum. Aber erst müssen wir anstoßen.«

Er wandte mir sein wehrloses Pferdegesicht zu, auf dem im grauen Abendlicht bläuliche Schatten tanzten. Wir stießen an. Dann nahm er mir langsam das Glas ab, bückte sich, stellte beide Gläser auf den Boden, richtete sich wieder auf, umfasste mich und drückte mich genauso langsam aufs Sofa. Ich spürte, wie mich eine Gänsehaut überlief, ein leichtes Zittern stummer Angst, doch mein Kopf war absolut leer. Ich fiel auf den Rücken und lag da und stierte an die Decke. Rinat lag schwer auf mir, auch er bewegte sich nicht, er atmete nur ruhig und tief, als würde er schlafen. Kurz flackerte in mir der Gedanke auf, jemand könnte hochkommen, hereinschauen und dann Klatsch verbreiten, aber die Furcht verging. Es überwog eine seltsame kosmische Ruhe. Dabei merkte ich, dass mein Körper immer noch leicht zitterte.

»Ich schaffe es nicht«, sagte Rinat plötzlich.

»Was schaffst du nicht?«

»Mit dir was anzufangen. Das ist bei mir immer so, wenn Gefühle da sind. Wenn keine da sind, klappt es sofort.«

»Und wie kommst du darauf«, erkundigte ich mich mit einer trägen Stimme, die ich an mir nicht kannte, »dass du mit mir was anfangen solltest?«

»Sag ich doch – der Traum. Ich hab geträumt, ich bin in meinem Heimatdorf, im Wolgagebiet. Ich geh raus auf den Hof, es war gleich nach Sonnenaufgang, und sehe ein großes Nest auf dem Baum. Da guckt ein kleines Teufelchen raus, obenrum sieht es wie ein Mädchen aus und unten wie eine Ziege. Als es mich sah, kroch es aus dem Nest, sprang vom Baum und verschwand in der Erde, wie eine Schlange. Ich hab einen Stock genommen und in dem Loch gestochert, das es gemacht hat. Um es rauszulocken. Da kroch die Teufelin aus einem anderen Loch und sagte: Wenn du mit dem Stock drei Mal auf den Zaun schlägst, wird dir jeder Wunsch erfüllt. Und ich nahm den Stock, schlug drei Mal auf den Zaun und wünschte mir, dass du heute auf die Datscha kommst. Und so geschah es auch.«

Mir wurde ganz anders, aber ich lag weiter unter Rinat und betrachtete das schmutzige Fenster. Draußen, in der Dunkelheit, die nun hereingebrochen war, tastete der Regen im Laub herum.

»Und als ich mit dem Stock geschlagen hatte, öffnete sich die Tür unserer Nachbarin, sie stand auf der Vortreppe und spähte nach allen Seiten, um zu gucken, woher das Geräusch kam. Aber sie sah mich nicht, obwohl ich gut zu sehen war. Und in dem Moment wurde mir absolut klar, dass es kein Traum war. Ich glaube, wenn ich später die Nachbarin angerufen und gefragt hätte, ob sie im Morgengrauen etwas krachen gehört hat und auf die Vortreppe gekommen ist, um nachzusehen, dann hätte sie Ja gesagt.«

»Warum hast du dir nicht was anderes gewünscht?«, hörte ich mich fragen. Meine Stimme war überraschend sicher.

»Keine Ahnung. Vermutlich waren deine Gebirgsgeister stärker als meine Flussgeister.«

Mir schwirrte der Kopf, und ich fühlte, dass ich gegen meinen Willen anfing, diesem wunderlichen Gerede Glauben zu schenken. Unten ertönte wildes Stimmengewirr, von dem sich deutlich der Bass des linken Jungen abhob.

»Wenn du an diese ganze Mystik glaubst, warum bist du dann nicht bei denen da unten?«, fiel mir plötzlich ein.

»Weil sie dort mit ihren eigenen Ängsten sprechen, und das ist uninteressant.«

»Aber du hast doch alle eingeladen …«

»Damit du kommst. Nur deshalb.«

Der Schreck, der sich meiner unsichtbar zitternden Beine bemächtigt hatte, fand endlich den Weg in mein Bewusstsein. Ich fing an, mich unter Rinat hervorzuarbeiten. Er ließ mich auch brav frei. Doch statt zu den anderen hinunterzugehen, nahm ich mein Glas vom Boden und setzte mich wieder. Rinat, in die andere Sofaecke gekauert, beobachtete mich.

»Gefällt dir Juri?«, fragte er plötzlich.

»Nein. Oder doch, er ist nett, aber furchtbar von sich überzeugt.«

»Findest du das schlimm?«

»Na ja, Stolz gilt doch als Sünde.«

»Meinst du nicht, dass Juri einfach Wein getrunken und die Wahrheit erkannt hat?«

Ich hatte schon begriffen, dass Rinat verrückt war, und widersprach deshalb nicht.

»Im Gegensatz zu uns grenzt er sich nicht von Gott ab. Das sollten wir alle anstreben«, erklärte er.

»Was heißt das?«

»Kennst du das Gleichnis von dem Dichter, der im Rausch schrie: Ich bin Gott! Ich bin Gott! Seine Schüler glaubten, der Satan hätte von ihm Besitz ergriffen, und stürzten sich mit Messern auf ihn. Doch statt ihn zu verwunden, stachen sie auf sich selbst ein.«

»Warum?«

»Weil der Dichter seine Persönlichkeit eingebüßt hatte, er war mit Gott verschmolzen und zu einem Spiegel geworden. Die Messerstiche, die dem Dichter galten, trafen die Schüler.«

»Würdest du auch gerne deine Persönlichkeit einbüßen?« Ich sah Rinat direkt an.

»Ich kann es nicht, obwohl ich es mit aller Macht versuche.«

Er griff ebenfalls nach seinem Glas und nahm einen Schluck. Dann betrachtete er mich genau und murmelte:

»Haare …«

»Was?«

»Haare im Gesicht. Nimm die Haare weg, nimm die Haare weg!« Sein Murmeln steigerte sich allmählich zu einem Schrei.

Ich erschrak und sprang vom Sofa, wobei ich mir die kurzen Fransen aus der Stirn schüttelte.

»Befrei dich davon. Haare sind Mehrzahl. Die Mehrzahl verdeckt das Gesicht der Einheit.«

»Weißt du, Rinat«, warf ich böse hin, »das ist ja nun schon kompletter Unsinn.«

Und ich rannte die Treppe hinunter. Mein Herz hämmerte. Ich dachte, im nächsten Moment würde Rinat mich einholen und umbringen.

Unten ertastete ich die Tür zur Veranda, sie gab nicht nach. Panik erfasste mich.

»Macht auf!«, kreischte ich und rüttelte an der verrosteten Türklinke.

»Das ist Patja«, hörte ich Marinas Stimme.

»Glaubt ihm nicht, lasst ihn nicht rein«, schrie ein Mann, wahrscheinlich Artur. »Er tut nur so, als wäre er Patja, er verstellt sich!«

»Ja, der Geist will uns reinlegen«, sagten mehrere Stimmen.

»Bitte«, flehte ich, »macht doch keinen Blödsinn, ich habe Angst!«

»Nein, Leute, das ist nicht Patja, die würde nicht so plärren. Das sieht ihr gar nicht ähnlich«, erklang wieder Marinas Stimme.

Ich wusste genau, die drängten sich alle vor der Tür und hielten auf der anderen Seite die Klinke fest, und mein Rütteln stachelte sie nur an.

»Patja …«, sagte Rinat hinter mir. Mich traf fast der Schlag. Ich drückte mich mit dem Rücken an die Wand und hielt die Hände vors Gesicht. Aber Rinat rührte mich nicht an. Ich hörte, wie er an mir vorbeiging und ein paar Mal mit der flachen Hand gegen die Tür schlug. Auf der anderen Seite wurde gerufen und gebrüllt.

»Die haben sich erschrocken, haben sich alle erschrocken«, sagte er leise.

Ich fasste Mut und nahm die Hände weg. Mir gegenüber sah ich Rinats regloses Pferdegesicht. Es war in der Dunkelheit schlecht zu erkennen, aber dem schwachen Tabakgeruch nach zu urteilen hatte er eine unangezündete Zigarette zwischen den Lippen.

»Er klopft nicht mehr«, bemerkte jemand auf der anderen Seite.

»Doch, da ist einer«, vermutete jemand anders.

»Schon gut, Leute, wir wollen den Bogen nicht überspannen«, hörte ich Juri sagen.

»Hinten ist noch eine Tür. In den Garten. Gehen wir ums Haus herum«, flüsterte Rinat.

»Okay«, stimmte ich zu und gab ihm vertrauensvoll die Hand, um nicht zu stolpern.

Mein Schrecken hatte sich verflüchtigt und einem leicht ironischen Gefühl Platz gemacht. Wir gingen durch den abendlichen Korridor hinaus in den Regen.