Aus dem Italienischen von Peter O. Chotjewitz

Die italienische Originalausgabe erschien unter dem Titel Il cavaliere e la morte (1988) bei Adelphi edizioni in Mailand. Die deutsche Erstausgabe erschien 1990 beim Verlag Paul Zsolnay in Wien.

E-Book Ausgabe 2016

© 1988, 1989 Adelphi Edizioni S.p.A., Mailand

© 1990 der deutschsprachigen Ausgabe: Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., Wien

© 1996, 2016 für diese Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emserstr. 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August unter Verwendung einer Photographie von Gianni Giansanti/Sygma/Corbis.

Reihenkonzept: Rainer Groothuis. Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

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ISBN 978 3 8031 4207 8

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2763 1

www.wagenbach.de

»Ein alter dänischer Bischof sagte mir einmal, daß es viele Wege zur Wahrheit gebe; einer davon sei der Burgunder.«

KAREN BLIXEN,

Sieben gotische Geschichten

Wenn er die Augen vom Papier hob oder besser noch, wenn er den Kopf an den Rand der hohen, harten Rückenlehne stützte, sah er sie deutlich, jede Einzelheit, jedes Zeichen, so als würde sein Blick fein und scharf und als würde die Zeichnung mit der gleichen Präzision und peinlichen Genauigkeit wieder lebendig, mit der Albrecht Dürer sie im Jahre 1513 in Kupfer gestochen hatte. Er hatte das Blatt vor vielen Jahren bei einer Versteigerung erworben: wegen jenes plötzlichen und unbedachten Besitzwunsches, der ihn gelegentlich überfiel, wenn er sich einem Bild, einem Druck, einem Buch gegenübersah. Er hatte es anderen, die es haben wollten, streitig gemacht und den Hartnäckigsten fast gehaßt, als er es ihm schließlich zu einem enormen Preis überlassen hatte, der einem Gehalt von zwei Monaten entsprach und ihn im Moment des Bezahlens in Schrecken versetzte. Enorm nicht nur im Verhältnis zu seinen Möglichkeiten, doch jetzt, infolge der schwindelerregenden Inflation und der Vervielfachung des Wertes der Arbeiten Dürers, wie jedes anderen großen Kupferstechers, spottbillig. Er hatte den Stich von einer Behörde in die andere, von einem Büro ins nächste mitgenommen und ihn stets an der Wand gegenüber seinem Schreibtisch befestigt. Aber so viele in all den Jahren sein Büro auch betreten hatten, nur einer (begabter Betrüger, der heiter sein Schicksal hinnahm, nach diesem Büro einige Jahre als Gast in einem ungastlichen Gefängnis zu verbringen) hatte innegehalten, das Blatt angeschaut und zu schätzen gewußt: tatsächlich zu schätzen, nach den neuesten Katalogen für Drucke und Stiche der Zürcher und Pariser Händler.

Diese Wertschätzung hatte ihn ein wenig beunruhigt; in einer plötzlichen Anwandlung von Kleinlichkeit und Geiz hatte er beschlossen, das Blatt mit nach Hause zu nehmen, aber er vergaß es gleich wieder. Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, es während der vielen Bürostunden vor sich zu haben. Il cavaliere, la morte e il diavolo. Hinten, auf dem Schutzkarton, befanden sich, mit Bleistift geschrieben, die Titel in Deutsch und Französisch: Ritter, Tod und Teufel; Le chevalier, la mort et le diable. Und, rätselhaft: Christus? Savonarola? Ob der Sammler oder der Händler, der sich nach diesem Namen gefragt hatte, vielleicht andeutete, daß Dürer in der Figur des Ritters einen der beiden symbolisieren wollte?

Auch er stellte sich zuweilen diese Frage, wenn er den Druck sah. Aber während er ihn jetzt betrachtete und den Kopf vor Müdigkeit und Schmerz gegen den Rand der Rückenlehne preßte, suchte er den Sinn eher in der Tatsache, daß er ihn vor Jahren gekauft hatte. Der Tod; und dort oben die unerreichbare Burg.

Infolge der vielen, in der Nacht gerauchten Zigaretten hatte der Schmerz an Stärke und Intensität verloren und eine undeutlichere Färbung angenommen. Man konnte den verschiedenen Arten des Schmerzes und seinen Veränderungen tatsächlich die Namen von Farben geben. Im Moment hatte er sich von Violett in Rot gefärbt: ein flammendes, leckendes Rot, das plötzlich diesen oder jenen Teil seines Körpers bestrich und sich dort festbiß oder verlöschte.

Automatisch zündete er sich eine neue Zigarette an. Aber er hätte sie im Aschenbecher verglühen lassen, wenn der Chef im Hereinkommen ihm nicht die üblichen Vorwürfe wegen seines starken und ruinösen Rauchens gemacht hätte. Blödsinniges Laster, tödliches Laster. Er hatte vor nicht länger als sechs Monaten aufgehört zu rauchen, der Chef, und war sehr stolz darauf, und zwar in dem Maße, wie er darunter litt oder einen gewissen Neid, einen Groll empfand, wenn er andere rauchen sah. Der Geruch des Rauchs verursachte ihm inzwischen ein tatsächliches Unwohlsein, das bis zum Ekel reichte, während ihm gleichzeitig die Erinnerung an seine Raucherzeit wie ein verlorenes Paradies vorkam.

»Aber spüren Sie nicht, daß man hier erstickt?« sagte der Chef.

Der Vize nahm die Zigarette vom Aschenbecher und inhalierte wollüstig. Es stimmte: man erstickte. Das Zimmer war voller Rauch, der sich um die noch brennende Lampe verdichtete und die Fensterscheiben wie ein durchsichtiger Vorhang verschleierte, durch den schon der Morgen schimmerte und das Licht veränderte. Er machte noch einen tiefen Zug.

»Ich verstehe«, sagte der Chef mit dem Tonfall des Vorgesetzten, »daß jemand nicht die Willenskraft hat, auf alles zu verzichten; aber mit so viel Starrsinn und Übertreibung dieser Todesart nachzugehen … Mein Schwager …« Er bediente sich taktvoll des Schwagers, eines erbitterten Rauchers, der vor einigen Monaten verstorben war, um nicht direkt über die Krankheit zu sprechen, mit deren Hilfe der Vize sich offensichtlich zum Sterben anschickte.

»Ich weiß, wir waren Freunde … Sie werden sich, nehme ich an, Ihre eigene Todesart ausgesucht haben. Ich werde Sie einmal darum bitten, mir davon zu erzählen: Vielleicht überzeugen Sie mich und ich nehme die gleiche.«

»Nein, ich habe mir keine ausgesucht und kann sie auch nicht aussuchen; aber da ich aufgehört habe zu rauchen, hoffe ich jedenfalls auf andere Weise zu sterben.«

»Sie wissen wahrscheinlich, daß es die konvertierten Juden waren, die in Spanien die katholische Inquisition erfunden haben.«

Er wußte es nicht und entgegnete deshalb: »Ich hatte nie Sympathie für die Juden, unter uns gesagt.«

»Ich weiß. Aber etwas Interesse für die Konvertiten hätte ich bei Ihnen erwartet.« Sie waren praktisch Kollegen, kannten sich seit Jahren, und so erlaubte er sich zuweilen gewisse Unverschämtheiten, ironische Bemerkungen und auch bissige Antworten, ohne sich viel dabei zu denken. Und der Chef ließ ihn gewähren, da ihn die unbegreifliche Loyalität seines Vize zur Nachgiebigkeit zwang. Nie zuvor hatte er einen derart loyalen Vize gehabt. Anfangs hatte er sich damit abgeplagt, einen verborgenen Grund dafür zu finden, aber inzwischen wußte er, es gab keinen.

»Konvertit oder nicht, keine Sympathie. Sie hingegen …«

»Ich hingegen, Jude oder nicht, habe keine Sympathie für die Konvertiten: Man konvertiert stets zum schlechteren, auch wenn es zum besseren zu sein scheint. Das Schlechte in einem Menschen, der fähig ist, zu konvertieren, wird immer noch schlechter.«

»Aber der Übertritt zum Nichtrauchertum hat nichts damit zu tun. Vorausgesetzt ein Gesinnungswechsel wäre überhaupt verwerflich.«

»Er hat, er hat: aus dem Grunde, weil man zum Verfolger derjenigen wird, die noch rauchen.«

»Ach was, Verfolger! Wenn ich einer wäre, hingen diese Büros voller Schilder Rauchen verboten und vielleicht sollte man es tun: Ihnen zum Trotz und in Ihrem Interesse. Ich meine es nur gut mit Ihnen: Mein Schwager …«

»Ich weiß …«

»Also, dann lassen wir das. Aber was Ihre Philosophie über die Konvertiten betrifft, gibt es Argumente, durch die Sie widerlegt werden, und zwar so …« Er schnappte laut mit dem Mittelfinger über den Daumen und deutete damit die Blitzartigkeit der Widerlegung an. Es war eine Geste, die er häufig ausführte, denn es gab viele Dinge, die zu widerlegen waren. Der Vize hatte ein paar Mal versucht, ihn zu imitieren, aber nie den richtigen Schnapser zustandegebracht und beneidete ihn deshalb wie ein Junge.

»Aber wir haben Wichtigeres zu tun. Kommen Sie mit.«

»Wohin?«

»Sie haben mich schon verstanden. Gehen wir.«

»Ist es nicht etwas zu früh?«

»Nein, es ist bereits sieben. Wir haben genug Zeit verloren mit Ihrer Philosophie.«

»Zu früh, es ist immer noch zu früh.« Er haßte die Gepflogenheit der Polizei, ihre Haftbefehle, Durchsuchungen, Ortstermine und Hausbesuche in den frühen Morgenstunden oder, häufiger noch, mitten in der Nacht auszuführen; aber Kollegen und Untergebene hielten sie für ein Vergnügen, das man sich nicht entgehen lassen durfte, wenn es nur die kleinste Möglichkeit, die geringste Rechtfertigung dafür gab. Dieses lautstarke Klopfen an Türen, hinter denen nichtsahnende Familien sich der Erholung und dem Schlaf hingaben, und das zu einer Nachtzeit, in der die Müdigkeit ihr Gewicht verlor, der Schlaf nicht mehr so dumpf und der Traum durchsichtiger und angenehmer war; dieses aufgeschreckte Wer ist da? und die feierliche, bombastische Antwort Polizei; diese Türen, die sich einen Spalt breit öffneten, diese lauernden Augen voller Schlaf und Argwohn; der heftige Stoß gegen die Tür, das Eindringen und schließlich drinnen, das beunruhigte Erwachen der ganzen Familie, die Stimmen voller Angst und Schrecken, das Wimmern der Kinder … Keiner, ob sein Dienstgrad nun hoch oder niedrig war, bedauerte, für ein solches Vergnügen den eigenen Nachtschlaf zu opfern. Doch der Vize empfand, wenn er gelegentlich an einer solchen Operation teilnehmen mußte, ein fast qualvolles Gefühl der Scham, und zwar stets für die Abteilung, der er angehörte, abgesehen davon, daß er es liebte, nach einer mindestens einstündigen Lektüre, von Mitternacht bis um sieben zu schlafen.

»Es ist sieben«, sagte der Chef, »und wir brauchen fast eine halbe Stunde bis zur Villaserena. Im übrigen können wir uns in Anbetracht der Umstände keine besonderen Rücksichten erlauben.«

»Die haben wir uns bereits erlaubt«, sagte der Vize ironisch. »Wir wären seit mindestens drei Stunden dort und hätten in seinem Haus das unterste nach oben gekehrt, wenn er nicht er wäre.«

»Aber sicher«, sagte der Chef gereizt, fast zynisch.

Im Hof – einem schönen, barocken Hof mit einem harmonischen Säulengang – erwartete sie schon das schwarze Auto. Man brauchte dem Beamten, der am Steuer saß, nicht zu sagen, wohin es ging; das wußten alle in diesem Gebäude, das mit dem Gesumme eines Bienenstockes erwachte. Wie viele Telefonate, fragte sich der Vize, mochten aus dem Gebäude bereits herausgegangen sein, um den Präsidenten von dem Besuch zu unterrichten, den er jetzt empfangen würde? Der Präsident: Und es war nicht nötig, hinzuzufügen, der Vereinigten Industrien, denn er war der Präsident schlechthin in jener Stadt. Nur alle übrigen Präsidenten mußte man spezifizieren, den der Republik eingeschlossen. Sie sprachen kein Wort während der halbstündigen Hetzjagd, und es war wirklich eine Jagd durch den Verkehr, der sich zu beleben begann. Der Chef erwog und verwarf, überlegte hin und her, was er dem Präsidenten zu sagen hatte, und die Sorgen, die er sich machte, konnte man seinem Gesicht ablesen, wie Zahnschmerzen. Der Vize kannte ihn gut genug, um seinen Kummer Wort für Wort zu entziffern – samt aller Streichungen, Korrekturen und Verbesserungen, die dem Fall angemessen waren. Ein Palimpsest.

Chauffeur