Wickert, Ulrich Gauner muss man Gauner nennen

PIPER

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Für Julia

ISBN 9783492974264

September 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2007

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Klartext

Vom Paradies auf Erden träumt schon lange niemand mehr. Aber es würde ja schon reichen, denkt der Zeitgenosse, wenn wenigstens ein friedliches Zusammenleben möglich wäre, wenn zumindest zu Hause gesellschaftliche Regeln wieder etwas bedeuteten.

Nichts ist heute mehr so, wie es war. Nachdem sich der Ost-West-Konflikt noch im alten Jahrhundert überraschend friedlich in Wohlgefallen aufgelöst hatte und das »Ende der Geschichte« ausgerufen worden war, schienen sich für kurze Zeit alle Probleme verflüchtigt zu haben. Deutschland hatte mit dem Vereinigungsprozess genug zu tun und wollte beweisen, dass ein vereintes Deutschland ebenso in europäischen Bahnen denkt und handelt wie die alte Bundesrepublik, also keinesfalls Machtansprüche stellt wie einst das aggressive Deutsche Reich. Entsprechend zog sich die Politik im Wesentlichen darauf zurück, sich im Organisieren von »ökonomischen Rahmenbedingungen« zu versuchen. Eine Zeit lang blendete noch die »New Economy« alle Wirtschaftsreligiösen, aber spätestens mit dem Platzen der Spekulationsblase kam das Dauergerede von der Krise. Auch das war erst einmal im Wesentlichen ökonomisch gemeint.

Und dann kam der 11. September 2001. Seit den Attentaten, deren Symbol der Einsturz der beiden Türme des World Trade Center ist, gibt es in der Weltpolitik keine wirkliche Orientierung mehr. Das Ausrufen der »Achse des Bösen« und des »Weltkriegs gegen den Terror« ist kein stabilisierender Faktor, wie es der Ost-West-Konflikt war. Schließlich können weder der Irak noch der Iran noch Al-Qaida den gleichen Stellenwert einnehmen wie der sogenannte Ostblock.

Manch einem von uns mögen diese Bedrohungen auch zu abstrakt erschienen sein, und die nächsten Anschlagsorte Madrid und London waren weit entfernt. Und hat uns nicht Schröders und Fischers Reflex auf unsere Geschichte – Nie wieder Krieg! – davor bewahrt, uns am Irakkrieg zu beteiligen? Spätestens aber seit den fehlgeschlagenen Attentaten mit Kofferbomben auf zwei Regionalzüge hat jeder begriffen, dass auch für die Bundesbürger der Ernst des Lebens in der globalisierten Welt begonnen hat. Wir haben zwar noch einmal Glück gehabt. Aber wer weiß, was alles auf uns zukommen kann, seit deutsche Truppen in Afghanistan und deutsche Kriegsschiffe vor der libanesischen Küste im Einsatz sind?

Zukunftsangst breitet sich aus im Land.

Eine optimistische Lebensplanung erscheint vielen jungen Menschen heute unmöglich. Dazu trägt nicht nur die terroristische Bedrohung bei und alles, was mit ihr zusammenhängt. Hinzu kommen wirtschaftliche Faktoren: Deutschland wird zwar im Zeitalter der Globalisierung Jahr für Jahr Exportweltmeister, aber die Arbeitslosigkeit nimmt trotz florierender Wirtschaft nur geringfügig ab. Dem ausgerufenen »robusten Aufschwung« kann noch niemand richtig vertrauen. Und wenn schon, profitieren werden davon sowieso immer die anderen. Die Renten werden bald nicht mehr für einen Lebensabend in Würde reichen. Den wechselnden Regierungen gelingt es nicht, sich auf grundsätzliche Reformen des Gesundheitswesens und des Rentensystems zu einigen. Die Schere zwischen den Gut- und Sehr-gut-Verdienern und einem Drittel der Gesellschaft am unteren Ende der Einkommens- beziehungsweise Hartz-IV-Skala geht immer weiter auf. Daher hat die Mittelschicht eine diffuse Angst vor Abstieg und Deklassierung.

Kurz gesagt: Die Maßstäbe stimmen nicht mehr. Wir haben die Orientierung verloren.

In vielen Bereichen des täglichen Lebens sind die Sitten verlottert. Das Bundeskriminalamt stellt fest, dass sich die Zahl der Bestechungsfälle 2005 im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt hat. Auch die Zahl der Tatverdächtigen stieg sogar um 220 Prozent. Die Anzahl rechtsradikaler Gewalttaten hat sich verdoppelt. Im deutschen Privatfernsehen spritzt das Blut, im öffentlich-rechtlichen fliegen die Fäuste zweitklassiger Boxer. In der TV-Reality-Show »Martial Arts X-Treme« beim Sportkanal DSF gehen zweiunddreißig Schläger aus ganz Europa mit bloßen Händen und Füßen brutal aufeinander los. »Da werden die niedersten menschlichen Instinkte geweckt«, sagt Hagen Doering, Sportdirektor des Sauerland-Boxstalls. Zur gleichen Zeit werden Kinderleichen in der Tiefkühltruhe gefunden.

Unternehmen klagen, Auszubildende verfügten über keine Bildung mehr. Lehrer beschweren sich, Schüler lernten von ihren Eltern weder Moral noch Benehmen. Der Bildungsnotstand in Deutschland sei die Folge eines Erziehungsnotstands, erklärt Bernhard Bueb, der langjährige Leiter des Internats Schloss Salem: »Kinder und Jugendliche werden heute nicht mehr aufgezogen, sondern wachsen einfach auf. Sie sind umgeben von ungewollt aggressiv präsenten Erziehern: vom Fernsehen, vom plakativen Wohlstand unseres Landes, von den Verführern der Konsumgesellschaft, von den Vorbildern eines geistigen und charakterlichen Mittelmaßes, das unsere ›Eliten‹ repräsentieren.«

Vor dem Hintergrund dieser Gemengelage wächst die Sehnsucht der Bürger nach Orientierung in allen Lebensbereichen.

Millionen Jugendliche reisten nach Köln zum Weltjugendtreffen und jubelten dem Papst zu. Nicht etwa, weil sie religiös sind. Nein, sie sehnen sich nach Werten, nach Gemeinschaft, nach Brüderlichkeit und Frieden. Und für einige wenige Tage erfuhren sie tatsächlich, wie friedlich und fröhlich das menschliche Zusammenleben auch in Enge und großer Masse sein kann, wenn sich alle nach den gleichen Regeln richten. Spätestens als Papst Benedikt XVI. einige Monate später zum Heimatbesuch nach Bayern reiste und die Massen ihm erneut zujubelten, begann auch unter Menschen, die dem katholischen Glauben nicht eben nahestehen, das Nachdenken über den »Mangel an Werten und Orientierung«.

In Wirklichkeit mangelt es selbstverständlich weder an Werten noch an Orientierungsangeboten – ob man nun religiös ist oder nicht. Jeder kennt sie irgendwie, die grundlegenden Werte und Tugenden, aber zu wenige richten ihr Handeln danach aus. Allein in Umfragen lässt der deutsche Bürger seine Sehnsucht danach erkennen. Verlässlichkeit und Verantwortung, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit halten mehr als 90 Prozent für wichtige Maßstäbe. Aber anscheinend sind diese Begriffe hohl geworden, weiß nicht jeder, was sie konkret bedeuten. Und in der öffentlichen Auseinandersetzung werden sie bevorzugt dem jeweils eigenen politischen Nutzen angepasst und somit eines verbindlichen Sinnes entleert.

Einst wurde Gerechtigkeit als die Gleichheit vor dem Gesetz definiert. Später hieß das »Chancengleichheit«. Jetzt aber erheben Sozialpolitiker eine »Verteilungsgerechtigkeit« zum politisch korrekten Begriff und begründen damit einen Umverteilungs- und Versorgungswahn, der die Bildung einer sogenannten Unterschicht verhindern soll. »Unterschicht«, ein Terminus, den wir längst aus unserer Sprache aussortiert hatten – wie wir auch glaubten, »soziale Klassen« ein für alle Mal abgeschafft und durch »Lebensstile« ersetzt zu haben –, machte 2006 plötzlich Karriere und schaffte es sogar in die Schlagzeilen der FAZ. Früher hätte die politische Linke von »Proletariat« gesprochen, doch da dieses Wort als »politischer Kampfbegriff« quasi tabu ist, haben unsere schönredenden Politiker flugs den Begriff »Prekariat« erfunden.

Wie aber kam es zum Streit über die »Unterschicht«?

Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hat das »schmutzige Wort« – so der Kommentator der FAZ – benutzt, als er ausführte, dass nach einer Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung acht Prozent der Bevölkerung in Deutschland (in Ostdeutschland 20 Prozent) in unsicheren Arbeitsverhältnissen leben, in »prekären Lebenslagen«, geprägt von sozialer »Lethargie«. Diese Menschen hätten allen Ehrgeiz verloren und richteten sich nicht mehr nach den Werten der Gesellschaft. »Unterschicht« bezeichnet also für Beck eine Gruppe von Menschen, die sich aus dem gesellschaftlichen Konsens verabschiedet hat, die Regeln nicht mehr einhält und nicht mehr den Willen hat, sich durch eigenes Tun aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Sofort erhob ein Klagechor von Politikern aus allen Parteien, inklusive der SPD, sein Wehgeschrei. Es handele sich doch bei den so benannten nur um »Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen«.

In diesem scheinbaren Streit um Worte kann nur Klartext weiterhelfen.

Ich glaube, viele Begriffe in der gesellschaftlichen und politischen Debatte müssen wieder ihrer ursprünglichen Bedeutung oder wenigstens einem verbindlichen Sinn zugeordnet werden. Sie müssten wieder klar ausdrücken, was der meint, der sie benutzt, und nicht dazu dienen, das eigentlich Gemeinte schönrednerisch zu verschleiern. Denn in den modernen Wohlstandsgesellschaften hat sich breitgemacht, was George Orwell in seinem Roman 1984 als »newspeak«, also Neusprech, bezeichnet hat. »Newspeak« wird in der Gesellschaft von Orwells Roman angewendet, um den Menschen dort gedanklich die Möglichkeiten vorzuenthalten, Missstände klar benennen zu können. In der utopischen Zwangsgesellschaft von 1984 wird Klartext zur Gefahr für die Machthabenden. Und ohne dass wir es merken, leben auch wir längst in einer Art gedanklichen und sprachlichen Zwangsgesellschaft. Wie das »Unterschicht«-Beispiel zeigt, wird auch bei uns häufig »newspeak« angewendet, um einen gesellschaftlichen Missstand zu verschleiern.

Klartext reden aber bedeutet: ein Problem beim Namen zu nennen. Selbst wenn es wehtut. Sonst können die Probleme nicht in ihrer wirklichen Tragweite wahrgenommen und erst recht nicht gelöst werden.

Klartext reden genügt aber nicht. Wer sich über einen Zustand beklagt, wer klare Rede und klares Denken einfordert, der muss auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und entsprechend zu handeln.

Der Traum vom Paradies auf Erden ist ausgeträumt. Aber gibt es denn nicht einen anderen Traum, eine Vision, die uns als Wegweiser helfen könnte, die Probleme besser in den Griff zu bekommen? Wer dies fragt, muss in Bezug auf Europa, auf Deutschland genauer fragen: Wer sind wir? Was ist unsere Geschichte? Aus welchen Wurzeln ist unsere Kultur gewachsen? Wo wollen wir hin? Denn auch wenn moralische Werte, so wie wir sie verstehen, universell gültig sein sollen, so müssen wir sie in jeder Epoche und für jedes Gemeinwesen immer wieder neu diskutieren und mit Leben füllen. Dazu will dieses Buch beitragen, damit unsere neu erwachte Sehnsucht nach verbindlichen Werten nicht irgendwann in Frustration oder gar Aggression umkippt.

Die Vision: humanes Zusammenleben

Die Ordnung der Welt verschiebt sich. Neue Weltmächte entstehen in Asien. China und Indien werden sich in den kommenden Jahrzehnten zu wirtschaftlichen Supermächten entwickeln, werden Europa und selbst Amerika überholen. Die Globalisierung bedroht das alte Europa in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht, und nur, wenn die europäische Wirtschaftszone sich mit den Vereinigten Staaten verbündet, können sich beide gegen Asien behaupten. Solche und ähnliche Zukunftsprognosen werden uns täglich vor Augen geführt und bestimmen mehr und mehr unser Denken.

Was bedeutet das für die Menschen in Europa, was für uns Deutsche?

Auch hier sind die Vorhersagen alles andere als optimistisch. Immer mehr Arbeit, und nicht nur »schmutzige«, wird ins ferne Ausland verlagert. Die Alterspyramide steht in absehbarer Zeit auf dem Kopf und unsere Sozialsysteme brechen zusammen. Unser alter Kontinent droht wirtschaftlich ins Hintertreffen zu geraten. Migrationswellen aus den afrikanischen Ländern, deren Menschen viel mehr als wir zu den Verlierern von Modernisierung und Globalisierung gehören, überfordern die Gesellschaften vor allem der Mittelmeerländer, aber auch uns. Damit einher gehen eine Fundamentalisierung und Radikalisierung dieser Verlierer, die sich unter anderem in islamistischen Attentaten ihr Ventil suchen. Als Folge davon nimmt bei uns die Angst um unsere Sicherheit zu. Und zu guter Letzt verunsichern uns die Prognosen über den Klimakollaps, der die ganze Welt betrifft.

Auf diese Bedrohungen beginnt unsere Gesellschaft zu reagieren. Sehnsüchte nach alten Werten und Tugenden wie Verlässlichkeit, Geborgenheit, Gemeinschaftssinn werden wach. Der Kult des Individuellen, die Egogesellschaft samt ihren spaßkulturellen Ausprägungen geraten mehr und mehr unter Druck. All die Verunsicherungen und Vertrauensverluste wecken den Wunsch nach Sinn und Sicherheit. Entsprechend verändern sich die Anforderungen an die Erziehung. Nicht mehr das hedonistische Ausleben des Einzelnen ist das Ziel. Die Menschen erkennen, so der Trendforscher Horst W. Opaschowski in seiner Zukunftsstudie vom Herbst 2006, dass die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft davon abhängt, Kinder wieder zu dauerhaften Beziehungen zu ermutigen.

Diese wiedergekehrte Sehnsucht nach Verlässlichkeit und Geborgenheit aber bringt es mit sich, dass die Menschen sich auch nach so etwas wie Selbstbewusstsein sehnen. Denn nur wer weiß, wer er ist, und sich selbst annimmt, kann Verlässlichkeit finden und selbst verlässlich sein. Das gilt für den Einzelnen genauso wie für die Gesellschaft. Für uns Deutsche bedeutet es aufgrund unserer Geschichte und der damit einhergehenden Zweifel und Skrupel, was kollektive »deutsche Identität« angeht, eine besondere Herausforderung, eine derartige Identität auszubilden.

In diesem Zusammenhang geht es um zwei Begriffe, mit denen wir uns seit der Befreiung durch die Alliierten schwertun: »Heimat« und »Nation«. Beide aber müssen mit Inhalten gefüllt werden, um eine nationale Identität überhaupt schaffen zu können. Einerseits muss sich die deutsche Geschichte inklusive Faschismus und Völkermord daraus erklären, und andererseits soll der Einzelne in die Gemeinschaft aufgenommen werden, in der er sich geborgen fühlt.

»Heimat« hat mit »Gefühl« zu tun, »Nation« hingegen mit »Vernunft«. »Heimat« bezeichnet keinen begrenzten Ort, so wie auch Gefühle keine Schranken kennen. Heimat bedeutet vielmehr etwas Diffuses, das Umfeld, in das ein Mensch hineingeboren wird oder das er sich zur »Wahl«-Heimat erkürt. Einen familiären, kulturellen, sozialen, politischen Ort, wo er Erfahrungen und Erinnerungen sammelt, wo er seine Einstellungen und Werte findet, die seine Identität, seinen Charakter und seine Mentalität prägen. Jeder wird sich dabei ein anderes Bild in seinem Kaleidoskop zurechtschütteln, der Almbayer eines mit Bergen und Bier, der Friese eines mit Meer und Korn, der junge Mann oder das Mädchen aus Kreuzberg vielleicht eines, das auch Elemente der Heimat seiner Eltern, die aus der Türkei stammen, enthält.

»Nation» ist hingegen etwas Künstliches, oft sogar Konstruiertes. Das gilt besonders auch für die »verspätete Nation« Deutschland, die ja erst im 19. Jahrhundert Gestalt annahm. Und dass es gerade diese Gestalt war, nämlich das preußisch-deutsche Reich als deutsche Nation, war nicht zwangsläufig, sondern lag am vielzitierten »Mantel der Geschichte«, den Bismarck am geschwindesten und besten ergreifen konnte. Der Stimmung der Zeit folgend wurde dann der Begriff Nation mit Gefühl aufgeladen, was zur unseligen Entwicklung des Nationalismus führte.

Aber Gefühl gehört zur Heimat, nicht zum blutleeren Begriff der Nation; das zumindest lehrt uns die Geschichte des Nationalismus.

Das Selbstbewusstsein eines Volkes erwächst aus den Erkenntnissen und Erfahrungen eines jeden Einzelnen. Hat sich ein gemeinsames Bewusstsein gebildet, bestimmt dies zwar das Denken jedes Einzelnen, zumindest in groben Zügen, aber die Einzelnen können es auch beeinflussen und ändern, wenn sie es denn wollen und einen Modus finden, diesem Wollen gesellschaftliche Bedeutung zu verschaffen.

Denken lenkt aber auch Handeln.

Und Handeln, das einem gemeinsamen Denken oder gemeinsamen Grundgedanken entspricht, könnte für uns Deutsche ein Weg in eine selbstbewusste Zukunft sein. Solches Denken und Handeln braucht aber zuallererst eine Richtung und damit ein Ziel, oder sagen wir es mit einem aus der Mode gekommenen Wort: eine gemeinsame Vision. Eine solche kann nur abstrakt formuliert werden, und ich schlage vor, von »humanem Zusammenleben« als identitätsstiftendem Ziel zu sprechen.

Unverzichtbare Grundlagen eines humanen Staates sind die Menschenrechte, wie sie in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« der Vereinten Nationen von 1948 niedergelegt sind. Dazu gehören alle sogenannten Freiheitsrechte, aber auch Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung, kritische und verantwortungsbewusste Medien, Umweltbewusstsein, Solidarität und so weiter. Oder anders gesagt: das Einhalten der ethischen Werte, die sich aus der Würde des Menschen herleiten.

Ein derart humaner Staat verlangt wiederum von jedem seiner Bürger, dass er sich verantwortlich fühlt für die Gemeinschaft und ihr Handeln. Und dieses Sichverantwortlichfühlen setzt voraus, dass man weiß, woran man sich in der Geschichte erinnern muss und was man getrost zu den Akten legen kann. Wesentlich für die Fassung einer deutschen Identität ist somit also jenseits des Zieles einer humanen Gesellschaft – sozusagen als Kehrseite der Medaille – das gemeinsame Wissen um die mörderischen Epochen unserer Geschichte. Allerdings reicht die alleinige Rückbeziehung auf den Faschismus, die in die Formel »Nie wieder Auschwitz« gerinnt, genauso wenig aus, eine »Identität« hervorzubringen, wie die Fixierung auf ein ewiges Wirtschaftswunder.

Leider erleben wir immer wieder, dass rechtsradikales Denken, besonders bei jungen und orientierungslosen oder ungebildeten Menschen, Anklang findet. Die Landtagswahl im September 2006 in Mecklenburg-Vorpommern hat das deutlich gezeigt: Mehr als sieben Prozent stimmten für die NPD. Und rechte Gewalt fordert immer wieder und sogar wieder zunehmend ihre Opfer. Angesichts dieser Tatsachen ist es unverständlich, dass der Staat die Mittel für Organisationen, in denen engagierte Bürger gegen rechte Gewalt ankämpfen, deutlich reduziert.

Aber leider gibt es bedenkliche Positionen auch in den etablierten Parteien. In der Regel versuchen in derartigen Fällen Politiker, aus den diffusen Gefühlen einer deutschen »Minderwertigkeit« populistisches Kapital zu schlagen. So verursachte zum Beispiel der sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Henry Nitzsche einen Skandal, als er sich dazu hinreißen ließ, bei einer Parteiversammlung mit Blick auf die NS-Vergangenheit von einem »Schuldkult« zu sprechen, und gleichzeitig forderte, Deutschland solle nie wieder von »Multikulti-Schwuchteln« regiert werden. Monatelang blieben diese Äußerungen des CDU-Mannes in seiner Partei auch noch unwidersprochen. Hier hätte die Bundespartei Klartext sprechen und den Mann aus der Partei ausschließen müssen. Aber dazu fehlte der Mut.

Oder ist es gar nicht der Mut, der fehlt, spekuliert man vielleicht sogar ganz gern mit einer Stimmung, die da heißen mag, jetzt sei es aber genug mit der Besinnung auf Nazis und Holocaust, weg damit, statt sich damit auseinanderzusetzen, wie zeitgerechtes Erinnern in ein Konzept nationaler Identität einzubauen wäre – da die Konzepte »Wirtschaftswunder« und »Europa« zumindest emotional in der Krise sind.

Auch wenn das Konzept einer »humanen Gesellschaft« abstrakt klingen mag und eine Vision ist, die sich bestimmt nicht über Nacht verwirklichen lässt, so ist die humane Gesellschaft doch ein »entschiedener Bruch mit der Tradition des Obrigkeitsstaates, eine beharrliche experimentelle Humanisierung aller Instanzen des Staates, Parteien, Militär mit eingeschlossen, (und) wäre sicher als Mittel der Reinigung von dem Stigma der Vergangenheit und damit zugleich als Mittel der gegenwärtigen und zukünftigen Sinngebung von Staat und Nation ebenso nützlich wie erfreulich gewesen. Ein humaner Staat, so etwas fehlt eigentlich noch auf der Welt« – so der Soziologe Norbert Elias.

In einer humanen Gesellschaft besteht keine Trennung zwischen privater und öffentlicher Moral. Diese Moral regelt, wie Menschen in einer Gemeinschaft miteinander umgehen sollen – sowohl im Privaten als auch in öffentlichen Beziehungen. So weit die Theorie. Im »wirklichen« Leben aber wird das Individuum sehr viel häufiger und vielleicht sogar strenger an den Wertmaßstäben gemessen als das »politische System«. Es wird also nicht leicht sein, die Vision einer humanen Gesellschaft zu realisieren, denn das verlangt von Bürgern und Politikern ein Umdenken in kaum vorstellbarem Maße. Gerade aber auch für Politiker muss endlich zur Maxime werden, dass nicht das Erlangen und Festhalten an der Macht Ziel aller Politik sein darf, sondern das Wohl der Bürger eines Landes, in dem Werte wie Solidarität, Toleranz und Gerechtigkeit eine wichtige Rolle spielen. Gerade von wahrer Solidarität ist nur noch selten die Rede; sicher einer der Gründe, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufklafft.

Welcher Politiker aber ist heute bereit, seine Macht zugunsten vernünftiger Entscheidungen aufs Spiel zu setzen? Bundeskanzler Gerhard Schröder hat es einmal versucht. Es ist ihm schlecht bekommen. Schröder hatte zentrale Probleme unserer Gesellschaft erkannt und mit der »Agenda 2010« auch Mut gezeigt. Doch die Reformvorhaben, die er formuliert hat, haben ihm in seiner eigenen Partei und bei den Gewerkschaften keine Zustimmung gebracht. Ein paar mehr oder weniger unbefriedigende Kompromisse waren das Ergebnis – unter anderem »Hartz IV« – und trotzdem sagen selbst führende Unions-Politiker, ohne Schröders »Agenda 2010« gäbe es in Deutschland 800 000 Arbeitslose mehr. Aber sie sagen es nur hinter vorgehaltener Hand. Denn selbstverständlich war zu Zeiten von Schröders Kanzlerschaft die CDU/CSU-Fraktion so ganz und gar nicht für Reformen à la »Agenda 2010«.

Im Wahlkampf 2005 sah das dagegen ganz anders aus. Da trat Angela Merkel siegesgewiss mit Konzepten an, die doch sehr nahe an Schröders Agenda lagen. Und, o Wunder, selbstverständlich bekämpfte Schröder diese Konzepte nun auf das heftigste. So kam schließlich die Große Koalition zustande, und Optimisten glaubten, jetzt könnte eine breite Mehrheit dafür sorgen, die Probleme des Landes wirklich anzugehen, denn jeder weiß ja, wo die Probleme, vor allem der Sozialsysteme, liegen. Doch weit gefehlt. Statt Politik zu machen, die einem größeren Ziel verpflichtet ist, sorgen sich auch die heute Regierenden anscheinend nur noch darum, wie sie sich an der Macht halten können. Denn das ist die Lehre aus Schröders »Agenda 2010«-Experiment: Wer mutig ist, wird abgestraft.

Aber auch jenseits der großen Themen wie Subventionsabbau, Renten- und Gesundheitssystem gibt es jede Menge offensichtlicher Einsparpotenziale, die mit einfachen Veränderungen zu nutzen wären. Jeder Fraktionsvorsitzende weiß beispielsweise, dass es zu viele Abgeordnete, ja zu viele Parlamente gibt. Aber der Druck aus den Parteiapparaten verhindert eine Reduzierung auf das vernünftige Maß. Auch der Föderalismus müsste grundsätzlich reformiert werden. Doch dagegen sträuben sich die Landesfürsten aller Parteien. Selbst Wirtschaftsbosse, die börsennotierte Gesellschaften vertreten, wie der Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, fordern öffentlich die Abschaffung aller Wirtschaftssubventionen. Sie seien sinnlos und dienten nur den diversen Lobbys. Mit diesen »Interessenvertretern« jedoch will sich kein Politiker anlegen. So wachsen die Staatsschulden, und die jetzige Generation lebt auf Kosten ihrer Enkel.

Zum Kernbestand unseres Moralkodex gehört das Verbot, andere Menschen zu töten, töten zu lassen beziehungsweise an der Tötung mitzuwirken. Das gilt selbst für schwerste Straftäter. Und das muss so sein in einer humanen Gesellschaft. Deshalb ist es auch so schwer zu begreifen, wie Waffenverkäufe in Krisengebiete zugelassen werden können. Denn wer Waffen herstellt und sie in ein fremdes Land liefert, besonders wenn sich dieses Land nicht innerhalb des eigenen Sicherheitsbündnisses befindet und als sogenannte Krisenregion gilt, der leistet Krieg oder Aufstand und somit der Tötung von Menschen Vorschub.

Deutschland verfügt zwar über strenge Gesetze zur Waffenausfuhr, doch immer wieder tauchen deutsche Waffen, auch die besonders verheerenden Landminen, in Kampfgebieten der immer noch so genannten Dritten Welt auf. Das moralisch Falsche kann aber im politischen oder wirtschaftlichen Zusammenhang nicht plötzlich halb richtig oder nur halb falsch sein. Ein solches Urteil wird oft vorschnell als »naiv« verurteilt, was heißen soll: nicht der realen Politik, wie sie seit langem ausgeübt wird, entsprechend.

Moralische Forderungen aber haben nicht dem zu entsprechen, was ist, sondern vorzugeben, was sein sollte, sie müssen dem gern zitierten Sachzwang widerstehen. Und »umdenken« sollte bedeuten, ernsthaft in Betracht zu ziehen, was bisher keine Bedeutung hatte.

Die Politik in Deutschland war bis 1945 von Großmachtstreben geprägt, was im Europa von heute so nicht mehr denkbar ist. Und wenn die Erinnerung an den Völkermord Deutschland etwas verbietet, dann einen Rückfall in aggressive Machtpolitik. Darüber hinaus heißt einer unserer historisch abgeleiteten, für uns zentralen Leitgedanken »Nie wieder Auschwitz«. Und dennoch hat sich die Bundesregierung weder mit Worten in der Weltöffentlichkeit noch mit Taten für eine Beendigung des Völkermords in der westsudanesischen Region Darfur eingesetzt, obwohl der ehemalige Bundesinnenminister und FDP-Politiker Gerhart Baum von der UNO zwei Jahre lang zum Darfur-Beauftragten ernannt worden war und ständig vom deutschen Außenministerium ein entsprechendes Eingreifen gefordert hat.

Aber es geschah nichts.

Warum?

Weil Bundesaußenminister Joschka Fischer, ganz Machtpolitiker, versucht hat, für Deutschland einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat zu erlangen. Der Sudan jedoch liefert sehr viel Öl nach China, und Deutschland wollte China nicht verprellen. Denn China gehört zu den Vetomächten im Sicherheitsrat.

So wird machtpolitisches Kalkül gegen eine moralische, unserer jüngeren Geschichte verpflichtete Haltung ausgespielt. Und es wird lange dauern, bis sich der »naive« Gedanke einer humanen Gesellschaft verbreiten und im deutschen Bewusstsein verankern lässt. Aber wer begriffen hat, dass er verantwortlich ist, ja mitverantwortlich gemacht werden kann, muss darüber nachdenken, ob es weiterhin bei einer strengen privaten und einer laschen öffentlichen Moral bleiben soll. Sich mitverantwortlich wissen bedeutet, aktiv am Staat und seiner Humanisierung mitzuarbeiten.

Die Mehrheit der Deutschen aber fühlt sich für dieses unser Land nicht wirklich verantwortlich.

Dafür ist die geringe Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen im September 2006 ein beredtes Beispiel. Knapp 40 Prozent der Wähler haben sich nicht nur dem Urnengang, sondern wohl ganz bewusst den angestammten Parteien verweigert. Der Grund dafür ist einleuchtend: Die Wähler sehen in den Parteien nur noch Machterhaltungsinstrumente. Aber das zu ändern ist nicht möglich, wenn sich die Kritiker zurücklehnen und sich verweigern, sondern nur, wenn sie handeln. Wer mit dem Zustand des Gemeinwesens nicht zufrieden ist, kann, ja muss helfen, ihn zu verbessern. Der Staat herrscht schließlich nicht über den Bürger, sondern ist ein von den Bürgern geschaffenes Instrument der Gemeinschaft.

Im Gegensatz zu anderen Nationen fehlt bei uns oft die Einsicht, dass der Staat ein Gemeinschaftswerk ist und nicht ein dem Einzelnen feindlich gegenüberstehendes Abstraktum. Diese fatale Haltung ist sicherlich ein Resultat unserer Geschichte. Schließlich sind uns die Grundlagen für einen demokratischen und zur Humanität fähigen Staat von den drei westlichen alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs geschenkt worden. Wir haben uns diese nicht selbst erkämpft. Deswegen leiden viele Menschen seit der Befreiung 1945 unter einer Art Minderwertigkeitskomplex und würden Deutschland gern in einem europäischen, postnationalen Nebelgebilde verschwinden sehen. Denn dann müssen sie sich auch keine Gedanken machen darüber, wie man unsere Geschichte mit einer Vision einer zukunftsfähigen »deutschen Identität« zusammenbringt. Keiner jedoch würde es als Last empfinden, mit einem humanen Staat identifiziert zu werden. Wer das verstanden hat, muss auch über seine aktive und konkrete Beteiligung am Staat nachdenken. Und wer sich verantwortlich fühlt, der kümmert sich auch. Im zwischenmenschlichen Bereich ist es ja nicht ungewöhnlich, dass jemand, der für einen anderen Menschen Verantwortung übernimmt und sich um ihn kümmert, auch positive Gefühle für ihn empfindet.

Wir Deutsche müssten lernen, dass wir nur dann in der Lage sein werden, am humanen Staat mitzuarbeiten, wenn es uns gelingt, die »Nation« neu zu definieren. Dann könnten wir einen Weg aus unserem Dilemma finden, dem Dilemma, uns nicht nur negativ auf unsere Geschichte zu beziehen, ohne uns aus der historischen Verantwortung zu stehlen. Das wäre die Voraussetzung für ein gesundes Selbstbewusstsein und würde uns peinliche Debatten darüber ersparen, ob wir nun »stolz« auf Deutschland sind oder unser Land »lieben«.

Diese zeitgemäße deutsche Nation kann also nicht mehr aus einem die Gemeinschaft fördernden »guten« Teil und einem andere ausgrenzenden »bösen« Teil bestehen, genauso wenig aus einer »guten Geschichte« und einer »bösen Geschichte«. Dieser Nation kann sich anschließen, wer mag, und es kann sie verlassen, wer mag. Dieses »Deutschland« hieße dann auch nicht mehr »Vaterland«, sondern wäre gleichermaßen »Vernunftnation« und »gefühlte Heimat« für alle, die unter diesen Bedingungen, denen eines humanen Staates, leben und sich dafür verantwortlich fühlen wollen. Denn die Lehre aus der Vergangenheit lautet: Zur nationalen Identität gehört die Erkenntnis, dass jeder aus Notwendigkeit Mensch, aus Zufall Deutscher ist. Und zum Deutschsein gehört das Wissen um die Vergangenheit – mit ihren schlechten, aber auch mit ihren guten Teilen. Ein wesentlicher Schritt wäre getan, wenn »Deutschsein« nicht mehr als belastender oder schöner Zustand erfahren, sondern als Aufgabe erkannt würde, die Rechte des Menschen zu etablieren, sie zu wahren und zu verteidigen.

Das alles kann aber nur gelingen, wenn endlich Klartext geredet wird, wenn Tabus endlich Tabus genannt werden dürfen.

Wäre es beispielsweise nicht richtig und notwendig, wenn offensichtliche Gauner endlich wieder »Gauner« genannt würden und Lügner Lügner? Und zwar vor aller Welt, also nicht nur, wenn man mit Freunden bei einem Glas zusammensitzt und sich in Rage geredet hat.

Wahrscheinlich würde es zuerst einmal Verwunderung auslösen, wenn ein Minister, ein respektierter Politiker, ein hoher Richter oder gar ein Kardinal den Begriff »Gauner« verwendete, doch wenn es den Richtigen träfe, könnte aus diesem Gefühl schnell Genugtuung werden.

Der Begriff »Gauner« ist noch gar nicht so alt. Er stammt aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein »heimatloser Strolch« wurde so bezeichnet. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts dann fielen auch »gewerbsmäßige Eigentumsverbrecher« in diese Kategorie. Im 21. Jahrhundert wird aus dem »Gauner« schließlich eine Person, deren Handlungen als unredlich, hinterhältig oder ähnlich verachtenswert angesehen werden.

»Gauner« ist aber immer noch etwas anderes als »Verbrecher«, »Steuerhinterzieher« oder »Betrüger«. Und im Gegensatz zum »Betrüger« ist der »Gauner« auch kein Fall für die Justiz, somit ist das Prädikat »Gauner« auch nicht justiziabel. Sollte man also Personen, die »treuwidrige Verschwendung« von insgesamt mehr als 30 Millionen Euro zu Lasten der Eigentümer von Mannesmann, also der Aktionäre, zu verantworten haben, nicht »Gauner« schelten können, ja müssen? Schließlich lebt auch eine demokratische Gesellschaft davon, dass sie jene bestraft, die sich nicht an die Regeln dieser Gesellschaft, nicht an ihre Werte halten.

Und dafür müssen nicht einmal die Gesetzeshüter zu Hilfe gerufen werden. Vielmehr können die Mitglieder der Gesellschaft ihre unmoralisch handelnden Mitbürger strafen: durch Appelle an ihr Gewissen, an ihr Schamgefühl, durch gesellschaftliche Missachtung, alles Strafen, die einen reichen »Gauner« manchmal mehr treffen als eine Buße in Millionenhöhe.

»Eine Gaunerei« nannte der Oberstaatsanwalt Hartmut Schneider vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Leipzig die Manipulationen des Fußballschiedsrichters Robert Hoyzer. Der Staatsanwalt forderte zum Erstaunen der Prozessbeobachter einen Freispruch des in erster Instanz zu zwei Jahren und fünf Monaten Freiheitsstrafe verurteilten Mannes. »Das ist eine Gaunerei«, so führte Schneider aus, »aber strafrechtlich kommt man da nicht dran.« Das Strafgesetzbuch nämlich biete noch keine Möglichkeit, derartige Manipulationen als Betrug zu ahnden. Der Bundesgerichtshof sah das anders; jetzt muss Hoyzer wohl ins Gefängnis. Wichtiger als der juristische ist aber der gesellschaftliche, der moralische Aspekt.

Auch andere hätten es sich redlich verdient, als Gauner bezeichnet zu werden, etwa die ehemaligen Vorstandsvorsitzenden von Mannesmann, Klaus Esser und Joachim Funk. Beide haben Prämien für etwas bekommen, wofür sie ohnehin bezahlt wurden. Klaus Esser sollte 16 Millionen Euro für seine Verhandlungsführung beim Verkauf von Mannesmann erhalten, und Joachim Funk immerhin noch 4,5 Millionen, obwohl er inzwischen im Aufsichtsrat saß und die Geldverteilung selbst mit beschlossen hatte. Sie wurden deshalb vor Gericht geladen. Aber das Landgericht Düsseldorf sprach die Angeklagten frei. Der Bundesgerichtshof jedoch hob das Urteil unter dem Vorsitz des Richters Klaus Tolksdorf dann auf: Die Genehmigung der Prämien für ausscheidende Manager sei »treuwidrige Verschwendung« fremder Gelder gewesen. Tun so etwas nicht Gauner?

Immerhin ist der Bundesrichter Klaus Tolksdorf in seiner mündlichen Begründung schon weit gegangen, als er über die Herren »Gauner« sagte: »Die Angeklagten waren eben nur Gutsverwalter, nicht Gutsherren.«

Der Gutsherr kann sein Geld verteilen, wie es ihm behagt, weil es ihm gehört. Wenn der Verwalter aber einen Teil des Vermögens einsteckt oder verteilt, aus welchem Motiv auch immer, ist er dann nicht ein »Gauner«? Insbesondere, nachdem das Gericht in Düsseldorf die Verhandlung mit einer Abmachung zwischen Angeklagten und Justiz eingestellt hat? Klaus Esser muss 1,5 Millionen Euro, Joachim Funk 1 Million Euro an die Staatskasse zahlen. Damit gelten beide als nicht vorbestraft. Juristisch ist gegen diese Entscheidung der Justiz nichts einzuwenden. Denn deutsche Gerichte stellen jedes Jahr Hunderttausende von Strafverfahren zum Beispiel gegen Ladendiebe oder Umweltsünder nach der Zahlung einer Geldauflage ein. Über Gesetzesverstöße haben Richter zu entscheiden, nicht über Moral. Das können, ja müssen die Bürger übernehmen, die Wert legen auf die Einhaltung der gesellschaftlichen Regeln.

Gesellschaftlich geächtet zu werden trifft manchmal auch einen Millionär hart. So klagen die immer noch reichen Brüder Haffa, sie würden von der High Society geschnitten, und das schmerzt sie. Thomas Haffa war zu 1,2 Millionen Euro und sein Bruder zu 240 000 Euro Strafe verurteilt worden, weil sie wissentlich falsche Umsatzzahlen veröffentlicht und damit den Aktienkurs ihres Unternehmens EM.TV nach oben getrieben hatten. Für die Haffa-Brüder offensichtlich kein Grund, sich »Gauner« nennen zu lassen.

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