Titelbild
Titelbild

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für Michael,

für alles

ISBN 978-3-492-97403-5

September 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Erstausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008/Ullstein Verlag

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Covergestaltung: Mediabureau di Stefano, Berlin

Covermotiv: Andrew Walsh, EyeEm/Getty Images (Schnee mit Fußspuren); kjohansen/Getty Images (Rahmen)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

1951

Die Männer kommen vor Tagesbeginn. Tjuollda hört sie zuerst, lauscht mit gespitzten Ohren zum Fenster hin.

»Was denn, mein Katerchen?« Sie stemmt sich hoch, blickt nun ebenfalls in die Schwärze hinter dem Fenster. Nichts ist dort zu sehen, nichts zu hören, nur das leise Ächzen der vereisten Bäume. Oder täuscht sie sich?

Sie schichtet Holz in den Ofen, und die knisternde Gier der Flammen vertreibt die Stille, die ihr auf einmal so bedrohlich erscheint. Lichtpunkte huschen über die Deckenbalken, unstet wie das Polarlicht am Abend zuvor. Grünes Polarlicht, ein Gruß der Toten.

Tjuollda wird unruhig, springt vom Bett und duckt sich unter die Ofenbank. Tjuollda, ihr Trost, als sie die Tochter holten. Ihr Halt, als sich Nachbarn und Freunde nicht mehr in ihre Nähe wagten.

Es ist vorbei, jetzt holen sie mich. Mit eisiger Sicherheit weiß sie, dass sie gleich stirbt. Schläge am Himmel, sich näherndes Donnern, so laut, dass es das Knacken des Feuers übertönt. Sie hat geglaubt, hier sei sie sicher. Wie sehr uns der Drang zu leben verblendet, denkt sie.

Die Scheinwerfer des Hubschraubers erfassen die Kate, geistern über die Birken, sinken aufs Eis. Sie hat keine Zeit mehr, drückt gegen den Schrank, bis sie die lose Bodendiele darunter zu fassen bekommt. Sie wirft die Trommel und den Umhang hinunter ins Schwarz. Frevel, Frevel, schreit alles in ihr. Doch sie braucht die Hoffnung, dass ihre Tochter dieses Vermächtnis finden wird.

Sie trägt Tjuollda zur Tür, bittet ihn, zu fliehen. Jammernd krallt er sich an ihr fest. Und wo sollte er auch hin, wer würde ihn retten? Sicher nicht diese bis zur Besinnungslosigkeit verängstigten Kreaturen in den Blockhäusern neben ihr.

Vielleicht kommen sie gar nicht zu mir! Die alte Hoffnung, Giftfrucht des Terrors. Stillhalten und beten, dass es die anderen trifft. Sie ruft ihre Schutzgeister, den Raben, den Fuchs. Sie summt ihre Lieder, schlägt den vertrauten Rhythmus aufs Knie. Aber die Schutzgeister lösen sich einfach auf, als die Männer die Tür der Kate eintreten, sie aufs Bett stoßen und schänden und dem schreienden Tjuollda den Hals umdrehen.

Träumt sie, wacht sie, ist sie schon tot? Sie weiß es nicht mehr, als die Männer sie in den Laderaum des Hubschraubers stoßen. Junge Männer mit toten Augen, die vor ihr ausspucken, sie beschimpfen und lachen, als die Maschine vom Eis abhebt.

Das Land, das einmal ihr Land war, tief unter ihr. Weißer Rauch, der von ihrer Kate aufsteigt. Verdreckte Stiefel, die sie zur offenen Tür des Hubschraubers hintreten. Der Hohn der Männer, als sie sie in den Himmel stoßen: »Wenn du Schamanin bist, flieg!«

Sie schreit und kann nicht schreien. Fliegt und kann nicht fliegen. Sie breitet die Arme aus und stürzt durch die Nacht, quälend langsam und doch viel zu schnell.

1. Teil

Verlangen

desire is hunger is the fire I breathe

love is a banquet on which we feed

(…)

come on now try and understand

the way I feel under your command

BECAUSE THE NIGHT

Patti Smith Group