Danke an Thomas, Bärbel, Nicole und Astrid.

Vorwort

„Der Leidensdruck ist einfach noch nicht groß genug.“
„Die will doch auch gar nicht.“
„Aus einem Huhn kann man eben keinen Adler machen.“

„Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt, wie es ist.“ Solche oder ähnliche Volksweisheiten sind auch dann schnell bei der Hand, wenn ein Mensch sich nicht verändert. Dabei zeigt sich die Psycho-Logik unseres Verhaltens doch geradezu wetterwendisch. Eben noch total begeistert von einer neuen Idee, finden wir uns doch kurze Zeit später schon im alten Trott wieder. Auf Häme und Schadenfreude brauchen wir in der Regel nicht lange zu warten. Noch deutlicher wird ist, wenn wir unsere Ziele aufgeben und uns „zurückverändern“: Scham, ein schlechtes Gewissen und die Angst davor, als Versager abgestempelt zu werden, sind typische Reaktionen.

„Jetzt muss sich etwas ändern“ oder: „Das kann so nicht bleiben.“ In solchen Aussagen zeigt sich die starke Anziehungskraft, die Veränderungen haben können. Gleichzeitig beinhalten sie das Risiko des Ungewissen: Was kommt als Nächstes? Wird es wirklich besser oder wird es nur anders? Menschen, die vor einer Veränderung stehen, sind meistens nicht zu wenig motiviert, sondern haben ein Ambivalenz-Problem: Soll alles so bleiben, wie es ist, mit den vertrauten Schwierigkeiten? Oder soll sich etwas ändern, mit unkalkulierbaren Risiken? Durch diese innere Spaltung fühlen sich Betroffene möglicherweise wie angekettet. Von einer Seite werden sie zur anderen gerissen – so erleben sie das – und haben gleichzeitig das Gefühl, trotz aller Anstrengungen auf der Stelle zu treten. Es geht keinen Millimeter voran und trotzdem fühlen sie sich erschöpft. Viele empfinden sich dann als machtlos und Opfer der Umstände. Doch nur wer sich aus den Fesseln des Opferdaseins befreien kann, gewinnt auch seine Selbstwirksamkeit zurück. Wer versteht, wie er sich selbst fixiert, sich an seine Vergangenheit fesselt und aus Verhaltenskonserven lebt, der ermächtigt sich neu.

Wenn der „Veränderungsstau“ zur Gewohnheit, zu Starre oder gar Rigidität wird, dann lohnt es sich, die Gründe hierfür zu erforschen. Das gelingt nicht immer aus eigener Kraft; so erlebe ich das häufiger bei meinen Klienten. Viele sind mit ihrer Aufmerksamkeit so sehr auf die „Ausweglosigkeit“ fixiert, dass sie einfach keinen Zugang zu Lösungen haben. Diese Klienten nenne ich „Chainees“ – ein Begriff, der sich aus dem englischen Wort für Kette – chain – ableitet. Chainees legen sich selbst Fußfesseln an. Aber anstatt nach dem passenden Schlüssel zu suchen, um sich von ihnen zu lösen, schleifen viele von ihnen über Jahre einen Klotz am Bein hinter sich her. Irgendwann haben sie das Gefühl, der Klotz sei ein Teil von ihnen. Dabei merken sie gar nicht, dass der Rost das Schloss schon längst zerfressen hat und die Befreiung möglich wäre …

Von den vielen Chainees in meiner Praxis konnte ich lernen, welche Muster hinter ihrem Verhalten stecken. Immer wieder entdeckte ich sehr ähnliche Denk- und Verhaltensweisen, die ein System stabil halten, Veränderungen verhindern und Ziele boykottieren. Diese habe ich zu sieben „Chains“ zusammengefasst. Wobei die Zahl 7 ihre ganz eigene Magie hat. So gibt es in diesem Kontext sehr passend die sieben Siegel der Johannes-Offenbarung, die uns den Weg zur Apokalypse aufzeigen. Das siebte Siegel aber verkündet das endgültige Ende der bisherigen Welt. Auf unseren Kontext übertragen könnte man sagen: Wenn es uns gelingt, die Leid erzeugenden Fesseln abzulegen, offenbart sich uns eine freiere, selbstbestimmtere Zukunft. Veränderung ist kein Buch mit sieben Siegeln!

Zum Schluss noch eine Anmerkung: Vielleicht entdecken Sie in den von mir geschilderten Geschichten viele Parallelen zu Ihrer eigenen Geschichte. Dennoch: Dieses Buch ist keine 1:1 auszuführende Bedienungsanleitung für Veränderungsprozesse. Jeder Mensch ist einzigartig und damit auch seine Lebensgeschichte. Und da Sie kein Standard sind, kann es für Sie auch keine Standardlösungen geben. Das Buch kann Sie allerdings auf Ihrem Veränderungsweg begleiten, auch wenn Sie ihn selbst gehen müssen. Ihr Entschluss, es zu lesen, ist vielleicht Ihr erster Schritt auf diesem Weg. Dann wird es Sie bei den noch folgenden unterstützen und Ihnen Anregungen geben, tatkräftig zu werden und durchzuhalten. Gute Reise!

Ihr

Horst Lempart

1. Alles Leben ist Veränderung

„Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit.“

(Carl Josef Neckermann, deutscher Unternehmer)

1.1 Warum Veränderung manchmal so schwer sein kann

Das Leben stellt uns vor immer neue Herausforderungen. Als Säuglinge müssen wir uns damit abfinden, dass wir vom allumfassenden Mutterschutz entbunden werden. Kaum können wir auf den eigenen Beinen stehen, lernen wir, dass unsere Bedürfnisse nicht mehr immer und gänzlich befriedigt werden. In der Schule machen wir die Erfahrung, dass „Dazugehören“ auch Anpassung verlangt. Als Erwachsene stellen wir fest, dass Selbstständigkeit gleichzeitig Verantwortung bedeutet und noch dazu Geld kostet.

Wenn wir beruflich erfolgreich sein wollen, müssen wir zwar flexibel, risikofreudig und eigenverantwortlich sein, gleichzeitig aber auch Kontinuität, Ausdauer und Loyalität an den Tag legen. Dieser Balanceakt muss erst einmal gelingen. Werden wir selber Eltern, bekommt unser Leben einen ganz neuen Mittelpunkt. Am Übergang vom Berufs- ins Rentenalter erhält Zeit eine neue Dimension. Und der fortschreitende körperliche Verfall konfrontiert uns mit unserer Endlichkeit.

Das Leben als Suchprozess

Alles Lebendige strebt danach, möglichst lange am Leben zu bleiben. Damit dies gelingt, sind ständige Suchprozesse nötig: Wo ist für mich das zuträglichste Umfeld? Wie kann ich mich bestmöglich den Gegebenheiten anpassen? Die gesamte Menschheitsgeschichte beruht auf diesen Suchbewegungen und auch das Streben nach Stabilität wird damit zur Veränderungsarbeit. Und es stellen sich Fragen: Bringt die gewünschte oder bereits erfolgte Veränderung die erwarteten Vorteile? Erziele ich durch meine Gewohnheiten noch die erwünschen Vorteile oder gibt es inzwischen einfach zu viele Nebenwirkungen?

Hinter allen Veränderungen steht die alles überdauernde Frage: Was für einen Sinn macht das alles für mich? Säuglinge und kleine Kinder setzen sich damit auf eine andere Art, aber nicht weniger energievoll auseinander. Sie fühlen in die Stimmigkeit hinein und reagieren dann kindgerecht, zum Beispiel mit einem Lächeln, hoher Aufmerksamkeit, lautem Geschrei, Aggression oder Abweisung. Besonders die Neugier ist bei kleinen Kindern sehr stark ausgeprägt. Alles wollen sie untersuchen und entdecken und Neues ist für sie enorm spannend. Mit zunehmendem Alter geht bei vielen Menschen diese Neugier mehr und mehr verloren. Den Forscherdrang ersetzen sie durch Routinen und Sicherheitsschleifen. Allerdings ist Neugier (später reden wir oft von Interesse) ein Motor für Wandel. Neugier veranlasst uns, Unbekanntes in Bekanntes zu verwandeln, Unsicherheit zu beseitigen und Sicherheit herzustellen.

Willkürliche und unwillkürliche Veränderungen

Die meisten Veränderungen in unserem Leben werden nicht von uns selbst initiiert. Sie funktionieren unwillkürlich – wie unser vegetatives Nervensystem. Alle von ihm gesteuerten Funktionen entziehen sich unserer Kontrolle: Herz, Kreislauf, Atmung, Stoffwechsel, Verdauung, Temperaturregelung. Doch niemand käme auf die Idee, den Automatismus unseres vegetativen Systems als rücksichtslos oder gar sinnlos zu disqualifizieren. Selbst dann nicht, wenn sich jede Zelle unseres Körpers nach wissenschaftlichen Erkenntnissen etwa alle sieben Jahre ersetzt. Stellen Sie sich diese radikale Veränderung einmal vor: Alle sieben Jahre ist kein Baustein von Ihnen mehr der alte!

Doch Veränderungen außerhalb dieses unwillkürlichen Nervensystems gehen uns nur allzu oft auf die Nerven. Wir erheben dann den Anspruch, sie autonom und kraft unseres Willens zu beeinflussen oder gar zu verhindern, um ihnen nicht ausgeliefert zu sein. Die Anstrengungen kommen manchmal dem Versuch gleich, die Uhr anzuhalten, um die Vergänglichkeit zu stoppen. Der Schönheitschirurg soll retten, was zu retten ist. Oder die Kinder sollen als „kleine Erwachsene“ das verkörpern, was die Eltern gerne geworden wären.

Manchmal gelingt es aber auch, den überraschenden Veränderungen in unserem Leben mit großer Souveränität zu begegnen. Ich kenne Menschen, die durch eine schwere Krankheit gegangen sind und sich im Anschluss stärker fühlten als je zuvor. Eine Klientin berichtete mir, dass sie nach dem Tod ihres Mannes einen wunderbaren neuen Partner kennengelernt habe, der sie in ihrer Trauerphase sehr unterstützte. Doch oft wirken unwillkürliche Veränderungen schicksalhaft und werden in den meisten Fällen als Belastung empfunden (wenn es sich nicht gerade um die schicksalhaften sechs Richtigen im Lotto handelt). Sie kommen langsam und schleichend oder abrupt. Beide Varianten wirken konfrontativ: Während eine abrupte Veränderung durch das Schreckmoment klar ist, kommt ein langsamer Veränderungsprozess oft erst im letzten Viertel ins Bewusstsein, wenn die Dosis also hoch ist. Vorher gibt es Ausweichbewegungen, die mit der Zeit „normal“ werden.

 Beispiel:

Wenn Ihr linkes Bein schmerzt, werden Sie die Belastung mehr auf das rechte Bein verlagern, um das linke zu schonen. Das kann eine ganze Weile gut gehen. Wenn dann irgendwann das rechte Knie schmerzt, weil es so stark beansprucht wird, greifen Sie zu Ihren orthopädischen Einlagen. Das funktioniert auch wieder eine ganze Zeit. Irgendwann haben Sie plötzlich in beiden Beinen derartige Schmerzen, dass Sie es nicht mehr aushalten und zum Arzt gehen. Der konfrontiert Sie mit einer ernüchternden Diagnose. „Auf einmal war alles ganz anders“ – so wird dann oft das „plötzlich“ eintretende Resultat eines längeren Prozesses beschrieben.

Scheitern Veränderungsabsichten am mangelnden Willen?

Die meisten meiner Klienten haben allerdings mehr oder weniger konkrete Veränderungsabsichten, die sie selber initiieren. Sie sind der Meinung: „Ich möchte jetzt etwas ändern, denn sonst ändert sich nichts.“ Darunter sind auch die „Ja-aber“-Kandidaten: „Ich würde ja gerne etwas ändern, aber …“ Nun folgen „gute Gründe“, warum die Veränderung nicht funktionieren kann. Wozu das „Aber“ gut ist, hinterfragen sie allerdings nicht. So verharren sie in ihrem Aber-Glauben und verpassen Entwicklungschancen. Klienten, die sich von ihren Chains befreit haben, sind „Ja-und-“Kandidaten. Statt etwas zu bekämpfen, gewinnen Sie durch das Wörtchen „und“ etwas hinzu. „Aber“ hingegen ist immer eine Unterdrückung des „Ja“, ein Nicht-wahrhaben-Wollen.

Nun gibt es ja den klugen Spruch: „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.“ Mit ausreichend Willen, so könnte man meinen, sollte also jede Veränderung möglich sein. Umgedreht würde der Spruch bedeuten: Wenn es nicht vorwärtsgeht, dann fehlt es einfach am Willen. – Das allein soll die Erklärung sein? So einfach? Auf den „freien Willen“ werde ich in Kapitel 3.6 weiter eingehen. Hier möchte ich vorerst feststellen, dass eine Veränderungsblockade nicht allein durch fehlenden Willen zu erklären ist. Es muss also noch andere Ketten geben, an denen die Klienten liegen.

Probleme existieren nur in Gedanken.

Als Coach versuche ich, die Problemkonstruktionen meiner Klienten zu verstehen. Sie können daraus dann ein Selbstverständnis ableiten und mit den gewonnenen Erkenntnissen ihre eigene Lösungswelt konstruieren. Probleme wie Lösungen sind Denkleistungen. Probleme existieren nicht als sichtbares Phänomen, sondern entstehen durch Interpretationen und Bewertungen. Lösungen sind eine Antwort auf diese Interpretationen. Der Weg vom Start zum Ziel führt über die Verwandlung, die ebenfalls ihren Ursprung im Denken hat. Veränderung beginnt mit einer differenzierten Wahrnehmung und Neubewertung der Ist-Situation. Das kommt im englischen Begriff „sense“ schön zum Ausdruck, denn er lässt sich sowohl mit „Bedeutung“ als auch mit „Sinn“ übersetzen.

Wichtig: ein gutes Gefühl

Damit ein Mensch überhaupt in einen „gesunden“ und damit lösungsorientierten Zustand kommt, der am Ende seiner Veränderung erreicht werden soll, bedarf es eines „guten Gefühls“. Hier kommt die Salutogenese ins Spiel, die Lehre von der Gesundheit und ihrer Entstehung. In der Salutogenese unterscheidet man drei zentrale Aspekte zu diesem Gefühl:

  1. Wir verstehen die Inhalte und die Zusammenhänge unseres Anliegens.
  2. Wir haben das Gefühl, dass wir unsere Situation selber gestalten und beeinflussen können.
  3. Wir glauben, dass die aktuelle Situation einen Sinn hat.

Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit sind die drei elementaren Säulen, auf denen jede Veränderung beruht. Ohne dieses Fundament sind alle weiteren Anstrengungen in Richtung Veränderung ziemlich aussichtslos.

Inwieweit diese drei Aspekte bei Ihnen gegeben sind, können Sie in einem Selbsttest herausfinden. Denken Sie an eine Situation, in der Sie zwar die Notwendigkeit einer Veränderung erkannten, aber das Gefühl hatten, auf der Stelle zu treten und nicht wirklich vorwärtszukommen. Nun beantworten Sie bitte folgende Fragen mit Ja oder Nein:

Wenn Sie hier auch nur eine Frage mit Nein oder „Jein“ beantwortet haben, sind Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer der Ketten, um die es in diesem Buch geht, liegen geblieben. Wichtig ist dabei zu erkennen, dass diese Ketten Ihnen niemand anders anlegt als Sie selbst. Die Situation lässt sich in einem Bild festhalten:

Sehen Sie sich als Schiff, dass an einem Ufer fest vertäut ist (durch Ihre eigenen Hände), um nicht vom Strom des Lebens mitgerissen zu werden. Das reißende Wasser setzt Ihnen mächtig zu, die Taue stehen unter starker, ständiger Anspannung. Aber die Nähe zum „sicheren“ Ufer hält offenbar für Sie mehr Vorteile bereit als die Fahrt auf unsicheren Gewässern: Stromschnellen, Sandbänke, Tiefen, Strudel oder Wasserfälle lassen Gefahren vermuten. Doch was Ihrer Beobachtung eher entgeht, sind die Kräfte, die auf das Schiff und die Taue einwirken. Die ständige Anspannung hat Ermüdungserscheinungen zur Folge. Am Schiffskörper sammelt sich immer mehr Treibgut und das Material zeigt erste Anzeichen von Korrosion. Je weniger das Schiff bewegt wird, desto schneller scheint es in die Jahre zu kommen. Ein Schiff, das nur vor Anker liegt, hätte ein Steg werden sollen. Von hier aus lässt sich zwar die Aussicht genießen, aber er bewegt uns nicht.

äußere Veränderung – innere Veränderung

In dem Bild steckt noch eine weitere Botschaft, die für das Thema Veränderung von zentraler Bedeutung ist. Auch das Schiff verändert sich, weil es sich dem ständigen Strom nicht entziehen kann. Seine Umwelt sorgt dafür, dass es den klimatischen Bedingungen ausgesetzt ist und der Zahn der Zeit an ihm nagt. Kurz gesagt: Es ändert sich nicht selbst, sondern es wird verändert. Diesem Bild entsprechen viele Klienten: Sie kommen in die Praxis, um behandelt zu werden, anstatt selbst zu handeln. Die Publizistin Wilma Eudenbach meint dazu: „Es sind nicht die äußeren Umstände, die das Leben verändern, sondern die inneren Veränderungen, die sich im Leben äußern.“

Wer sich mit einem Problem konfrontiert sieht, einer Herausforderung oder einer notwendigen Veränderung, der geht auch davon aus, dass es anders sein kann. Andernfalls gäbe es gar kein Soll-Ist-Defizit. Selbst Menschen, die durch schwere Krankheiten, Unfälle oder andere einschneidende Ereignisse gezeichnet sind, entwickeln immer wieder eine erstaunliche Veränderungsmotivation. „So ist es eben“ ist es für sie eben nicht. Über die Einstellung „Jetzt erst recht“ oder „Mach das Beste draus“ finden sie zu neuem Lebensmut und beeindruckender Energie und Willensstärke.

Als Coach möchte ich Sie in die komfortable Situation bringen, wieder handlungsmächtig zu werden. Sie können am Drehbuch Ihres Lebens mitwirken, wenn Sie einige der Gesetzmäßigkeiten kennen, die ich Ihnen im Buch vorstellen werde. In diesem Drehbuch gibt es einen Hauptdarsteller: Sie! Und wenn Sie die Erkenntnisse aus den sieben Chains zu nutzen wissen, dann übernehmen Sie wieder die Regie in Ihrem Leben und können die Ketten ablegen.

Ziel: handlungsmächtig werden

Autor, Hauptdarsteller und Regisseur der eigenen Lebensgeschichte zu sein ist ein Ergebnis, für das sich Querdenken lohnt. Sich zu verändern oder sich nicht zu verändern: Beides hat seinen Preis und beides liegt in Ihrer Verantwortung. Nicht immer ist eine umfassende Veränderung das Mittel der Wahl. Manchmal reichen kleinste Schritte, um sich selbst wieder als fähig und selbstwirksam zu erleben und Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Die Natur lebt es uns vor: Der Wandel der Jahreszeiten, Ebbe und Flut, die Bewegung der Gestirne, alles ist im sanften Fluss, die Bewegungen für das Auge kaum wahrnehmbar, aber trotzdem unaufhaltsam. Die Natur entscheidet nicht zwischen den beiden Extremen „total“ oder „gar nicht“. Die Natur wartet auch nicht auf den richtigen Zeitpunkt, weil es für sie nur die Gegenwart gibt. Veränderung ist allgegenwärtig.

Chains sind vererbbar – über Generationen hinweg.

Meistens haben die sieben Chains ein Vor- und ein Nachspiel. Wenn ich mit meinen Klienten tiefer in die Biografie einsteige, ergeben sich oft erstaunliche Parallelen zu vorangegangenen Generationen. Ob Vater, Mutter, Oma oder Opa: Wenn wir die Familiengeschichte anschauen, dauert es meistens nicht lange und die Länge der Kette wird sichtbar. Manche Chainees hängen an Ketten, die bereits Jahrzehnte in der Familie „gute Tradition“ sind. Sie waren schon ganz typisch für andere, prägende Familienmitglieder. Wir werden uns in Kapitel 3.3 (So bin ich nun mal) ansehen, wie wesentlich die eigene Persönlichkeit durch Familie und soziales Umfeld beeinflusst wird. Das bedeutet: Chains werden mitgegeben, gleichsam einem Familienschmuck, der weitervererbt wird.

Die Kraft der Chains wirkt natürlich auch in die andere Richtung, denn Chainees geben ihre Ketten an Folgegenerationen weiter. Ob aus dem Weitergegebenen eine schmückende Kette oder eine Fußfessel wird, darauf haben Sie Einfluss. Chains können ein Startkapital sein oder eine Bürde. Es kommt darauf an, was Sie daraus machen.

„Alles bleibt anders“

(Schweizer Filmtitel aus dem Jahre 2006)

1.2 Vom Wert des Wandels: Warum sich Veränderung lohnt

„Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, es ist diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann.“

(Charles Darwin, englischer Naturforscher)

Zahlreiche Sprichwörter scheinen die Notwendigkeit von Veränderung als „höchstes Gut“ zu belegen: „Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit.“ Oder: „Die einzige Kontinuität liegt im Wandel.“ Andere Äußerungen sind weniger eindeutig: „Du hast dich ja überhaupt nicht verändert“ kann als Botschaft beinhalten: Es wäre toll, wenn du an dir gearbeitet hättest, denn du bist noch der gleiche Kotzbrocken wie damals. Oder die Anmerkung kann als Lob verstanden werden: Du bist ein Original und dir selber treu geblieben. Du siehst sogar noch genauso aus wie in der Schule.

Welchen Wert der Wandel für den Einzelnen hat, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Wandel ist mehrdimensional, denn er berührt uns auf der bio-psycho-sozialen Ebene und ist immer in einen zeitlichen, situativen und gesellschaftlichen Kontext eingebunden. Was das im Einzelnen bedeutet, möchte ich mir gemeinsam mit Ihnen anschauen.

Veränderung: Kontakt mit Ressourcen und Blockaden

Veränderung bringt uns sowohl mit unseren Ressourcen in Kontakt als auch mit unseren Blockaden. Sie haben vielleicht selbst schon die Erfahrung gemacht, in plötzlichen Umbruchsituationen ungeahnte Kräfte zu mobilisieren. Zu solchen Umbruchsituationen können Krisen gehören (z. B. Trennungen, Krankheiten oder Sinnkrisen). Auch überraschend auftretende, weniger krisenhafte Situationen können erstaunliche Energien freisetzen. Wir stemmen alleine einen Baumstamm, der uns den Weg versperrt, und sind verblüfft über unsere Bärenkräfte. Wir sind erstaunlich schlagkräftig, kontern souverän auf einen verbalen Angriff und sind stolz auf unsere Reaktion. Wenn wir uns zutrauen, selber kleinere Reparaturarbeiten am Haus in den Griff zu bekommen, werden wir nicht selten mit guten Ergebnissen belohnt. Unsere Kompetenz steigt mit den Herausforderungen und jede Veränderung ist eine Herausforderung, denn sie fordert uns aus unseren alten, vertrauten Denk- und Verhaltensmustern heraus.

Veränderung hat auch neurologische Konsequenzen. Bestehende synaptische Verbindungen, die Kontaktstellen für Informationen, müssen aufgelöst und neue angelegt werden. Hierfür wird Energie benötigt, die entweder an anderer Stelle eingespart oder zusätzlich erzeugt werden muss. Und unser Gehirn funktioniert hier in etwa wie ein Muskel. Wird es trainiert, sich regelmäßig auf neue Situationen einzustellen, gewinnt es an Leistungsfähigkeit und Plastizität; eine Anpassungsfähigkeit, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen bis ins hohe Alter greift. Gehirn-Jogging, Brainfit und Denksportaufgaben zielen genau auf diese Flexibilität unseres Geistes ab.

Einen wichtigen Begriff habe ich bereits erwähnt, der wesentlichen Einfluss hat auf den Wert des Wandels: Zutrauen.

Zutrauen ist eine wichtige Voraussetzung dafür, wie ich dem Wandel begegne.

Zutrauen ist eine wichtige Voraussetzung dafür, wie ich dem Wandel begegne: Glaube ich daran, dass ich die Veränderung meistern werde? Gehe ich davon aus, dass ich am Ende gestärkt aus der Situation hervorgehe? Vertraue ich auf meine Fähigkeiten? Habe ich das Gefühl, aufgefangen zu werden, wenn nicht alles nach Plan läuft? In vielen Fällen erleben Menschen die Veränderung eher als Zumutung und haben wenig Zutrauen in sich selbst. Dabei ist das Wort „Zumutung“ auf den ersten Blick irreführend. Das fehlende Zutrauen führt ja gerade dazu, dass uns der Mut fehlt und wir dem Wandel am liebsten aus dem Wege gehen würden. Zumutung ist also kein Zuwachs an Mut, sondern eine Ent-Mutung. Wenn wir etwas als Zumutung erleben, dann wird aus dem Zutrauen ein Misstrauen: in die eigenen Fähigkeiten und in die Chancen, die mit dem Wandel verbunden sind.

Zutrauen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um Veränderungen mit Neugier zu begegnen. Ob wir der Veränderung oder der Kontinuität einen höheren Wert beimessen, wird stark durch unseren Persönlichkeitsstil beeinflusst. Ebenso hängen Zutrauen und der Glaube an die Selbstwirksamkeit stark vom Persönlichkeitstyp ab. Ich stelle Ihnen vier Grundstrebungen vor, um den Zusammenhang modellhaft klarzumachen. Dabei geht es mir nicht darum, die Vor- oder Nachteile einer Werthaltung oder eines Persönlichkeitsstils darzustellen. Es gibt hier kein Gut oder Schlecht, Richtig oder Falsch. Bestenfalls könnte man sich die Fragen stellen: Wie zielführend ist eine bestimmte Haltung in einer konkreten Situation? Gewinne ich durch die Veränderung mehr, als ich verliere?

Persönlichkeitsstile

Die im Modell abgebildeten Persönlichkeitsstile gibt es nie in Reinform. Tatsächlich trägt jeder Mensch alle Facetten in sich. Insofern ist eine Phase des Wandels auch immer eine Gelegenheit, unsere inneren Persönlichkeitsanteile besser kennenzulernen. Wir können herausfinden, welcher Teil unseres „inneren Teams“ gerade eine Veränderung favorisiert und wer eher dazu tendiert, alles zu lassen, wie es ist. Wenn Sie sich näher mit dieser inneren Mannschaft auseinandersetzen, werden Sie sehr unterschiedliche Kräfte und deren gute Gründe kennenlernen.

Zwanghafter
Persönlichkeitsstil

Depressiver
Persönlichkeitsstil

Schizoider
Persönlichkeitsstil

Hysterischer
Persönlichkeitsstil

Der zwanghafte Typ will Veränderungen vermeiden und Risiken umgehen.

Der depressive Typ erkennt zwar die Notwendigkeit von Veränderung an, sieht sich aber außerstande, selbst einen Beitrag dazu zu leisten.

Der schizoide Typ hält Veränderungen für nötig, aber nur durch seine Selbststeuerung.

Der hysterische Typ liebt die ständige Veränderung um ihrer selbst willen.

wenig Zutrauen, hohes Kontrollbedürfnis

wenig Zutrauen, kaum Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit

hohes Zutrauen, hoher Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit

hohes Zutrauen, hoher Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit, tendiert zur Selbstüberschätzung

Abbildung 1: Persönlichkeitsstile und ihr Umgang mit Wandel
(in Anlehnung an Fritz Riemann, Grundformen der Angst)

Die vier Persönlichkeitsstile bewegen sich auf einem Kontinuum, das das Zusammenwirken von Wandel und Zutrauen sehr gut abbildet:

Abbildung 2: Kontinuum des Wandels

Das Kontinuum legt die Interpretation nah, dass die Grenzbereiche die Problembereiche darstellen und ein Optimum gefunden ist, wenn man sich im Mittelfeld bewegt. So eindeutig ist die Situation allerdings nicht. Welchen Wert die Dauer und ein starkes Kontrollbedürfnis haben, werden wir uns im nächsten Kapitel noch ansehen. Selbstüberschätzung und regelmäßige Veränderungen haben ebenfalls einen Wert. Der Volksmund kennt dafür verschiedene Umschreibungen: „Wer rastet, der rostet.“ „Stillstand heißt Rückschritt.“ „Alles Leben ist im Fluss.“

Metamorphose des Wandels

Wandel hat etwas Offenbarendes. Nicht selten lernt man andere und sich selbst in Veränderungsprozessen erst richtig kennen: „So habe ich den noch nie erlebt.“ „Ich bin von mir selbst überrascht.“ Ich spreche in diesem Zusammenhang gern von der Metamorphose des Wandels. Metamorphose kommt aus dem Griechischen und heißt sie viel wie „Umgestaltung“. Durch einen Wandel entsteht eine Verwandlung. Am Ende kommt etwas Neues, Verändertes heraus. Hermann Hesse folgt diesem Gedanken in seinem Roman „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Der Anfang kennzeichnet den Beginn eines Veränderungsprozesses. Auf dem Einband ist zu lesen: „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen, der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.“

Auf die stufenweise Hebung werde ich in Kapitel 3.7 (Coaching als Veränderungshilfe) am Beispiel der Wendeltreppe näher eingehen.

Auch die Selbstüberschätzung hat einen positiven Aspekt. Wenn wir uns mehr zutrauen, als wir eigentlich von uns gewohnt sind, können wir mit unseren Grenzbereichen in Kontakt kommen. Wir verlassen unsere Komfortzone und sind bereit, Risiken einzugehen. Wir erweitern unseren Handlungsspielraum, denn wir gehen davon aus, dass es noch Reserven gibt.

In der Regel haben Menschen, die zur Selbstüberschätzung neigen (hysterischer Persönlichkeitsstil), ein recht scharfes Bild von sich und ihren Zielen vor Augen. Mit „scharf“ meine ich nicht realistisch, sondern eher konkret. Ob etwas Realität wird oder nicht, hängt nämlich wesentlich davon ab, wie konkret wir unsere Ziele visualisieren. Und auch unser Selbstbild prägen wir dadurch, wie wir uns in konkreten Situationen sehen: als Gewinner oder Verlierer, zufrieden oder unzufrieden, energievoll oder erschöpft. Einige Charakterzüge des hysterischen Stils decken sich auch mit der narzisstischen Persönlichkeit: das Verlangen nach Bewunderung und Anerkennung, Imponiergehabe und eine gewisse „Macher-Mentalität“. Narzisstische Persönlichkeiten schaffen es oft bis in die höchsten Chefetagen. Auch sie schöpfen einen Großteil ihres Erfolges aus einem überschätzten (idealisierten) Selbst. Wenn Sie mehr über die Zusammenhänge wissen möchten, empfehle ich Ihnen mein Buch „Ich habe es doch nur gut gemeint. Die narzisstische Kränkung“, das ebenfalls im Junfermann Verlag erschienen ist.

Wie bereits erwähnt, findet Wandel auf einer bio-psycho-sozialen Ebene statt. Schauen wir uns nun diese drei Bereiche genauer an:

1.2.1 Die biologische Dimension des Wandels

Veränderungen haben immer auch einen körperlichen Aspekt, denn meistens ver-rücken sie uns in eine andere Wirklichkeit. Dieses Ver-rücken wird im Coaching oft durch einen räumlichen Positionswechsel unterstützt: Die Perspektive wird verändert oder erweitert. Körperliche Bewegung hat nämlich einen elementaren Einfluss auf Veränderungsprozesse. Sie können das in einem Selbstversuch testen:

 SELBSTVERSUCH

Erstarrung vs. Bewegung

„Frieren“ Sie Ihren Körper für einen Moment ein, indem Sie sich wie eine Skulptur bewegungslos machen. Sie können die Wirkung unterstützen, wenn Sie in einer „Problemhaltung“ verharren: gesenkter Kopf, hängende Schultern, leicht nach vorn gebeugt etc.

Nun versuchen Sie, in dieser Position in eine Aufbruchsstimmung zu kommen. Wie leicht fällt es Ihnen jetzt, positive, antreibende Gedanken zu entwickeln?

Und nun versuchen Sie einmal, das Gegenteil zu bewirken. Dafür können Sie sich zum Beispiel tanzend durch den Raum bewegen, sich in eine „starke“ Position bringen (Brust raus, Kopf hoch, standfeste Position etc.) und dann in sich hineinfühlen, wie gut Sie sich jetzt gewappnet fühlen für Veränderungen …

Veränderungsprozesse gehen oft einher mit Risiken und einer erhöhten Energiebereitstellung.

Es gibt noch weitere biologische Komponenten zum Thema Wandel, die einen hohen Nutzen haben. Veränderungsprozesse gehen oft einher mit Risiken und einer erhöhten Energiebereitstellung. Der Organismus antwortet darauf mit Stressreaktionen, die einige Vorteile für uns bereithalten: Zusätzliche Kraftreserven werden mobilisiert, die Aufmerksamkeit wird fokussiert, der Körper gewinnt insgesamt an Spannung und wird für äußere Reize sensibler. Das erinnert an angstbesetzte Situationen und rein körperlich sind die Ausdrucksformen von Stress und Angst sehr ähnlich. Auf Dauer würde das natürlich ziemlich anstrengend sein und dauerhafte Stressreaktionen aufgrund von Veränderungen sind sicher auch kein erstrebenswertes Ziel. Die Aussage: „Das habe ich alles schon probiert“ ist allerdings ein gern strapazierter Vorwand, um keine weiteren Versuche in Richtung Wandel mehr zu unternehmen. Der Mensch strebt eben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung. Der durch einen Wandel mögliche Lustgewinn muss leider nur allzu oft hinter der Unlustvermeidung zurückstecken, denn dieser Lustgewinn wäre ja mit einem Risiko verbunden.

Auch neurobiologisch haben Veränderungen einige Folgen. Eine extreme Form der Veränderung sind traumatische Erfahrungen. Bei traumatischen Stressreaktionen werden Hormone ausgeschüttet, die unser Denken beeinflussen. Einige davon sorgen dafür, dass die Erfahrungen in unserem Langzeitspeicher landen und immer wieder abgerufen werden. Andere Hormone sorgen für Amnesien, also Gedächtnislücken. Solche Lücken werden durch eine „Vervollständigungstendenz“ überbrückt. Einerseits sollen die traumatischen Erfahrungen durch Abwehrmechanismen im Unbewussten behalten werden; andererseits drängen sich einzelne Fragmente durch Flashbacks und Albträume immer wieder nach oben, um sie in einen größeren Zusammenhang zu integrieren. Wir folgen damit unserem Bedürfnis, die Dinge in bekannte Strukturen einzubauen, um sie zu verstehen und handhabbar zu machen.

Kohärenzgefühl

Was aber ist in dem eben Geschilderten der positive Aspekt für den Wandel? Unser Großhirn arbeitet als narratives Gedächtnis. Es speichert längere Szenen und Zeitfolgen ab, bringt unsere „Geschichten“ in einen größeren Zusammenhang, kann interpretieren, bewerten und Sinn geben. Das ist also nicht nur eine Bewältigungsstrategie bei großen, problematischen Einschnitten, sondern eine wirklich gute Erfindung der Natur für alle Lebenssituationen. Diese Fähigkeit trägt dazu bei, dass wir uns gesund und leistungsfähig halten, und ist damit ein zentraler Bestandteil der Salutogenese (der Lehre von der Entstehung und Beibehaltung von Gesundheit). Unser narratives Gedächtnis sorgt also dafür, dass wir die Zusammenhänge des Lebens verstehen. Daraus folgt die Überzeugung, dass wir unser Leben gestalten und ihm einen Sinn geben können. Die Psychologie spricht hier von einem Kohärenzgefühl (lat. cohaerere = zusammenhängen). Gedankengänge werden als in sich logisch, zusammenhängend und nachvollziehbar erlebt. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um überhaupt eine Veränderungsbereitschaft zu entwickeln.

Im Coaching geht es um „gesunde“ Veränderungsprozesse, die nicht die Unterstützung einer Psychotherapie erfordern. Ich beschäftige mich deshalb hier mit dem nicht-pathologischen Bereich von Veränderungen, mit der „gesunden“ Neuausrichtung. Mein Fokus liegt auf den Potenzialen, die der Klient trotz seiner angelegten Ketten mit in die Beratung bringt. Dahinter steckt der Gedanke: Was hält oder macht den Coachee gesund?

Auch für Menschen in therapeutischer Behandlung können Coaching-Erfahrungen sehr hilfreich sein. Oft arbeite ich zum Beispiel in enger Absprache mit einem Psychologen oder Psychotherapeuten, um den Patienten durch ein unterstützendes Coaching weiter zu festigen und auf dem Weg der Veränderung zu begleiten.

1.2.2 Die psychische Dimension des Wandels

Auf der psychischen Ebene liegt der Wert des Wandels in der subjektiven Verarbeitung, dem „inneren Erleben“ einer Veränderung. Wandel bewirkt, dass wir uns lebendig fühlen, wir sind bewegt und kommen dadurch automatisch selbst in Bewegung. Oft hat Wandel auch eine Ver-Wandel-ung zur Folge, weil wir die Umwelt plötzlich neu wahrnehmen und entdecken. Damit einher kann die Überprüfung und Neuausrichtung unserer Einstellungen gehen.

Der Wert eines Wandels kann darin liegen, dass wir uns kraftvoll fühlen.

Auf der kognitiven Seite können Fragen aufgeworfen werden wie: „Was bringt mir diese Veränderung? Was will ich unbedingt erreichen? Wen benötige ich dazu? Wer kann mir Orientierung geben oder mir als Vorbild dienen?“ Die Beantwortung dieser Fragen hat Auswirkungen auf unsere Gefühle. Je nachdem, ob wir eher die Chancen oder Risiken einer Veränderung sehen, werden wir auch emotional auf sie reagieren. Der Wert eines Wandels kann darin liegen, dass wir uns kraftvoll fühlen, dass wir neue Möglichkeiten und Ziele entdecken und plötzlich Lust bekommen, diese zu verfolgen und unsere Zukunft zu gestalten. Wandel kann uns darin bestätigen, Dinge aushalten zu können und mehr zu verkraften, als wir uns selbst zugetraut hätten. Durch den Reiz des Neuen und Unbekannten wirkt Veränderung für viele von uns zudem äußerst anziehend.

Auch in der Wirtschaft spielt Veränderung eine wichtige Rolle. Die Produktlebenszyklen werden immer kürzer, Innovationen kommen immer schneller auf den Markt. Bevor man sich überhaupt mit einer Neuheit anfreunden konnte, gibt es schon wieder die nächste. Wandel sichert auf diese Weise wirtschaftlichen Erfolg. Gleichzeitig fordert der Wettbewerb um „die Nasenlänge voraus“ auch die Innovationskraft. In den Betrieben ist der Begriff „Change“ auf allen Ebenen zur Aufforderung geworden und so beeinflusst Wandel maßgeblich die „Psyche“ eines Unternehmens.

Auf der individuellen Ebene hängt der Wert des Wandels stark vom Persönlichkeitsstil ab, wie ich am Beispiel des Zutrauens und der Selbstwirksamkeit schon dargestellt habe. Persönlichkeitsstile spielen in Coaching und Therapie eine wichtige Rolle, um die Psyche des Klienten zu verstehen und darauf Einfluss nehmen zu können. So kann der Wert des Wandels für den zwanghaften Persönlichkeitsstil darin liegen, das Loslassen zu üben, Kontrolle abzugeben und zu lernen, Unabwendbares zu akzeptieren. Mithilfe professioneller Unterstützung kann er zudem lernen, bisher unterdrückte Persönlichkeitsanteile zu integrieren.

Für den depressiven Typus kann der Wert des Wandels in der Rückgewinnung der eigenen Handlungsfähigkeit liegen. Er macht die Erfahrung, dass er und seine Situation sich verändern, wenn sich die Dinge um ihn herum verändern. Und andersherum stellt er fest, dass er durch seinen eigenen Wandel auch seine Umwelt beeinflusst.

Hilfe anfordern zu dürfen, den größeren Zusammenhang zu erkennen können ein großer Gewinn für den schizoiden Persönlichkeitsstil sein. Er kann durch die Veränderung in Kontakt kommen mit seinen Gefühlen, seiner Empfindlichkeit und Verletzlichkeit. Er kann im Wandel die Erfahrung machen, dass eine emotionale und soziale Hinwendung zu sich selbst und anderen ihn persönlich bereichern kann.

Für die hysterische Persönlichkeit besteht der Wert des Wandels darin, dass er ihr Sicherheit vermittelt. Sie muss sich nicht festlegen und kann sich in einem veränderten Umfeld immer wieder neu inszenieren. Für Gedanken an die Zukunft gibt es kaum Gelegenheit, denn morgen ist sowieso nichts mehr, wie es war. Bei aller „Getriebenheit“ des hysterischen Stils ist es im Coaching wichtig, auch die Vorteile dieses Verhaltens wertzuschätzen und sie dann sukzessive den damit verbundenen Nachteilen gegenüberzustellen.

Big-Five-Modell

Es gibt eine Reihe weiterer Persönlichkeitsmodelle, die Denkanstöße bei der Frage nach der Veränderungsfähigkeit liefern können. Das Big-Five-Modell zum Beispiel versucht über fünf Grundfaktoren eine Persönlichkeit zu charakterisieren: Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Offenheit und emotionale Stabilität können je nach Ausprägung wesentlichen Einfluss haben auf die Präferenz von Dauer oder Wandel.

In jedem Fall prägt die Persönlichkeit in erheblichem Maße unseren Umgang mit Veränderungsphasen. Dabei sind das, was wir Persönlichkeit nennen, dauerhaft angelegte und immer wiederkehrende Denk- und Verhaltensmuster. Mit zunehmendem Alter sind diese zwar nur mit höherem Energieaufwand zu verändern, aber Veränderung ist in allen Lebensabschnitten möglich. Persönlichkeit scheint also kein Schicksal zu sein. Ich werde im Kapitel „So bin ich nun mal: Mein Charakter als Schicksal?“ näher darauf eingehen.

1.2.3 Die soziale Dimension des Wandels

Wie sieht der Wert des Wandels auf der sozialen Ebene aus? Trotz aller Bemühungen, sich selbst zu verwirklichen, unabhängig zu sein und die Individualität zu betonen, bleibt der Mensch ein soziales Wesen. Er hat nicht nur das grundlegende Bedürfnis nach Zugehörigkeit, sondern ist sogar auf Kooperation angewiesen. Jeder Wandel hängt daher mit der Frage zusammen: Wem werde ich dadurch ähnlicher und von wem entferne ich mich?

Verbindungen auf ihre Tragfähigkeit hin prüfen

Der Wert des Wandels besteht in sozialer Hinsicht darin, Verbindungen auf ihre Tragfähigkeit hin zu prüfen und für sich selbst zu klären, wo ich mich besser aufgehoben fühle: „Wenn ich es zukünftig anders mache, zu welcher Gruppe von Menschen würde ich dann gehören und wie geht es mir damit? Mit wem möchte ich mich gerne vergleichen, wenn ich die Veränderung angehe?“ Solche Fragen können helfen, den sozialen Aspekt des Wandels für sich zu klären.

Mit Wandel geht oft auch eine Anpassung der Rolle(n) einher. In welchen Rollen bewege ich mich? In welchen Rollen fühle ich mich besonders wohl, von welchen möchte ich mich trennen? Veränderung in der sozialen Dimension kann dazu beitragen, seine Rollen neu zu justieren und eine neue Stimmigkeit zu erzielen: Fühle ich mich wohl in der Hausfrauen-Rolle oder möchte ich eine Veränderung? Was kann ich tun, um meiner Rolle als Abteilungsleiter mehr Profil zu verleihen? Der Mensch bewegt sich nicht außerhalb seiner Rollen. Insofern geht jede Veränderung auch mit einer Anpassung des Rollenhaushaltes einher.

1.2.4 Die zeitliche Dimension des Wandels

Der Wert des Wandels hängt auch vom Zeitaspekt ab, und zwar in zweifacher Hinsicht: Wann findet die Veränderung statt und in welchem Tempo verändern wir uns? Wenn Sie einen Blick auf Ihre eigene Lebensgeschichte werfen, werden Sie vielleicht eine interessante Beobachtung machen. Viele Menschen berichten mir davon, dass sie den Wunsch nach Veränderung mit zunehmendem Alter weniger spüren. Die Dynamik der Jugend, sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, sich gelegentlich beweisen zu wollen und jeden Trend aufzunehmen, verliert offenbar bei vielen meiner Klienten im Reifungsprozess an Bedeutung. Zwar halten sie Wandlungsfähigkeit und -bereitschaft für ein hohes Gut, sie gehen aber bei der Bereitstellung ihrer Energie für Veränderungen sehr viel selektiver vor: Was ist mir wirklich wichtig? Deckt sich das mit meinen Werten? Welchen langfristigen Vorteil bringt mir das?

Warum steht die Veränderung gerade jetzt an?

Veränderungen stellen noch weitere wichtige Fragen auf der Zeitachse: Warum steht die Veränderung gerade jetzt an? Gibt es einen passenderen Zeitpunkt für einen Wandel? Könnte es Vorteile haben, die Veränderung noch eine Zeit lang aufzuschieben, und wenn ja, wie lange? Die Beantwortung dieser Fragen, ausgelöst durch eine anstehende Veränderung, kann uns wichtige Hinweise auf unsere grundsätzliche Lebensführung liefern. Wandel erfordert immer einen Moment des Innehaltens und der Standortbestimmung. Auch das erfordert Zeit. Manche Menschen scheinen aber aus dem Innehalten nicht mehr herauszukommen. Sie vermitteln mir den Eindruck, als warteten sie ihr Leben lang auf den richtigen Zeitpunkt. So werden manche Ehepaare zusammen alt, obwohl längst klar ist, dass sie schon seit Jahren nicht mehr zusammenpassen. Nur: Der Augenblick für eine Trennung war nie der richtige.

Veränderungen konfrontieren uns mit unserem Lebenstempo.

Beim Wandel geht es nicht nur um den Zeitpunkt, sondern auch um das Tempo: „Wir haben keine Zeit zu verlieren!“ „Der Schnelle frisst den Langsamen.“ Veränderungen konfrontieren uns mit unserem Lebenstempo und den damit verbundenen Eigenschaften Geduld und Antrieb. Beide sind Veränderungsprozessen sehr dienlich. In einer extremen Ausprägung allerdings können sie Wandlung erschweren: Wenn Geduld zur Passivität, Trägheit oder Erstarrung wird, dann verhindert sie jede Form des Wandels. Wenn unser Antrieb sich zum wilden Aktionismus verkehrt, dann erreichen wir die Ausprägung der pathologischen Hysterie.

Der Wert des Wandels liegt darin, dass wir uns Zeit nehmen für eine Werteprüfung, für ein Abwägen von Vor- und Nachteilen und eine Art „innere Inspektion“.

1.2.5 Die situative Dimension des Wandels

„In dieser Situation hätte ich anders handeln müssen.“ „Genau an diesem Punkt hätte ich die Entscheidung treffen sollen.“ Wir kennen alle diese oder ähnliche Aussagen, die in sehr enger Verbindung zur zeitlichen Dimension stehen. „Da wäre der richtige Zeitpunkt gewesen.“ Aber es kommt eben auch auf die konkrete Situation an, ob ich etwas ändere oder nicht, ob ich etwas tue oder lasse und wie meine Entscheidung ausfällt. Wenn der Chef gerade extrem guter Laune ist, kann es durchaus Sinn machen, ihn heute auf die noch ausstehende Gehaltserhöhung anzusprechen. Wenn das Wetter heute herrlich warm ist und ich mich kraftvoll und lebendig fühle, kann es genau der richtige Zeitpunkt sein, mit einem ersten Probelauf für das Training zum Halbmarathon zu starten. Wenn Sie und Ihr Partner gerade auf Wolke sieben schweben, weil sie eine gemeinsame Herausforderung gemeistert haben, könnten neue Ziele und Pläne Sie zusätzlich beflügeln.

Der situative Wert des Wandels liegt im auslösenden Moment.